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Grace Valley - im Einklang mit den Jahrezeiten

hier erhältlich:

Die 3-teilige Serie "Grace Valley" ist eng mit der bekannten Virgin River-Serie von Robyn Carr verknüpft, lässt sich jedoch auch separat lesen. Die Stadt Grace Valley liegt "in der Nähe" des Virgin River und von Zeit zu Zeit bieten die medizinischen Fachleute aus Grace Valley Hilfe für einen der Hauptdarsteller in Virgin River. Die fiktive Stadt Grace Valley liegt im Norden Kaliforniens.

GRACE VALLEY - IM SCHUTZ DES MORGENS

Tagsüber schließt niemand die Türen ab, auf den Fensterbänken stehen köstlich duftende Kuchen zum Auskühlen und die Bewohner sind wie eine Familie. Das ist es, was June Hudson so an ihrem Heimatstädtchen Grace Valley mag. Und weshalb sie nach ihrem Studium in der Großstadt zurückgekehrt ist, um die Arztpraxis ihres Vaters zu übernehmen. Sie geht mit Herz und Seele in ihrer Arbeit auf und kümmert sich zu jeder Tages- und Nachtzeit um die Menschen im Ort. Platz für Romantik bleibt da nicht. Bis ein gut aussehender Unbekannter ihren Weg kreuzt und sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Doch diese Liebe muss ein Geheimnis bleiben, denn Jim Post muss seine Identität verbergen.

GRACE VALLEY - IM LICHT DES TAGES

In dem kleinen Ort Grace Valley ist es nahezu unmöglich, ein Geheimnis zu wahren - doch Dr. June Hudson ist es gelungen. Noch ahnt niemand etwas von ihrer Beziehung mit dem gut aussehenden Jim Post. Deshalb freuen sich auch alle, dass Junes Jugendliebe zurückkehrt - denn nichts wünschen sich die Bewohner des Tals mehr, als dass ihre Ärztin endlich den Mann fürs Leben findet. June weiß die warmherzige Fürsorge der Talbewohner zu schätzen, aber auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, ist auch ein wenig anstrengend. Doch zum Glück haben auch noch andere Bewohner Geheimnisse, die die Dorfgemeinschaft in Atem halten. Bald geht es in Grace Valley drunter und drüber …

GRACE VALLEY - IM GLANZ DES ABENDSTERNS

Lange hätte sie es nicht mehr verstecken können: Dr. June Hudson ist schwanger. Und so strahlt sie mit der Sonne um die Wette, die warm auf die schneebedeckten Berge von Grace Valley scheint. Bald schon wird ihr Traum von einer gemeinsamen Familie mit ihrer großen Liebe Jim wahr werden. Aber das ist nicht das einzige aufregende Thema. Im Tal wird wild darüber spekuliert, wer der heimliche Romeo ist, den Junes Tante Myrna verbirgt. Und was hat es mit dem Poker spielenden Pastor der Gemeinde auf sich? All diese Fragen sind jedoch schnell vergessen, als Jims Vergangenheit sein neues Leben mit June bedroht - denn für die Dorfbewohner steht das Glück ihrer geliebten Ärztin immer an erster Stelle.


  • Erscheinungstag: 19.02.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 960
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768508
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Robyn Carr

Grace Valley - im Einklang mit den Jahrezeiten

Robyn Carr

Grace Valley – Im Schutz des Morgens

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Gisela Schmitt

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Deep In The Valley

Copyright © 2000 by Robyn Carr

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-321-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

June blieb am Morgen etwas länger unter der Dusche stehen als sonst, weil sie an das Einstellungsgespräch dachte, das ihr heute noch bevorstand. Sie führte die einzige Arztpraxis in der Kleinstadt Grace Valley in Kalifornien. Diesen Job hatte sie von ihrem Vater gewissermaßen geerbt, Elmer „Doc“ Hudson. Elmer war inzwischen zweiundsiebzig und tat so, als wäre er im Ruhestand. In Wirklichkeit war das nur eine charmante Beschreibung dafür, dass er die Praxis zwar nicht mehr selbst führte, sich dennoch permanent in die Arbeit seiner Tochter einmischte.

Die Notwendigkeit für einen zweiten Arzt wurde jeden Tag deutlicher. June hatte bereits mit mehreren Kollegen gesprochen, doch bisher hatte sich kein geeigneter Partner für die Praxis gefunden. Heute kam also ein weiterer Anwärter vorbei, Dr. John Stone. Er war vierzig Jahre alt und hatte sein Studium an der Stanford University und der Medizinischen Fakultät der University of California absolviert. Seinen Facharzt in Frauenheilkunde und Geburtshilfe hatte er an der Johns Hopkins University in Baltimore gemacht, danach war er acht Jahre an einer renommierten Frauenklinik tätig gewesen und hatte noch ein Studium der Familienmedizin drangehängt. Er war genau der Richtige für Grace Valley. Aber war Grace Valley auch das Richtige für ihn?

June versuchte, ihn sich vorzustellen. Sicher so ein Yuppie aus Sausalito. Bestimmt war er mal im Rahmen einer Weinprobe nach Grace Valley gekommen und glaubte nun, dass man hier als Arzt ein lockeres Leben hätte. Die herrliche Landschaft mit Bergen, Tälern und dem Meer lockte schließlich jedes Jahr mehr Städter an, die sich dauerhaft niederließen. Vielleicht hatte er aber auch schon mal einen Urlaub in der Region verbracht, spekulierte June, in einer kleinen Frühstückspension an der Küste. Nein. Eher besaß ein wohlhabender Freund von ihm aus San Francisco in der Nähe ein luxuriöses Feriendomizil – jemand, der es sich leisten konnte, nicht mehr zu arbeiten. Die Golfplätze oder Segelreviere konnten John Stone jedenfalls nicht angelockt haben – so etwas gab es hier nämlich nicht. Hier war eher Wandern angesagt oder Camping, und auch das nur für echte Abenteurer. Was also wollte er hier? Wahrscheinlich würde er ihr von seiner Sehnsucht nach Ruhe und Frieden erzählen, nach Sicherheit und schöner Umgebung, denn all das gab es in Grace Valley im Überfluss. Apfelkraut. Traditionell gefertigte Quilts, echte Familienerbstücke. Unverschlossene Haustüren, schmucke Häuschen mit umlaufender Veranda und Kuchen, die auf der Fensterbank abkühlten. Idyllisches Landleben. Anstand. Einfachheit.

Wahrscheinlich sollen seine Kinder nicht in der schmutzigen Großstadt aufwachsen, sondern weit weg von Drogen und Verbrechen. Dass das Militär regelmäßig mit Hubschraubern das kalifornische Küstengebirge und die Trinity Alps nach Marihuana-Plantagen absuchte, würde ihm mit Sicherheit nicht gefallen. Durch die häufigen Luftrazzien in den Wäldern stellten Wanderungen inzwischen ein gefährliches Abenteuer dar, da man nie wusste, wer gerade Drogen anbaute und welche Wege und Orte von den illegalen Betreibern kontrolliert und gegen unerwünschte Eindringlinge vehement verteidigt wurden. Cannabis war das meistangebaute zum Verkauf bestimmte Agrarprodukt Kaliforniens. So weit die traurigen Tatsachen – und das alles fand nur einen Steinwurf entfernt von Grace Valley statt.

Was Ruhe und Frieden betraf – davon wünschte June sich selbst auch ein bisschen. Genau deshalb sah sie sich ja nach einem Praxiskollegen um.

Sie drehte das Wasser ab und trocknete sich die Haare.

June hatte sich bewusst dafür entschieden, in der Kleinstadt zu praktizieren, in der sie aufgewachsen war. Sie kannte die Herausforderungen, und ihr war klar, dass es hier spannender zugehen konnte als in jeder Unfallambulanz einer Großstadtklinik. Aber ihr waren auch die Unannehmlichkeiten nicht fremd – sie erlebte sie täglich. Dazu gehörte die mitunter unpassende Intimität zwischen Arzt und Patient. Denn sie war mit vielen ihrer Patienten auch befreundet – das passierte einem Mediziner in der Großstadt eher selten. Bisher waren alle Anwärter, mit denen sie gesprochen hatte, darauf aus gewesen, weniger arbeiten zu müssen, keine Überstunden mehr zu schieben und die generelle Überbeanspruchung, die sie aus ihren Großstadtpraxen kannten, hinter sich zu lassen. Nach dem Gespräch wurde den Medizinern dann meistens klar, dass Grace Valley wohl doch nicht das Richtige für sie war. Sie würden hier nur eine bestimmte Art von Stress gegen eine andere eintauschen, die Tätigkeit blieb genauso anspruchsvoll. Es bedurfte schon ganz bestimmter Eigenschaften, um sich den medizinischen Bedürfnissen einer ganzen Stadt stellen zu können.

Das Telefon klingelte. Sie sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr fünfzehn.

Das war auch so eine Sache. So etwas wie den Begriff „Bereitschaft“ gab es hier nicht. Man war einfach immer erreichbar. Punkt.

Sie streckte die Hand nach dem Hörer aus, doch im selben Moment gab das schnurlose Telefon den Geist auf. Kein Saft mehr. Mal wieder hatte sie vergessen, es auf die Station zu legen. Rasch wickelte sie sich das Handtuch um und rannte mit tropfenden Haaren runter zum Telefon in der Küche.

Und bekam erst mal einen Schock. Da waren Fremde in ihrem Wohnzimmer! Instinktiv duckte sie sich hinter die Küchentheke und spähte über die Kante ins Wohnzimmer, während das Telefon immer weiter klingelte. Spielten ihre Augen ihr einen Streich, oder war das wirklich wahr? Da saßen vier Personen – ein Mann, eine Frau und zwei Teenager, Junge und Mädchen. Eine schreckliche Narbe zog sich über die gesamte linke Gesichtshälfte der Frau. Es dauerte einen Moment, bis June erkannte, dass die Narbe nicht von einer frischen Wunde stammte – ihretwegen war die Familie also nicht hier. Die vier hockten auf ihrem Sofa, schauten sie freundlich an und schienen keineswegs irritiert über Junes Anblick.

Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln.

„Sind Sie der Arzt?“, fragte schließlich der Mann.

„Ähm, ja. Das bin ich wohl.“

Die altmodische Kleidung und das fragwürdige Benehmen ließen darauf schließen, dass diese Leute im wahrsten Sinn des Wortes Hinterwäldler waren, irgendwelche Farmer wahrscheinlich. Grace Valley lag an der Kreuzung von drei Countys, und man konnte unmöglich darauf schließen, woher die Familie kam. Jedenfalls kannte June sie nicht. Vielleicht waren sie zum allerersten Mal in ihrem Leben bei einem Arzt.

„Wir haben ein Problem mit unserem Jungen.“

June wickelte das Handtuch fester um sich und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus. „Entschuldigung“, sagte sie zu den Leuten. „Ich kümmere mich sofort um Sie.“ Rasch duckte sie sich wieder hinter den Tresen. „Hallo?“, fragte sie ins Telefon.

„Hallo“, antwortete ihr Vater. „Ich dachte, ich sage dir lieber mal Bescheid, dass gerade eine Familie aus Shell Mountain sich bei George Fuller nach dem Weg zu deinem Haus erkundigt hat.“

„Und was zum Teufel hat sich George dabei gedacht, es ihnen einfach zu sagen?“, fauchte June leise.

„Na ja. George denkt nie viel, wenn es sich vermeiden lässt.“

„Sie sind nämlich schon da! Sind einfach ins Haus getrampelt und haben es sich auf meiner Couch bequem gemacht, während ich noch oben unter der Dusche stand.“

„Herrjemine! Soll ich vielleicht ...“

„Ich bin so gut wie nackt! Ich musste runter in die Küche ans Telefon und trage nur ein Handtuch!“

Elmer lachte leicht pfeifend – jahrelanges Pfeiferauchen forderte seinen Tribut. „Ich wette, damit haben sie nicht gerechnet.“

„Ich bringe George um!“

Elmer konnte vor Lachen kaum noch sprechen. „Ich schätze ... du hast dich noch nie ... so geärgert ... wie jetzt ... weil du mal wieder den schnurlosen Apparat nicht aufgeladen hast!“

War ihr Vater etwa Hellseher? Wie dem auch sei, sie fand seine neue Gabe in diesem Augenblick alles andere als amüsant. „Dad, falls du George vor mir zu Gesicht kriegen solltest, richte ihm aus, dass ich ihn lange leiden sehen will, bevor er stirbt!“

„Schaff dir einen Hund an, June. Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Soll ich rüberkommen?“

„Nicht nötig. Ich schaffe das schon.“

„Na gut. Ist heute Hackbraten-Abend?“

„Falls ich den Tag überlebe.“ June legte auf, ohne sich zu verabschieden. Elmer würde sich länger, als ihr lieb war, an diesem Moment ergötzen.

June überprüfte, ob ihr Handtuch fest saß, dann erhob sie sich und musterte die Familie. Der Vater trug eine Anzugjacke, die mindestens dreißig Jahre alt war, die Mutter hatte einen Hut auf dem Kopf. Sie hatten offensichtlich ihre Sonntagskleidung an wegen des Arztbesuches. Eine allzu anstrengende Reise schienen sie nicht hinter sich zu haben. Auf den ersten Blick hätte sie nicht den Jungen, sondern die Frau für krank gehalten. Ihre Narbe verlief von der Stirn bis hinunter zum Kinn, über ein versehrtes Auge, dessen Lid schlaff herunterhing. Die Frau sah aus, als hätte man ihr eins mit der Axt übergezogen. Und allein ihr Anblick verursachte June Kopfschmerzen, obwohl die Verletzung schon etliche Jahre alt sein musste. Vielleicht sogar ein Unfall aus der Kindheit.

Der Junge musste in äußerst schlechter Verfassung sein, wenn sie eigens seinetwegen in die Stadt gekommen waren. June fiel auf, dass er nur an einem Fuß einen Stiefel trug, am anderen bloß einen sauberen Strumpf. Kein gutes Zeichen.

„Ich werde mich rasch anziehen, dann schaue ich mir Ihren Sohn an. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind.“

So viel zum Thema Ruhe und Frieden des Landlebens.

Elmer hatte seine Patienten immer zu Hause empfangen. Seine Praxis befand sich nicht in einem Anbau oder einem extra Gebäude, sondern bestand aus zwei Räumen im Erdgeschoss ihres Wohnhauses, das vom ersten Dorfarzt eigens so gebaut worden war.

Wenn ein Patient auftauchte, der nur einen Schuh trug, musste sein anderer Fuß so stark geschwollen sein, dass er in keinen Schuh passte. Auf solche Hinweise zu achten, hatte June bereits als Kind gelernt.

Die Familie stellte sich vor, allerdings war Reden nicht ihr Ding. Nur mühsam erfuhr June, dass dem Jungen eine Eselstute auf den Fuß getreten war. Die Wunde schwärte, das Fleisch begann bereits zu faulen. June sah auf den ersten Blick, dass mehrere Mittelfußknochen gebrochen sein mussten. Normalerweise wussten die Leute vom Land, wie man Knochenbrüche verarztete. Vielleicht hatte der Junge aber ein Stoffwechselproblem, das die Heilung erschwerte. Sie würde auf jeden Fall einen Blutzuckertest machen, um festzustellen, ob er an Diabetes litt.

„Sie hätten mich früher aufsuchen müssen“, tadelte June die Eltern. Sie hatten sich als Clarence und Jurea Mull vorgestellt, die Kinder hießen Clinton und Wanda und waren sechzehn beziehungsweise dreizehn Jahre alt. Clinton war ein kräftiger, gut aussehender Junge. In Wanda erkannte June die Schönheit der Mutter wieder, die nun so tragisch entstellt war. Clarence und Wanda waren keine jungen Eltern, June schätzte sie beide auf Mitte fünfzig. „Der Fuß ist gebrochen, Muskeln und Gewebe haben Schaden erlitten, weil der Fuß nicht geschont wurde. Dazu kommt die Nekrose rund um die Wunde. Tut das nicht weh?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ja, schon. Aber Ma ...“

„Es ist meine Schuld“, unterbrach Jurea ihn. „Ich habe die Wunde versorgt und ihm einen Verband gemacht.“

„Und vermutlich haben Sie ihm auch eine Kräutermedizin gegen die Schmerzen verabreicht – seine Pupillen sind erweitert. Damit sollten Sie vorsichtig sein.“

„Doch es wirkt gut gegen Schmerzen, oder nicht?“

„Zu gut. Nur deshalb konnte Ihr Sohn mit dem gebrochenen Fuß herumlaufen, und die Verletzung hat sich weiter verschlimmert. Wie sind Sie denn hergekommen? Mit dem Auto?“

„In unserem alten Pick-up“, erklärte Clarence.

„Schaffen Sie es noch bis Ukiah oder Eureka?“

Er zuckte die Achseln. „Wir kommen nur langsam voran, aber wir kommen voran.“

June zog dem Jungen vorsichtig wieder den Strumpf über den schwarz verfärbten, stark geschwollenen Fuß. „Wie langsam?“, erkundigte sie sich.

„Schneller als 50 Kilometer in der Stunde schafft die Kiste nicht mehr.“

„Dann habe ich eine bessere Idee“, schlug June vor. „Einer der Deputys wird Sie nach Rockport fahren, ins Valley Hospital. Sie müssen den Jungen zu einem Spezialisten bringen.“

„Ich bringe ihn hin, wo er hinmuss.“ Clarence nickte zur Bestätigung.

„Und zwar so schnell wie möglich“, erwiderte June, während sie zum Telefon ging. „Aber das ist Ihnen vermutlich klar, sonst hätten sie ihn nicht um sechs Uhr morgens zu mir gebracht.“

„Glauben Sie, dass der Fuß abstirbt?“, fragte der Vater.

June schaute ihn an. Ein Hinterwäldler, der abgestorbenes Gewebe als unheilbar gangränös erkannte? Vielleicht interpretierte sie in seine Frage ja nur etwas hinein, doch ...

„Wenn Sie den Jungen nicht ins Krankenhaus bringen, könnte er in der Tat den Fuß verlieren. Oder noch schlimmer. Das wollen Sie sicher nicht riskieren.“

„Spezialisten sind teuer, oder nicht?“

„Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten, Mr Mull. Über solche Dinge lässt sich reden. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie Sie Unterstützung erhalten können, wenn Sie knapp bei Kasse sind.“ Sie wählte eine Nummer.

„Ich habe noch nie Schulden gemacht.“

„Da bin ich mir sicher.“ Dann sprach sie in den Telefonhörer. „Ricky? June hier. Kannst du mir einen Gefallen tun? Ein junger Patient von mir braucht dringend einen Transport ins Valley Hospital, er muss zu einem Spezialisten. Ich schreibe ihm auf, an wen er sich zu wenden hat, dann schicke ich ihn dir gleich zum Polizeirevier. Vielen Dank für deine Hilfe.“

June schrieb den Namen des Krankenhauses und des Arztes auf, dann nahm sie eine Packung Antibiotikum aus ihrem Arztkoffer. Sie füllte ein Glas mit Wasser und reichte es zusammen mit den Tabletten dem Jungen. Den Zettel drückte sie Clarence in die Hand. Als er die Hand danach ausstreckte, rutschte sein Hemdsärmel nach oben und June entdeckte eine Tätowierung auf seinem Handgelenk.

„Mr Mull, es wäre eine Tragödie, wenn Clinton seinen Fuß verliert. Eine noch größere Tragödie allerdings wäre es, seine Verletzung zu ignorieren, denn dann stirbt er womöglich an einer Sepsis. Blutvergiftung. Das kennen Sie vermutlich noch aus Vietnam. Also bringen Sie Ihren Sohn bitte zu einem Spezialisten ins Krankenhaus. Das hier ist ein Antibiotikum“, fügte sie an Clinton gewandt hinzu. „Nimm vier Stück jetzt sofort und dann alle vier Stunden eine, bis die Packung leer ist. Und zeig das Medikament auf jeden Fall dem Arzt im Krankenhaus. Sag ihm, wie viele Tabletten du genommen hast. Es könnte sein, dass er dir andere Tabletten gibt, okay? Wissen Sie, wo die Polizeistation von Grace Valley ist? Oder soll ich mit Ihnen in die Stadt fahren?“

„Nein, nicht nötig. Das schaffen wir schon“, meinte Clarence. „Es ist ja nicht weit.“ Damit erhob er sich und trug seinen Sohn, der gut und gerne einsachtzig groß war, auf seinen Armen aus dem Haus. Clarence Mull war ein sehr stattlicher Mann.

Ihr Pick-up, geschätztes Baujahr 1940, ächzte bedenklich, als die Familie einstieg. Nachdem der Wagen mehr kriechend als fahrend verschwunden war, schloss June die Haustür ab und lief zurück ins Schlafzimmer, um sich endlich anzuziehen. Die Mulls waren keine unbedarften Landeier, die es nicht besser wussten, als unangekündigt beim Arzt hereinzuplatzen. Oh nein. Clarence wollte seinen Sohn nur nicht an einen öffentlichen Ort wie ein Krankenhaus bringen. Vielleicht war er ein Marihuana-Bauer. Oder ein Kriegsveteran, der unter Verfolgungswahn litt. In den Bergen wimmelte es von eigentümlichen Gestalten.

Rasch schlüpfte sie in eine Gabardinehose mit schicker Bügelfalte und wählte dazu eine Seidenbluse und eine bestickte Weste. Immerhin hatte sie heute noch ein Einstellungsgespräch vor sich.

Sie schaute in den Spiegel, und ihr entfuhr ein „Ach du Scheiße“. Ihre Haare waren ungekämmt getrocknet, während sie Clinton Mull untersucht hatte, und jetzt standen sie in alle Richtungen ab. Seufzend steckte sie das Durcheinander zu einem Knoten hoch. Das Thema Haare war noch nie ihres gewesen.

2. KAPITEL

Tom Toopeek stand mit nackter Brust vor dem Badezimmerspiegel und band sein langes, seidiges schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. In diesem Moment öffnete seine Frau Ursula, mit der er seit achtzehn Jahren verheiratet war, die Tür und reichte ihm ein frisch gebügeltes Hemd hinein.

„Tom, gerade hat jemand von den Cravens angerufen. Einer der jüngeren Söhne, welcher, weiß ich nicht. Er sagte nur, dass sein Daddy echt sauer sei. Mehr musste er auch nicht sagen, denn es war schon zu hören. Gus schlägt wieder mal das Haus kurz und klein. Und seine Familie kriegt vermutlich auch was ab.“

Tom war bereits in sein Hemd geschlüpft, jetzt nahm er seine Waffe samt Holster aus dem Schrank im Schlafzimmer.

„Fährst du direkt raus zu ihnen?“, erkundigte sich seine Frau.

„Logisch.“ Ohne ein weiteres Wort befestigte er das Holster an seinem Gürtel.

Im Morgengrauen raus zu den Cravens. An einem dieser Tage würde es mal zu spät sein.

Ursula hielt ihm einen dampfenden Kaffeebecher hin. Er küsste sie, nahm den Becher und ging durch den langen Flur, vorbei an den Schlafzimmern seiner Kinder. Seine fünfzehnjährige Tochter Tanya öffnete unvermittelt die Zimmertür und stellte sich ihm in den Weg. „Daddy, kannst du ihn nicht endlich einsperren?“

„Ich sperre ihn jedes Mal ein, Tan. Und jetzt lass mich durch, ich muss mich beeilen.“

„Er wird noch jemanden umbringen. Er muss ins Gefängnis!“

„Ich rufe Ricky an, dass du Verstärkung brauchst!“ Ursula beobachtete besorgt ihren Mann.

„Nein“, erwiderte Tom. „Ruf lieber Lee zu Hause an und sag ihm, wir treffen uns vor Ort. Er wohnt in der Nähe.“

„Sei vorsichtig, Tom. Bitte sei vorsichtig. Gus wird dich sofort erschießen, wenn er ...“

„Ich sorge schon dafür, dass er mich nicht erschießt. Ruf jetzt Lee an.“

Gus Craven war der mieseste Dreckskerl im ganzen Valley. Er hatte fünf Söhne, alle etwa im selben Alter wie die fünf Toopeek-Kinder. Ihre ältesten waren jeweils fünfzehn. Aber natürlich hatten sie nichts miteinander zu tun. Tom hielt seine Familie von den Cravens fern, die eine Farm im oberen Mendocino County besaßen, nahe der Grenze zum Humboldt County. Es war ein bescheidener Hof mit wenigen Tieren und kaum ertragreicher Ernte. Trotzdem hätte es besser laufen können, aber Gus war ein Säufer und ließ sich regelmäßig volllaufen. Dann schlug er seine Familie zusammen, randalierte im Haus und musste zur Ausnüchterung weggebracht werden. Es gab aber auch Tage, an denen er seine Frau und die Kinder verprügelte, ohne dass er einen Tropfen angerührt hatte. Ein widerliches Ekel war er.

Toms Pflicht als Polizeichef bestand darin, Gus immer einen Schritt voraus zu sein, damit die Prophezeiung seiner Tochter nicht wahr wurde. Die Polizeistation von Grace Valley war mit drei Mann besetzt. Ricky Rios und Lee Stafford, seine beiden Deputys, waren beide dreißig Jahre alt, junge Ehemänner und Väter. Zu dritt waren sie rund um die Uhr im Dienst. Jeder Bewohner im Valley konnte Tom oder seine Kollegen auch zu Hause anrufen, wenn die Polizeistation geschlossen war. Wie an diesem Morgen.

Tom fuhr mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit über die County Road 92, aber die Polizeisirene ließ er ausgeschaltet, um Gus nicht zu warnen. Tom wollte ihn wegschaffen, bevor Gus spitzkriegte, dass einer der Jungs ihn alarmiert hatte. Der Mann hatte schon zahlreiche Tage und Wochenenden wegen seiner Ausfälle in Gewahrsam verbracht, und das reichte üblicherweise aus, damit er wieder zur Vernunft kam. Doch leid tat es Gus nie, was er anrichtete. Diesmal würde Tom ihn ein bisschen länger aus dem Verkehr ziehen. Er hatte ihn gewarnt. Es war gar nicht nötig, dass seine Frau Leah ihn anzeigte. Tom selbst würde ihn wegen Gewaltanwendung und Körperverletzung anzeigen. Das wäre dann seine fünfte Anzeige diesbezüglich, und diesmal würde er in den Knast gehen. Richter Forrest war es ebenfalls leid, den Mann immer wieder auf der Anklagebank sitzen zu haben. Und Tom hatte die Nase voll davon, dass Gus keinerlei Konsequenzen aus seinem Verhalten zog.

Jeder in der Stadt hasste Gus. Ohne Ausnahme. Wieso war dieser Mann bloß so widerwärtig? Er stammte nicht aus dem Valley, niemand kannte seine Familie. Wenn die Cravens in die Stadt kamen, einkaufen oder in die Kirche gingen, machten die meisten Leute einen Riesenbogen um Gus. Sie begrüßten zwar Leah und die Jungs, aber mit Gus wechselte freiwillig niemand ein Wort. Das Schlimmste an der ganzen Situation war die Tatsache, dass dieser Kerl ein Stück Land im Valley erworben und ein Mädchen aus Grace Valley geheiratet hatte. Leah war eine von ihnen, und trotzdem schien niemand etwas für sie tun zu können.

Leah war erst dreiunddreißig. Tom kannte sie noch aus der Schule. Sie war mit einer seiner Schwestern befreundet gewesen. Ein schüchternes, aber hübsches Mädchen – und clever. Wieso sie sich für Gus Craven entschieden hatte, blieb allen ein Rätsel. Er war sieben Jahre älter als sie und noch nie auch nur annähernd freundlich gewesen. Jedenfalls nicht, soweit sich Tom erinnern konnte.

Das Farmhaus der Cravens hatte sechzig Jahre auf dem Buckel und war mittlerweile ziemlich renovierungsbedürftig. Die Veranda war abgesackt, überall blätterte die Farbe ab, die Fliegenfenster waren zerrissen. Innen sah es noch schlimmer aus.

Die Sonne stieg gerade über den Bergen auf und warf lange Schatten. Tom parkte den Range Rover an einer schwer einsehbaren Stelle und registrierte sofort, dass im hell erleuchteten Haus Aufruhr herrschte. Im selben Moment traf sein Deputy Lee Stafford ein.

Schon als Tom die Wagentür öffnete, hörte er den Lärm. Geschrei, Gebrüll, Türenschlagen, das Zerbrechen von Gegenständen, hektisches Gerenne. Gus tobte und fluchte, während Leah ihn anflehte, endlich aufzuhören. Tom zog seine Waffe und checkte, ob sie geladen war.

„Gehen wir ihn holen.“ Er nickte Lee zu.

Im Gleichschritt rannten die beiden Männer die Verandatreppe hoch. Lee stellte sich mit dem Rücken an die Wand neben die Eingangstür, die Tom jetzt mit einem Fußtritt öffnete. Tom übernahm die heiklen Aufgaben immer selbst. Er wollte nicht, dass sich die Deputys an seiner Stelle in Gefahr begaben – obwohl sie beide sieben Jahre jünger waren als er.

Gus wandte seine wässrigen Augen der Tür zu. Seinen dreizehnjährigen Sohn hatte er mit der einen Hand an den Haaren gepackt, mit der anderen Hand wollte er ihm gerade einen Schlag versetzen. Leah klammerte sich verzweifelt an seinem Arm fest, ohne echte Hoffnung, den Schlag verhindern zu können. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Tom, wie schön es wäre, wenn Gus bewaffnet wäre. Dann könnte er ihn einfach erschießen, und die Sache wäre ein für alle Mal erledigt. Und er müsste nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben. Doch der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war. Tom war eben vor allem eins: der Gesetzeshüter.

„Lass den Jungen los, Gus“, forderte er den Mann auf.

„Das hier geht dich nichts an!“

Tom eilte durch den Raum und trat dabei auf zerbrochenes Glas; es stank nach Alkohol und Schweiß und Fett. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft. Er zählte nach. Eins, zwei, drei, vier. „Leah, wo ist Stan?“ Stan war der Jüngste, erst sechs Jahre alt.

Sie ließ Gus los. Ihr Gesicht war voller blauer Flecken und völlig verheult. Sie trug ein altes, abgewetztes Nachthemd. „Oben. Ich schätze, er versteckt sich.“

„Welches von euch stinkenden Mistviechern hat den Indianer-Bullen gerufen?“, donnerte Gus und schüttelte den Jungen heftig, den er immer noch festhielt.

„Gus“, warnte Tom ihn. „Lass den Jungen los und geh weg von ihm. Sofort.“

„Ich brauche nur einen Grund, um dich zu verklagen, Toopeek!“, schrie Gus.

Tom stieß ein müdes Lachen aus. Verklagen? Er warf Lee seine Waffe zu und schlenderte beinahe gemächlich auf Gus zu, während er die Handschellen aus dem Gürtel zog. Gus machte große Augen, als Tom ihm mit einer blitzschnellen Bewegung eine Handschelle ums Handgelenk legte. Dann zerrte er ihm unsanft den Arm auf den Rücken und brachte ihn zu Fall, sodass Gus mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden zu liegen kam. Gus schrie vor Wut, doch sein Geschrei wurde von dem abgewetzten Teppich gedämpft. Der Sohn, den er an den Haaren festgehalten hatte, sprang davon. Leah hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund, in ihren Augen stand die pure Angst.

Tom schnappte sich Gus’ anderes Handgelenk, was etwas schwieriger war, weil er sich wehrte. Als es gelungen war, stellte Tom ihm einen Fuß auf den Rücken. „Ich habe dich gewarnt, Gus, und Richter Forrest hat es dir auch versprochen – diesmal wanderst du in den Knast!“

„Ich wandere nirgendwo hin! Sie wird mich nicht anzeigen! Keiner von ihnen!“

Tom war sich nicht sicher, ob Gus wirklich so dumm war, wie er sich manchmal anhörte. Im Grunde hatte er immer nur viel zu sagen, wenn er betrunken war. Nüchtern war er mürrisch und still und schien seine verängstigte Familie mit Blicken zu steuern. Seine Augen waren dann zu Schlitzen verengt. Tom warf dem fünfzehnjährigen Frank einen Blick zu. Er sah die Augen des Vaters, sah auch Gus’ Hass darin. Frank war ein großer, schlaksiger Junge, schon fast ein ebenbürtiger Gegner für seinen Vater. Tom wurde in diesem Moment klar, dass der Albtraum nicht mehr lange dauern würde. Etwas würde passieren. Entweder würde Gus seine komplette Familie auslöschen, oder Frank würde Gus umbringen. So konnte es jedenfalls nicht weitergehen.

Tom riss Gus auf die Füße. „Wir hatten das alles oft genug. Niemand von ihnen muss dich anzeigen. Das werde ich erledigen.“ Er schob Gus zur Tür. „Ich setze ihn in den Wagen, dann komme ich zurück und sehe nach, ob jemand ernstlich verletzt ist. Okay?“

Leah schüttelte den Kopf. „Schon okay. Ich kümmere mich um die Jungs.“

„Wehe, du sagst nur ein Wort gegen mich, Frau! Wenn du das tust ...“ Tom schlug Gus mit der flachen Hand gegen den Kopf, damit er den Mund hielt. „Ha! Die Polizei misshandelt mich! Misshandlung durch die Polizei!“

Lee steckte seine Waffe ein und lachte laut. „Oh Mann, Sie haben Nerven, Gus.“

„Willst du dich etwa mit mir anlegen? Los, nimm mir die Handschellen ab, dann gehen wir raus auf den Hof!“

„Schön wär’s.“ Lee blickte ihn bedauernd an.

Zusammen mit Tom packte er Gus, der fluchte und um sich trat, während sie ihn zum Wagen brachten.

Kurz darauf betrat Tom wieder das Haus. Leah hatte den kleinen Stan auf dem Schoß und wischte sein tränenverschmiertes Gesicht mit einem Waschlappen ab. Frank stand starr daneben, den Rücken an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf seinem Wangenknochen prangte ein frischer blauer Fleck. Das ist Gus’ Vermächtnis, dachte Tom traurig. Auch diese Jungs werden später ihre Frauen und Kinder schlagen. Vermutlich sogar am ehesten derjenige von ihnen, der gerade am meisten erbost war über das gewalttätige Verhalten seines Vaters.

„Leah, ich bringe dich und die Jungs in die Arztpraxis. June soll sich das ansehen.“

„Ich bin okay, Tom“, wehrte sie ab. „Ich sehe mir die Jungs gleich an, und wenn einer von ihnen zum Arzt muss, bringe ich ihn hin. Wie lange wird er weg sein, Tom?“

„Ein paar Monate ganz sicher, vielleicht auch ein Jahr. Richter Forrest hat die Nase voll von seinen endlosen Entschuldigungen. Und du, Leah, musst endlich eine Entscheidung treffen. Viel Zeit bleibt dir nicht mehr.“ Er sah Frank an, Leah folgte seinem Blick. „Ich weiß, dass du das weißt.“

Sie lächelte hilflos. „Und wo soll ich mich mit meinen fünf Jungs verstecken?“

„Du musst nur Vertrauen haben, das ist alles. Ruf die Sozialarbeiterin an, sie hat bestimmt ein paar Ideen. Es gibt nicht nur die Frauenhäuser in der Stadt, sondern auch andere gute Hilfsprogramme. Es gibt Menschen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, Familien wie euch zu helfen.“

Leahs Lachen klang entmutigt und hohl. „Ja, an mir haben sie auch eine Lebensaufgabe. Fünf Söhne, kein Geld, keine Fähigkeiten, und ein Ehemann, der geschworen hat, mich zu töten, sollte ich ihn jemals verlassen.“

Tom fischte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und zog die Visitenkarte von Corsica Rios vom Sozialdienst des Countys heraus. Corsica lebte in Pleasure, hatte aber einen engen Bezug zu Grace Valley – auch weil ihr einziger Sohn, Ricky Rios, hier Deputy war. Sie hatte Erfahrung mit Fällen von häuslicher Gewalt – persönlich wie beruflich – und hatte Ricky selbst als alleinerziehende Mutter großgezogen. „Ruf diese Frau an. Sie wird dir sagen, wo es Hilfe gibt. Du darfst nur nicht aufgeben, klar?“

Leah sah die Karte einen Moment lang an.

„Du musst mich für schrecklich halten“, sagte sie schließlich. „Weil ich es zulasse, dass er meiner Familie das antut.“

Tom legte seine große, starke Hand auf ihre schmale, blasse. „Nein, Leah. Niemand denkt, du lässt es einfach so zu.“

3. KAPITEL

Bevor June morgens in die Praxis fuhr, legte sie gewöhnlich einen Zwischenstopp in Fuller’s Café ein – natürlich nur, wenn es keine Notfälle gab. Dort holte sie sich einen Kaffee zum Mitnehmen und einen Bagel, ein Donut oder etwas anderes zu essen, schwatzte ein bisschen mit den Stammkunden und startete danach beschwingt in den Tag. Heute allerdings würde sie ihre freundliche Routine unterbrechen – denn sie musste George Fuller den Kopf waschen.

„Guten Morgen, June“, begrüßte er sie lauthals und schenkte ihr einen Kaffee ein.

„George, sag mal – hast du eigentlich den Verstand verloren?“

„Was ist los?“

„Was hast du dir dabei gedacht, diese Leute um sechs Uhr morgens zu mir nach Hause zu schicken?“

Er sah sie völlig perplex an. June war mit ihm zur Schule gegangen und kannte diesen Blick genau. George war nicht blöd, er stellte sich in manchen Dingen nur fürchterlich dumm an. „Ich habe sie nicht zu dir geschickt, June. Sie wollten nur deine Adresse wissen.“

„Gibst du allen Fremden in einem klapprigen Pick-up meine Adresse, wenn sie danach fragen?“

Wieder dieser Blick.

Tom Toopeek, seit Kindheitstagen Junes bester Freund, beendete seine Unterhaltung mit zwei Ortsansässigen und ging hinüber zum Verkaufstresen, wo June mit George diskutierte. Tom lehnte sich gegen den Tresen, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte eine Tasse in der Hand, auf der „Das Gesetz“ stand. George hielt diese Tasse immer für Tom bereit.

„Es war noch früh am Morgen und ich hatte gerade Buddy auf die Weide gebracht, als dieser alte Wagen neben mir hielt und der Fahrer – ein netter Kerl, wenn du mich fragst – mich fragte, ob ich ihm den Weg zu Doc Hudsons Haus beschreiben könnte. Ich fragte ihn, welcher Doc, alt oder jung, und er antwortete: ,June.‘ Wirklich sehr freundlich, als wärt ihr gute Freunde. Seine Familie sah auch nicht krank aus oder so, obwohl die Frau eine schlimme Narbe mitten im Gesicht hat, stimmt’s? Aber sie sah gut verheilt aus, also dachte ich nicht, dass sie deine Dienste in Anspruch nehmen muss. Ich dachte mir, du erwartest sie vielleicht. Gab’s Ärger?“

„Oh nein, George. Überhaupt nicht! Sie okkupierten nur einfach mein Haus, während ich oben unter der Dusche stand.“

Vergeblich versuchte Tom, sein Lachen zu unterdrücken. „Oh Mann, June, tut mir leid. Ich wusste ja nicht ...“

„Mein Name steht auf dem Praxisschild, George. Kein Wunder, dass der Mann ihn wusste!“

„Meine Güte, June ...“

„Sag gefälligst nie mehr jemandem, wo ich wohne, wenn du nicht mit absoluter Sicherheit weißt, dass ich diese Leute bei mir haben will! Ist das klar?“

„Und woher soll ich das wissen?“

„Ruf mich halt vorher an, George! Oder nenn ihnen die Adresse der Praxis und sag ihnen, wir machen um acht Uhr auf!“ „Geht klar, June. Tut mir wirklich leid. Hier, dafür gibt’s eine Bärentatze aufs Haus.“ Er griff ins Regal und nahm ein Stück Gebäck.

„Sieh zu, dass so was nicht noch mal vorkommt“, erwiderte June beschwichtigt. Sie bekam oft genug von George ihre morgendlichen Kohlehydrate aufs Haus, denn es war immer gut, sich mit Medizin und Gesetz gut zu stellen. Das wusste George ganz genau.

„Kannst dich drauf verlassen, June.“

George Fuller war sehr erfolgreich in Grace Valley. Sein Café sicherte ihm ein gutes Einkommen, er hatte ein großes Haus und eine nette Familie. Seine Frau war hübsch und intelligent. Seit Jahren war er Mitglied im Stadtrat, unterrichtete immer wieder an der Highschool und schrieb ab und an wohlüberlegte, wenn nicht sogar erkenntnisreiche Leserbriefe. In der Schule hatte er immer gute Noten gehabt, soweit June sich erinnern konnte, aber trotzdem waren immer wieder Situationen entstanden, in denen er sich wie ein Volltrottel aufgeführt hatte.

„Bist bestimmt ganz schön erschrocken, als du aus der Dusche kamst und plötzlich Besuch hattest“, stellte Tom fest. Immer noch zuckten seine Mundwinkel.

„Kann man so sagen. Vor allem, weil ich runter in die Küche ans Telefon musste und nur mein Lieblingshandtuch trug.“

Toms hohe Cherokee-Wangenknochen barsten beinahe vor Anspannung. „Was für ein Start in den Tag.“

„Für die oder für mich?“

„Ich schätze, das gilt für beide.“ Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, sein breites Grinsen zu unterdrücken.

„Hat Ricky den Jungen schon nach Rockport gefahren?“

„Welchen Jungen?“, fragte Tom überrascht.

„Ich hatte heute Morgen auf dem Revier angerufen und darum gebeten, dass man einen jungen Patienten ins Krankenhaus bringt. Den Jungen aus meinem Wohnzimmer, der von seinen Eltern und seiner Schwester begleitet wurde. Die Familie Mull?“

Tom runzelte die Stirn. An den Namen konnte er sich absolut nicht erinnern. „Habe ich gar nicht mitbekommen, ich war mit etwas anderem beschäftigt. Lee und ich mussten im Morgengrauen raus zu den Cravens, mal wieder für Ordnung sorgen.“

„Oh Gott, nicht schon wieder. Die arme Leah.“

„Jetzt hat sie erst mal Ruhe vor ihm. Ich bin sicher, dass Judge Forrest Gus so lange wie möglich wegsperren wird.“

„Das kann nicht lange genug sein.“

„Ricky hat mir erzählt, dass er etwas für dich zu erledigen hat, aber er sagte mir nicht, was. Vor fünfzehn Minuten hat er noch auf der Station gesessen und gewartet. Und eine Familie Mull kenne ich nicht.“

Die Deputys erledigten häufiger etwas für June, beziehungsweise die Praxis, ohne dass Tom darüber informiert wurde. Manchmal mussten Patienten transportiert oder Laborproben ausgeliefert, Blutkonserven oder anderes notwendiges Zubehör abgeholt werden. Alles Mögliche. Die Praxis funktionierte nur dank der tatkräftigen Unterstützung durch die örtliche Polizei so gut.

„Diese Leute waren auch nicht von hier, Tom. Vielleicht wohnen sie oben in den Bergen oder sind Farmer aus einem anderen County. Der Vater kannte sich jedenfalls besser mit Verletzungen aus, als er zugab, und ich habe eine Tätowierung auf seinem Handgelenk gesehen. Vielleicht ist er ein Kriegsveteran oder ein Dope-Anbauer. Und Mrs Mulls Narbe – George hat sie eben schon erwähnt – zieht sich quer über eine Hälfte ihres Gesichts. Die arme Frau ist furchtbar entstellt, und vermutlich sieht sie auch auf dem einen Auge nichts. Wenn du sie schon mal gesehen hättest, wüsstest du, wen ich meine. Aber ihr Sohn brauchte dringend medizinische Hilfe. Ihm ist vor zwei Wochen oder so ein Esel auf den Fuß getreten, und inzwischen hat sich die Wunde entzündet und das Gewebe stirbt bereits ab. Wenn man noch länger wartet, wird er am Ende nicht nur den Fuß verlieren. Ich hatte schon Angst, dass sie gar nicht zur Polizeistation fahren. Vielleicht wollen sie nicht ins Krankenhaus.“

„Bist du ihnen auf dem Weg in die Stadt nicht begegnet?“

„Ich war erst noch bei Mikos Silva zum Blutdruck messen“, antwortete sie und schüttelte den Kopf.

„Und der Junge ist noch minderjährig?“, erkundigte sich Tom.

„Sechzehn. Aber trotzdem ...“

„Wir sehen uns mal um.“

„Sie fahren einen uralten Pick-up. Mit dem Ding kommen sie kaum von der Stelle, sie können also noch nicht weit gekommen sein.“ Bitte findet sie, bevor sie auf Nimmerwiedersehen in den Bergen verschwinden, fügte sie im Stillen hinzu.

Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand mit einem ernsthaften medizinischen Problem Junes Rat ignorierte. Trotzdem würde sie sich wohl nie daran gewöhnen.

Das Gelächter der vier alten Herren am Fenster unterbrach sie. George lehnte sich über den Tresen und versuchte, aus dem vorderen Fenster zu schauen. „Was ist los?“, rief er den Alten zu.

„Mary Lou Granger hat vor knapp einer Viertelstunde eine Kiste in die Presbyter-Kirche gebracht, und jetzt kommt die Frau des Pfarrers aus dem Pfarrhaus. Sie hat eine Spürnase wie ein Hund. Sie riecht es vom anderen Ende der Stadt, wenn ihr Mann mit einer anderen Frau allein ist.“

„Da kommt sie!“, rief ein anderer.

June und Tom gesellten sich ebenfalls ans Fenster und beobachteten, wie Mary Lou, eine attraktive junge Mutter um die dreißig, offensichtlich verärgert aus der Kirche kam. Sie trug eng anliegende Jeans und Stiefel und einen Pullover, der nicht ganz bis zur Hüfte reichte. Ihr dichtes, langes, braunes Haar wogte ihr in weiten Wellen über die Schultern. Als sie bei ihrem Kombi angekommen war, drehte sie sich noch einmal zur Kirche um, stampfte wütend mit dem Fuß auf und stieg schließlich ein.

„Wollen wir wetten, dass Pastor Wickham einen hübschen roten Streifen auf der Wange hat?“, fragte jemand.

„Er ist jedenfalls der mutigste Pfarrer, den wir jemals in dieser Stadt hatten“, meinte ein anderer. „Wenn er sich traut, sich den Zorn von Clarice Wickham zuzuziehen.“

„Genau das treibt ihn an, würde ich sagen.“

Die Männer brachen in Gelächter aus.

„Das ist nicht komisch.“ June schüttelte den Kopf über den Pastor.

„Ach, ich weiß nicht. Man darf den Humor nicht verlieren. Hast du ihn in letzter Zeit mal gesehen?“

„Nein, wieso?“

„Er trägt jetzt keine Perücke mehr. Er hat sich einer Haartransplantation unterzogen.“

„Ist nicht wahr!“

„Ist wahr. Seine Eitelkeit ist wirklich Ehrfurcht gebietend.“

Sie musste unwillkürlich kichern, doch dann wurde sie wieder ernst. „Ich denke, es wäre keine schlechte Idee, mal ein Wörtchen mit ihm zu reden, Tom. Du weißt besser als jeder andere, wie schnell solche Situationen eskalieren können. Seine aufdringlichen Blicke und die Tatsache, dass er seine Finger nicht bei sich behalten kann, werden ihm irgendwann echt Ärger einhandeln. Die Männer haben recht – Mrs Wickhams Zorn könnte übel enden. Was, wenn sie die Nase voll hat von seinen ewigen Eskapaden und Flirts? Sie wirkt auf mich ein bisschen, sagen wir, neurotisch.“

„Ich weiß ja, dass du recht hast, June. Vielleicht sollte ich wirklich mal mit ihm reden. Es wird auch nicht schaden, wenn er mitbekommt, dass wir alle wissen, was er so treibt.“ Tom zuckte die Schultern. „Es könnte ihm eine Warnung sein. Nur leider kann ich einfach nicht an mich halten, wenn ich mir seinen Haarschopf ansehe!“

June hob eine Augenbraue. „Ich wette, wenn er dir den Arsch tätscheln und dir ins Ohr blasen würde, könntest du es.“

Tom riss erstaunt die Augen auf, räusperte sich, leerte seinen Kaffee und sagte: „Da kannst du recht haben. Ich denke, ich fahre jetzt mal los. Vielleicht kann ich ja die Mulls in ihrem alten Pick-up überholen.“

Als June Hudson noch ein kleines Mädchen war, dachte sie immer, sie würde Arzthelferin bei ihrem Vater werden. Schon damals hatte sie begriffen, dass Doc Hudson das Leben der gesamten Stadt in seinen fähigen Händen hatte. Später machte June eine Ausbildung zur Krankenschwester, und sie hätte sicher auch ihren Abschluss gemacht, wäre nicht ihrem Chemieprofessor in Berkeley aufgefallen, dass sie ein besonderes Talent für die wissenschaftliche Arbeit besaß. Also wechselte sie mit der Zustimmung ihres Vaters an die medizinische Fakultät.

Während der Semesterferien arbeitete sie bei ihrem Vater. Bei ihm lernte sie nicht nur die Arbeit eines Allgemein- und Familienmediziners kennen, sondern die Arbeit eines Landarztes. Und das war ein großer Unterschied. Oft musste man auf dem Land mit weniger Ausstattung und Geräten auskommen, außerdem mussten sie häufig improvisieren, um die Patienten erfolgreich zu behandeln. June empfand es als weitaus anregender und herausfordernder als die Spezialisierung auf ein besonderes Fachgebiet. Welcher Arzt in San Francisco wurde schon um zwei Uhr nachts angerufen, um die Opfer eines Verkehrsunfalls zusammenzuflicken, weil der Rettungshubschrauber noch nicht da war? Wer fuhr nachts raus zu einem Holzfällercamp, um einen Mann und eventuell auch seine verletzten Gliedmaßen in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen?

Zwölf Jahre später kehrte June endgültig nach Grace Valley zurück, als frischgebackene, idealistische junge Ärztin. Doch sie musste feststellen, dass sie in der Zwischenzeit einiges über das Landleben vergessen hatte.

Da waren zum einen die Menschen, die nur sehr zögerlich Vertrauen zu ihr fassten. Ein neuer Arzt, noch dazu eine Frau! Dabei kannten alle sie seit Ewigkeiten. Sie musste erst ein paar Jahre als Elmers Assistentin arbeiten, bevor man sie ernst nahm. Und sie musste ein paar – von den Einheimischen als medizinische Wunder bezeichnete – Taten vollbringen, bevor sie den ersten Holzfäller ohne Stiefel sehen durfte. Selbst als Elmer schon einige Zeit im Ruhestand war, wandten sich die Männer noch an ihn. Doch ihr Vater schickte sie alle zu June. Oft traf er diese Art von Patienten im Café, an der Tankstelle oder auf der Post. Doch bei den meisten Menschen im Valley hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass June die zuständige Ärztin war. Abgesehen davon war ihr Vater ihr auf professioneller und persönlicher Ebene ein großer Halt. Seit Junes Mutter vor neun Jahren gestorben war, waren sie beide füreinander da.

Zum anderen galt in Grace Valley die alte Regel, dass man sich schon im neunten Schuljahr seinen späteren Ehemann auszusuchen hatte – zumindest, wenn man sein restliches Leben in dieser Stadt verbringen wollte. Glaubte sie wirklich, dass eines Tages ganz zufällig ein gut aussehender Junggeselle in die Stadt kommen und sich unsterblich in sie verlieben würde, während sie seinen verletzten Knöchel verarztete? June war inzwischen siebenunddreißig, und ihre beiden besten Freunde waren ihr Dad und Tom Toopeek. Sie hatte zwar auch einige gute Bekannte in ihrem Quilt-Club, den Graceful Women, und hielt Kontakt zu ihren alten Schulkameradinnen. Einsam war sie also nicht, aber die letzte richtige Verabredung mit einem Mann war bestimmt fünf Jahre her. Elmer dachte lange, sie wäre noch Jungfrau, was sie merkwürdig und lächerlich fand. Zum Glück stimmte es auch nicht. Allerdings war sie inzwischen ganz schön festgefahren – und wohl auch zu unabhängig, um in einer Beziehung einfach nur das hübsche Gesicht zu spielen. Gegen ein bisschen Romantik in ihrem Leben hätte sie trotzdem nichts einzuwenden.

Grace Valley war ursprünglich ein Fischer- und Farmerdorf gewesen. Es lag am Schnittpunkt von drei Countys, etwas näher an Mendocino County als an Trinity und Humboldt. In Rockport gab es ein kleines Krankenhaus, ein etwas größeres in Eureka, und als June und Elmer vor zehn Jahren ihre gemeinsame Praxis eröffnet hatten, hatten die Leute das als Extravaganz angesehen. Eine Arztpraxis in einer Stadt mit neunhundert Einwohnern! Heute lebten in Grace Valley tausendfünfhundertvierundsechzig Menschen, und die medizinische Versorgung durch die Arztpraxis war notwendiger denn je.

June parkte gleich hinter der Praxis neben Charlotte Burnhams Wagen. Charlotte war sechzig Jahre alt und bereits Arzthelferin bei ihrem Vater gewesen. Eine taffere oder effizientere Kraft ließ sich kaum finden. Aber auch keine mürrischere. Der einzige Mensch, bei dem sich Charlotte jemals bemühte, freundlich zu sein, war Elmer. Trotzdem war ihr Ehemann Bud ziemlich vernarrt in sie. Inzwischen war June schon seit einer ganzen Weile die offizielle Ärztin, aber diesen Übergang schien Charlotte nicht wirklich mitbekommen zu haben. Natürlich erledigte sie ihre Aufgaben, aber sie behandelte June immer noch wie das kleine Mädchen, das seinen Vater in der Praxis besuchte, und nicht wie ihre Chefin. Doch June hatte aufgehört, sich darüber aufzuregen. Sie hatte einfach ihre Rachegelüste ausgelebt, indem sie Jessica Wiley einstellte, was Charlotte als schrecklichen Fluch empfand.

Charlotte kam gerade, als June aus ihrem Jeep stieg, aus dem Hintereingang, um eine Zigarette zu rauchen. In der Praxis war Rauchen selbstverständlich nicht gestattet. Charlotte würde jetzt eine Weile draußen bleiben, husten, wieder an die Arbeit gehen und über kurz oder lang die nächste Kippe brauchen. Neben der Hintertreppe stand eine Kaffeedose, die zur Hälfte mit Zigarettenstummeln gefüllt war. Schon seit Jahren versuchte June, Charlotte zum Aufhören zu bewegen.

„Frustzigarette?“, erkundigte sich June.

Charlotte holte tief Luft. „Heute brauche ich sie noch mehr als sonst“, gab sie von sich.

„Ach ja? Hat Jessie sich wieder extra für Sie schick gemacht?“

„Warten Sie’s ab.“ Sie nahm den nächsten Zug.

Die Sprechstundenhilfe Jessica war zwanzig. Sie hatte die Schule geschmissen, war aber trotzdem die beste Bürokraft, die June je hatte. Sie war sehr klug, einfallsreich und schnell im Kopf – aber auch ein wenig exzentrisch. Ihre Outfits waren immer äußerst auffällig. June war schon ganz gespannt, was sie heute erwarten würde. Die schwerfällige Charlotte und die avantgardistische Jessica sorgten jedenfalls immer für Abwechslung. Sie benahmen sich nicht gerade wie Mutter und Tochter.

Oder ... vielleicht doch?

June trat sich die Schuhe ab und stellte die schlammverkrusteten Stiefel vor die Tür, damit sie in der Sonne trocknen konnten. Auf dem Weg zur Praxis war sie noch beim alten Mikos Silva gewesen. Sie fuhr regelmäßig bei ihm auf seiner Farm vorbei, um ihm den Blutdruck zu messen. Seine Auffassung davon, es auf ihre Empfehlung hin „ruhig angehen“ zu lassen, sah so aus, dass er bis halb fünf morgens schlief und nur die Hälfte von der Arbeit erledigte, die er zu erledigen hatte. An diesem Morgen hatte sie in der Scheune nach ihm suchen müssen. Ein Farmer vom alten Schlag, wie Mikos einer war, konnte nicht lange still sitzen. Er hatte Angst, tot umzufallen, wenn er mal nichts arbeitete – ungeachtet aller medizinischen Ratschläge, die ihn zum Gegenteil bewegen sollten.

June schlüpfte in ihre Clogs und machte sich auf den Weg in die vorderen Praxisräume. Eigentlich wollte sie einen guten Morgen wünschen, aber der Anblick von Jessicas neuer Frisur raubte ihr den Atem.

Das Mädchen war ein Goth – so bezeichnete sie sich zumindest selbst. Schwarze Kleidung, viele Piercings an den seltsamsten Stellen, schwarzer Nagellack und Lippenstift. Es gab jedoch keinen Beweis dafür, dass sie irgendwelche schrecklichen Dinge tat – wie Menschenopfer bringen oder so etwas, trotz ihres Erscheinungsbilds, das unwillkürlich darauf schließen ließ. Heute schoss Jessica den Vogel ab. Sie hatte sich die Haare abrasiert bis auf einen bunten Irokesenkamm, der sich stolz in die Höhe reckte und dessen gewagte Strähnen in Lila, Blau, Rot, Orange und Gelb bei jeder ihrer Bewegungen hin und her wippten.

June war sich nicht sicher, wie lange sie ihre Sprechstundenhilfe angestarrt hatte, aber in diesem Moment kehrte Charlotte an ihren Arbeitsplatz zurück. June sah sie an, und Charlottes Blick verhieß nichts als grimmiges Elend. Und die Warnung: Wehe, Sie sagen ein Wort der Bewunderung zu ihr. Als June ins kleine Wartezimmer spähte, musste sie feststellen, dass alle sechs Augenpaare der wartenden Patienten ebenfalls auf Jessicas Irokesenfrisur gerichtet waren. In ihnen spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination.

„Es geht gleich los“, teilte sie den Wartenden mit. „Guten Morgen, Jessica. Neue Frisur?“

Jessica sah von ihrer Arbeit auf, lächelte sie auf entzückendste Weise an, denn sie war eine entzückende Person, und nickte. Durch das Nicken gerieten ihre verschiedenen Piercings in Bewegung – in den Ohren, der Augenbraue, der Nase und vermutlich auch an anderen Stellen, die June sich lieber nicht vorstellen mochte.

Sie schnappte sich den Stapel mit Patientenkarteien, den Charlotte bereitgelegt hatte, und ging zu ihrem Sprechzimmer. Die Krankenschwester folgte ihr und schloss die Tür hinter sich.

„Ich bin am Ende mit meiner Kraft“, stöhnte Charlotte.

„Nehmen Sie’s leicht. Es ist nur eine Frisur.“ June musste sich zurückhalten, um nicht eine Bemerkung über Charlottes eigene Frisur zu machen, dunkelrot getönt mit leichtem Hang zum Lila, die immer so aussah, als hätte sie schon vor zwei Wochen nachgetönt werden müssen, denn das Grau kam durch.

„Das dürfen Sie ihr nicht durchgehen lassen!“

„Charlotte, sie ist ein sehr nettes Mädchen und eine sehr effiziente Kraft.“ Fast hätte June laut gelacht. „Sie bringt Farbe in unsere Praxis!“

„Wieso erlaubt ihr Vater ihr diesen Irrsinn?“

Charlotte und Bud hatten sechs Kinder großgezogen. Keins von ihnen hatte es sich jemals getraut, den Scheitel auf der falschen Seite zu tragen oder sich gar die Haare abzurasieren oder zu färben. Doch Jessicas Vater Scott, ein fröhlicher, toleranter Künstler, der bereits mit zweiundvierzig Witwer war, überließ es seiner Tochter, ihren eigenen Weg zu gehen. June fand diesen Erziehungsstil gut, auch wenn sie das Charlotte gegenüber niemals zugeben würde.

„Was haben Sie zu Jessie gesagt?“

„Ich habe beschlossen, überhaupt nicht zu reagieren.“

„Sie nehmen sich Jessicas Kleidung und Frisuren unnötig zu Herzen, Charlotte. Vielleicht sollten Sie mal mit jemandem darüber reden? Wie wäre es mit einem Besuch bei Dr. Powell?“ Jerry Powell war der örtliche Seelenklempner – ein promovierter Psychologe mit Schwerpunkt Familientherapie. Er hatte sich auf der Suche nach einem ruhigen, friedlichen Leben nach Grace Valley zurückgezogen, nachdem er zwanzig Jahre lang eine Praxis im Silicon Valley geführt hatte.

„Wieso sollte ich mit dem Spinner reden?“

Jerry Powell war vermutlich ein ausgezeichneter Therapeut – allerdings war er davon überzeugt, er sei einst von Außerirdischen entführt worden.

„Er unterscheidet sich nicht sonderlich von den meisten Einwohnern hier.“

„Von uns glaubt doch niemand an außerirdische Raumschiffe, um Himmels willen!“

„Oh nein“, sagte June lachend. „Natürlich nicht. An Engel, vergrabene Schätze, indianische Geister, verborgene Höhlen und Big Foot – ja. Aber doch nicht an Raumschiffe!“

Charlotte presste die Lippen zusammen. „Ich glaube manchmal, Sie nehmen mich auf den Arm.“ Eilig verließ sie June.

Jerry Powell nahm seinen Kaffee mit ins Büro und wartete dort auf den ersten Patienten des Tages, Frank Craven. Ein Notfall – der Junge war an der Schulbushaltestelle in eine Schlägerei verwickelt gewesen und wurde nun von der Schule geschickt.

Jerry lebte erst seit wenigen Jahren in dem einstöckigen Haus. Einerseits würde er für die nächsten zwanzig Jahre in Grace Valley als Neuankömmling gelten, andererseits hatte man ihn im Ort bereits akzeptiert. Was nicht bedeutete, dass man ihn besonders bevorzugte oder sonst wie hegte und pflegte. Nein, man akzeptierte ihn als den Seelenklempner aus San Jose, der vor knapp zwanzig Jahren in Medienberichten behauptet hatte, er sei mit einem Außerirdischen-Raumschiff unterwegs gewesen. Den „Raumschiff-Shrink“ nannten einige ihn hier. Oder auch den „schwulen Raumschiff-Shrink“, obwohl in Grace Valley niemand genau wusste, ob Jerry Powell homo- oder heterosexuell war. Ohne Zweifel gab es eine Menge Einwohner, die ihn für bekloppt hielten, aber es gab auch genügend Menschen, die auf seine Dienste zurückgriffen. Er verdiente in der kleinen Stadt wesentlich besser, als er es zu hoffen gewagt hatte.

Die Garage des Hauses hatte er zu seiner Praxis umfunktioniert. Ein gepflasterter Fußweg führte zur Seitentür, damit seine Patienten nicht durch seine Privaträume zur Therapiesitzung gehen mussten. Die eine Hälfte der Garage diente als sein Büro, die andere als Wartezimmer. Außerdem hatte er ein großes Fenster einbauen lassen und konnte daher sehen, wann seine Patienten kamen. Und genau durch dieses Fenster bemerkte er jetzt auch den Polizeiwagen, einen braun-beigefarbenen SUV. Lee Stafford saß am Steuer, und Frank Craven stieg aus.

Jerry kam es vor, als sähe er sich selbst vor fünfunddreißig Jahren: dünn, schlaksig, zu lange Arme, schlecht geschnittene Haare, gesenkter Kopf und unbeholfener Gang. Eigentlich hatte sich daran nicht viel geändert, fiel Jerry auf. Er war eins vierundneunzig groß, hatte Schuhgröße 51 und schaffte es bis heute nicht, sein welliges blondes Haar zu bändigen. Und obwohl er versuchte, sich aufrecht zu halten, gelang es ihm selten – schließlich befanden sich neun Zehntel seines Körpers unterhalb des Kinns.

„Komm rein, Frank, komm rein“, begrüßte er den Jungen und hielt ihm die Tür auf. „Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet. Ich bin Jerry Powell.“

„Der Raumschiff-Typ“, murmelte Frank missmutig und mit geschwollenen Lippen.

„Genau der bin ich. Du hast einen aufregenden Morgen hinter dir. Möchtest du etwas trinken? Wasser? Saft? Limo?“

„Nein.“

„Bitte komm mit in mein Büro. Falls du es dir anders überlegt hast, sag es ruhig.“

Aber Frank folgte Jerry in sein Büro. Jerry wartete an der Tür, bis er sich einen Sitzplatz gesucht hatte. Er hatte die Wahl zwischen einer Couch und zwei Stühlen an einem niedrigen Tisch, oder er konnte sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch setzen. Doch Frank stand einfach nur da. „Setz dich“, forderte Jerry ihn auf.

„Wohin?“, fragte der Junge.

„Egal wo.“

„Wohin?“, fragte er noch mal. Offensichtlich wollte er es nicht selbst entscheiden.

„Wie wäre es hier?“, übernahm Jerry die Führung und deutete auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch.

Frank ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Dauert das hier lang?“

„Wahrscheinlich nicht. Ich will dir nur vorher rasch ein paar Dinge erklären. Ich werde mir Notizen machen, weil ich meinem Gedächtnis nicht traue. Diese Aufzeichnungen sind streng vertraulich. Auch wenn dein Schulleiter dich hierher geschickt hat, darf ich ihm nichts über unser Gespräch mitteilen. Ist das okay für dich?“

„Ist mir doch egal, was Sie dem sagen. Das blöde Arschloch.“

„Ich werde ihm nur mitteilen, dass unsere Sitzung stattgefunden hat“, informierte Jerry ihn ungerührt, als hätte er die Bemerkung gar nicht gehört.

„Ich hatte die Wahl. Schulverweis oder Therapeut.“

„Ja, und ...“

„Hätte ich die Wahl gehabt zwischen kurzzeitiger Beurlaubung und Therapie, hätte ich die Beurlaubung genommen.“

Jerry hatte die Beine übereinandergeschlagen und legte sich jetzt einen gelben Block auf die Knie, auf dem er das Datum notierte. 17. April. „Wieso hast du dich gegen den Schulverweis entschieden? Gehst du gern zur Schule?“

„Nicht wirklich. Aber meine Ma möchte gern, dass ich hingehe.“

„Aber jetzt hättest du die perfekte Entschuldigung gehabt. Ein Schulverweis.“

Frank zog an einem Faden seiner Jeans. Die Hose war in keinem guten Zustand, sie war alt und nun auch noch verdreckt von der Rauferei.

„Deine Mutter hat heute schon genug durchgemacht, schätze ich.“

Frank sah auf. „Woher wissen Sie davon?“ Wut funkelte in seinen Augen. Ein wütender junger Mann.

„Ich weiß nur, dass du in eine Schlägerei an der Bushaltestelle verwickelt warst, weil jemand eine Bemerkung darüber fallen ließ, dass man deinen Vater ins Gefängnis gebracht hat. Und dadurch fühltest du dich ... was? Beleidigt? Oder hast du dich geschämt?“

„Es hat mich einfach angekotzt.“

„Ja?“, hakte Jerry nach.

„Ja.“

„Und es hat dich angekotzt, weil ...“

„Nur so.“

„Willst du nicht mit mir darüber reden?“

„Nein, es ist vorbei. Die Nummer ist durch.“

„Wir müssen aber gemeinsam etwas tun. Unsere Sitzung dauert noch fünfundfünfzig Minuten.“

Schweigen.

„Ich bin nicht verpflichtet, mit irgendjemandem über unser Gespräch zu reden. Aber das bedeutet nicht, dass ich das nicht tun möchte.“

Augenkontakt. Unglückliche Augen.

„Zum Beispiel: Wenn ich der Meinung bin, es könnte dir guttun, wenn wir uns öfter unterhalten, kann ich mich dafür aussprechen, ohne dafür einen Grund zu nennen. Das reicht in der Regel.“

Noch unglücklichere Augen.

„Also, lass uns reden, damit ich weiß, wo wir stehen. Okay? Sag mir wenigstens, was dich dazu bringt, jemanden zusammenzuschlagen. Was muss ich sagen, damit du mich an der Bushaltestelle verprügelst?“

„Oh Mann ...“

„Ich habe Geduld. Und ich werde pro Stunde bezahlt.“

„Wer bezahlt für die Stunde?“, wollte Frank wissen.

„In deinem Fall im Prinzip die Schulbehörde, die dafür entsprechende Gelder vom County zugeteilt bekommt. Wenn ein Jugendlicher Probleme hat und die Schule es für sinnvoll erachtet, dass er mit einem Psychologen spricht, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Versicherung der Eltern zahlt oder die Schule. Was ist los mit dir, Frank? Wieso bist du so wütend?“

Der Junge wand sich ein wenig, atmete laut durch die Nase ein und begann schließlich zu reden. „Wie wär’s, wenn wir eine Abmachung treffen? Wenn ich eine halbe Stunde lang alle Ihre Fragen beantworte, beantworten Sie mir dann auch eine?“

Wie unoriginell. Jerry hörte diesen Vorschlag regelmäßig. Aber er kannte alle Tricks. „Los geht’s“, sagte er.

In den folgenden dreißig Minuten erfuhr er eine Menge über Gus’ Saufattacken, die Schläge, die Wutanfälle und die regelmäßigen Besuche durch die Polizei. Er erfuhr auch, wie sehr Frank seinen Vater hasste und wie sehr er seine Mutter liebte, die er aber auch verachtete. Er erfuhr, wie stark Franks eigene Wut war und wie frustriert er war, dass er seine Mutter und seine kleinen Brüder nicht beschützen konnte. Jerry wünschte, er würde diese Geschichte zum ersten Mal hören, doch all das kam leider sehr häufig vor. Er wusste bereits, was zu tun war – er würde Frank zu einem Antiaggressionstraining schicken und in eine Therapiegruppe für misshandelte Jugendliche. Aber er musste langsam und vorsichtig vorgehen – und auch seinen Teil der Abmachung einhalten.

„Also.“ Frank beugte sich in seinem Stuhl nach vorn. „Wie sieht es im Inneren eines Raumschiffs aus?“

„Es sieht alles aus wie glänzendes Metall, aber es ist ein anderes Material, ähnlich wie Glas.“

4. KAPITEL

Christina Baker war sechzehn und schwanger. Und verheiratet, womit sie im Vergleich zu anderen minderjährigen Müttern etwas besser dran war. Sie litt unter Anämie, war untergewichtig und vermutlich auch depressiv.

„Ist die morgendliche Übelkeit vorbei?“, erkundigte sich June.

„Oh ja. Mir war schon lange nicht mehr schlecht.“

„Und spürst du, wie das Kind sich bewegt?“

„Ja. In den letzten paar Monaten jedenfalls. Gary ist so aufgeregt, er kann es kaum noch aushalten.“

Es klang nicht überzeugend. Ihre blauen Augen wirkten leer.

June kannte weder Christina noch ihre Familie wirklich gut. Sie lebten weiter unten im Valley. Besser gesagt: Sie wohnten irgendwo in der Einöde, abseits vom Schuss, aber immerhin nicht in den Bergen. Irgendwo auf einer Farm oder in einer Hütte, vielleicht auch in einer Wohnwagensiedlung. Das Mädchen ging offensichtlich nicht zur Schule, denn den Fragebogen für neue Patienten hatte Jessica mit ihr ausgefüllt. Vermutlich war Christina Analphabetin. Das eigentlich Überraschende war, dass es ihr erstes Kind war. Immerhin wurde sie von ihrem jungen Ehemann begleitet – er saß draußen im Wartezimmer. Vielleicht würden sie es mit ihren Kindern besser machen, als ihre Eltern es mit ihnen gemacht hatten.

„Und hilft dir Gary auch ein bisschen im Haushalt? Ich mache mir Sorgen wegen deines Gewichts und deiner Blutarmut. Du arbeitest zu viel.“

„Es ist nicht der Haushalt. Ich stehe morgens um vier Uhr auf und reite nach Fort Seward, wo ich mit meiner Mama und meiner Tante im Gewächshaus arbeite. Das strengt mich an, aber es geht nicht anders. Wir brauchen das Geld.“

„Und wo arbeitet Gary?“

„Als Holzarbeiter. Wenn er arbeitet. Im Moment hat er nichts.“

June runzelte die Stirn. Wieso das? Eigentlich war gerade Hochsaison für Holzfäller. Hatte man ihn am Ende rausgeworfen? In den regnerischen Wintermonaten fanden die Holzarbeiter, Bauarbeiter und Fischer tendenziell keine Arbeit, aber im Frühjahr ging es wieder los.

„Macht er sonst noch was? Außer Holzfällen?“

„Er arbeitet auch auf dem Bau.“

Gerade auf dem Bau gab es im Moment Arbeit im Überfluss. Ohne Ende zogen Menschen aus den Ballungsgebieten aufs Land, weil sie weg wollten aus dem Lärm und dem Dreck und das ruhige Landleben suchten. Das war der Grund, weswegen sich die Einwohnerzahl von Grace Valley in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt hatte.

„Das ist ein ganz schönes Pensum für dich. Ich bin ja froh, dass ich deine Schwangerschaft betreuen darf, Christina, aber kennst du nicht Dr. Lowe? Seine Praxis liegt auf deinem Weg nach Fort Seward. Es wäre sicher einfacher für dich, wenn du vor oder nach der Arbeit zu ihm gingest.“

„Ich weiß. Aber ich habe gehört, dass Sie echt gut sind.“

„Ach ja?“ June musste lächeln. Sie freute sich, obwohl ihr klar war, dass dieses Mädchen sicher nicht wusste, was gut ist. „Das ist schön.“ Sie warf einen Blick auf die Karteikarte. Christina war definitiv nicht gesund und sollte an einen Facharzt verwiesen werden. June würde so gern John Stone anstellen – dann könnte sie solche Probleme in Zukunft leichter lösen.

„Ich werde dir zusätzliche Vitamine mitgeben, Christina. Du musst dringend zunehmen.“

„Gary mag keine dicken Frauen.“

„Wenn Gary Vater werden möchte, sollte er seinen Geschmack ändern. Dein Kind braucht die Versorgung im Mutterleib.“

„Ja, Ma’am. Ich weiß.“

Das war ein Teil ihrer Arbeit als Landärztin, der ihr schwerfiel. Grace Valley war ein kleiner Ort mit ein paar außergewöhnlichen Geschäften und Restaurants, die vor allem Besucher von außerhalb anzogen – Leute mit schicken Autos. Die meisten Geschäftsleute hier hatten ein gutes Auskommen, und in letzter Zeit waren einige Yuppies zugezogen, die nicht aufs Geld achten mussten, und so war das Leben noch teurer geworden. Über die zusätzlichen Steuereinnahmen freuten sich die Schulbehörde und das Straßenbauamt. Es gab auch ein paar äußerst erfolgreiche landwirtschaftliche Betriebe und Weinbauern im Valley. Aber es gab auch bittere Armut und sehr viele Menschen, die zum Beispiel das schicke Restaurant Vine & Ivy samt eigenem Souvenirshop noch nie betreten hatten. Sie gingen auch nicht im Crack’d Door ein und aus, einer teuren Galerie, die vor sechs Jahren eröffnet hatte. Aber trotzdem traf sie diese Menschen überall – neuerdings auch morgens früh in ihrem eigenen Wohnzimmer. Wenn man sich die Häuser in der Stadt ansah, die kleinen Pensionen, die Ende der achtziger Jahre eröffnet hatten, die Wein- und Delikatessen-Probierstuben, die viele neue Architektur, dann konnte man diesen Ort für wohlhabend halten. Aber es gab eben noch eine andere Seite der Gesellschaft, mit der vor allem die Polizei, die Mediziner und die Sozialarbeiter in Kontakt kamen. Misshandelte Frauen, die in völliger Isolation auf heruntergewirtschafteten Farmen lebten. Es gab auch das Etablissement Dandies, das alles andere als idyllisch war und sicher keine Touristen anlockte.

Und der potenzielle Kollege, den sich June neu in ihre Praxis holte, musste diese zwei Gesichter der Stadt kennen und verstehen.

Als sie mit Christinas Karteikarte in der Hand wieder nach vorne ging, sah sie, dass die junge Frau ihre letzte Patientin an diesem Morgen gewesen war. Das Wartezimmer war leer.

„Haben Sie was Besonderes vor zum Lunch?“, erkundigte sich Charlotte.

„George Fuller aus dem Weg gehen.“

„Ich habe gehört, dass er Ihnen um sechs Uhr heute Morgen Fremde ins Haus geschickt hat, denen Sie dann nackt gegenüberstanden, als Sie aus der Dusche kamen.“

„Meine Güte! Diese Stadt ist doch immer wieder erstaunlich! Wieso haben wir überhaupt eine Lokalzeitung?“

Charlotte zuckte die Schultern. „Wir brauchen ein paar Märchen zum Lesen, würde ich sagen. Ich wette, Sie vergessen nie wieder, Ihr schnurloses Telefon anzuschließen!“

„War etwa mein Vater hier?“, fragte June misstrauisch.

„Nein, aber Ihre Tante Myrna hat angerufen. Sie wollte wissen, ob Sie nicht zum Lunch zu ihr rausfahren könnten, und wenn ja, ob sie ihr die Blutdruckmedikamente mitbringen würden.“

Ihre Tante, die in dieser Stadt lebte, in der jeder alles über den anderen wusste, hatte erstaunlicherweise immer noch nicht registriert, dass sie statt Blutdruckmitteln Placebos bekam. Myrna erfreute sich nämlich erstaunlich guter Gesundheit.

In letzter Zeit hatte June sie dennoch ziemlich häufig besucht – offensichtlich hatte ihre Tante Langeweile oder war ruhelos. Myrna war vierundachtzig und alles andere als ein Stubenhocker. Mit ihrem Cadillac Baujahr 1967 fuhr sie munter durch die Gegend, unter anderem zu ihrer wöchentlichen Pokerrunde mit Elmer, Judge Forrest, Burt Crandall und Sam Cussler. Myrna war die älteste in der Runde und gewann am häufigsten.

„Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, ich bin schon auf dem Weg“, seufzte June. „Ich kann etwas Tapetenwechsel gebrauchen. Und sagen Sie ihr bitte auch, dass ich Scones mitbringe aus der Bäckerei.“.

„Hatten Sie heute nicht schon eine Bärentatze?“, fragte Charlotte.

June war schon an der Tür, drehte sich jetzt aber noch einmal um und blickte die Arzthelferin an. Charlotte selbst war deutlich übergewichtig. June kannte sie gar nicht schlank. Sie selbst dagegen war klapperdünn, eine dieser armseligen Gestalten, die schon in der Highschool vergeblich versucht hatten, mithilfe von Ergänzungsernährung an Gewicht zuzulegen. Und doch behielt Charlotte ihre Nahrungsaufnahme im Blick, als litte sie unter einer Essstörung. June sah sie fragend an.

„Sie bleiben auch nicht ewig jung“, gab Charlotte zu bedenken und wandte June den Rücken zu.

June setzte sich in ihren Jeep, ließ die Tür aber noch offen und schrieb sich rasch in ihr Notizbuch ein paar Fragen auf, die sie John Stone stellen wollte, sowie ein paar Dinge, über die sie ihn informieren wollte.

„Du lieber Himmel“, hörte sie da einen Mann sagen und erschrak. An die geöffnete Wagentür gelehnt stand der Pastor Jonathan Wickham und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Wie sehen Sie denn aus? Gibt’s was zu feiern?“

Erst wusste sie nicht, was er überhaupt meinte, dann fiel ihr wieder ein, dass sie heute statt Jeans und Stiefeln etwas schicker angezogen war. In der Stadt trugen Ärztinnen Röcke und Kleider, aber hier draußen hatte sich praktischere Kleidung bewährt, mit der man auch problemlos durch Schlamm stapfen konnte, wenn es sein musste.

„Na ja, nicht ganz. Aber heute Nachmittag kommt ein Kollege und stellt sich für die Praxis vor. Was ist denn mit Ihrer Wange passiert? Haben Sie sich eine Ohrfeige gefangen?“

Der Pastor runzelte die Stirn, berührte seine Wange und bemerkte erst dann, dass sie flachste. Er lächelte sie an.

Jonathan war einer dieser Männer, die eigentlich gut aussahen, diesen Eindruck aber durch peinliches Benehmen sofort wieder wettmachten. Er war groß und schlank und über eins achtzig groß. Er arbeitete nicht körperlich, deswegen hatte er keine muskulöse Statur, aber unmännlich wirkte er auch nicht – dafür sorgten sein markantes Kinn und seine gesunde Gesichtsfarbe. Er hatte schöne Zähne, dennoch wirkte sein Lächeln immer bemüht. Außerdem hatte er mit beginnendem Haarausfall zu kämpfen. Leider konnte er sich nicht damit abfinden, sondern experimentierte mit immer neuen Haarteilen, Perücken und jetzt dieser albernen Haarverpflanzung.

„Sie sehen fantastisch aus“, sagte er. „Selbst für die Heiligen wären Sie eine Versuchung.“

„Wie schön! Solange ich keine Versuchung für Sie bin, Jonathan.“ Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und startete den Wagen.

„Ich bin eben nur ein Sterblicher ...“

„Habe ich heute Morgen nicht Mary Lou Granger aus der Kirche stürmen sehen – gleich, nachdem Clarice reingestürmt ist? Mir schien fast, die beiden hätten eine Meinungsverschiedenheit gehabt.“

Er musste einen Moment nachdenken. June wurde klar, dass Tom recht hatte. Es war schwierig, angesichts der Haarverpflanzung nicht laut loszuprusten. Jonathan war ein notorischer Anmacher, dabei konnte er es gar nicht. Bei June schien er sich außerdem zurückzuhalten – als ahnte er instinktiv, dass sie ihm den Arm brechen würde, wenn er ihr zu nahe kam.

„Ich weiß gar nicht, worum es dabei ging. Wohl ein Missverständnis.“

„Wahrscheinlich.“ June legte den Rückwärtsgang ein. „Jonathan, ich muss los, ich bin schon zu spät. Brauchen Sie irgendwas von mir, oder war das nur ein Test, ob Sie mit Ihren Komplimenten Erfolg haben?“

Er lachte und gab die Tür frei. „Sie kennen mich zu gut. Ich war auf dem Weg zu Ihnen, weil ich Sie bitten wollte, mir noch etwas von der Salbe gegen trockene Haut zu geben.“

Sie machte die Tür zu und lehnte sich mit dem Ellbogen ins geöffnete Fenster. „Fragen Sie Charlotte oder kommen Sie später noch mal vorbei. Ich muss jetzt ein paar Besorgungen machen.“

In diesem Moment kam Charlotte aus der Praxis. Sie hatte ihre Handtasche dabei und bekam noch den Rest von Junes Worten mit.

„Kommen Sie später vorbei“, wimmelte sie den Pastor ab.

„Ich könnte doch ... äh ... Vielleicht könnte Jessie ja ...“

„Jessie darf keine Medikamente ausgeben, Pastor. Besser wäre es ...“

„Ich schaue nur kurz bei ihr rein. Ich habe sie ewig nicht gesehen.“

„Nein!“, riefen beide Frauen. Instinktiv hob er die Hände, wie um ihren Protest abzuwehren. Langsam machte er kehrt und ging auf die andere Straßenseite. June und Charlotte tauschten einen Blick, aber keine von beiden bewegte sich von der Stelle, bis der Pastor wieder zurück bei seiner Kirche war. Und dann tat Charlotte etwas Außergewöhnliches: Sie drehte sich um und schloss die Hintertür ab. Jessica saß vorne am Empfangstresen, und von hier aus konnte jeder sehen, wer das Gebäude betrat.

June und die Krankenschwester sahen sich noch einmal kurz an und nickten.

Pastor Wickham und seine Familie lebten erst seit knapp einem Jahr im Valley, aber sein Ruf wurde mit jedem Tag schlechter. Was die alten Männer im Café amüsierte, ging ihr und einigen anderen Frauen ziemlich auf die Nerven.

Charlotte fuhr wie immer zum Mittagessen nach Hause, um dort mit ihrem Mann zu essen und in Ruhe eine zu rauchen. Meistens war auch June über Mittag nicht in der Praxis, und so hielt Jessica allein die Stellung und nahm die Telefonanrufe entgegen, während sie ihren mitgebrachten Lunch aß.

Jessica gefiel das. Wenn jemand wüsste, womit sie sich beschäftigte, würden sicher alle denken, nicht nur ihre Frisur wäre seltsam. Denn sie ging in Junes Büro und schnappte sich eins der medizinischen Standardwerke, meistens „Henry Gray’s Anatomy of the Human Body“, manchmal aber auch das Fachbuch „Infektionskrankheiten und Mikrobiologie“, in denen sie dann fünfundvierzig Minuten las und die Bilder betrachtete, während sie an ihrem Erdnussbuttersandwich knabberte.

Niemand wusste davon. Jessica war Schulabbrecherin und hatte keinen Abschluss gemacht. Sie ging deshalb fest davon aus, dass jeder, der von ihrer heimlichen Leidenschaft für komplizierte Fachbücher erfahren würde, einen Lachanfall bekäme. Ihr Vater hatte begriffen, dass sie nicht per se gegen die Schule und Lernen war. Sie hatte sich nur einfach fehl am Platz gefühlt.

In Junes Praxis dagegen fühlte sich Jessica pudelwohl.

Die örtliche Bäckerei wurde von Burt Crandall und seiner Frau Syl betrieben. Burt war nach dem Koreakrieg nach Grace Valley zurückgekehrt und hatte sein eigenes Geschäft eröffnet, um nicht mehr fortzumüssen. Er war weder Landwirt noch Fischer, also überlegte er sich, welches Handwerk in der kleinen Stadt wohl gebraucht wurde. Eigentlich wollte er die Tankstelle übernehmen, aber sie war nicht zu verkaufen, und so eröffnete er eine Bäckerei, obwohl er überhaupt keine Ahnung von dem Metier hatte. Allerdings würde man das niemals vermuten, denn seine Backwaren schmeckten vorzüglich. Burt versorgte die gesamte Stadt, inklusive das Café und das Vine & Ivy, mit seinen Bäckereiprodukten – und auch einige andere Lokale in der näheren Umgebung.

Die Türglocke klingelte, als June eintrat.

„Hallo, June. Ich habe gehört, du hast heute Morgen als Flitzerin ein paar alte Leutchen aus den Bergen erschreckt?“, meinte Burt zur Begrüßung grinsend.

„Du kennst mich“, erwiderte June leicht genervt. „Ich muss mich einfach ständig ausziehen.“

Er lachte glücklich, eigentlich kicherte er mehr wie eine alte Frau. Seine Zähne waren zu groß für seinen Mund, und wegen seiner stets guten Laune sah man sie häufig. Er war eigentlich dünn – bis auf den dicken Bauch. Ein Fass auf zwei Beinen.

Seine Frau hatte die Statur eines Wasserballs – klein und rund. Wie aufs Stichwort trat in diesem Moment Syl durch die Schwingtür im hinteren Teil des Ladens. Sie hatte ein großes Blech mit frisch gebackenen Keksen in der Hand. „Burt, lass das Mädchen in Ruhe. June, ignorier ihn einfach und nimm dir ein paar Kekse, solange sie noch warm sind.“ Und schon verschwand sie wieder in der Backstube.

„Erspar mir bitte das Geschwätz und gib mir lieber vier Scones“, sagte June zu Burt.

„Ach, fährst du raus zu Myrna? Sag ihr, die habe ich extra für sie gebacken. Weißt du, June, du solltest dir einen Hund anschaffen, damit nicht permanent Fremde in deine Wohnung stiefeln.“

Nachtigall, ick hör dir trapsen.

„Mein Vater war einmal der diskreteste Mensch im gesamten Valley. Und jetzt hat er das schlimmste Plappermaul von allen.“

„Er geht zu viel angeln, das kommt davon. Angler sind die größten Angeber. Vielleicht haben aber auch die vielen Geheimnisse, die er während seiner Zeit als Arzt für sich behalten musste, ihre Spuren hinterlassen, und er hat jetzt einen Riesennachholbedarf an Geschwätz, wenn du mich fragst.“ Burt legte die Scones in eine Schachtel, während June nach Kleingeld kramte. „Aber sein Pokerface hat der alte Kauz immer noch.“

„Das sagt der Richtige.“

„Heute Abend gibt’s bei euch Hackbraten, stimmt’s? Nimm doch noch ein paar Brötchen mit. Elmer mag die Kartoffelbrötchen gern.“

„Burt, findest du es eigentlich nicht komisch, wenn andere Menschen aus deinem Ort wissen, was du zu Abend isst?“

Burt grinste und steckte vier Brötchen in eine Papiertüte. „Nein, Süße, über so was mache ich mir keine Gedanken. Ich finde das schön.“ Er reichte ihr die Tüte, und sie musste gegen ihren Willen lächeln. Für die Brötchen würde sie nichts bezahlen – dafür hatte sie sich schon seinen dummen Spruch anhören müssen. „Ich finde es viel schlimmer, wenn jemand vor Fremden nackt rumläuft.“ Dann fing er so heftig an zu lachen, dass ihm eine kleine Träne aus dem Augenwinkel kullerte.

June riss ihm die Tüte aus der Hand und warf ihm einen warnenden Blick zu, bevor sie die Bäckerei verließ. Sie hörte ihn noch durch die geschlossene Tür lachen. Als sie in ihren Wagen stieg, sagte sie zu sich selbst: „Geschieht ihm recht, wenn ihm ein Blutgefäß platzt“, und fuhr zur Tankstelle.

Das Werkstatttor war zu und die Jalousie vor dem Fenster zur Hälfte heruntergelassen. Also tankte June selbst und dachte nach. Solche Zustände würden sich bald ändern. Es zogen immer mehr Menschen ins Valley, die nicht wussten, wie es hier zuging. Sam Cussler, der Besitzer der Tankstelle, arbeitete nur, wenn es ihm passte. Seit immer mehr Leute ausländische Wagenfabrikate fuhren, hatte Sam als Mechaniker nicht mehr viel zu tun. Er ging lieber angeln. Er könnte die Zapfsäulen in der Zeit abschließen, aber wozu? Wer Benzin brauchte, konnte selbst tanken, schrieb dann den Betrag auf einen Zettel, den man in eine Box an der Säule neben der Zapfsäule steckte. Ab und zu überprüfte Sam den Inhalt der Box und ließ sich bezahlen – vermutlich immer dann, wenn er neue Köder brauchte.

„Hey, junge Frau“, rief er, als er mit seiner Köderbox und der Angelrute aus der Seitentür trat. „Jetzt hast du mich ertappt! Ich wollte mich still und heimlich davonstehlen!“

„Ich habe dein Auto gar nicht gesehen.“

„Ich habe es Georges Sohn geliehen, der ein paar Besorgungen machen muss.“

„Soll ich dich beim Fluss absetzen?“, bot sie an.

„Nein. Ich gehe zum Windle Stream, gleich hinter dem Café. Keine Ahnung, ob sie beißen werden, aber immerhin kann ich so dem Arbeiten entgehen, und das ist mir das Wichtigste. Ich habe gehört, eine Familie aus Shell Mountain hat dich nackt in deinem Haus überrascht? Weil George sie zu dir geschickt hat?“

Sam Cussler war ein freundlicher Mann, braun gebrannt und mit strahlenden Augen, vollem weißen Haar und einem dichten weißen Bart. Er erinnerte ein bisschen an Santa Claus. Er musste um die siebzig sein, wirkte aber viel jünger, denn er war kräftig gebaut, hatte muskulöse Arme und einen flachen Bauch. Wohl ein Verdienst seiner Mechanikertätigkeit und dem Aufenthalt an der frischen Luft. Ein echtes Kraftbündel, dessen Augen so blau waren wie die von Paul Newman.

„Ja, so ähnlich war’s“, meinte June.

„Was würden wir ohne den lieben George machen?“

„Das hätten wir beinahe herausgefunden. Ich war nämlich heute Morgen drauf und dran, ihn umzubringen.“ June griff in den Wagen und holte ihr Portemonnaie heraus, während Sam den Tankvorgang für sie beendete. Sie streckte ihm einen Zwanzigdollarschein hin. Auf der Zapfsäule stand ein Betrag von 16,78 Dollar. Sam zog seine Geldbörse aus der Hosentasche, die die Größe einer Orange hatte, und zählte vier Eindollarscheine ab. Das Portemonnaie war voller Fünfziger, Zwanziger, Zehner und Fünfer.

„Ist dein Glückstag heute. Hab gerade ein Sonderangebot“, meinte er, weil er ihr zu viel Wechselgeld herausgab. Offensichtlich hatte er keine Lust, das Kleingeld abzuzählen.

„Sam, du solltest nicht so viel Bargeld mit dir herumschleppen. Oder zeig wenigstens deinen Kunden nicht, wie viel du dabeihast. Hast du denn keine Angst, überfallen zu werden?“

„Eigentlich nicht.“

„Solltest du aber.“ June stieg wieder in ihr Auto ein. „Die Stadt wächst und verändert sich.“

„Ich werde darüber nachdenken, June. Und zwar jetzt gleich, beim Angeln. Ich war sowieso auf der Suche nach einem Thema, mit dem ich mich auseinandersetzen kann.“

Myrna lebte in dem Haus, das von den Einwohnern von Grace Valley als das Familienanwesen der Hudsons angesehen wurde. Grandpa Hudson hatte es im Bergbau und im Bankwesen zu Geld gebracht und in fortgeschrittenem Alter eine junge Frau geheiratet, mit der er nach Grace Valley zog. Bald darauf wurde die gemeinsame Tochter Myrna Mae geboren. Zwölf Jahre später kam Nachzügler-Kind Elmer – da war Grandpa Hudson bereits Mitte sechzig. Und doch starb seine junge Frau vor ihm, im Alter von nur vierunddreißig Jahren. Myrna war damals gerade vierzehn, Elmer erst zwei Jahre alt. Ihr Vater stand kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag. Den er allerdings nicht mehr erlebte.

Also zog Myrna ihren Bruder allein in ihrem Elternhaus groß, obwohl sie selbst noch ein Kind war. Sie war Elmer vollkommen ergeben, kümmerte sich um seine Erziehung, wachte gewissenhaft über das Geld, das ihnen hinterlassen worden war, und investierte es vorsichtig, aber sinnvoll. Sie hielt das Haus sauber und in Schuss und stellte ihre eigenen Bedürfnisse immer hintenan, bis Elmer seinen Doktortitel hatte und er Junes Mutter heiratete. Zu diesem Zeitpunkt war er Mitte dreißig und Myrna Ende vierzig.

Erstaunlicherweise ließ Myrna ihn ohne zu klagen ziehen. Im Gegenteil: Sie war stolz auf ihn. Sie selbst heiratete Morton Claypool, einen Handlungsreisenden, mit dem sie siebzehn gute Jahre hatte, bevor sie ihn „verlegte“, wie sie es immer nannte. Was genau geschehen war, wusste niemand, aber in der Stadt wurde gemunkelt, dass er in einer anderen Stadt noch eine zweite Familie gehabt hatte, zu der er zurückgekehrt war. Oder dass er unter dem Haus der Hudsons vergraben lag. June glaubte, Myrna genoss den Hauch des Geheimnisvollen, der ihr seitdem anhaftete. Und sie trug auf ihre Weise dazu bei, dass die Gerüchteküche in der Stadt kräftig weiterbrodelte.

In all den Jahren – als Teenager, als Ersatzmutter, während ihrer Ehe mit dem Vertreter – hatten die Bücher Myrna Kraft gegeben. Als sie Anfang fünfzig war, begann sie schließlich selbst mit dem Schreiben. Sie schrieb Schauerromane, Mystery-Thriller, Liebesromane und Familiensagas. Sie schrieb, während Morton auf Reisen war – und fast jedes ihrer Werke wurde sofort zum Bestseller. Als Morton von einer seiner vielen Touren nicht zurückkam, schien Myrna es kaum zu bemerken. Ihre Geschichten wurden nur noch gruseliger und anzüglicher. In einem Roman reiste eine Frau auf der Suche nach ihrem Mann in eine abgelegene Kleinstadt. Sie fand heraus, dass er im Hof einer anderen Frau vergraben worden war. In einem anderen Roman brachte eine Frau ihren fremdgehenden Mann um und mauerte ihn hinter der Schrankwand ein. Das waren ihre üblichen Themen. Die Leute tuschelten, aber sie liebten Myrna auch.

Das Familienanwesen der Hudsons war keine protzige Villa, aber es war Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut worden und hatte das typisch viktorianische Giebeldach. Elmer hatte nach seiner Heirat keinerlei Interesse gezeigt, dort wohnen zu bleiben. Erst recht nicht mehr, als Nachwuchs kam. Er wollte lieber in einem einfachen, dafür aber heimeligen Haus wohnen. Als Kind hatte June es geliebt, Myrna zu besuchen. Die vielen Winkel und großen Schränke, die Vorratsräume, der Keller und der Dachboden übten eine riesige Anziehungskraft auf sie aus. Und da Myrna nie etwas an der Einrichtung verändert hatte, war jedes Zimmer eine Schatzkiste und ein eigenes Abenteuer.

Als sie jetzt vor dem Haus vorfuhr, sah sie den Wagen der Barstow-Schwestern. Vor einigen Jahren hatte Myrna Amelia und Endeara Barstow als Köchinnen und Haushaltshilfen eingestellt. Fast jeden Tag kam eine der beiden vorbei. June war sich nicht sicher, ob Myrna die Schwestern wirklich so häufig brauchte oder ob sie sich nicht in Wirklichkeit um die beiden kümmerte. Denn die Barstows waren schlecht gelaunte, verbitterte alte Weiber, die nur sehr wenig Geld hatten und mit niemandem auskamen – auch nicht miteinander. Die einzige Ausnahme bildete Myrna.

Es überraschte June nicht, dass Myrna selbst die Tür öffnete. „Gott sei Dank hast du etwas an!“, begrüßte die alte Dame sie.

„Ich werde Dad umbringen.“

„Mach dich nicht lächerlich. Freu dich lieber, dass er endlich mal wieder was zu erzählen hat! Seit Wochen habe ich keine so gute Geschichte mehr von ihm gehört.“

„So lustig ist sie nicht, wenn man selbst die Betroffene ist.“

„Hast du denn niemandem davon erzählt?“

„Nein“, log June. Tom Toopeek hatte sie alles erzählt, aber der würde sich eher die Zunge abbeißen, als sich an dem Getratsche zu beteiligen. „Ich hätte es Elmer auch garantiert nicht erzählt, aber er erwischte mich auf dem falschen Fuß. Das alte Plappermaul.“

„Das muss ein herrlicher Anblick gewesen sein!“

„Da bin ich mir sicher.“

„Ach, was soll’s. Ärgere dich nicht, sondern komm rein. Amelia hat eine Kartoffelsuppe gemacht – und ich möchte dir eine neue Romanidee vorstellen.“

Aha, dachte June. Das erklärte die häufigen Anrufe in letzter Zeit. Myrna saß an einem neuen Buch.

„Diesmal“, eröffnete sie June, „werde ich mich vor allem der Verstümmelung widmen.“

5. KAPITEL

Dr. John Stone sah so gut aus, dass es schon fast wehtat. Er war eins achtzig groß, hatte dichte blonde Haare wie Robert Redford, strahlende blaue Augen, eine gute Figur und ein umwerfendes Lächeln. Er trug eine dünne, elegante Wollhose, ein Hemd von Armani, eine Krawatte von Versace und italienische Schuhe, die sicher mehr gekostet hatten als der komplette Inhalt von Junes Kleiderschrank. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie sich vorstellte, wie man ihn anstarren würde, wenn er in diesem Aufzug raus in ein Holzfällercamp fuhr.

Sie saßen in ihrem Sprechzimmer, sie hinter dem Schreibtisch. Ganz der Boss.

„Wieso Grace Valley?“, wollte sie von ihm wissen.

„Ruhe und Frieden für meine Familie. Sicherheit, Gesundheit, ländliche Schönheit. Allein die Luftveränderung wird Wunder wirken! Meine sechs Jahre alte Tochter hat nämlich Probleme mit dem Atmen, vielleicht eine Vorstufe von Asthma.“

„Einige Menschen leben hier tatsächlich in Ruhe und Frieden, aber für den Arzt kann es mitunter ganz schön aufreibend sein. Erst heute Morgen ...“ June unterbrach sich. Sie regte sich darüber auf, dass Elmer die Geschichte überall herumerzählte. Dann sollte sie selbst besser auch den Mund halten.

„Ich habe schon gehört. Eine Familie aus den Bergen hat Sie überrascht und ist einfach in Ihr Haus eingedrungen. Noch dazu so früh am Morgen. Und Sie trugen nur ... Was genau? Unterwäsche?“

June riss den Mund auf.

„Ich habe gegenüber im Café zu Mittag gegessen“, entschuldigte John sich. „Ich wollte Sie nicht beleidigen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es war ein Handtuch.“

„Oh Mann.“ Er versuchte, sein Kichern zu unterdrücken. „Ich meine ...“

„Kein schlechter Ausgangspunkt für unser Gespräch. So verrückt kann das Leben als Landarzt nämlich sein. Hart, unpassend und unvorhersehbar. Wenn die Patienten nicht gerade zu Ihnen nach Hause kommen und Sie unter der Dusche überraschen, halten Sie sie an der Kreuzung auf und bitten Sie, mal eben nach ihrem geschwollenen Knöchel zu sehen. Oder sie fangen Sie in der Bäckerei ab und fragen, ob ihr Ausschlag nicht schon besser aussieht. Und da haben wir von den Unfällen noch gar nicht gesprochen – Stürze, Angelhaken, Unfälle mit großen Tieren, Autounfälle und Schussverletzungen.“

„Schussverletzungen?“

„Nicht von der Art, wie Sie sie kennen werden. Fünfundneunzig Prozent der Einwohner hier besitzen Schusswaffen. Und am besten gleich mehrere. Sie gehen auf die Jagd, ob gerade erlaubt oder nicht, sie schießen auf unbefugte Personen, töten kranke Tiere – und dabei ereignen sich natürlich auch immer wieder Unfälle. Wir können hier locker mit jeder Großstadt-Notfallambulanz mithalten.“

John stützte die Ellbogen auf die Knie. „Und was machen Sie, wenn Sie nicht mehr können? Sie arbeiten doch allein, oder nicht?“

„Meistens ja. Mein Vater ist auch Arzt. Er hatte seine Praxis in unserem Haus, als ich noch ein Kind war. Inzwischen ist er seit zwei Jahren im Ruhestand, aber er kommt trotzdem jede Woche in die Praxis. Manchmal, weil ich ihn darum bitte, manchmal auch einfach so. Ab und zu muss ich ihn anflehen, damit er vorbeikommt. Aber in der Umgebung gibt es noch einige weitere Ärzte. In Nordkalifornien gibt es so viele kleine Städte, und da helfen wir einander, wenn Not am Mann ist.

Aber das, was ich für diese Stadt leiste, geht weit über das rein medizinisch Notwendige hinaus. Ich habe auch soziale Verpflichtungen. In der Praxis haben wir einen Raum mit Lebensmittelvorräten und einen Kleiderschrank mit frischer Kleidung. Ich habe immer einen eindrucksvollen Vorrat an Medikamenten da, und viele davon zahle ich selbst, wenn keine Versicherung, die Kirche oder eine andere soziale Organisation für die Kosten einer Behandlung aufkommt. Ich habe Blutkonserven im Kühlschrank und Säuglingsfertignahrung in meinem Besenschrank. Das Sheriffbüro hilft bei Notfällen und beim Transport von Patienten und Medikamenten. Ich habe einen Schlüssel für das örtliche Café für den Fall, dass ich große Mengen Eis zum Kühlen benötige. Staat und County übernehmen zwar die Kosten für bedürftige Patienten, aber damit das geschieht, müssen die Patienten natürlich Formulare ausfüllen.“ Sie zuckte die Schultern. „Zum Glück ist die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden gut. Ich werde übrigens häufig mit Naturalien bezahlt. Frische Eier zum Beispiel.“ Sie lächelte. „Natürlich gibt es hier die besten Eier im Westen.“

Er lauschte ihr so versunken, dass sie seine Begeisterung bereits erahnen konnte. Oder vielleicht missinterpretierte sie seinen Blick und er wollte es sich doch lieber noch mal überlegen?

„Sie haben einen beeindruckenden Lebenslauf und kommen aus einer Großstadtpraxis hierher“, fuhr sie fort. „Sie mögen vielleicht mit dem Gedanken spielen, als Landarzt hier eine ruhige Kugel schieben zu wollen, aber Ihr Alltag wird Sie bald an die x-te Wiederholung einer uralten Fernsehsendung erinnern. Es ist schön, hier zu leben, aber es ist nicht immer einfach. Zumindest nicht für den Arzt.

Ich habe es da vielleicht leichter. Ich bin im Haus des Doktors aufgewachsen. Ich saß im Behandlungszimmer auf dem Boden und malte in meinem Malbuch, während mein Vater eine Schienbeinfraktur richtete. Ich war mit sieben Jahren bei meiner ersten Hausgeburt dabei. Und obwohl meine Mutter dagegen war, fuhr ich bei vielen Notfalleinsätzen mit. Diese Stadt hat mich erzogen. Wenn Ihr Vater der Landarzt ist, kommt jeder Mensch, der in dieser Stadt lebt, eines Tages mal bei Ihnen zu Hause vorbei. Und irgendwann war man auch bei jedem von ihnen zu Hause.“

Sie hielt einen Moment inne und versuchte, Johns überraschte Miene zu deuten.

„Ich habe nicht vor, Sie zu verscheuchen. Ich möchte nur, dass Sie wissen, was Sie hier erwartet, damit Sie eine wohlüberlegte Entscheidung treffen können. Ich persönlich denke, Sie wären der Richtige für uns, und es besteht gar kein Zweifel daran, dass wir Ihre Fähigkeiten hier sehr gut brauchen können. Aber ist Grace Valley auch das Richtige für Sie?“

„Sie machen mir keine Angst“, sagte er entspannt lächelnd. „Ich kenne mich selbst auch ein bisschen aus mit dem Leben eines Landarztes. Ich habe während meines Studiums in einem Reservat in Arizona gearbeitet. Bundeszuschuss, Sie wissen schon.“

„Oh“, erwiderte sie schwach. „Das ist mir jetzt ein bisschen peinlich.“

„Das muss es nicht sein. Ich habe es absichtlich nicht in meinem Lebenslauf erwähnt.“

„Wieso nicht?“

Er zuckte mit der Achsel. „Es war anders, als man es erwarten würde.“

„Ich ... verstehe nicht ganz.“

„Ich habe das damals nicht aus ehrenhaften Gründen getan. Ich brauchte einfach das Geld. Also schloss ich einen Vertrag mit der Regierung ab. Medizinstudium gegen ärztliche Arbeit auf dem Land. Doch schon bald lieh ich mir das Geld, um das Stipendium abzubezahlen, damit ich schneller aus dem Reservat wegkam und in einer Privatpraxis anfangen konnte.“

„Ich verstehe. Sie mögen also ...“

„Die Wüste mag ich nicht.“

„Und das war der einzige Grund, wieso Sie ausgestiegen sind?“

„Ich war damals achtundzwanzig und interessierte mich mehr für ein neues Auto als für die Rettung der Menschheit. Und ich weiß, dass es auch hier sehr ärmliche Gebiete gibt.“

„Nicht ärmlich Dr. Stone, richtig arm. Meist sind es die abgeschiedenen Gegenden in den Bergen, mitten auf dem Land, obwohl es auch in der Stadt einige Familien gibt, die mit sehr bescheidenen Mitteln auskommen müssen. Es gibt sogar einige, die ohne meine Hilfe nicht einmal genug zu essen hätten. Die harten, kalten Winter hier sind oft schwer für die Holzfäller und Farmer und die anderen saisonabhängigen Arbeiter. Was macht Sie also so sicher, dass Sie es hier aushalten werden?“

„Zwei Dinge. Ich bin inzwischen bereit, anders zu praktizieren als bisher. Und ich brauche das Geld nicht mehr.“

„Alles klar.“ June dachte einen Moment nach. Abgesehen von seinen großartigen Qualifikationen war es wichtig, dass ihm absolut klar war, worauf er sich einließ. Und nach allem, was sie ihm erzählt hatte, schien er immer noch sehr angetan. Neue Armani-Anzüge würde er sich ab sofort allerdings nicht mehr leisten können. „Sagen Sie mir eins, Dr. Stone. Wieso sahen Sie zuerst so schockiert aus, als ich meine Arbeit hier beschrieb?“

„Ich war überhaupt nicht schockiert, ich war fasziniert! Voller Respekt. Ich habe noch nie eine Ärztin – oder überhaupt jemanden – so voller Liebe und Stolz über ihre Arbeit oder ihr Leben reden hören. Selbst, als Sie von den unangenehmsten Aspekten Ihrer Rolle berichteten. Sie tun nicht einfach Ihre Arbeit, Sie leben Ihren Beruf. Sie sind Ihre Profession.“ Er schüttelte den Kopf. „Eine wahre Lobeshymne.“

„Oh ... danke. Das nehme ich mal als Kompliment.“ Er will, dass ich ihn einstelle, dachte sie.

„In Ihrer Beschreibung klingen sogar die unpassendsten Ereignisse romantisch.“

„Es kann hier ziemlich anstrengend werden für jemanden, der das Geld nicht braucht“.

„Trauen Sie mir die Stelle nicht zu? Geben Sie mir eine Chance. Meine besten Jahre liegen noch nicht hinter mir.“

Er hat die besten Jahre noch nicht mal gesehen, dachte June. Wie würden die einfachen Leute aus Grace Valley über seine schicke Bundfalten-Hose und die Quasten auf seinen Schuhen denken? Vielleicht passte er nicht hierher. „Wir könnten eine Probezeit vereinbaren“, schlug sie vor. „Wie wäre es mit einem Dreimonatsvertrag?“

„Wieso nicht sechs Monate? Ich gewöhne mich schnell ein.“

„Na ja, ich würde gern erst mal ...“

„Es ist Ihre Praxis. Ich werde nicht hierbleiben, wenn Sie es nicht wollen, aber ich bin auch kein Mann für eine Nacht. Ich hätte ein besseres Gefühl, hier anzufangen, wenn ich ...“

Er wurde unterbrochen, denn die Tür flog auf und Charlotte stand vor ihnen. „Julianna Dickson hat gerade angerufen. Sie sagt, sie fühlt sich seltsam.“

June sprang auf. „Verdammt!“ Sie schlüpfte aus ihrem Kittel. „Ich habe ihr gesagt, sie soll einen Kopfstand machen, durch den Mund atmen und die Beine zusammenpressen“, fuhr Charlotte fort.

„Gut. Holen Sie mir ein paar Blutbeutel, 0 negativ!“

„Jessie macht alles fertig.“

„Kommen Sie, Dr. Stone“, sagte June. „Das ist genau Ihr Metier. Julianna erwartet ihr fünftes Kind, und weder mein Vater noch ich waren je bei einer ihrer Geburten dabei.“ Sie schnappte sich ihre Tasche und rannte zur Hintertür. Rasch warf sie noch einen Blick auf seine schicken, glänzenden Schuhe, während sie ihre Clogs abstreifte und in ihre Stiefel schlüpfte. „Sie haben nicht zufällig ein altes Paar Schuhe im Auto?“

„Nein, wieso?“

„Es war ein nasses Frühjahr. Einige Wege sind keine Wege mehr.“ Jessica kam mit einem kleinen Behälter mit zwei Blutkonserven angerannt. June übernahm ihn und sprintete zu ihrem Jeep. Zu ihrer Überraschung hielt Dr. Stone mit und sprang neben ihr auf den Beifahrersitz.

„Diesmal will ich ihr zuvorkommen!“, erklärte June, während sie über die Straße bretterte. „Sie ins Krankenhaus bringen und erst dort die Wehen einleiten. Sie ist drei Wochen vor dem Termin.“

„Hatte sie Blutungen?“

„Zwei Mal.“

„Gibt es hier einen Rettungsdienst?“

„Das ist noch so ein Ding mit Kleinstädten. Das Gebiet ist sehr weit gestreut. Grace Valley liegt auf der Grenze zu drei Countys – man braucht schon einen Abschluss in Geografie, damit man sich hier zurechtfindet. Wenn man raus zu einem Holzfällercamp oder auf eine Farm muss, will man keine wertvolle Zeit damit verschwenden herumzutelefonieren, um den zuständigen Rettungsdienst oder die zuständige Polizeistation zu informieren.“

Sie griff zum Funkgerät. „Charlotte, hören Sie?“

„Ich bin da“, krächzte es zurück.

„Bleiben Sie auf Stand-by wegen des Notarztwagens. Ich bin über meinen Piepser erreichbar, aber wenn es was Besonderes gibt: Ich habe gerade den Wagen meines Vaters vor dem Café stehen sehen.“

„Er ist schon hier. Er hat mitbekommen, wie Sie aus der Stadt gerast sind, und konnte es nicht ertragen, sich bloß um seine Angelegenheiten zu kümmern.“

„Sagen Sie ihm, sein Hackbraten hängt von Juliannas Effizienz ab.“

June steckte das Funkgerät wieder an seinen Platz. „Wir haben alle einen Piepser und ein Handy, aber in den Bergen hat man oft keinen Empfang. Deswegen brauchen wir ein verlässliches Funkgerät. Wenn Sie sich dafür entscheiden sollten, hier zu arbeiten, müssen Sie sich eins anschaffen.“

„Gibt es hier eine Hebamme?“

„Nein, aber wir könnten eine gebrauchen. In Colby gibt es eine Frau, die allerdings keine ausgebildete Hebamme ist. Sie macht ihre Sache zwar gut und kümmert sich um eine Menge Frauen, aber ich darf offiziell nicht mit ihr arbeiten, sonst steigt uns der Landesverband aufs Dach. Dabei bekommen wir von denen so gut wie keine Unterstützung. Wir möchten die bestmögliche medizinische Versorgung garantieren, und wenn es sich dabei um eine Hebamme ohne Ausbildung handelt, dann ist das immer noch besser als nichts. Aber bei den Behörden herrscht die Regulierungswut.“

John lachte. „Die elenden Behörden!“ Sein Blick verriet ihr jedoch, dass er sich fragte, wer hier eigentlich verrückt geworden war, als June mit quietschenden Reifen um die Kurven schoss.

Sie bog von der Hauptstraße auf einen überwucherten Feldweg ab, der sehr eng zwischen Bäumen entlangführte. „Das ist die hintere Zufahrt zu der Obstplantage der Dicksons. Ich habe zum Glück schon vor zwei Wochen bei Mike angerufen und ihn gebeten, wegen der gegebenen Umstände den Weg freizuschneiden.“ Sie hoppelten durch ein tiefes Schlagloch, und John stieß sich am Dach den Kopf.

„Aua! Und das nennt er freischneiden?“

„Aha“, rief sie, ohne darauf einzugehen, als sie die Plantage erreichte. Sie steuerte den Wagen wild zwischen den Bäumen hindurch. „Da sind wir. Die Dicksons sind die nettesten Menschen der Welt. Eine große, wunderbare Familie, fleißige Arbeiter. Sie verkaufen ihr Obst, seit ihre ersten drei Bäume Früchte trugen. Wenn Sie mal irgendwas brauchen, ganz egal was, können Sie sich auf Mike und Julianna Dickson verlassen.“ June fuhr von hinten um das Haus herum und hielt dicht hinter einem Traktor. „Ab jetzt sind Sie auf sich gestellt.“

Bevor er etwas erwidern konnte, war sie schon weg. Sie rannte die Verandastufen hoch, schlüpfte schnell aus ihrem schlammigen Stiefeln und rannte auf Socken ins Haus. John stand bis zu den Knöcheln im Schlamm. Ein nasses Frühjahr – wie sie gesagt hatte.

Mike Dicksons Mutter passte im vorderen Zimmer auf die kleinen Kinder auf. June zischte an ihr vorbei, ohne sie zu begrüßen, so eilig hatte sie es. Sie wusste, wo sie Julianna finden würde: im unteren Schlafzimmer. Ihr junger Ehemann war bei ihr.

„Manchmal fühle ich mich wirklich ausgeschlossen“, beschwerte sich June, während sie sich ein paar Gummihandschuhe überstreifte. Julianna hatte unter der Decke die Knie angewinkelt, Mike saß neben ihr und hielt ihre Hand. Frische Handtücher lagen schon bereit. Immerhin hatte Mike alle seine Kinder selbst zur Welt geholt – auch wenn das nicht geplant gewesen war – und wusste, was gebraucht wurde.

„Ich habe aber versucht zu warten“, presste Julianna keuchend hervor.

June schob die Decke weg und setzte sich zwischen Juliannas Beine. „Ich habe einen Kollegen dabei, Julianna, einen Gynäkologen. Erschrecken Sie also nicht, wenn er gleich hereinkommt. Ich wollte, dass er ... Oh, du meine Güte! Hallo, Kleines. Bitte beeil dich nicht so. Bitte, bitte nicht.“ Sie strich mit den Fingern über den Kopf des Kindes. „Mal sehen, ob wir es überzeugen können, langsam herauszukommen. Dann kann ich mich um die Nabelschnur kümmern.“

Plötzlich stand John Stone neben ihr, zog sich ein Paar Handschuhe aus ihrer Arzttasche über und betrachtete den kleinen Kopf mit einem zufriedenen Blick. Das Erste, was er sagte, war: „John Stone, sehr erfreut.“ Und das Zweite: „Oh ja.“

Er nahm eine Arterienklemme aus Junes Tasche, legte sich ein sauberes Handtuch über den Arm und beugte sich über den Ort des Geschehens. „Dann wollen wir mal!“

Doch bevor John eingreifen konnte, ging es auch schon los. Als der Kopf erschien, überprüfte June, ob die Nabelschnur sich auch nicht um den Hals des Kindes gewickelt hatte und murmelte ein leises „okay“, und dann war das Baby da. John klemmte die Nabelschnur ab und drehte das Kind um, wobei er ihm sanft den Rücken rieb. Sofort begann es zu schreien.

„Heiliges Kanonenrohr!“ John sah Julianna grinsend an. „Sie sind ja fast so gut wie ich! Ein gesunder, kräftiger Junge!“

Er schob June ein wenig zur Seite, damit er einen Blick in den Geburtskanal werfen konnte, dann begann er, sanft Juliannas Unterleib zu massieren. „Das machen Sie großartig!“, lobte er sie. „Ganz ausgezeichnet. Sie sind in hervorragender Verfassung. Bei einer so schnellen Geburt hätte ich auf einen eher schlaffen Muskeltonus getippt, aber Sie sind fit wie ein Boxer!“

„Das kommt vom Fußbodenschrubben“, erklärte Julianna. „Meine Mama sagt immer, wenn man auf den Knien den Fußboden schrubbt, kommen die Kinder leichter.“

„Aber langsam wollen Sie doch mal mit dem Fußbodenschrubben aufhören, oder?“, fragte June.

Mike lachte und küsste seiner Frau die Hand. „Ich weiß nicht, worüber Sie sich beschweren, June. Immerhin sind Sie doch diesmal bei der Party dabei!“

„June, legen Sie ihr das Kind an die Brust. Dann kommt die Placenta schneller und die Blutung wird verlangsamt.“ John Stone schaute sie freundlich an.

„Ich gebe ihn nur sehr ungern ab“, sagte sie scherzhaft und drückte das Kind sanft an die Brust seiner Mutter.

Der Gynäkologe behielt recht: Nachdem das Kind ein paar Minuten getrunken hatte, war alles vorbei. Während John die nötigen Untersuchungen durchführte, besorgte June eine Wanne mit Wasser. Grandma Dickson hatte sie schon vorbereitet.

Als sie wieder das Geburtszimmer betrat, bot sich ihr ein Anblick, den sie so schnell nicht vergessen würde. Der schick gekleidete Dr. Stone stand neben dem Bett und hielt das Neugeborene, das in ein Handtuch gewickelt war, auf dem Arm. Er hatte die Ärmel seines teuren Hemds hochgekrempelt, seine Designerkrawatte ragte aus seiner Hosentasche, die Hosenbeine waren hochgeschoben bis zu den Knien, und er stand barfuß auf dem kühlen Holzfußboden. Sein Gesicht war ein Ausdruck reiner Freude.

„June“, sagte er grinsend und mit glänzenden Augen. „Ich bin dabei.“

6. KAPITEL

June lebte in einem sanierten alten Haus in Grace Valley. Es war eine ziemliche Bruchbude gewesen, als sie es kaufte – sehr zum Missfallen ihrer Eltern. Die frischgebackene Ärztin kehrte nach Hause zurück, wohnte zunächst bei ihren Eltern, hatte kein gesichertes Einkommen, aber dafür jede Menge Darlehensschulden von ihrem Studium.

Aber dieses Haus hatte sie schon als kleines Mädchen geliebt. Mindestens fünf Jahre lang war es unbewohnt gewesen, und die ortsansässige Jugend hatte sich darin ausgetobt. Alle Fensterscheiben waren zerbrochen, es wurde zum Versteckspielen und als Liebesnest benutzt und als Gott-weiß-was noch. Von Anfang an war es nicht gut gepflegt worden, und nachdem die Kids damit fertig waren, hätte man es vermutlich am besten einfach abgerissen.

Doch als June nach Grace Valley zurückgekehrt war, stand es immer noch auf dem kleinen Hügel, knapp zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Es hatte eine wunderschöne Veranda, die sich um das gesamte Gebäude zog, einen herrlich schattigen Baum im Garten davor, ein süßes kleines Mansardenfenster im ersten Stock und einen grandiosen Blick. Schon ganz früher hatte June sich vorgestellt, wie sie in einer Hollywoodschaukel auf der Veranda saß und hinunter auf die Straße blickte, über die Dächer der anderen Häuser und Gebäude der Stadt, hinüber zum Kirchturm der Presbyter-Kirche, der sich stolz über den Bäumen erhob. Von hieraus konnte man meilenweit über das Valley blicken. Gleich hinter dem Haus war dichter, grüner Wald. Es fehlte nur der weiße Lattenzaun.

Es hatte lange gedauert, bis June sich ihren Traum erfüllt hatte und aus der Bruchbude ein Traumhaus geworden war. Die Installationen wurden von einem Mann durchgeführt, den June wegen Magengeschwüren behandelt hatte. Die Elektroarbeiten übernahmen die Gebrüder Stewart, deren Frauen äußerst fruchtbar und daher regelmäßige „Kundinnen“ von June waren. Die Holzböden steuerte die Familie Bradford bei. Ihre Söhne waren im Teenageralter in einen schlimmen Verkehrsunfall verwickelt worden, aber zum Glück waren inzwischen beide wieder vollständig hergestellt. Die neuen Fenster, den Teppich, die Jalousietüren, den Anstrich und die Spachtelarbeiten verdankte sie einem kalten, langen Winter mit vielen Grippekranken in der Stadt. Die Arbeitsplatten in der Küche waren dem fünfmaligen Masernausbruch bei den Wilson-Jungs geschuldet. Ihre Elektrogeräte hatte sie von Elektro-Reynolds bekommen – sie hatte Susans und Johns Kinder immer wieder wegen verschiedener Beschwerden behandelt.

June selbst war verantwortlich für die Einrichtung, die Möbel und die Dekoartikel, bestickte Kissen und handgearbeitete Quilts – immerhin war sie eine der besten Näherinnen der Stadt. Ihr Haus war wunderschön geworden, und sie liebte es heiß und innig. Hier fand sie Frieden und Ruhe und Trost.

Normalerweise.

Nach der erfolgreichen Geburt bei den Dicksons fuhr sie mit John Stone zurück zur Praxis, wo sein Wagen parkte, und einigte sich mit ihm auf eine Probezeit von sechs Monaten. Dann eilte sie nach Hause und bereitete den Hackbraten für ihren Vater zu – schließlich war ja Dienstag. Zum Glück waren auf dem Anrufbeantworter keine wichtigen Nachrichten. Momentan wurde sie tatsächlich nicht gebraucht. Doch das Kochen machte ihr heute Abend keinen rechten Spaß, sie quälte sich ein bisschen ab.

„Dad, ich bin eine alte Jungfer.“ Es platzte einfach aus ihr heraus, als ihr Vater das Haus betrat.

„Ach herrje. Du hast das Dickson-Baby länger als vier Minuten gehalten, habe ich recht?“

„Ich bin jetzt siebenunddreißig. Seit fünf Jahren hatte ich keine richtige Verabredung mehr. Ich bin mit dieser Stadt verheiratet! Selbst wenn ich jemanden kennenlernen sollte und mich verlieben würde – es würde doch alles viel zu lang dauern. So viel Zeit bleibt mir nicht! Ich bin jetzt schon offiziell zu alt fürs Kinderkriegen!“

„Was für ein Unsinn“, wischte Elmer ihre Bedenken weg. „Weißt du, ich wollte eigentlich Wein mitbringen, habe es aber doch gelassen. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte es getan. Du brauchst einen Drink. Wahrscheinlich hast du keinen Alkohol im Haus?“

„Irgendjemand hat mir letztens einen teuren Brandy geschenkt. Aber ich weiß nicht, ob ich so was mag.“

„Vergiss es. Ich mache uns einen Kaffee.“

„Elmer, was tue ich mir nur an?“

„Hör auf mit diesem Selbstmitleid. Der Zug ist noch lange nicht abgefahren für dich.“

„Ach nein? Und wie soll ich es anfangen, jemanden kennenzulernen?“

„Du könntest ein paar deiner alten Klassenkameraden anrufen und ihnen sagen, dass du gerne jemanden kennenlernen würdest. Erzähl überall rum, dass du gerne mal wieder ein Date haben möchtest, und die Männer werden dir die Bude einrennen. Du bist ein hübsches Mädchen, June.“

„Ich bin kein Mädchen mehr.“

„Doch, das bist du. Und was Kinder angeht: Niemand weiß, ob er Kinder haben wird. Vielleicht klappt es nicht mit einer Familie für dich. Vielleicht bist du unfruchtbar, wie deine Mutter. Wir haben ja nie verhütet – und herausgekommen bist nur du.“

„Woher willst du wissen, dass es an ihr lag? Vielleicht warst du es ja.“

„Nein.“ Er schwieg einen Moment und maß die Kaffeemenge ab. „Ich habe eine Spermaprobe ins Labor nach Ukiah geschickt, als ich siebenundfünzig war. Meine Spermien waren zwar kleine alte Wichte mit langen Bärten, aber sie waren da und voll aktiv.“ Er füllte die Kaffeekanne mit Wasser.

„Das hast du mir nie erzählt. Das mit der Spermaprobe.“

„Hätte ich aber, wenn das Thema früher darauf gekommen wäre. Zum Beispiel, wenn du auch Probleme gehabt hättest, schwanger zu werden. Hast du dich nie gefragt, wieso du ein Einzelkind bist?“

„Mutter hat gesagt, du wärst in deiner Freizeit lieber angeln gegangen.“

Er lachte und musste gleich darauf heftig husten. „Sie hatte wirklich einen guten Humor, das muss man ihr lassen.“ Er legte den Arm um Junes Schultern und drückte sie. „Du hattest einen langen Tag, nicht wahr, mein Schatz?“

„Lang? Ich war superfrüh auf. Wie immer. Dann erschreckte ich die Mulls in meinem Wohnzimmer, fuhr in die Praxis, wo meine Sprechstundenhilfe seit Neuestem aussieht wie ein Papagei, kümmerte mich um fünfundzwanzig Patienten, traf mich mit Myrna und Amelia Barstow auf drei Martini zum Lunch – Myrnas drei Martini – und hörte mir ihre neue Buchidee an.“ Als sie sich daran erinnerte, hielt June inne. „Dad, hat sie es dir schon erzählt?“

Er verzog das Gesicht. „Ja. Kaum zu glauben, dass eine klapprige alte Dame sich mit brutaler Gewalt beschäftigt.“

June schauderte. „Abgetrennte Körperteile sind ihr neues Lieblingsthema. Apropos, Dad. Was ist eigentlich mit Morton Claypool passiert?“

„Er ging fort, das ist alles.“

„Aber wohin?“

„Was weiß ich. Und falls Myrna es wissen sollte, verrät sie es nicht.“

„Es wird geredet, das weißt du.“

„Du liebe Güte! Sie liebt diesen Tratsch! Ich wette, sie hat selbst einige der Gerüchte in Umlauf gebracht. Obwohl diese Frau so schaurige Bücher schreibt, kann sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich habe sie damals gefragt, ob sie einen Detektiv engagieren möchte, um Morton zu finden, um herauszufinden, ob er noch lebt oder tot ist, aber sie wollte nicht. Hielt es nicht für nötig. Sie war gar nicht erpicht darauf, ihn zurückzubekommen – oder für seine Beerdigung zu bezahlen.“

„Findest du das nicht seltsam?“

„Für Myrna? Oder überhaupt?“

„Ich wette, sie weiß, wo er hinging.“

„Könnte sein. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem sie es erzählte. Es war der Tag, als dein Homecoming-Spiel von der Highschool stattfand. Deine Mutter und ich holten Myrna ab, und auf dem Weg eröffnete sie es uns. Mir scheint, Morton ist auf und davon und er wird auch nicht mehr zurückkommen.‘ Das war alles. Wir wollten natürlich wissen, ob sie sich denn gar keine Sorgen mache. Kein bisschen‘, hat sie gesagt. Wenn etwas passiert wäre, hätte man sie schon informiert.“ Elmer sprach mit sanfterer Stimme weiter. „Und jetzt sage ich dir etwas, das du ihr niemals verraten darfst. Ich habe damals nachgesehen, ob in der Nähe ihres Hauses irgendwo Spuren von frisch ausgehobener Erde waren.“

„Dad!“

„Hätte ja sein können.“

„Du alter Spürhund!“

„Myrna ist eine wunderbare Frau, aber sie ist eben auch ein wenig exzentrisch.“

„Ein wenig?“, frage June. „Sie ist vollkommen durchgeknallt! Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, von ihr großgezogen zu werden.“

Elmer lächelte beinahe wehmütig. „Es war, wie von einer Märchenprinzessin großgezogen zu werden.“

Das Abendessen verlief äußerst angenehm. Sie sprachen über vergangene Zeiten und über Myrna, über John Stone und das Einstellungsgespräch – und diskutierten kurz darüber, ob June sich verkuppeln lassen sollte. Sie hatten gerade den letzten Teller abgetrocknet, als das Telefon klingelte. Perfektes Timing!

„June?“, fragte Tom Toopeek am anderen Ende der Leitung. „Ich habe den Mull-Jungen gefunden. Und wir haben ein Problem.“

Shell Mountain lag im Six Rivers National Forest in Trinity County. Hier war Tom Toopeek nicht zuständig, aber er hatte sich durchgefragt bis zum Haus der Familie Mull und es schließlich auch gefunden. Ohne Vorwarnung hatte Clarence auf ihn geschossen, obwohl Tom nur an die Tür geklopft hatte. Also forderte Tom Verstärkung an. Doch nun hielt Clarence Mull sie tatsächlich alle beide mit seiner Waffe in Schach.

Tom hatte dem Kollegen wohlweislich nichts von dem Schuss gesagt. Auch wenn sein Handeln ganz klar gegen das Gesetz verstieß, wollte Tom den Mann nicht sofort in Gewahrsam nehmen. Damit wollte er nicht etwa Clarence einen Gefallen tun – er wollte nur das Beste für ihn und die Gemeinschaft. Und vielleicht war es in diesem Fall für alle Beteiligten das Beste, wenn man über diesen Verstoß hinwegsah.

Tom wollte – wie so oft – erst Junes Einschätzung abwarten. Das tat er vermutlich häufiger, als ihr bewusst war.

June und Elmer machten sich sofort auf den Weg nach Shell Mountain. Tom hatte ihnen eine Wegbeschreibung gegeben. Nachdem sie einer schmalen, verlassenen Holzfällerstraße für etwa eine halbe Stunde gefolgt waren, sahen sie mehrere Polizeifahrzeuge.

„Ich glaube, der eine ist Stan Kubbicks von der State Police“, sagte Elmer. „Aber wem gehört der andere?“

„Keine Ahnung.“ June kniff die Augen zusammen. „Jemandem von der Forstbehörde, würde ich sagen. Und da ist auch Bob Manning aus Alderman Point. Meine Güte, was für ein Aufstand.“

Sie parkte hinter dem letzten der vier Einsatzwagen, schnappte sich ihre Tasche, sprang aus dem Wagen und lief direkt zu Tom. „Danke, dass du gekommen bist“, begrüßte er sie. „Vielleicht kannst du uns helfen. Mir scheint, Clarence ist ein Veteran, der unter einem posttraumatischen Stress-Syndrom und einer bipolaren Persönlichkeitsstörung leidet ...“

„Der Typ ist am Arsch“, mischte sich Stan ein und spuckte aus.

„Der Arme. Sagt er, wieso er euch nicht reinlässt?“

„Ich habe mit ihm gesprochen, besser gesagt, mich über den Hof hinweg mit ihm angeschrien, und ihm gesagt, er müsse seinen Sohn ins Krankenhaus bringen. Aber er leidet offensichtlich unter Wahnvorstellungen. Er denkt, es muss Papierkram ausgefüllt werden, und dann wird er sofort verhaftet und in ein Gefangenenlager gesteckt.“

„Wird er denn polizeilich gesucht?“, erkundigte sich June.

„Nein. Der verdammte Kerl ist einfach durchgeknallt.“ Stan spuckte wieder aus.

June sah ihn missbilligend an.

„Tut mir leid, Doc“, sagte er zerknirscht. Ganz sicher überlegt er, dachte June, wofür er sich gerade entschuldigt hat – für sein Fluchen oder sein Spucken. Dass June aber seine unsensible Reaktion auf Clarences Problem gemeint hatte, kam ihm vermutlich nicht in den Sinn.

June schaute an Tom vorbei. Weiter hinten stand das kleine Holzhaus der Familie idyllisch zwischen den Bäumen. Insgesamt hatte es nicht mehr als zwei Zimmer, schätzte sie – es erinnerte eher an eine Hütte. Der alte Pick-up stand zwischen zwei Bäumen unter einer Plane. Ein Teil des Hofs war von einem Lattenzaun gesäumt, vermutlich der Nutzgarten oder der Pferch für den Esel.

„Kennt man ihn hier?“, fragte June sich laut.

„Die Leute hier leben zwar schon in einer Art Gemeinschaft“, antwortete Tom, „aber die meisten sind hier, weil sie in Ruhe gelassen werden wollen. Oder sich vor dem Gesetz verstecken. Sie sind sehr vorsichtig. Bisher hat jedenfalls noch niemand freiwillig angeboten, mit Clarence zu verhandeln. Vermutlich wegen des ganzen Zaubers hier.“

„Gibt es denn niemanden von der Veteranen-Gesellschaft, der mit ihm reden könnte?“

„Es gibt eine Art Mittelsmann der Veteranen, der für die Leute zuständig ist, die sich hierher zurückgezogen haben. Er heißt Charlie McNeil. Aber wir konnten ihn bisher nicht erreichen. Sollten wir hier weiterkommen, kann er gern die weitere Betreuung übernehmen.“

June nickte. „Ich sollte wohl reingehen und ...“

„Vergiss es, June. Clarence hat eine Waffe.“

„Natürlich hat er eine Waffe“, erwiderte sie ungeduldig. „Die hatte er heute Morgen in meinem Haus auch dabei. Jeder, der hier draußen lebt, hat eine Waffe. Aber er wird mich wohl kaum erschießen. Dich vielleicht, wenn er wirklich unter Wahnvorstellungen leidet.“

Elmer mischte sich in die Unterhaltung ein. „Ich werde reingehen. Ich bin auch kein Polizist.“

„Zum Teufel, Elmer. Das weiß er doch nicht!“, fuhr June ihn an. „Aber er weiß, dass ich nicht von der Polizei bin. Der bedauernswerte Mann braucht dringend Medikamente.“

„Dann lass mich wenigstens mit dir kommen“, schlug Elmer vor.

„Das wird auch nichts nützen.“ Sie warf Tom einen Blick zu. „Er ist ein großer Mann, Tom, stark wie ein Ochse. Sein Sohn ist um die eins achtzig groß, und er hat ihn heute Morgen aus meinem Haus getragen, als wäre er ein Säugling. Ich habe übrigens ein Antipsychotikum dabei.“

„Würde das Zeug ihn so weit ruhigstellen, dass wir reingehen und den Jungen rausholen können?“

„Wenn ich es ihm verabreichen kann, wird er umfallen wie ein Stein. Ich tue das ungern, aber wenn es nicht anders geht, muss es eben sein. Das Wichtigste ist, dass wir Clinton so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen. Entschuldigt mich einen Moment.“

Und schon marschierte sie mit festem Schritt auf das Haus zu. Einen Moment lang dachten alle, sie wollte sich alles nur näher ansehen, doch sie ging weiter. Und zwar so schnell und unauffällig, dass niemand reagieren konnte. Tom versuchte noch, sie zurückzuhalten, und rief „June!“, doch da war sie schon an ihm vorbei.

„Verdammt noch mal!“, fluchte Elmer. „Ich hasse es, wenn sie so was tut!“

June klopfte scheinbar unbekümmert an die Haustür, während Tom, Elmer und die anderen gebannt den Atem anhielten. „Mr Mull? Clarence? Hier ist Dr. Hudson aus Grace Valley. Lassen Sie mich rein, damit ich mir Clintons Fuß ansehen kann?“

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und zwei dunkle, wachsame Augen spähten heraus. June sah sofort, dass der Mann nicht bei sich war. Dann ging die Tür ganz auf, und man ließ sie hinein. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet. Erst als die Tür sich hinter ihr schloss, ging das Licht an und das Zimmer wurde heller.

Vier Paletten standen da, ein Tisch mit zwei Stühlen, an den Wänden hingen Tierfelle. Offene Regalbretter für Geschirr und Töpfe, und als Raumtrenner waren Decken aufgehängt. Zu Junes Überraschung lehnten mehrere große Stapel mit Büchern, Zeitschriften und Zeitungen an der Wand. Clarence positionierte sich vor der Eingangstür und spähte weiter durch einen mit Fell getarnten Schlitz, das Gewehr im Anschlag. Jurea Mull saß am Tisch, sie war für die Beleuchtung zuständig und sah fast aus, als würde sie lächeln. Wanda hockte zusammengekauert in einer Ecke des Zimmers und hielt die Knie fest umklammert, Clinton lag bewegungslos auf dem Bett. Vielleicht war er bewusstlos. Ein Geräusch aus der anderen Ecke des Raums ließ June herumfahren. Es war die Eselstute – sie lebte mit der Familie im Haus, gleich hinter der hüfthohen Abtrennung. Der Esel kaute auf etwas herum und schmatzte, reckte seine Schnauze über die Abtrennung und sabberte auf den schmutzigen Fußboden. Die Familie hatte ihren Sonntagsstaat gegen alte abgetragene Kleidung getauscht.

Doch die Armut schockierte June nicht. Sie war mit Tom Toopeek aufgewachsen und hatte gelernt, dass Überfluss ein Geisteszustand war. Tom war eins von sieben Kindern, die zusammen in einer schmutzigen Hütte mit zwei Zimmern gelebt hatten, während ihr Vater Lincoln langsam, aber fleißig ihr Haus Balken für Balken vergrößerte. Sie waren trotzdem eine glückliche, gesunde Familie, großzügig und herzlich. June war sehr gerne bei ihnen gewesen. Sie störte sich nie daran, wie wenig die Familie besaß, sondern dachte neidisch daran, dass der ganze Wald ihnen gehörte.

Im Haus der Mulls konnte June denselben Familiensinn spüren. Einheit und Überfluss in besseren Zeiten. Doch im Moment war die Atmosphäre Unheil verkündend. Jurea wirkte nervös und war blass. Wanda hatte eindeutig Angst, Tränen liefen ihr über die Wangen. Und Clarence stand mit dem Gewehr an der Tür, vollkommen paranoid, und starrte nach draußen auf die Polizisten.

Die Familie war nicht unterernährt, und mit Ausnahme von Clintons verletztem und inzwischen entzündetem Fuß machten alle einen gesunden Eindruck. Vielleicht nicht so gebildet oder medizinisch geschult, wie es sein könnte, aber wieso sollte sich June zum Richter über diese Menschen machen? Vielleicht war hier alles in Ordnung, wenn Clarence nicht einen seiner Wahnanfälle hatte.

Sie kniete sich neben Clinton. Er hatte Fieber, seine Wangen waren gerötet und die Haut ganz trocken.

„Mr Mull, warum haben Sie das getan?“ Er drehte sich um und sah sie an. June wich seinem Blick nicht aus, und bemerkte seine Verständnislosigkeit. Sie sah nur Paranoia in seinen Augen. „Ich hatte Sie gebeten, Clinton ins Krankenhaus zu bringen.“ Clarence gab keine Antwort. Auf gewisse Weise war er schlimmer krank als sein Sohn. „Okay.“ June wandte sich wieder dem Jungen zu und öffnete ihren Arztkoffer. „Ich sehe zu, was ich tun kann.“

Sie nahm ihr Stethoskop heraus und horchte Clinton ab. Dann machte sie eine Spritze fertig. Clinton musste so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Sie konnte nicht so lange warten, bis Clarence sich beruhigt hatte und sie es ihm vernünftig erklären konnte. Also stand sie stumm auf und begann, sich auf Zehenspitzen an ihn heranzuschleichen. Doch gerade als sie fast neben ihm stand, begann Jurea zu sprechen.

„Clarence macht sich Sorgen, das ist alles. Er braucht nur ein bisschen Zeit. Und die Polizei sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.“

June blieb sofort stehen. Dann verbarg sie die Spritze in ihrem Ärmel und setzte sich zu Jurea an den Tisch. „Hat Clarence Angst vor der Polizei, Mrs Mull?“

„Nicht direkt, nein. Er hält sie für Soldaten. Wenn man ihn in Ruhe lässt, ist alles in Ordnung.“

„Hat er auch Halluzinationen?“

„Nicht so sehr, nein.“

„Mrs Mull, Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Sie wissen, dass ich Ihnen nichts Böses will. Baut Clarence Cannabis an? Marihuana? Hier, auf seinem Land?“

Clarence drehte sich abrupt um. „In diesem Haus ist kein Platz für Drogen!“ Er schrie so laut, dass June zusammenzuckte.

„Gott der Herr lehnt Drogen ab, außer zu Heilzwecken“, erklärte Jurea. „Ich habe Clinton etwas gegen seine Schmerzen gegeben, einer meiner Brüder hat es mir besorgt. Aber wir handeln nicht damit. Wir bleiben für uns, das ist alles. Und dafür haben wir unsere Gründe.“ Sie beugte sich näher zu ihr und flüsterte: „Sie wissen schon.“

June entdeckte die große Bibel, die neben der Lampe auf dem Tisch lag.

„Mrs Mull“, sagte sie leise. „Ich muss Clinton von hier wegbringen, oder er wird sterben.“

Jurea riss die Augen auf. „Ich möchte mich Clarence nicht widersetzen. Er war immer so gut zu mir. Zu uns.“

„Das ist nicht gut. Clarence“, sagte sie dann in scharfem Ton. „Kommen Sie her und hören Sie mir zu. Wenn Sie hier kein Marihuana anbauen, interessiert sich die Polizei nicht für Sie. Ich habe Sheriff Toopeek gebeten, Sie zu suchen, weil Ihr Sohn dringend in medizinische Behandlung muss. Sie auch, aber das ist Ihre Angelegenheit, nicht meine.“

„Ich habe nicht vor, mir Medikamente und Spritzen verabreichen zu lassen“, entgegnete der Veteran.

„Sie haben ihm Spritzen gegeben, als er nach Hause kam, und sie haben ihn krank gemacht. Er will nur in Ruhe gelassen werden. Er kann die Menschen nicht ertragen.“ Jurea senkte den Blick. „Wir haben alle beide unsere Gründe dafür, Clarence und ich. Wahrscheinlich kommen wir deswegen so gut miteinander aus.“

„Aber das ist nicht unbedingt immer das Beste für die Kinder.“

„Das weiß ich.“

„Dann müssen Sie mir jetzt helfen.“

„Wenn ich etwas tun kann, gerne.“

„Ja“, sagte June. „Clarence, ich denke, wir beide verstehen uns. Ich verstehe, wieso Sie hier leben und wieso Sie in Ruhe gelassen werden wollen. Das ist völlig in Ordnung. Lassen Sie mich nur Ihren Sohn ins Krankenhaus mitnehmen. Sie selbst müssen nicht mitkommen.“

„Ich kann den Jungen doch nicht allein gehen lassen. Er wird Angst haben, Doc.“

„Nein, das wird er nicht, Clarence“, schaltete Jurea sich ein. „Er hat nicht dieselbe Krankheit wie du, die ihn Angst haben lässt vor den Menschen. Nur du und ich haben das.“

„Da hören Sie es, Clarence. Lassen Sie mich Clinton ins Krankenhaus bringen und versuchen, sein Leben zu retten. Sie können mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter hierbleiben. Wenn Sie das nicht zulassen, riskieren Sie, dass Ihr Junge stirbt. Und ich weiß, dass Sie das nicht wollen.“

„Er nimmt Medizin.“

„Aber das reicht nicht. Wollen Sie ihn selbst zu meinem Wagen tragen, oder soll Tom Toopeek das übernehmen?“

„Dieser Tom, ist er Vietnamese?“

„Tom?“ Anstatt laut zu lachen, schaffte es June gerade noch, ein Räuspern daraus zu machen. „Oh nein. Tom ist Cherokee. Seine Familie zog von Oklahoma hierher, als er fünf Jahre alt war. Wir sind zusammen aufgewachsen, er ist bis heute mein bester Freund.“

„Von hier aus sieht er aus wie ein Vietnamese“, schnaubte Clarence verächtlich.

Wahrscheinlich sieht für ihn jeder aus wie ein Vietnamese, dachte June. „Er ist Cherokee. Amerikanischer Ureinwohner. Mein bester Freund. Soll er Clinton raustragen?“

Tom, Elmer, Stan, Bob und der Vertreter von der Forstbehörde namens Warren standen nervös draußen bei ihren Fahrzeugen und warteten, als sich plötzlich die Tür der Hütte öffnete und June herauskam. Sie hatte ihren Arztkoffer und Clarences Gewehr in der Hand. Hinter ihr erschien Clarence, der sehr groß und sehr tätowiert war und nur eine Weste über dem nackten Oberkörper trug, obwohl es hier oben in den Bergen ziemlich frisch war. In den Armen hielt er seinen fast bewusstlosen Sohn, auch er ein ziemlich großer Kerl.

„Geben Sie den Jungen jetzt Tom.“ June sprach ganz ruhig mit Clarence.

Ohne zu zögern übergab er Tom seinen Sohn, dann gab ihm June sein Gewehr zurück.

„Ich werde dafür sorgen, dass er aufs Beste versorgt wird, Clarence. Und ich schicke Ihnen morgen oder übermorgen jemand raus, der Ihnen Bescheid sagt, wie es ihm geht“, versprach sie ihm.

Clarence nahm sein Gewehr in Empfang und sah Tom in die Augen. Sie waren beide große Männer, über eins achtzig groß. Beide hatten einen Pferdeschwanz und braun gebrannte Gesichter. „Cherokee, was?“, fragte Clarence.

„Ja.“

„Ich war mit einem Navajo im Einsatz.“

„Meine Frau ist Navajo.“

„Alles klar. Halt die anderen Vietnamesen von uns fern“, sagte er und deutete mit den Augen auf die Polizisten.

Tom nickte nur kurz, dann brachte er den Jungen zu seinem Wagen. „Fahr nach Rockport ins Krankenhaus, das ist näher“, bat June ihn. Dann wandte sie sich wieder an Clarence. „Kennen Sie Charlie McNeil vom Veteranen-Hospital?“

„Ich dachte, ich hätte es Ihnen eben gesagt! Ich will nichts mit Krankenhäusern zu tun haben!“

„Das verstehe ich ja, aber wenn Charlie mal bei Ihnen vorbeikäme und sich erkundigt, ob Sie etwas brauchen – wäre das okay?“

„Ist er auch Indianer? Wie der Typ da?“

„Nein, ich glaube, er ist Ire. Ziemlich klein, rote Haare. Ein sehr netter Mann. Darf er mal vorbeikommen?“

Clarence dachte einen Augenblick nach, bevor er nickte. „Wenn er Jurea ein paar Bücher und Zeitschriften mitbringt.“

7. KAPITEL

Myrna Hudson-Claypools Dinnerpartys waren legendär. Nicht wegen des Essens – das war häufig eine einzige Katastrophe –, sondern wegen der einzigartigen Atmosphäre, die sich geplant spontan entwickelte.

Als Myrna von Junes neuem Partner erfuhr, hatte sie einen ausgezeichneten Grund für ein Fest – eine Willkommensparty für den neuen Arzt. Dazu einladen wollte sie alle, die mit ihm arbeiten würden: Elmer, June, Charlotte und Jessica. Dazu Charlottes Ehemann Bud, der allerdings auf Angeltour und nicht da war. Seltsamerweise war er immer auf Angeltour, wenn Myrna eine ihrer Partys gab. Und natürlich lud sie auch Johns Familie ein. Er, seine Frau und die sechsjährige Tochter waren die Ehrengäste. Damit es nicht allzu einseitig wurde, war auch Myrnas Pokerrunde geladen: Sam Cussler, Judge Forrest mit seiner Frau Birdie sowie Burt Crandall mit seiner Frau Syl. Insgesamt also dreizehn Personen. Ein großes Fest für Grace-Valley-Verhältnisse.

Myrna kochte selbst, das Servieren und Aufräumen hinterher übernahmen die Barstow-Schwestern. Die zweiundsechzigjährigen alten Jungfern Amelia und Endeara hatten seit Jahren kein Wort mehr miteinander gesprochen, aber sie teilten sich ihre Aufgaben in Myrnas Haushalt. Dass beide zusammen „im Dienst“ waren, kam selten vor und war vermutlich auch nicht ganz ungefährlich – aber das passte zu Myrnas Vorstellungen von einem besonderen Abend.

Mit ihrem neuen Farbdrucker produzierte Myrna Einladungskarten, in die sie sogar eine Menükarte einlegte. Darauf stand:

Petits Fours von der Venusmuschel
Crevettensalat du bois
Lauch-Kartoffel-Süppchen
Gerolltes kandiertes Lamm mit Minze

Gurke mit Walnussfüllung
Spargel à la Crème
Schokoladentorte suprême

Elmers Reaktion auf die Einladung bestand aus einem „Ach du lieber Himmel!“.

June hatte noch ein kurzes Treffen mit John nach Dienstschluss, um die Feinheiten des Vertrags auszuhandeln. Sie übergab ihm die Einladung mit den Worten. „Sie, Ihre Frau und Ihre Tochter sind die Ehrengäste – Sie müssen also hingehen.“

„Natürlich gehen wir hin! Wie reizend von Mrs Claypool!“ Und dann: „Was soll gerolltes kandiertes Lamm‘ sein?“

„Ich traue mich nicht, darüber nachzudenken“, gab June zur Antwort. „Mrs Claypool ist ja meine Tante. Eine faszinierende Frau, wirklich. Aber auch, tja ... sie exzentrisch zu nennen, wäre untertrieben. Aber sie ist entzückend und sehr unterhaltsam. Vor allem Ihre Tochter wird sie lieben, da bin ich mir sicher. Ihre Dinnerpartys sind berühmt und sehr lustig, aber ich empfehle Ihnen dringend, vorher zu Hause etwas zu essen.“

„Aber es ist trotzdem nett von ihr, nicht wahr?“

June zuckte mit den Achseln. „Wenn Myrna eins ist, dann nett.“

Der Abend war da. John und seine Frau hatten sich für eine Garderobe im Country-Stil entschieden, Leinen und Wolle. Ihre Tochter Sydney trug einen schicken gelben Overall und Doc-Martens-Schuhe. Jessica erschien in einem langen, schmalen schwarzen Kleid, das ihre bunte Frisur unterstrich, und Charlotte trug einen beigen Strick-Hosenanzug und dazu ihre weißen Krankenschwesterschuhe. „Hühneraugen“, erklärte sie unumwunden, als sie bemerkte, dass Judge Forrest ihre Füße anstarrte. Aber natürlich war es wie immer Myrna, die allen die Show stahl. Sie öffnete die Tür in einem beeindruckenden, bodenlangen, geschlitzten, glänzend schwarzen Cocktailkleid mit riesigen Schulterpolstern. Nicht zu gewagt, sondern eher ein sittsamer Aufzug à la Bette Davis, der nicht zu viel nackte Haut entblößte. Hätte sie noch eine Zigarettenspitze in der Hand gehabt, wäre das Bild perfekt gewesen.

Susan Stone gab einen überraschten Laut von sich und machte instinktiv einen Schritt nach hinten.

„Willkommen in meinem Haus“, begrüßte Myrna sie dramatisch und machte eine weit ausladende Handbewegung. „Du musst Sydney sein.“ Myrna beugte sich zu dem kleinen Mädchen.

„Uns hat niemand gesagt, dass es so feierlich wird“, entschuldigte sich John.

„Es ist nicht feierlich. Es macht nur den Eindruck, weil ich vierundachtzig Jahre alt bin und viele mindestens hundert Jahre alte Erinnerungsstücke in diesem Haus habe.“

Susan machte große Augen. „Dann ist das Kleid ein Familienerbstück?“, fragte sie beinahe ehrfürchtig.

„Nun, das wird es einmal sein, wenn ich nicht mehr bin“, stellte Myrna fest. „Bitte kommen Sie doch herein.“

„Das kann ja was werden“, flüsterte John seiner Frau zu.

„Verrückt.“ Susan schüttelte misstrauisch den Kopf. „Reichlich verrückt.“

June sah die Erleichterung in Johns Miene, als er das Wohnzimmer betrat und die bekannten Gesichter aus der Praxis entdeckte. Sie begrüßte ihn und seine Frau, stellte sie ihrem Vater und den anderen Anwesenden vor. Während sie sich unterhielten, klingelte es wieder an der Tür. Die restlichen Gäste trafen ein.

Sydney versteckte sich hinter ihrer Mutter und starrte Jessica an. Sie war völlig fasziniert von ihren bunten Haaren und den Piercings. Jessica lächelte und beugte sich nach vorn, sodass ihr farbiger Irokesenkamm auf Augenhöhe mit dem Mädchen war, und wuschelte ihn zum Spaß. Sydney verkroch sich noch weiter.

Myrna hatte ihr Schultertuch über einen der dick gepolsterten Ohrensessel geworfen, um zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Platz für sie reserviert war. Neben dem thronartigen Sessel befand sich ein gepolsterter Hocker mit Rollen, auf dem drei große Kissen übereinandergestapelt waren, auf denen ein Diadem lag.

„Miss Stone“, rief Myrna. Alle richteten den Blick auf sie. Die Stones starrten sie entgeistert an, aber Myrnas Freunde und alle, die schon einmal auf einer ihrer Partys gewesen waren, wussten, was jetzt kam. „Miss Sydney Stone, komm her.“ Myrna klopfte auf den Hocker.

John gab seiner Tochter einen sanften Schubs, und Sydney ging langsam auf Myrna zu.

June fragte sich oft, wie es wohl für ihren Vater gewesen sein musste, von dieser Person erzogen worden zu sein, die selbst eigentlich nie richtig erwachsen geworden war. Abgesehen davon war Myrna kaum größer als die sechsjährige Sydney.

„Miss Stone, gehen Sie häufig auf Dinnerpartys?“

Sydney schüttelte den Kopf und begann, an ihrem Finger zu kauen.

„Nein? Dann dürfen Sie heute Abend die Prinzessin sein. Sie dürfen die Prinzessinnenkrone tragen und mit dem Glöckchen nach den Bediensteten klingeln. Und nächstes Mal sehen wir in dem großen alten Haus nach, ob wir ein passendes Gewand für dich finden.“

„Aber nicht so eins wie das da“, platzte Sydney heraus und deutete auf Jessica. Alle lachten.

„Das kann auch nicht jeder tragen“, meinte Jessica, ohne beleidigt zu sein.

„Nein, so viel Schmuck brauchen wir nicht“, pflichtete Myrna dem Mädchen bei. „Vielleicht etwas, das mehr nach Cinderella aussieht? Ja? Gut, dann schreiten wir jetzt zur Krönung.“ Sydney ließ sich von Myrna das Diadem aufsetzen, dann nahm sie vorsichtig auf den aufgetürmten Kissen Platz. Das Glöckchen blieb auf dem Boden stehen. „Sehr schön. Bitte klingel einmal für den Aperitif und die Horsd’œuvre.“ Sydney gehorchte und fing an zu grinsen.

„Habe ich Ihnen nicht prophezeit, dass Ihre Tochter Myrna lieben würde?“, flüsterte June. „Als ich klein war, war es für mich das Schönste auf der Welt, Tante Myrna zu besuchen und ihre vielen Sachen zu betrachten. Ich glaube, sie hat noch nie etwas weggeworfen.“

Amelia brachte die Drinks. Cidre und Weißwein. Endeara trug das Tablett mit den Häppchen. Beide trugen ein schwarzes Hausmädchen-Kleid mit weißer Schürze und weißem Häubchen. Und während sie durch die Gästeschar schritten, machten sie sogar dasselbe übellaunige Gesicht.

„Guten Abend, Amelia und Endeara.“ Keine der beiden antwortete auf die freundlichen Grüße der Gäste. Nachdem alle versorgt waren, verschwanden sie stumm wieder in der Küche.

„In der Küche lief leider nicht alles glatt“, verkündete Myrna. „Aber ich denke, die beiden werden es trotzdem schaffen, das Menü zu servieren. Ich habe einen Großteil des Kochens selbst übernommen – und auch des Abschmeckens. Ich muss sagen, so gut ist mir noch nie etwas gelungen.“

Judge Forrest biss in ein Crevetten-Häppchen und verzog das Gesicht. Man hatte den Eindruck, als seien plötzlich zu seinen vielen Falten noch ein paar weitere dazugekommen. Alle anderen hielten in der Bewegung inne und legten die viereckigen Vorspeisen unberührt zurück auf die Teller. Myrna schien es nicht aufzufallen. „Ich weiß nicht, ob dir das schmecken wird, Prinzessin Sydney. Das ist eher was für Erwachsene.“

„Aber ich mag es.“ Sydney biss kleine Stückchen von ihrer Vorspeise ab. Sie zog zwar auch eine Grimasse, aber sie hatte so viel Spaß, dass sie niemals zugeben würde, wie schrecklich es schmeckte. Sie war ein kleines Mädchen. Sie aß Sandkuchen!

„Keine Sorge“, flüsterte June Susan und John zu. „Es schmeckt furchtbar, aber es ist nicht gesundheitsschädigend.“

„Hervorragend! Du bist eine Prinzessin mit ausgezeichnetem Geschmack! Als hätte ich es geahnt!“

Sydney kicherte glücklich.

Das Essen war grauenhaft, vollkommen ungenießbar. Der Richter murmelte Sam zu: „Man würde sich wünschen, dass sie sich endlich mal eine Köchin anschafft. Leisten könnte sie es sich.“

„Dann würde es aber weniger Spaß machen.“ Alle in der Runde kannten Myrnas entsetzliche Essenskreationen – bis auf die Stones, und die waren gewarnt worden. Und trotzdem würde niemand in Grace Valley jemals Myrnas Einladung ausschlagen, denn sie war nun mal die interessanteste Person im ganzen Valley.

Der Kaffee zumindest war gut und die Schokoladentorte erträglich.

Besonders köstlich war dagegen die Unterhaltung bei Tisch. Judge Forrest, der immer noch seinen Richterberuf ausübte, war vollkommen indiskret und berichtete munter von den Fällen der vergangenen Woche. Familienfehden, Körperverletzung, Fahren unter Alkoholeinfluss, eine Testamentsanfechtung. „Man könnte es eine perfekte Woche nennen. Denn endlich konnte ich Gus Craven festsetzen, ohne Arbeitsbeschaffungsprogramm und ohne dass ich ihn wegen guter Führung wieder rauslassen muss.“

„Das wurde auch Zeit“, pflichtete Elmer ihm bei.

„Wenn es einen Gott gibt, dann schlägt Gus hoffentlich jemand im Knast den Schädel ein.“ Charlotte sprach aus, was viele im Valley dachten.

„Wir müssen uns um Leah kümmern“, warf Birdie ein und nahm ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche, in dem sie ihre endlosen sozialen Aufgaben notierte. „Susan, darf ich Sie anrufen und Sie zu einem wohltätigen Engagement überreden?“

„Selbstverständlich. Am meisten am Herzen liegt mir die Arbeit mit vernachlässigten Frauen und Kindern.“

June informierte sie und ihren Mann leise. „Gus Craven schlägt seit Jahren seine Familie. Die ganze Stadt hat darauf gewartet, dass er endlich hinter Schloss und Riegel verschwindet.“ Die Stones nickten verständnisvoll. „Ich bin mir sicher, dass sich einige Frauen zusammenfinden und überlegen werden, wie man Leah jetzt am besten unter die Arme greifen kann.“

„Gibt es hier eigentlich ein Frauenhaus?“, erkundigte sich Susan.

„Nicht in Grace Valley“, sagte Birdie. „Und um genau dieses Thema sollten wir uns demnächst auch mal kümmern. Man denkt gerne, Leah wäre die Einzige, der so etwas passiert ist, aber leider ist sie nicht allein.“

Auch Burt und Syl Crandall konnten einiges zum Gespräch beitragen, denn sie kannten alle Tratschgeschichten und konnten damit locker jede Party unterhalten.

„Justine Roberts verbringt am Tag mindestens drei Stunden damit, Blumenschmuck in die Kirche zu bringen“, erzählte Burt. „Und zwar immer dann, wenn Pastor Wickham zufälligerweise alleine dort ist.“

„Willst du damit sagen, dass er endlich eine willige Frau gefunden hat?“, erkundigte sich Myrna.

Sams Augen begannen zu funkeln, und seine Wangen wurden über seinem weißen Bart ganz rot. „Sie sieht glücklicher aus, wenn sie rauskommt, als wenn sie reingeht. Ich schätze, es wird was Spirituelles sein.“

Elmer lachte pfeifend. „Es ist etwas Heiliges für sie. Das Gefühl kenne ich.“

„Als ob du dich daran erinnern könntest“, ätzte der Richter, worauf er sich von Birdie einen Schlag mit ihrem Fächer einfing.

„Die junge Dame ist eben einen Flirt wert“, stellte Charlotte fest.

„Jung?“, ereiferte sich Jessica. „Die ist doch bestimmt schon dreißig!“

Alle Augen richteten sich auf sie. Sie schluckte, peinlich berührt. „Und Pastor Wickham ist ein alter Lustmolch! Susan, helfen Sie ihm bloß nicht, die Gesangbücher einzusammeln, wenn Sie sich dabei bücken müssen!“

„Die Warnung ist angekommen“, bedankte sie sich. „Und wie sind seine Predigten? Wir haben nämlich eigentlich vor, in die Kirche zu gehen.“

„Nicht halb so amüsant wie seine Avancen und die fruchtlosen Versuche seiner Frau, sie zu verhindern“, sagte Sam.

John Stone schlug sich aufs Knie und lachte. „Ich werde diese Stadt lieben!“

Seine Frau schien sich da allerdings noch unsicher zu sein.

„Lassen Sie sich das eine Warnung sein, Dr. Stone“, verkündete Myrna. „Jede noch so kleinste Bewegung von Ihnen wird beobachtet.“

„Das ist mir klar. Und ich beobachte zurück!“

„Und jetzt gehen wir rüber in den Salon. Es folgt der gesellige Teil des Abends!“

„Oh super“, rief Jessica und erhob sich. „Hoffentlich wird getanzt.“

„Ich will nur hoffen, dass wir nicht Scharade spielen“, brummte der Richter.

June stand auf und begleitete John und Susan in den Salon. „Einmal mussten wir alle unsere Kleider ausziehen, dann gab es Bodypainting.“ Die beiden blieben stehen und rissen ungläubig die Augen auf. Doch June lachte entschuldigend. „War nur ein Scherz.“

„Das gibt’s doch nicht!“ Myrna hatte Sydney an der Hand. „Prinzessin Sydney kennt die Geschichte von unseren Engeln noch nicht. Doch zuerst sollen uns die Barstows Kaffee servieren. Prinzessin, würden Sie die Glocke erklingen lassen?“

Sydney ging vollends in ihrer Rolle auf. Mit der Eleganz, die einer echten Prinzessin angemessen war, hob sie das Kinn und läutete das Glöckchen.

„Hervorragend“, lobte Myrna sie.

„Ich mach das schon“, hörte man eine der Barstows aus der Küche keifen. „Und jetzt geh mir aus dem Weg, zum Teufel!“

„Sag du mir nicht, was ich zu tun habe!“, keifte die andere zurück. „Ich bin nicht deine Dienstmagd!“

„Danke, Endeara“, sagte Myrna, die als Erste bedient wurde. „Und bitte keine Streitereien mehr in der Küche. Das macht nur alle nervös.“

„Sind die beiden immer so?“ Susan blickte etwas verständnislos um sich.

„Immer. Schon seit sie Kinder waren.“

„Wie können Sie das ertragen?“

„Irgendjemand muss es ja tun.“

„Ich meine nur ...“ Susan unterbrach sich. Sie hatte eigentlich fragen wollen, wieso Myrna nicht einfach jemanden einstellte, der normal war, doch als sie in Myrnas große, unschuldige Augen blickte, wusste sie, dass die alte Dame ihre Frage gar nicht verstehen würde. Myrna hatte die beiden weniger eingestellt als zu sich genommen.

June beobachtete Susan und spürte, dass sie große Zweifel hegte wegen eines Umzugs nach Grace Valley. Wenn sie jetzt noch etwas von Engeln erzählt bekam, konnte das ihre Zweifel bestärken – oder sie zerstreuen.

„Südlich von hier, in den Ausläufern der Berge, gibt es eine Stadt, die Pleasure heißt“, begann Myrna ihre Geschichte. „Heute befindet sich dort der Verwaltungssitz des Countys, und Judge Forrest spricht dort Recht. Doch früher war der Ort nur ein kleiner Fleck auf der Landkarte. Goldsucher versuchten ihr Glück in den Bergen, die Spanier segelten entlang der Pazifikküste auf der Suche nach einem Krieg. Siedler, Glücksjäger, grell geschminkte Damen, Kneipenschlägereien. Es war eine Stadt für Männer mit loser Moral und losem Geldbeutel.

Dort lebte ein Mann, der Clint Barker hieß. Er war der gemeinste, widerlichste Typ, den man sich vorstellen kann. Vermutlich ein Vorfahre von Gus Craven.“

„Von wem?“, fragte Sydney.

„Ist nicht wichtig, Schätzchen. Wichtig ist, dass Clint sehr gemein war! Er hatte immer allein gelebt, und als er um die vierzig Jahre alt war und verkrustet wie ein alter Köter – denn damals war man mit vierzig richtig alt – stieß er auf eine Goldader. Er kam zu Geld und ging für einige Wochen in den Süden. Von dort kehrte er mit einer jungen Ehefrau zurück. Mit einer sehr jungen Ehefrau! Sie war gerade einmal sechzehn, glaube ich. Und wunderschön. Ihr Name war Miranda.

Clint war ein grausamer Ehemann. Er schlug seine Frau und behandelte sie wie Dreck. Es wird euch nicht überraschen zu hören, dass sie ihm davonlief.

Clinton zog wie ein Sturm durch das Land, um sie zu suchen. Als er sie schließlich ausfindig machte, lebte sie zusammen mit einem jungen Witwer und dessen kleinen Kindern. Und zwar genau hier, in Grace Valley. Der Witwer war ein liebenswerter, freundlicher Mann mit Namen Wyatt Manchester. Er war einer der Siedler, ein Farmer. Er nahm Miranda in seinem Haus auf und kümmerte sich um ihre blauen Flecken und ihr gebrochenes Herz. Zum Dank sorgte sie für ihn und seine Kinder. Ich denke, die beiden verliebten sich ineinander. Ganz sicher taten sie das.

Doch dann fand Clinton sie, und er erschoss sie alle, ohne mit der Wimper zu zucken. Die ganze Familie. Wyatt, seine Kinder und Miranda.“

„Mrs Claypool, bitte!“, versuchte Susan Stone sie zu unterbrechen.

„Schon gut, es geht alles gut aus“, beruhigte Sam sie. „Wie bei jedem Disney-Film.“

„Und dann?“, fragte Sydney, die es nicht erwarten konnte, dass Myrna weitererzählte.

„Natürlich wurde Clint Barker festgenommen und aufgehängt. Nicht viel später wurde es ruhig um die Stadt Pleasure. Es gab kein Gold mehr in den Bergen, die Spanier verloren das Interesse, und es blieben nur noch Farmer, Rancher, Holzfäller und Fischer da. Es wurde wieder ein angenehmer Ort, ohne Kneipenschlägereien und grell geschminkte Damen.

Das alles geschah in den zwanziger Jahren. Ich war damals noch ein Baby und Elmer noch lange nicht geboren. Eines Tages kam ein Ehepaar mit seinem Pferdewagen in die Stadt, es war auf dem Weg zu einer Familienhochzeit südlich von hier. Es war neblig, es war eisig kalt, und das kann hier schnell gefährlich werden, vor allem auf den Bergpässen. Pferd und Wagen des Ehepaares stürzten in eine Schlucht. Es gelang ihnen jedoch, hinauf zur Straße zu klettern. Das Tier und ihren Besitz konnten sie nicht retten, und die Nacht brach herein. Kalt und orientierungslos liefen sie die Straße entlang, verzweifelt auf der Suche nach Hilfe oder einem Unterschlupf, wo sie die Nacht verbringen konnten.

Da begegnete ihnen ein Mann. Er sah sehr gut aus, war etwa dreißig Jahre alt, trug Stiefel und eine schwere Jacke und hatte eine Axt und ein Seil dabei. Er nahm die Familie mit in seine Hütte, wo seine Frau ihnen eine heiße Suppe servierte und ihre Sachen am Feuer trocknete, während er selbst zurück zu der Unglücksstelle ging und das Pferd der Familie rettete. Die Familie des Holzfällers bestand aus dem jungen Ehepaar und ihren zwei entzückenden kleinen Kindern, und sie schienen einander sehr zu lieben. Ihr bescheidenes kleines Zuhause strahlte Herzlichkeit und Freude aus, und sie hatten dem Ehepaar auf Reisen das Leben gerettet. Auf der Rückreise machte das Ehepaar wieder Halt in Grace Valley. Sie hatten ein Geschenk für die Familie dabei, das sie ihr geben wollten.

Sie suchten und suchten, aber sie konnten die kleine Hütte nirgends finden. Also fragten sie in jedem einzelnen Haus in der Stadt, ob man ihnen den Weg zur Hütte der Familie Manchester zeigen könnte. Doch erst, als sie an einen Mann gerieten, der seit den Zeiten des Goldrauschs im Valley lebte, erfuhren sie die Wahrheit: Wyatt Manchester, Miranda und Wyatts zwei kleine Kinder waren bereits seit fünfzig Jahren tot. Sie kamen als Engel Reisenden zu Hilfe, die in Not waren. Sie werden oft gesehen auf dem Highway 482, und eine ganz bestimmte Kurve ist auch als, Pass der Engel‘ bekannt.“

Nachdem Myrna geendet hatte, war es einen Moment lang still. Dann sagte der Richter: „Die Geschichte wird immer besser, je öfter ich sie höre.“

„Es ist keine Geschichte, du alter Spielverderber. Es ist die reine Wahrheit!“

John beugte sich vor. Er war völlig gebannt, im Gegensatz zu seiner Frau. „Hat man sie seitdem noch mal gesehen?“

„Oh ja. Dauernd behaupten Leute, sie gesehen zu haben“, rief Myrna.

„Haben Sie sie auch schon mal gesehen?“

„Nein, leider nicht. Aber ich hoffe, ich werde sie vor meinem Tod noch erleben. Das wäre wirklich ein Geschenk.“

„Wenn du sie vorher nicht siehst, siehst du sie hinterher“, tröstete Elmer sie.

Wieder hörte man Gekeife aus der Küche, und die magische Stimmung war dahin. Myrna entschuldigte sich, denn sie musste die Barstows beruhigen.

„John“, wandte June sich an ihren neuen Kollegen, „als ich nach meinem Studium hierher zurückkam und bei meinem Vater in der Praxis einstieg, reagierten die Menschen sehr zurückhaltend auf mich, obwohl ich sie mein Leben lang kannte. Die Bewohner von Kleinstädten wie dieser tun sich erfahrungsgemäß schwer damit, Veränderungen hinzunehmen und sich Neuankömmlingen zu öffnen. Aber wenn man erst mal dazugehört, sind die Menschen hier freundlich, großzügig und herzlich. Am Montag werde ich Sie den ersten Patienten vorstellen, damit machen wir dann die Woche über weiter. Nach ein paar Wochen haben Sie sicher ihre ersten eigenen Termine. Aber Sie müssen Geduld mitbringen.“

„Da mache ich mir keine Gedanken, June. So habe ich vielleicht am Anfang mehr Zeit, das wird Susan freuen. Es gibt immer noch eine Menge auszupacken und zu entdecken.“

Tom lenkte den Range Rover langsam durch den Wald, über einen der vielen alten Holzarbeiterwege, die sich durch die Ausläufer der Trinity Alps schlängelten. Jerry Powell und Charlie McNeil begleiteten ihn. „Aus Erfahrung weiß ich, dass es am besten ist, wenn wir den Wagen stehen lassen und einzeln, brav in einer Reihe hintereinander, auf Clarences Haus zugehen. Seine Frau sagt, dass seine Wahnvorstellungen davon ausgelöst werden, wenn viele Personen rasch auf einmal auf ihn zukommen.“

„Wahrscheinlich hat er dieses Problem die ganze Zeit gehabt“, bemerkte Jerry Powell.

„Das muss nicht sein“, wandte Charlie McNeil ein. „Ich kenne eine Reihe von Veteranen, die im Zusammenhang mit ihrer posttraumatischen Belastungsstörung spezielle Symptome entwickelt haben. Clarence wird nervös, wenn zu viele Leute auf einmal da sind. Dann fühlt er sich nicht mehr sicher, und seine Paranoia gipfelt in Wahnvorstellungen. Ein anderer Veteran, mit dem ich zu tun habe, wird von den Helikoptern der Drogenbehörde in den Wahnsinn getrieben. Immer, wenn sie auf der Suche nach Marihuana-Plantagen ihre Runden über den Bergen drehen, wähnt er sich wieder in Vietnam.“

„Glaubt er, es wären ihre Hubschrauber?“

„Bisher ja. Aber man weiß nie, wann es kippen wird.“

„Okay“, meldete sich Tom zu Wort, als er den Wagen anhielt. „Folgt mir, einer nach dem anderen. Und lasst angemessenen Abstand – das wirkt weniger bedrohlich.“

Jerry und Charlie hatten schon oft zusammengearbeitet. Jerry war Jugend- und Familienpsychologe, Charlie war ausgebildeter Krankenpfleger und hatte eine Zusatzausbildung als Therapeut gemacht. Sie waren ein seltsames Paar: Jerry groß und schlank, Charlie klein und dick. Doch sie waren ein gutes Team und hatten schon vielen Menschen helfen können. Nun hatte jeder eine Tasche voll mit Büchern und Zeitschriften für Mrs Mull dabei.

„Clarence!“, rief Tom vom Rand der Lichtung aus. „Clarence Mull, hier ist Tom Toopeek! Erbitten Erlaubnis, den Hof zu überqueren!“ Er wartete. „Clarence Mull!“, rief er noch einmal.

„Vielleicht ist er nicht da“, flüsterte Jerry.

„Sie sind da. Ich rieche ein Kochfeuer, ihr nicht? Riecht lecker“, stellte Tom fest.

Charlie schnüffelte. „Riecht wirklich gut. Ich frage mich, was sie auf dem Feuer haben.“

„Wenn er uns nicht erschießt, lädt er uns ja vielleicht zum Abendessen ein.“

„Wenn er dich erschießen wollte, wärst du schon längst tot“, bemerkte Tom.

„Auf dich hat er auch geschossen“, wandte Jerry ein. „Und du lebst noch.“

„Ich gehe fest davon aus, dass er mich getroffen hätte, wenn er mich hätte treffen wollen. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn nicht sofort festgenommen habe. Er will einfach in Ruhe gelassen werden, er will niemandem etwas tun.“

In diesem Moment raschelte etwas zu ihrer Linken, und Clarence brach durch die Bäume, in einer Hand sein Gewehr, in der anderen eine Forelle. Als er die drei Männer sah, blieb er stehen, musterte sie kurz und nickte Tom dann zur Begrüßung zu. „Haben Sie Jurea was zu lesen mitgebracht?“

Charlie hielt seine Tüte hoch. „Einiges, Mr Mull. Ich bin Charlie McNeil, das ist mein Kollege Jerry Powell. Wir sind mit Chief Toopeek hier, weil wir Ihnen Neuigkeiten zum Gesundheitszustand Ihres Sohnes mitteilen wollen.“

Quietschend öffnete sich nun auch die Haustür, und Jurea füllte mit ihrem breiten Körper den Türrahmen aus. Bisher hatten nur June und George Fuller ihr entstelltes Gesicht gesehen. June hatte Tom, Jerry und Charlie zwar vorgewarnt, aber es kostete die Männer doch einige Anstrengung, sich beim Anblick der Frau nichts anmerken zu lassen.

„Ich schätze, wenn es Neuigkeiten von Clinton gibt, sollte seine Mutter sie auch hören“, stellte Clarence fest.

Charlie ging vorsichtig auf Jurea zu, klemmte sich die Tüte mit dem Lesestoff unter den Arm und streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin. „Guten Tag, Mrs Mull. Mein Name ist Charlie McNeil, ich bin Krankenpfleger im Veteranen-Hospital. Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ich gehe in kein verdammtes Veteranen-Hospital!“, schrie Clarence unvermittelt. Charlie und Jerry erschraken.

„Das wissen die Herren“, erklärte Tom. „Wir sind nicht hier, um Sie ins Krankenhaus zu bringen. Wir sind hier, um Ihnen zu sagen, wie es Ihrem Sohn geht. Und leider haben wir keine guten Nachrichten. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber der Fuß musste abgenommen werden.“

„Oh, Clarence!“, rief Jurea. „Mein Junge!“

„Der Arzt hat alles versucht, Mrs Mull. Aber Clinton hatte eine Gangrän. Im Moment hat er noch hohes Fieber, aber die Prognose ist gut. Die Operation und die Medikamente konnten ihm helfen.“

Jurea begann zu weinen, und Jerry legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. „Mrs Mull, wir nehmen Sie gerne mit, damit Sie ihn besuchen können.“

„Ich traue mich nicht, Clarence und Wanda allein zu lassen“, meinte sie schniefend.

„Wir könnten uns beeilen“, schlug Jerry vor.

„Es geht nicht, Sir. Das wäre nicht recht und vermutlich würde sich der Junge nur schämen. Aber würden Sie ihm sagen, dass ich um ihn geweint habe?“

„Natürlich.“ Jerry nickte freundlich.

„Und dass wir alle für ihn beten.“

„Ich könnte den Esel erschießen“, überlegte Clarence laut.

Tom kickte Staub. „Das wäre eine Schande.“

Jurea hatte sich wieder etwas gefasst. „Das wird er nicht tun. Das sagt er nur so.“

„Ich komme in ein paar Tagen noch mal vorbei“, kündigte Charlie an. „Und vielleicht wieder mit meinen beiden Freunden. Wir haben Ihnen jede Menge Bücher und Zeitschriften mitgebracht. Möchten Sie und Ihre Tochter vielleicht auch Stifte und Papier haben? Malstifte? Dann könnten Sie ein Bild für Clinton malen oder ihm eine Nachricht schreiben.“

In diesem Moment geschah etwas Bemerkenswertes. Jureas unversehrte Gesichtshälfte begann zu strahlen – sie lächelte. Durch die Muskelbewegung verschwand die Narbe vor ihrem versehrten Auge, und Jurea sah beinahe hübsch aus. Und noch etwas Wichtiges fiel Charlie in diesem Moment auf: Wahrscheinlich konnte die Narbe durch einen kosmetischen Eingriff behandelt werden.

John Stone erschien am Montagmorgen frisch und gut gelaunt in der Praxis. Den Tag verbrachte er damit, die Patienten kennenzulernen. Zusammen mit June traf er Tom Toopeek zum Lunch in Fuller’s Café und stellte sich dort auch gleich den anwesenden Gästen vor. June schickte ihn früh nach Hause und erinnerte ihn noch einmal daran, Geduld mit den Einheimischen zu haben. Aber sie hatte ein gutes Gefühl und sagte das auch Jessica und Charlotte. Wahrscheinlich würden schon nach kurzer Zeit die ersten Patienten nach ihm fragen.

Am Dienstagmorgen war Stau in der Stadt, als June zur Praxis fuhr. Dabei war heute doch gar keine Veranstaltung, keine Kirmes, kein Bauernmarkt oder sonst ein Ereignis, das die Menschen aus nah und fern angelockt hätte. Und trotzdem war alles zugeparkt. Sogar der Praxisparkplatz, der Parkplatz vor der Kirche und vor dem Café. June blieb erstaunt vor der Praxis stehen.

Laura Robertson stieg gerade aus ihrem Pick-up und zerrte ihren Sohn Matt am Handgelenk hinter sich her. Mit der anderen Hand balancierte sie einen Plastikbehälter und schritt forsch auf die Praxis zu. Als sie die Tür öffnete, konnte June sehen, dass das Wartezimmer aus allen Nähten platzte.

Zwei Frauen mittleren Alters kamen heraus. Sie blieben mitten auf der Straße stehen, drückten sich und kicherten wie die Teenager.

Langsam fuhr June weiter zum Café, parkte in der zweiten Reihe und betrat das Lokal. Sie befand sich immer noch in einem Schockzustand. Die meisten Gäste hatten sich Fensterplätze gesucht, von wo aus man das Kommen und Gehen in der Arztpraxis besonders gut beobachten konnte.

George hatte ihren Kaffee schon fertig und drückte ihr eine Tüte mit Blaubeer-Muffins in die Hand. Tom stand mit seinem dampfenden Kaffeebecher an der Verkaufstheke.

„Dr. Stone nimmt wohl die ersten Termine wahr.“

„Und ich habe ihn noch gewarnt, dass es in Kleinstädten seltsam zugeht. Dass die Menschen zwar freundlich sind, aber nicht so schnell warm werden mit Fremden.“

„Tja, da hast du wohl von einer anderen Kleinstadt gesprochen“, mutmaßte Tom.

8. KAPITEL

In den folgenden Tagen dachte June, sie müsste eine Drehtür einbauen lassen. Doch bald beruhigte sich alles. Trotzdem war John Stones Beliebtheit ein echtes Phänomen. Auf das Frühjahr folgte der Sommer, und seine Patientenliste war lang. Doch er schien es gar nicht zu bemerken.

„Passiert Ihnen das eigentlich überall, wo Sie hingehen?“, erkundigte sie sich.

„Was?“

„Die Horden von Anhängern, die Sie um einen kleinen Moment Ihrer Zeit anflehen, damit sie sich in Ihrem strahlenden Lächeln sonnen können ...“

„June, Sie sind wirklich lustig. Ich bin nur der neue Arzt in der Stadt. Mehr nicht.“

„Eins muss ich Ihnen gestehen, John. Für mich hat niemand einen Kuchen gebacken, als ich hier anfing.“

„Vermutlich, weil Sie hier aufgewachsen sind. Apropos, ich wollte Sie schon die ganze Zeit danach fragen. Was hat es eigentlich mit diesen Engeln auf sich?“

„Wieso?“

„Gibt es sie wirklich?“

„Schwere Frage.“

„Dann anders“, versuchte er es noch mal. „Glauben Sie daran? An die Engel? Oder was immer es sein soll?“

„Sagen wir so: Ich glaube nicht nicht daran.“

„Was heißt das?“

„Es heißt, dass ich mit diesen Engelgeschichten groß geworden bin. Es gibt einige davon, wissen Sie. Eine andere beliebte lautet, dass der Deputy des Sheriffs auf der Road 101 von einem Gefangenen auf der Flucht angeschossen wurde. Ein Typ im Holzfäller-Look soll die Blutung gestoppt und bei dem Mann gewartet haben, bis Hilfe eintraf. Dann verschwand er spurlos im Wald. Der Deputy glaubt fest daran, dass es sich um Wyatt, den Engel, handelte. Ich persönlich behaupte, der gute Samariter hat sich nur seinen Namen ausgeliehen.“

„Klingt überzeugend“, pflichtete John ihr bei. „Aber ein verwundeter Deputy ...“

„Ich weiß. Aber wenn ich in den Trinity Alps Marihuana anbauen würde und einen angeschossenen Deputy fände, dem ich helfen wollte, ohne dass jemand erfährt, wer ich bin und was ich treibe, würde ich mich auch Wyatt nennen und hinterher wieder im Gestrüpp verschwinden.“

„Oh.“ John wirkte ernüchtert.

„Und die Marihuana-Bauern gibt es wirklich, wissen Sie. Fahren Sie nicht einfach raus in die Berge, wenn Sie wandern gehen wollen. Laufen Sie lieber durch die Parks oder auf markierten Wanderwegen, denn die illegalen Farmer haben ein paar Wege mit Sprengfallen ausgestattet. Sie bekriegen sich auch gegenseitig. Als Marihuana-Anbauer legt man ein deutliches Revierverhalten an den Tag.“

„Haben Sie schon mal einen von diesen Typen gesehen?“, wollte John wissen.

„Von dem ich es wüsste? Nein. Hier in der Stadt bekommen wir von dem ganzen Ärger fast nichts mit, aber oben in den Bergen geht es zur Sache. Dort gibt es Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von alten Holzfällerrouten. Und es kommt immer wieder vor, dass Menschen verletzt werden, wenn sie zufällig das falsche Gebiet betreten.“

„Alles klar. Sowohl Tom als auch Ihr Vater haben mich davor schon gewarnt. Aber zurück zu den Engeln. Ihnen sind sie noch nicht begegnet, oder?“

„Nein. Und vergessen Sie bitte nicht, dass meine Tante Myrna Schriftstellerin ist. Sie hat eine blühende Fantasie. Und gestaltet gern alles großzügig aus.“

„Aber die ganze Stadt scheint doch an die Engel zu glauben!“

„Scheint so, ja.“

„Und sogar Sie glauben nicht nicht an sie.“

„John“, sagte sie und tätschelte beschwichtigend seinen Arm. „Engel sind ein Bewusstseinszustand. Machen Sie sich nicht so viele Gedanken.“

„Sydney macht uns verrückt damit! Sie will unbedingt wissen, ob sie echt sind oder ob es nur eine Geschichte ist. Wissen Sie, wir erfinden nie etwas. Wir sagen ihr immer, wie die Dinge wirklich sind. Wenn sie albern sind.“

„So alberne Dinge wie der Weihnachtsmann und die Zahnfee?“

John grinste. „Na ja. Die gibt es ja.“

„Gott sei Dank. Ich dachte kurz, Sie gehören zu dieser unerträglichen Generation moderner Eltern, die ihren Kindern die Fantasie nehmen, bevor sie die Stützräder abmachen! Mein Vater zum Beispiel ist einer der pragmatischsten Wir erzählen unseren Kindern keinen Unsinn‘-Väter, die es gibt – und er hat mir immer eingebläut, egal ob ich sie sehen würde oder nicht, Engel seien immer an meiner Seite.“

„Ich glaube, ich verstehe, was er meint“, stellte John fest.

Doch June hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie dachte an ihre Kindheit zurück, als sie sieben Jahre alt war und zusammen mit Tom Toopeek, Greg Silva und Chris Forrest auf den großen Baum in ihrem Garten kletterte. Sie war das einzige Mädchen – wie so oft – aber sie war genauso laut und schnell und stark wie die Jungs. Sie bauten sich ein Baumhaus. Die Plattform und das eigentliche Baumhaus waren von Elmer und Mikos gebaut worden, es war sicher und stabil und trug ihr Gewicht. Doch June und ihre Freunde fügten immer neue Dinge hinzu: Wände, Seilschaukeln, Leitersprossen den Stamm hoch und auf den dicken Ästen.

Und dann fiel sie runter.

Es war komisch. Sie war bewusstlos gewesen, und trotzdem erinnerte sie sich an jedes Detail. Wie sie nach unten flog, wie ihr Kopf aufschlug, wie ihre Wirbelsäule krachte und wie alle ihren Namen riefen, ohne dass sie antworten oder sich bewegen konnte.

Die Jungs rannten schreiend ins Haus. „Doc! Doc! Mrs Hudson! Mrs Hudson!“ Und June lag leblos unter dem Baum. Dann kamen ihre Eltern und ihre Freunde und ihr Vater schrie, niemand solle sie anfassen. Ihre Augen waren offen und sie sah, wie er sich über sie beugte, doch sie konnte nicht einmal blinzeln. Sein Gesicht nahm allen Raum ein. Er legte zwei Finger an ihren Hals, um ihren Puls zu fühlen. Sie atmete tief ein, was wehtat, dann musste sie husten und begann zu weinen.

Eine Woche lang hatte sie höllische Kopfschmerzen, war aber sonst wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Ihre Mutter versuchte eine Zeit lang, ihr das Klettern zu verbieten, aber auch das ging vorbei. Es war bisher Junes einzige Bekanntschaft mit dem Tod gewesen.

„June? June?“

Sie blinzelte und sah John vor sich. Lächelnd sagte sie: „Ich habe Prinzessin Sydney kennengelernt und ich glaube, dass auch sie immer Engel an ihrer Seite haben wird – ob sie sie sehen kann oder nicht.“

„Wahrscheinlich werde ich ihr das genau so sagen. Trotzdem hätte ich gern ein etwas verlässlicheres Feedback bekommen. Auch weil ich selbst so neugierig bin. Wissen Sie, wenn vielleicht jemand wie Tom Toopeek oder Ihr Vater den Engeln schon mal begegnet wäre ...“

„Kennen Sie Jerry Powell schon?“, erkundigte sie sich.

„Nein, ich glaube nicht.“

„Dr. Powell ist klinischer Jugend- und Familienpsychologe. Vor ein paar Jahren ist er von San Jose hierher gezogen. Ein sehr netter Mann.“

„Nein, das sagt mir nichts. Wieso? Was ist mit ihm? Hat er die Engel gesehen?“

„Das glaube ich nicht, aber er ist schon mal in einem Außerirdischen-Raumschiff mitgeflogen.“

Dann ging sie weg, grinste ihn aber noch einmal über die Schulter an.

„Ist klar. Wir trinken hier ganz sicher kein Leitungswasser“, hörte sie John murmeln.

Mikos Silva lebte auf einer hübschen Farm südlich der Stadt zwischen den Trinity und den King Alps in einer Talebene, nicht weit entfernt vom Highway. Dort hatte er sich ein robustes Häuschen gebaut. Sein Sohn Greg war so alt wie June, und seit der Schulzeit waren sie befreundet.

Inzwischen lebte keins seiner Kinder mehr in Grace Valley, aber alle wohnten sie noch in der Nähe. Maria, die Älteste, hatte einen Fischer geheiratet und war nach Humboldt Bay gezogen. Sie hatte Kinder und arbeitete als Krankenschwester. Greg war bei der Polizei in Redding und Stuart, der Jüngste, hatte Karriere gemacht bei der Navy, war aber in Kalifornien stationiert. Keins der Kinder wollte die Farm übernehmen, worüber Mikos natürlich enttäuscht war. Andererseits hatte er sich von seinem Vater auch nicht vorschreiben lassen, welchen Beruf er ergriff, und niemand hatte sich darüber beschwert.

Mikos war möglicherweise der liebenswerteste, netteste Mensch im ganzen Tal. Er besuchte seine Nachbarn, kümmerte sich um kranke Tiere, schickte bedürftigen Familien Essenspakete und schrieb einsamen Soldaten Briefe an die Front. Außerdem war er stets gut gelaunt und großzügig. Doch vor einem Jahr war seine Frau gestorben, und seitdem ging es mit ihm bergab. Seine engsten Freunde, zu denen June und Elmer gehörten, konnten sehen, dass er nicht einfach nur trauerte. Er hatte sich aufgegeben – und seine Gesundheit ließ ihn im Stich.

Inzwischen war er achtundsiebzig. Sein Leben lang hatte er hart gearbeitet. Er hegte keinen Groll gegen die Ärzte, denen es nicht gelungen war, seine krebskranke Frau zu retten. Doch er selbst ging nicht zum Arzt, wenn er Beschwerden hatte. Dabei war er gleich mit zwei Ärzten befreundet!

June war bei einem ihrer letzten Besuche aufgefallen, dass Mikos kurzatmig und sehr blass war, außerdem schienen seine Hände dauerhaft geschwollen. Deswegen fuhr sie jetzt häufiger bei ihm vorbei und sah nach dem Rechten, auch wenn er ihr meist nicht mehr erlaubte, als ihm den Blutdruck zu messen. Sie verordnete ihm Medikamente gegen zu hohen Blutdruck, die er aber offensichtlich nicht zu nehmen schien.

Auf dem Weg von der Praxis nach Hause machte sie halt bei ihm. Er saß gerade draußen auf der Veranda. Sein Collie, Sadie Five, rannte schwanzwedelnd auf June zu. Es war Mikos’ fünfter Collie, deshalb der Name.

„Es tut mir leid, wenn ich dir Umstände mache, aber ich freue mich trotzdem jedes Mal, dich zu sehen!“, begrüßte er sie.

„Ich freue mich auch immer, euch beide zu sehen.“ June hatte ihren Arztkoffer im Wagen gelassen. Oft entpuppten sich Freundlichkeit und Respekt als bessere Behandlungsmethoden als Medikamente. „Mein Vater versucht mir dauernd einzureden, dass ich mir auch einen Hund anschaffen soll.“

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