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Harriet Tubman

Als Buch hier erhältlich:

Harriet Tubman wurde in der Sklaverei geboren und träumte davon, frei zu sein. Sie war bereit, alles zu riskieren – auch ihr eigenes Leben -, um diesen Traum wahr werden zu lassen. Nach ihrer waghalsigen Flucht war sie Teil der geheimen Organisation »Underground Railroad« und half anderen auf dem gefährlichen Weg in die Freiheit.

Die Organisation »Underground Railroad« war von von etwa 1849 bis zum Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs aktiv, sie half geflüchteten Sklaven, aus den Südstaaten in die Nordstaaten der USA oder nach Kanada zu gelangen. Harriet Tubman war die bekannteste afroamerikanische Fluchthelferin dieser Organisation. Nachdem sie selbst im Jahr 1849 erfolgreich der Sklaverei entflohen war, kehrte sie unter dem Codenamen Moses mehrfach in die Südstaaten zurück, um anderen Sklaven auf ihrer Flucht behilflich zu sein. Im Amerikanischen Bürgerkrieg arbeitete sie als Kundschafterin für die Nordstaaten. In ihren späteren Lebensjahren engagierte sie sich in der Frauenbewegung. Heute zählt Harriet Tubman in den USA zu den bekanntesten historischen Persönlichkeiten des Abolitionismus.

Ann Petrys »Harriet Tubman« wurde vom New Yorker als »ein bewegendes Porträt« und von der Chicago Tribune als »großartig« gelobt. Es ist ein ergreifendes und zugängliches Porträt der heldenhaften Frau, die mehr als siebzig versklavte Menschen in die Freiheit führte.


  • Erscheinungstag: 14.02.2022
  • Seitenanzahl: 176
  • ISBN/Artikelnummer: 9783755600053
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Das Viertel

Die Chesapeake Bay bildet die westliche Grenze des Teils von Maryland, der Tidewater Maryland oder auch Ostküste genannt wird. Dort gibt es so viele Buchten und Nebenarme, Flüsse und Bäche, dass das Land gerade einmal hier und da den Kopf aus dem Wasser zu heben scheint.

In diesen Wasserläufen ist die Tide, der Wechsel von Ebbe und Flut, noch kilometerweit landeinwärts zu sehen – daher auch der Name Tidewater Maryland.

Im Jahr 1820 waren weite Gebiete der Ostküste dicht bewaldet. Die Flüsse waren voll mit Fischen, und in den Buchten und Sümpfen wimmelte es nur so vor Federwild wie Enten und Schnepfen. Ungelogen: In dieser Gegend verfügte jede Plantage über »eine Austernbank, einen reichen Fischbestand und einen Ansitz für die Entenjagd direkt vor dem Gartentor«.

Wie so viele Plantagen in Dorchester County lag auch die von Edward Brodas1 an einem Fluss, dem Big Buckwater River. Es war ziemlich einsam dort. Bucktown, das nächstgelegene Dorf, war kaum mehr als ein Weiler: ein Postamt, eine Kirche, ein Laden an der Kreuzung und acht oder zehn Wohnhäuser.

Die Plantagenbesitzer lebten in den Tag hinein. Sie gingen auf die Jagd und fischten, nicht anders als früher die Native Americans2, die um 1750 von der Ostküste so gut wie verschwunden waren.

Das Haus, in dem Edward Brodas lebte, war sehr groß. Er brauchte Platz für seine Freunde, seine Verwandten und natürlich für seine Familie. Besucher kamen von weit her und blieben daher für gewöhnlich einen Monat oder auch zwei, bevor sie die Rückreise antraten. Außerdem gab es einige Zimmer für Reisende mit den passenden Empfehlungsschreiben. Man konnte nicht davon ausgehen, in einem Gasthof oder einer Schenke unterzukommen.

Für seine Sklaven war Edward Brodas »der Herr«. Sein Haus, von den Sklaven das Große Haus genannt, lag unweit einer Landstraße. Hinter dem Gebäude stand das sogenannte Kochhaus, das die Küche beherbergte. In nicht allzu großer Entfernung vom Großen Haus befanden sich die Stallungen, in denen die Reitpferde und die Kutschpferde untergebracht waren, gemeinsam mit den Stallknechten und den Pferdepflegern. Daran schlossen sich die Gärten für Gemüse, Kräuter und Blumen an, und gleich dahinter lagen der Obstgarten sowie die Ställe für die Arbeitspferde, die Rinder und die Maultiere.

Das Große Haus bildete gemeinsam mit dem Kochhaus und den Stallungen eine geschlossene Einheit. Dahinter erstreckten sich die Felder, das freie Ackerland war von Wald umgeben.

Das Viertel, in dem die Sklaven lebten, war vom Großen Haus aus zwar nicht zu sehen, aber noch in Hörweite. Dort standen etliche einfache Blockhütten ohne Fenster. Das Holz dafür war im nahe gelegenen Wald geschlagen worden, die Fugen hatte man mit Lehm abgedichtet. Die grob behauenen Stämme waren noch voller Saft, und während sie allmählich trockneten, zog sich das Holz bei Temperaturschwankungen zusammen oder dehnte sich aus, die Dächer sackten durch, die Wände bogen sich. Wie unter dem Einfluss einer unsichtbaren Kraft neigten sich die schmalen, lehmverschmierten Schornsteine. Aus der Ferne wirkte es, als würden sich diese schiefen Hütten schutzsuchend aneinanderdrängen. Diese optische Täuschung wurde noch dadurch verstärkt, dass eine Hütte aussah wie die andere und sie alle auf derselben ausgedörrten, festgetretenen Erde standen.

Auch innen waren die Hütten alle gleich. Vor einer schlichten, ebenerdigen Feuerstelle standen auf dem Boden aus festgestampftem Lehm ein oder zwei schwarze Eisentöpfe. Bei starkem Wind wurde der Rauch stoßweise durch den Schornstein hinunter ins Innere gedrückt, so dass die Wände rußgeschwärzt waren. Selbst im Sommer roch es in den Hütten nach Rauch. Die Feuerstelle sorgte nicht nur für Wärme im Winter, sie war zudem die einzige Lichtquelle, und gekocht wurde auch dort. Haufen aus verschlissenen alten Decken dienten als Betten. Stühle gab es nicht, also hockten sich die Hüttenbewohner entweder vor das Feuer oder setzten sich auf den blanken Boden. In der Mitte der Hütte befand sich ein großes und ziemlich tiefes Loch, das mit losen Brettern abgedeckt war: Das war das Kartoffelloch. Darin wurden im Winter die Süßkartoffeln aufbewahrt, um sie vor der Kälte zu schützen.

In einer dieser fensterlosen Hütten im Viertel auf der Brodas-Plantage lebten Harriet Greene, die meistens Old Rit genannt wurde, und ihr Ehemann Benjamin Ross. Beide waren Sklaven. Sie hatten mehrere Kinder, von denen einige noch bei ihnen wohnten. Die älteren Kinder wurden von Edward Brodas an andere Farmer »vermietet«, wenn diese Bedarf an Sklavenarbeit hatten, sich aber keine eigenen Sklaven leisten konnten.

1820 bekam Old Rit noch ein Baby. Das Geburtsdatum dieses Kindes wurde nirgends vermerkt, weil weder Old Rit noch ihr Ehemann Ben lesen oder schreiben konnte.

Wie die meisten Menschen, die auf dem Land lebten und keine Uhr und keinen Kalender besaßen, bestimmten sie die Zeit mithilfe der Sonne und unterteilten den Tag grob in Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang. Das Jahr wurde nicht in Monate gegliedert, sondern in Zeiträume: Saatzeit, Zeit der Baumwollblüte, Ernte und Weihnachten. Ein Jahr unterschied sich von den anderen durch besondere Ereignisse, wichtige und denkwürdige Vorkommnisse, wie das Jahr des großen Sturms, das Jahr des frühen Frosts oder der langen Dürre, das Jahr, in dem der alte Herr starb, das Jahr, in dem der junge Herr geboren worden war.

Old Rit und Ben beschlossen, das neue Baby Araminta zu nennen. Dieser Name wurde schließlich zu Minta oder Minty verkürzt. Das war ihr sogenannter Korbname oder Kosename, den man verwendete, bis das Mädchen älter wurde und man sie Harriet nannte. Wenn künftig im Gespräch dieses Jahr erwähnt wurde, so bezeichnete man es als »das Jahr, in dem Minty auf die Welt kam«.

Neuigkeiten, gute wie schlechte, verbreiteten sich in Windeseile im gesamten Viertel. Bald wusste jeder Sklave, dass Old Rit wieder ein Baby bekommen hatte. In jener Nacht verließen sie ihre Hütten lautlos wie Schatten und hielten immer wieder inne, um zu lauschen, weil sie ständig darauf gefasst waren, plötzlich von der Straße her lauten und ungestümen Hufschlag zu hören. Dieses Geräusch hätte bedeutet, dass die Mitglieder der Sklavenpatrouille, die sogenannten Patroller, wieder einmal einen entlaufenen Sklaven jagten – die Sklaven fügten dem Wort allerdings noch eine Silbe hinzu und machten »patteroller« daraus. Schließlich schlüpften sie leise und flink in Bens Hütte, um das neue Baby zu betrachten.

Sie kamen in kleinen Gruppen, zwei oder drei auf einmal, und sahen auf den Säugling hinunter. Dass es ein Mädchen war, wussten sie schon, aber aus Höflichkeit fragten sie trotzdem, ob es ein Mädchen oder ein Junge sei, und sie erkundigten sich nach dem Namen, obwohl sie auch den schon kannten.

Mädchen waren nicht viel wert und Old Rit hatte bereits eine große Kinderschar, aber das wurde mit keinem Wort erwähnt. Taktvoll regten sie an, Old Rit solle sich darum bemühen, dass dieses neugeborene kleine Mädchen zur Köchin ausgebildet würde oder lernte, wie man webt oder schneidert. Vielleicht könnte sie auch Kinder betreuen und ein Kindermädchen werden. Dann würde sie nicht auf dem Feld arbeiten müssen.

Sie bewunderten das Baby, aber nicht lange, und erkundigten sich nach dem Befinden der Mutter. Danach blieben sie noch, hockten sich vor das offene Feuer und unterhielten sich. Das Gespräch am Feuer drehte sich um den neuen Aufseher, die Maisernte, das Wetter, aber es endete mit demselben Thema wie immer: der Freiheit.

Die Kühnen unter ihnen, die Jungen, Starken, behaupteten, dass die Freiheit im Norden zu finden sei und dass man frei sein könne, wenn man nur dorthin gelange. Schweigen senkte sich über die Hütte, Unbehagen drang in den Raum. Es schien selbst die schlafenden Kinder zu erfassen, die eng aneinandergeschmiegt auf den alten Decken in der Ecke lagen, denn sie regten sich im Schlaf.

Einen Augenblick lang waren alle still. Den Anblick der zerlumpten, halb verhungerten Entlaufenen, die in Ketten zurückgebracht worden waren, hatten sie nicht vergessen. Man hatte sie gebrandmarkt, um sie als Entlaufene kenntlich zu machen, oder ihnen die Ohren abgeschnitten. Ihnen war noch gut in Erinnerung, wie sie ausgepeitscht und in Ketten gelegt mit der Chain Gang in den Süden geschickt worden waren.

Dann durchbrach einer der Sklaven, die am Feuer hockten, das Schweigen. Er benutzte ein langes Wort: Freilassung. Dieses Wort hatte der Herr in den Mund genommen, es war ein Versprechen, das ihnen allen gemacht worden war. Wenn sie zuverlässig und fleißig seien, würde der Herr sie nach seinem Tod freilassen, sie aus der Sklaverei entlassen.

Einer wies darauf hin, dass so etwas schon vorgekommen sei, es könne sich also wiederholen. Am Waldrand, nicht weit von der Plantage, lebten freie Schwarze3 in ihren eigenen Hütten. Weil diese Menschen frei waren, wurden auch ihre Kinder als freie Menschen geboren. Dabei warfen sie verstohlene Blicke zu Minta oder Minty hinüber, dem winzigen Neugeborenen, das in einer Ecke der Hütte ganz nah bei Old Rit lag.

Einer der traurigen, mutlosen Sklaven sagte, dass die Freiheit nur im Tod zu finden sei.

Die Kühnen widersprachen: Das sei nicht richtig. Man könne fortlaufen, und wenn man es in den Norden schaffe, sei man frei. Andauernd verschwänden Sklaven von den Farmen und Plantagen in der Umgebung. Natürlich würden einige von ihnen gefasst, zurückgebracht und in den Süden verkauft, aber viele eben auch nicht. Ziemlich oft kämen die Herren und die Aufseher mit leeren Händen zurück. Sie behaupteten dann, sie hätten die Entflohenen verkauft. Aber das müsse nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Einige dieser jungen erstklassigen Feldarbeiter mit ihrer schimmernden Haut und ihren geschmeidigen Bewegungen, einige dieser kräftigen jungen Männer hätten es ganz bestimmt in den Norden geschafft.

Möglich, gaben die anderen zu bedenken, aber woher solle man das wissen? Wie könne man sicher sein? Warum sei keiner von ihnen je zurückgekommen? Warum habe sie kein Mensch jemals wieder gesehen? Im Norden sei es kalt. Vielleicht seien sie unterwegs gestorben, seien vor Kälte und Hunger umgekommen. Das wisse man einfach nicht.

Daraufhin machte sich wieder Ungewissheit und Unbehagen in der Hütte breit. Mehr und mehr Sklaven verschwanden. Edward Brodas, der Herr, verkaufte sie. Jedes Mal, wenn ein Händler nach Maryland oder Cambridge kam, verkaufte der Herr eine weitere Partie Sklaven. Inzwischen schien es so, als würde er nur deshalb Sklaven großziehen, um sie zu verkaufen. Als würde er sie züchten, so wie die Farmer Rinder oder Schafe züchteten.

Auf den anderen Plantagen in Dorchester County – auf der Stewart-Plantage und der Ross-Plantage – verhielt es sich nicht anders: Sie alle verkauften Sklaven. Es lief nicht gut bei den Herrschaften. Sie brauchten Geld. Der Händler aus Georgia zahlte hohe Preise, und wenn die Herren verschuldet waren oder es eine Missernte gegeben hatte oder sie ausgiebig um Geld gespielt und verloren hatten, verkauften sie wieder eine Partie Sklaven.

Sobald ein Sklave erfuhr, dass er verkauft werden sollte, lief er davon. Und ein Sklave erfuhr es immer, wenn eine solche Entscheidung getroffen worden war. Er fürchtete sich vor der Hölle auf Erden, die ihn im tiefen Süden erwartete – auf den Reisfeldern, den großen Baumwollplantagen oder den Zuckerrohrplantagen. Also lief er davon.

Für die Sklaven hatten die Worte: »in den Süden verkauft«, »den Fluss hinunter verkauft« einen verhängnisvollen Klang. Damit drohte der Herr aufmüpfigen Sklaven. Die Entflohenen, die gefasst und wieder zurückgebracht worden waren, wurden auf der Stelle in den Süden verkauft, um sie für ihre Flucht zu bestrafen.

Und so war es auf beiden Seiten ein immerwährender, nicht enden wollender Kreislauf. Der Herr verkaufte Sklaven, weil er Geld brauchte. Die Sklaven liefen davon, sobald sie erfuhren, dass sie verkauft werden sollten. Immer mehr Sklaven aus Maryland liefen fort. Vor allem von hier, von der Ostküste, wo die Flüsse und Buchten eine direkte Route in den Norden ermöglichten, wo der Choptank River sich nordostwärts schlängelte, durch den gesamten Staat – bis nach Delaware.

In jener Nacht im Viertel sagte einer der kühnen jungen Sklaven, man müsse nur ein Boot ergattern, und Boote gebe es hier schließlich genug – Ruderboote, Barken, Stechkähne, denn beinah jede Plantage lag an einer kleinen Bucht oder einem Fluss oder einem Meeresarm –, dann könne man entkommen.

Dieses Geflüster über die Freiheit, über Entflohene, über die Freilassung wiederholte sich Nacht für Nacht in den fensterlosen Sklavenhütten der Südstaaten. Überall wussten die Sklaven Bescheid darüber, was sich in Washington, Boston, New York, Norfolk und Baltimore zutrug, wenn es mit Sklaverei zu tun hatte. Manchmal wussten sie es sogar, bevor die Herren davon erfuhren.

Diese geheime Verständigung, die Geschwindigkeit, mit der sich unter den Sklaven Neuigkeiten herumsprachen, bereitete den Herren Kopfzerbrechen. Nur halb im Scherz mutmaßten sie, dass diese Nachrichten wohl mit dem Wind weitergetragen würden oder sich über das Gewirr aus Weinreben und Geißblatt in den Wäldern fortbewegten und so von Plantage zu Plantage gelangten.

Auf der Plantage von Edward Brodas erfuhren die Sklaven noch vor dem Herrn, wann der Händler aus Georgia in Cambridge, der nächstgelegenen Stadt, eintreffen und ein Zimmer in der Schenke reservieren würde. Der Händler verschickte schriftliche Ankündigungen, aus denen seine Ankunft hervorging. Zwar konnten die meisten Sklaven nicht lesen, aber einige konnten es doch, und die erzählten den anderen, was auf den Handzetteln des Händlers stand: »Zahle Höchstpreise für erstklassige Feldarbeiter …«.

In jener Nacht, in der Harriet (die man später als Araminta oder Minty oder Minta kennen sollte) Ross geboren wurde, waren sich die Sklaven, die sich in Old Rits Hütte eingefunden hatten, dieser Worte auf den Handzetteln nur zu bewusst. Bevor sie sich verabschiedeten, betrachteten sie noch einmal das Baby. Einer von ihnen sagte leise: »Man sollte dafür sorgen, dass sie im Großen Haus arbeitet, dass sie näht oder kocht oder webt – vielleicht ein Kindermädchen wird.«

Old Rit zog das Baby fester an sich. Sie musste an die Feldarbeit in sengender Hitze denken, an die langen Reihen Baumwollsträucher und an die Peitsche des Aufsehers. Wenn es nach ihr ginge, würde Minty niemals auf dem Feld arbeiten.

Dann schlüpften die Sklaven so lautlos aus der Hütte, wie sie gekommen waren, einer nach dem anderen. Ihre bloßen Füße verursachten auf der festgetretenen, glatten Erde kein Geräusch.

Im selben Jahr, also 1820, in dem auch der Missouri-Kompromiss4 geschlossen wurde, zog Thomas Garrett mit seiner Ehefrau Sarah von Darby, Pennsylvania, nach Wilmington, Delaware. Beide waren Quäker. Viele Jahre später sollten sie Harriet Ross kennen und schätzen lernen. Allerdings würde sie zu dem Zeitpunkt einen anderen Namen tragen.

Ebenfalls in jenem Jahr heiratete der zwanzigjährige John Brown die Witwe Lusk, eine kleine, unscheinbare Frau.5 Zu der Zeit führte er in Hudson, Ohio, seine eigene Gerberei. Auch er sollte viele Jahre später Harriet Ross kennen und schätzen lernen.


1 Eigentlich: Brodess. Ann Petrys Schreibweise wurde beibehalten. (Anm. d. Übers.)

2 Ann Petry schreibt »Indians«, doch da dieser Begriff eine koloniale Fremdbezeichnung ist, wird er heute für die indigene amerikanische Bevölkerung nicht mehr verwendet.

3 Ann Petry verwendet die Bezeichnung »Negroes«.

4 Erläuterungen zu grau gesetzten Namen und Begriffen sind im Glossar ab S. 213 zu finden.

5 In diesem Punkt hat sich Ann Petry geirrt: John Brown heiratete die Tochter der Witwe, die ihm den Haushalt geführt hatte. (Anm. d. Übers.)

Die frühen Jahre

Wie den anderen Babys im Viertel half auch Harriet Ross ein Stück Schweineschwarte beim Zahnen. Die Schwarte war an einer Schnur befestigt, und die Schnur hing um ihren Hals.

Auf der festgestampften Erde vor der Hütte lernte sie laufen: aufstehen, hinfallen, wieder aufstehen – ein kleines nacktes Geschöpf, das auf den Namen Minta oder Minty hörte.

Als Harriet schließlich die Kunst des Gehens beherrschte, spielte sie mit den anderen kleinen Kindern. Die Kleinen, denen man noch keine Botendienste übertragen konnte, weil sie zu jung waren, hatte man in die Obhut einer Frau gegeben, die so alt war, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Diese alte Frau blickte grimmig drein, um ihren Kopf hatte sie ein weißes Bandana, ein Kopftuch, gewickelt. Die Alte kauerte vor der Tür ihrer Hütte und saugte an einer nicht gestopften Tonpfeife.

Trotz ihres hohen Alters konnte sie immer noch ein kleines Kind kraftvoll mit der Rute züchtigen, um Gehorsam zu erzwingen. Dafür wählte sie einen robusten Trieb von einem Schwarzen Tupelobaum. Sie ließ die Kinder nicht eine Minute aus den Augen, warnte sie vor dem Bach, in dem sie ertrinken könnten, mahnte zur Vorsicht vor dem nahegelegenen Wald, in dem sie sich verlaufen könnten, und scheuchte sie aus den Hütten, damit sie sich nicht an der heißen Asche in der Feuerstelle verbrannten. Die Kinder fürchteten sich vor ihr. Die Alte hatte keine Zähne mehr, sie nuschelte, und ihr Gesicht war von tausend Runzeln durchzogen.

Wenn sie gut aufgelegt war, erzählte sie den Kindern Geschichten über die Mittlere Passage, wie sie es nannte. Nuschelnd beschwor die Alte das Klirren der Ketten herauf, den quälenden Durst, den schwarzen Geruch des Todes, unter Deck, im Laderaum eines Sklavenschiffes. Die Kinder waren zu klein, um zu begreifen, was sie da erzählte, und dennoch wurde ihnen bange zumute. Reglos standen sie da und lauschten, und es fröstelte sie trotz der Hitze.

Die meisten Mütter dieser Kinder arbeiteten auf dem Feld. Einige wenige arbeiteten im Großen Haus oder im Außenbereich, so auch Old Rit.

Weil die Mütter nicht zu Hause waren, aß eine Familie nur selten zur selben Zeit zusammen. Die Erwachsenen aßen meistens direkt aus der Kasserolle, einem schwarzen Eisentopf, in dem das Essen gekocht wurde. Einige hatten Blechteller, die sie auf ihren Knien balancierten. Meistens aßen sie mit den Händen.

Die Kinder wurden aufs Geratewohl versorgt, ein Stückchen Maisbrot hier, ein Häppchen Schweinefleisch da. Gelegentlich erhielten sie eine Tasse Milch, manchmal Kartoffeln. Gab man ihnen Maisbrei, so wurde dieser in eine große Schüssel geschüttet, eine Art Trog. Im Winter wurde der Trog auf den Boden des Kochhauses gestellt, im Sommer draußen auf die Erde. Dann liefen die kleinen Kinder von überall her zusammen, Austernschalen oder ein Stück Schindel in der Hand, um damit den Brei zu schöpfen. Sie drängten sich um den Trog mit Brei wie kleine Ferkel.

Jedes Kind – und damit auch Harriet – lernte rasch, dass der schnellste Esser am meisten abbekam. Und doch wurden sie nie richtig satt. Sie verhungerten zwar nicht, aber ihre Mägen fühlten sich immer ein wenig leer an.

Harriet lernte noch mehr. An sonnigen Wintertagen spielte sie auf der Südseite der Hütte, wo es wärmer war. An kalten, regnerischen Tagen schmiegte sie sich in einen Winkel am großen Kamin im Kochhaus und beobachtete, wie unaufhörlich in den großen Eisentöpfen gerührt wurde. Im Sommer jedoch, wenn die Sonne vom Himmel brannte, blieb sie an der Nordseite der Hütte, weil es dort kühler war.

Als Harriet zwei Jahre alt war, wurde immer häufiger über die Freiheit getuschelt. Nachts versammelten sich im Viertel einige Sklaven in der Hütte, die ihrem Vater Ben gehörte, und redeten. Dabei konnte man es eigentlich gar nicht reden nennen, es war eher ein raunendes, beinahe lautloses Gespräch.

Auf dem Weg zu Bens Hütte bewegten sich die Sklaven so leise, so langsam, so verstohlen, als wären sie ein Teil der Nacht. Wenn sie auf diese Weise durch das Viertel schlichen, war nicht einmal das leise Aufsetzen eines bloßen Fußes auf die festgetretene Erde zu hören, kein Atemgeräusch, kein Husten oder Niesen, nichts, was darauf hätte hindeuten können, dass ein Sklave seine eigene Hütte verlassen hatte, um einer anderen Hütte einen Besuch abzustatten.

In jenem Jahr herrschte im gesamten Süden Angst und Unruhe. Angst auf beiden Seiten. Die Herren hatten Angst vor den Sklaven, und die Sklaven hatten Angst vor den Herren.

Dennoch mussten sich die Sklaven über ein entsetzliches Ereignis austauschen, das sich erst vor Kurzem zugetragen hatte. Die Nachricht schien der Wind herbeigeweht zu haben, sie hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, von Charleston, South Carolina, bis nach Wilmington, Delaware, und weiter, die Ostküste von Maryland hinunter bis nach Alabama, Mississippi und Louisiana. Im gesamten Süden sprach man darüber, in den Hütten der Sklaven wie in den Häusern der Herren. Nachts wurde gemunkelt und gestritten, genau wie in Bens Hütte.

Gemunkelt wurde über einen Mann namens Denmark Vesey. Zuerst war nur wenig über ihn bekannt, Bruchstückhaftes, aber nach und nach setzten sie die ganze Geschichte zusammen, bis sie genauso viel über ihn wussten wie die Männer, die ihn verurteilt und hingerichtet hatten.

Denmark Vesey war ein freier Schwarzer. Er hatte sich freigekauft, als er dreiunddreißig Jahre alt war. Er war zur See gefahren, konnte lesen und schreiben und las viel in der Bibel. Wieder und wieder erzählte er einer Gruppe von Sklaven, die ihm folgten, die Geschichte von den Kindern Israels, schilderte, wie sie der Knechtschaft entkommen waren. Er verkündete ihnen, dass alle Menschen von Geburt an gleich seien, dass es für den Schwarzen Mann entwürdigend sei, sich dem weißen Mann zu unterwerfen. Schließlich plante er einen Aufstand, bei dem er und seine Gefolgsleute alle Weißen in Charleston, South Carolina, töten und die Sklaven befreien wollten. Bevor der Aufstand losbrechen sollte, zitierte er aus dem Buch Sacharja aus dem Alten Testament: »Siehe, es kommt für den Herrn die Zeit, dass man in deiner Mitte unter sich verteilen wird, was man dir geraubt hat. Denn ich werde alle Heiden sammeln zum Kampf gegen Jerusalem. Und die Stadt wird erobert.«

Zwei Männer arbeiteten eng mit ihm zusammen und halfen ihm, die Spieße herzustellen, die für den Aufstand benötigt wurden. Sie hießen Peter Poyas und Mingo Harth.

Die beiden führten Listen. Darauf standen nicht nur die Namen von Denmarks Anhängern, sondern auch Beschreibungen der Orte, an denen die Munition verwahrt wurde und Pferde bereitstanden, sowie die Namen der Sklaven, die sich um die Pferde kümmerten.

Zwei Tage bevor der Aufstand losbrechen sollte, wurde die Verschwörung aufgedeckt. 131 Sklaven aus Charleston und Umgebung wurden verhaftet. Denmark und vierunddreißig andere hängte man. Keiner von ihnen hatte gestanden. Peter Poyas, so erzählte man sich, solle gesagt haben: »Sterbt schweigend«, sobald einer der Verschwörer Anzeichen zeigte, unter der Folter schwach zu werden. Wenn sie des Nachts über Denmark sprachen, hieß es, dass er ihrer aller Leben schwerer gemacht habe. Allein bei diesen Worten lief es ihnen kalt den Rücken hinunter. Nachts konnten sie sich nicht mehr gefahrlos auf der Straße bewegen, ja nicht einmal innerhalb der Plantage, auf der sie lebten.

Wegen Denmark gab es nun neue Gesetze, die ihnen das bisschen Bewegungsfreiheit nahmen, das sie noch hatten. Wurde ein Sklave auf der Straße angetroffen, allein, ohne Passierschein, wurde er ausgepeitscht. Nicht von dem Aufseher oder seinem Herrn, sondern von jedem weißen Mann, dem er zufällig begegnete.

Auch miteinander sprechen sollten sie nicht. Zwei Sklaven, die im Gespräch zusammenstanden, wurden ausgepeitscht. Möglicherweise heckten sie ja gerade einen Sklavenaufstand aus, jenes lange üble Wort, das Tod für den Herrn bedeutete, aber auch Tod für den Sklaven.

Sie mussten aufpassen, welches Lied sie sangen. Das flammende Lied mit dem donnernden Refrain konnten sie nicht mehr singen:

Go down, Moses,

Way down in Egypt’s land,

Tell old Pharaoh,

Let my people go!

Nacht für Nacht besuchten sie einander heimlich in den Hütten und sprachen über Denmark Vesey, über die Freiheit, über die Kinder Israels und wie diese aus der Knechtschaft herausgeführt worden waren. Es blieb nicht aus, dass einer von ihnen den Vers des Propheten Sacharja erwähnte, den Denmark zitiert hatte: »Siehe, es kommt für den Herrn die Zeit […]. Und die Stadt wird erobert.«

Dann erhob ein anderer einen Einwand: Alles sei unendlich viel schlechter geworden wegen Denmark und seiner Verschwörungspläne. Sie konnten nun keine Gottesdienste mehr abhalten. Es galt als Verbrechen, einem Sklaven das Lesen oder Schreiben beizubringen. Die Herren behaupteten, dass Lernen einen Sklaven unzufrieden mache, sogar wenn er nur ein bisschen lerne. Er sei dann nicht mehr geeignet für ein Leben in der Sklaverei.

Old Rit mochte dieses Gerede über die Freiheit und über Denmark Vesey nicht. Sie sagte, dass der Herr versprochen habe, sie und Ben und die Kinder nach seinem Tod freizulassen. In ihrer Stimme schwang angstvolle Hoffnung mit. Denn der Herr könnte schließlich vergessen, dies in seinem Testament festzuhalten. Und selbst wenn nicht: Ein Teil der Ernte könnte schlecht ausfallen oder der Herr könnte besonders hohe Schulden haben, oder es käme ein neuer Aufseher, der sie oder Ben nicht leiden konnte. In einem solchen Fall würden sie und Ben verkauft, und auch die Kinder würden verkauft, und sie würden über das ganze Land versprengt.

Wie jeder Sklave fürchtete Old Rit sich vor Veränderungen. Sie mochte diesen Ort. Die älteren Kinder arbeiteten auf Farmen in der Umgebung. So waren sie immer noch als Familie zusammen. In der Hütte war es im Sommer zwar heiß und im Winter zugig und kalt, und der Rauch von der Feuerstelle hatte sie halb blind werden lassen, aber trotzdem war es ein guter Ort. Es war ihr Zuhause.

Die Sommer waren warm, und in den Wäldern ringsum gab es kleine Flüsse und Meeresarme und Bäche, in denen sie Fische fangen konnten, heimlich natürlich, denn das durften sie eigentlich nicht. Manchmal fischten sie sogar im Big Buckwater River oder stellten Fallen im Wald auf und fingen Kaninchen und Eichhörnchen und brachten so ein wenig Abwechslung in ihr Essen. Schließlich würde jedem irgendwann die Lust vergehen, das immer gleiche Aschebrot mit Schweinerückenspeck zu essen, oder Hering, und das Tag für Tag.

Der Herr war ihr und Ben wohlgesonnen. Ben war groß und breitschultrig, eine wertvolle Arbeitskraft. Er arbeitete als Holzfäller im Wald. Old Rit zog Ben manchmal wegen seiner Axt auf. Er hatte sie so gern, als wäre sie ein Mensch. Er sagte, sie sei genau richtig, wie gemacht für seine Hände, sie arbeite fast von selbst.

Ben war ein guter Handwerker. Der Herr hatte ihn zum Vorarbeiter der Sklaven gemacht, die Holz schlugen. Manchmal ging Ben bis ganz zur Chesapeake Bay, wo die großen Stämme auf Boote verladen und zu den Schiffsbauern in Baltimore befördert wurden.

Seit die Sklaven andauernd über Denmark Vesey redeten, war Old Rit beklommen zumute. Sie war verunsichert und machte sich Sorgen um die Kinder. Sie wären niemals wirklich ihre Kinder, wenn sie nicht freikämen. Trotzdem war es bereits gefährlich, an Freiheit auch nur zu denken. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn die Sklaven nicht länger darüber getuschelt hätten.

Doch es verging keine Nacht, in der in der Hütte im Schein des Feuers nicht einer der kühneren Sklaven mit gesenkter Stimme, kaum mehr als ein Murmeln, das Gespräch auf Denmark Vesey brachte.

Er erinnerte die anderen an jenen Sklaven, der Denmark Vesey widersprochen hatte. Vesey hatte gesagt, dass alle Menschen gleich seien. Dieser Sklave hatte eingewandt: »Aber wir sind doch Sklaven.« Und Denmark Vesey hatte entgegnet: »Wenn du so denkst, hast du es auch nicht anders verdient.«

Old Rit hasste das Schweigen, das sich dann jedes Mal über die Hütte senkte – eine Stille, die sich immer weiter ausdehnte. Die Schatten an den Wänden schienen tiefer zu werden. Das ließ ihr Herz schneller schlagen, und sie musste tief durchatmen.

Im selben Jahr, also 1822, als Harriet zwei Jahre alt war, kaufte ein zwölfjähriger Junge aus Lexington, Massachusetts, von seinem eigenen Geld ein lateinisches Wörterbuch. Verdient hatte er das Geld mit Heidelbeeren, die er auf dem Weideland seines Vaters gepflückt und in Boston verkauft hatte.

Der Junge hieß Theodore Parker. Das lateinische Wörterbuch war das erste von schließlich dreizehntausend Büchern, die er im Laufe seines Lebens kaufen und nach seinem Tod der Public Library in Boston vermachen sollte.

Jahre später zog Theodore Parker den Zorn jener Kräfte im Land auf sich, die sich für die Sklaverei aussprachen. Man nannte ihn den »verrückten Pastor«. Auch er sollte eines Tages Harriet Ross kennenlernen. Aber zu dem Zeitpunkt hieß sie schon Harriet Tubman.

Sechs Jahre alt

Als Harriet Ross sechs Jahre alt war, hatte sie schon eine ganze Menge an Wissen aufgesaugt, ohne es zu merken, als hätte sie es eingeatmet. So konnte sie zum Beispiel nicht sagen, wie oder wann sie erfahren hatte, dass sie eine Sklavin war.

Sie wusste einfach, dass ihre Brüder und Schwestern, ihr Vater und ihre Mutter und all die anderen Menschen, die im Viertel lebten, Sklaven waren: Männer, Frauen und Kinder.

Man hatte ihr beigebracht, zu weißen Frauen zu sagen: »Yes, Missus« oder »No, Missus« und zu weißen Männern: »Yes, Mas’r« oder »No, Mas’r«. Oder auch: »Yes, Sah (Sir)« und »No, Sah (Sir)«.

Zur selben Zeit hatte ihr jemand beigebracht, in welcher Richtung man Ausschau nach dem Nordstern halten musste, jenem Stern, der beständig ist, der nicht im Osten auf- und im Westen untergeht, wie die anderen Sterne es zu tun schienen. Dieser Mensch hatte ihr auch gesagt, dass jeder, der nach Norden gehe, sich von diesem Stern leiten lassen könne.

Auch Angst kannte Harriet. In manchen Nächten oder auch am Tag hörte sie Pferde in wildem Galopp, dumpf dröhnenden Hufschlag auf der Straße und klimperndes Pferdegeschirr. Sie bemerkte, dass die Erwachsenen dann jedes Mal erstarrten, reglos lauschten und kaum zu atmen wagten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wer ihr erklärt hatte, was dieses wilde Hufgetrappel bedeutete: dass die Patrouille vorbeizog, auf der Jagd nach einem Entflohenen. Nur dass die Sklaven »patteroller« sagten und das Wort nur flüsterten. Old Rit betete dann immer, dass der Hufschlag nicht verstummte. Denn dann wären fürchterliche Schreie zu hören. Weil der entflohene Sklave gefasst worden wäre. Man würde ihn auspeitschen, verkaufen und mit der Chain Gang in den Süden schicken.

Harriet teilte also bereits die Unruhe und die Angst der Erwachsenen. Aber auch ihre Freuden teilte sie. Es erfüllte sie mit Stolz, wenn der Aufseher ihren Vater Ben zu Rate zog und ihn nach dem Wetter fragte. Ben wusste, ob es regnen würde, wann der erste Frost einsetzte oder ob mehrere klare, sonnige Tage bevorstanden. Jeder auf der Plantage bewunderte Ben für diese Fähigkeit, sogar Edward Brodas, der Herr.

Die anderen Sklaven begegneten Ben fast ehrfürchtig, weil er das Wetter vorhersagen konnte. Wenn er forschend in den Himmel blickte, seinen Zeigefinger anleckte und ihn hochhielt, um die Windrichtung zu bestimmen, und dann verkündete, es werde regnen oder Frost geben oder gutes Wetter, stand Harriet dicht neben ihm.

Dass Harriet etwas Freies und Ungebändigtes an sich hatte, lag an Ben. Er erzählte ihr von der Ankunft der Wildenten, von dem dichten Winterfell der Moschusratten und der Kaninchen. Er sprach gern über den Wald, über die Beeren, die dort wuchsen, über die sonderbaren, gespenstischen Rufe einiger Vogelarten, das laute Geräusch, das ihre Flügel verursachten, wenn die Vögel gestört wurden und plötzlich aufflogen. Er sprach über den Flug der Eulen, deren Federkleid so weich sei, dass sie lautlos durch die Luft zu gleiten schienen.

Ben kannte sich mit den Flüssen und Bächen und dem Sumpfland aus. Er sagte, dass das Salzwasser aus der Chesapeake Bay über die Flüsse und Wasserläufe noch weit ins Landesinnere dringe. Wenn man einen Finger in den Fluss stecke und dann daran lecke, schmecke man das Salz aus der Bay.

Ben war schon an der Chesapeake Bay gewesen, hatte dort Stürme erlebt. Der Big Buckwater River, der südöstlich der Plantage verlief, sei im Vergleich zum Choptank River nur ein kleines Flüsschen. Und der Choptank River sei weniger als nichts im Vergleich zur Bay.

Auf der gesamten Plantage, vom Großen Haus bis zu den Ställen und den Feldern stand Ben in dem Ruf, grundehrlich zu sein. Noch nie hatte man ihn bei einer Lüge ertappt. Er war ein geschätzter Arbeiter und ein zuverlässiger noch dazu.

Ben konnte auch wunderbare Geschichten erzählen. Genau wie Harriets Mutter, Old Rit, deren Geschichten allerdings meistens aus der Bibel stammten. Rit erzählte von Moses und den Kindern Israels, davon, wie das Meer sich teilte, so dass die Kinder trockenen Fußes hinübergelangen konnten, sie erzählte von der Heuschreckenplage und davon, wie einige Kinder es auf der langen Reise in das Gelobte Land mit der Angst zu tun bekamen und daraufhin verkündeten: »Es wäre besser gewesen, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben.«

Old Rit lehrte Harriet den Text des Liedes, das die Sklaven nicht mehr singen durften, wegen des Mannes namens Denmark Vesey, der die Sklaven mit seinen Geschichten über Moses und die Kinder Israels zum Aufstand angestachelt hatte. Manchmal schnappte Harriet im Viertel einige Liedfetzen auf, wenn es doch gesungen wurde, ganz leise, fast im Flüsterton: »Go down, Moses …«. Sie merkte sich die Worte so gut, dass sie sie niemals wieder vergaß.

Über all dies wusste Harriet Bescheid – und über vieles andere auch. Sie lernte, die Wochentage voneinander zu unterscheiden. Sonntag war ein besonderer Tag. Auf den Feldern wurde nicht gearbeitet. Die Sklaven kochten im Viertel und wuschen ihre Kleidung, sie sangen und erzählten sich Geschichten.

Und dann gab es da noch einen Tag, der anders war als die anderen: den Ausgabetag, der immer am Monatsende anstand. An diesem Tag wurden Nahrungsmittel und Kleidung an die Sklaven ausgegeben. Einer der Sklaven wurde mit einem Karren zum Großen Haus geschickt, um die für den Monat zugeteilte Menge an Nahrungsmitteln zu holen. Jeder Sklave erhielt acht Pfund eingelegtes Schweinefleisch oder die entsprechende Menge Fisch, ein Scheffel Maismehl und ein großes Glas Salz.

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