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Harrison Investigation - 4-teilige Serie von Heather Graham

DAS GEHEIMNIS VON MELODY HOUSE

Spukt es in Melody House? Matt Stone, Besitzer des alten Hotels, engagiert Darcy Tremayne: Mit Hilfe ihrer übersinnlichen Fähigkeiten soll sie die unheimlichen Vorfälle aufklären. Zunächst hat Darcy Erfolg auf ganzer Linie - bei ihrer Arbeit und vor allem bei Matt. Doch dann werden mehrere Anschläge auf sie begangen. Als man die Überreste einer Leiche auf dem Grundstück findet, deutet alles auf einen Mord hin, der vor kurzem begangen wurde. Plötzlich sind die Vorgänge in Melody House ein Fall fürs FBI ...

DIE SÉANCE

Eine Frau wird vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Das Muster ist exakt dasselbe wie bei einer Mordserie vor zwölf Jahren. Der damals ermittelnde Polizist Beau Kidd wurde für den Täter gehalten und von seinem Partner erschossen. Ist nun ein Nachahmungstäter am Werk oder war Beau Kidd unschuldig? Um dieses Thema dreht sich das Gespräch auf Christinas Einzugsparty in ihrem alten viktorianischen Herrenhaus. Um die Stimmung etwas aufzulockern, holt ein Gast ein Ouija-Bord hervor … und plötzlich steht der ruhelose Geist von Beau Kidd im Raum und fleht Christina an, ihm zu helfen. Die aktuellen Morde sind keine Nachahmungstaten, sondern der ursprüngliche Mörder läuft immer noch frei herum. Der ehemalige Polizist Jett Braden ist skeptisch, als Christina ihm von ihrem geisterhaften Besuch erzählt. Doch seine Freunde bei der Polizei bestätigen die grausamen Details der Fälle. Ihre Quelle aus dem Jenseits ist zuverlässig - der Interstate-Killer läuft immer noch frei herum, und die Zahl der Opfer wächst.

HASTINGS HOUSE

Wo ist Genevieve O'Brien? Spurlos ist die Sozialarbeiterin verschwunden, ebenso wie die Prostituierten, um die sie sich gekümmert hat. Privatdetektiv Joe Connolly befürchtet das Schlimmste: Wurden die Frauen Opfer eines Serienkillers? Seine Suche führt ihn zum Hastings House, einem historischen Gebäude in Manhattan, das schlimme Erinnerungen in ihm weckt. Vor einem Jahr kam hier sein Cousin ums Leben. Jetzt wohnt dort Archäologin Leslie McIntyre. Und während Joe der sensiblen Frau mit der seltsamen Gabe, Geister zu hören, näher kommt, gerät auch sie in Gefahr. Denn er ist nicht bei ihr, als sie eines Nachts einem Geräusch folgt, das aus den Tiefen des Kellers zu ihr dringt ...

RABENTOT

"Sprach der Rabe: Stirb!" New York: Ein Serienmörder hinterlässt bei seinen Opfern eine mysteriöse Botschaft. Genevieve O´Brien ist besorgt: Hat er es auf die Mitglieder der Edgar-Allan-Poe-Gesellschaft abgesehen, die sich "Raben" nennen? Dann wäre auch ihre Mutter in höchster Gefahr. Genevieve engagiert den smarten Privatdetektiv Joe Connolly, ohne sich einzugestehen, dass sie noch etwas anderes von ihm will ... Gemeinsam jagen sie den skrupellosen Killer, nicht ahnend, dass er jeden ihrer Schritte beobachtet. Da bekommt Joe auf einmal schreckliche Albträume - und Hilfe von völlig unerwarteter Seite.


  • Erscheinungstag: 26.11.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 880
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765187
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Heather Graham

Harrison Investigation - 4-teilige Serie von Heather Graham

Heather Graham

Das Geheimnis von Melody House

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Haunted

Copyright © 2003 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Christiane Meyer

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-180-6

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Eine andere Zeit, ein anderer Ort

Darcy Tremayne hatte nie damit gerechnet, dass ihr Abschlussball ein unvergesslich schöner Abend werden würde. Einen lebenslangen Albtraum hatte sie allerdings auch nicht erwartet.

Es begann damit, dass sich Hunter wie der letzte Idiot aufführte.

Sie wusste nicht mehr, wie der Streit angefangen hatte, doch irgendwann war er eskaliert, und Hunter hatte angekündigt, erst wieder mit ihr zu sprechen, wenn sie sich entschuldigt hatte. Woraufhin sie erklärte, er solle sich vorsorglich schon mal darauf einstellen, nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln, weil sie gar nicht daran dächte, ihn um Verzeihung zu bitten. Sie war sich nämlich keiner Schuld bewusst. Schließlich hatte sie nur zart anklingen lassen, dass er seine Hauptdarstellerin nicht vor den Augen der ganzen Welt – in diesem Falle zumindest vor den Augen der ganzen High School – so lange und leidenschaftlich hätte zu küssen brauchen, auch wenn die Theatergruppe einen Preis bekommen hatte. Als Hunter an diesem Nachmittag ihr Haus verließ, war sie noch zuversichtlich, dass er derjenige sein würde, der anrief, um sich zu entschuldigen.

Doch der Anruf blieb aus. Und am nächsten Morgen erfuhr sie, dass er seine Hauptdarstellerin Cindy Lee zum Abschlussball eingeladen hatte.

Trübselig verkroch Darcy sich zu Hause und grübelte den ganzen Nachmittag vor sich hin. Hunter wollte gleich nach der Abschlussprüfung nach Kalifornien gehen, weil er hoffte, in Hollywood Karriere zu machen. Und sie freute sich schon darauf, mit dem kleinen Stipendium, das sie bekommen hatte, auf die NYU zu gehen. Wahrscheinlich hätten sie es ohnehin nicht geschafft, ihre Beziehung über die Entfernung aufrechtzuerhalten. Außerdem hätte sie sich schon vor langer Zeit mit der Tatsache auseinander setzen müssen, dass Hunter eine Schwäche für andere Mädchen hatte. Er war jung. Genau wie sie. Sich so jung zu binden, hatte vermutlich ohnehin keine Perspektive.

In Wirklichkeit jedoch wollte sie sich trotzdem nicht von Hunter trennen. Sie war seit der neunten Klasse in ihn verliebt. Und seitdem waren sie zusammen. Viele gute Jahre, so erschien es ihr zumindest.

Einige Tage später rief Hunter dann doch noch an. Er habe alles ruiniert, sagte er, doch da er Cindy Lee nun schon mal gefragt habe, ob sie mit ihm zum Abschlussball gehen wolle, könne er jetzt unmöglich absagen.

Sie akzeptierte seine Entschuldigung mit einer inneren Größe, die für ein Mädchen ihres Alters beachtlich war, wie ihr ihre Mutter versicherte. Und es war ebenfalls ihre Mutter, die ihr vorschlug, ihren Freund Josh zu fragen, ob er sie zu dem Ball begleiten wolle.

“Aber ja, Josh, na klar!” hatte sie ausgerufen, überrascht darüber, dass sie nicht selbst darauf gekommen war.

Josh war ein Einzelgänger mit einer genialen Ader für alles, was mit Computern, Zahlen oder Naturwissenschaften zu tun hatte. Er war entsetzlich schüchtern, erklärte sich aber jederzeit gern bereit, sich von Darcy ein neues Lied vorsingen, einen Tanzschritt zeigen oder ihre jüngste Rolle vortragen zu lassen. Sie wohnten schon seit vielen Jahren in der ländlichen Gegend Tür an Tür, und beinahe ebenso lange waren sie befreundet. Obwohl sie unterschiedlichen Cliquen angehörten, war es Darcy immer wichtig gewesen, an ihrer Freundschaft mit Josh festzuhalten, egal was andere darüber dachten, und mit den Jahren akzeptierten die meisten ihrer Freunde sie schließlich auch.

Erstaunlicherweise war es Josh, der sie immer wieder auf Gefahren aufmerksam gemacht hatte, die sie andernfalls wahrscheinlich übersehen hätte. Geh heute Abend mit Hunter ein Eis essen, hatte er sie einmal gedrängt. Lass ihn nicht allein gehen. Sie hatte auf ihn gehört, und siehe da, plötzlich tauchte Cindy Lee vor ihnen auf und flirtete heftig mit Hunter, bis sie begriff, dass sie an Darcy nicht vorbeikam. Aber das war noch längst nicht alles. Irgendwann hatte Josh sie beschworen, ihren Vater davon abzuhalten, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, und anschließend hatte sich herausgestellt, dass die Bremsen nicht in Ordnung waren.

Anderen Leuten waren seine Prophezeiungen manchmal unheimlich. So hatte er zum Beispiel vorausgesagt, dass Mrs. Shumacher, die ein paar Häuser weiter wohnte, an Krebs sterben würde. Und er hatte vorher gewusst, dass sich Brad Taylor bei einem Footballspiel das Bein brechen würde. Viele an der Schule hielten ihn für einen komischen Kauz. Doch wenn sie mit Josh zum Abschlussball ging, würde man ihn akzeptieren, weil er mit ihr kam. Obwohl man sie natürlich hinter ihrem – und seinem – Rücken durch den Kakao ziehen würde, aber was machte das schon? Schlimmer als Hunter sie verletzt hatte, konnte sie niemand verletzen – was er getan hatte, traf sie mitten in ihr achtzehnjähriges Herz.

Und davon abgesehen lag die High School ja sowieso so gut wie hinter ihr. Schon sehr bald würde für sie ein vollkommen neues Leben anfangen.

Anfangs hielt sich Joshs Begeisterung über die Einladung in Grenzen. “Ehrlich, Darcy, ich sehe im Anzug bestimmt aus wie ein Clown.”

Aber sie lachte und versicherte ihm: “Blödsinn, Josh, du siehst sicher umwerfend aus. Du bist groß und schlank und hast schöne Augen, und wenn du willst, gehen wir los und kaufen den Anzug zusammen. Aber wenn du partout keine Lust auf den Ball hast, lassen wir es einfach bleiben und gehen an diesem Abend ins Kino oder machen sonst was. Natürlich nur, wenn du Lust hast, mit mir zusammen zu sein.”

Das entlockte ihm ein Grinsen. “Ich wüsste nicht, mit wem ich lieber zusammen wäre, so viel steht fest. Aber deshalb musst du noch lange nicht mit mir zu diesem Ball gehen. Die halbe High School würde sich die Finger danach lecken, dich zu begleiten.”

“Das bezweifle ich, außerdem ist es eh egal. Wenn du nicht gehst, gehe ich auch nicht.”

Auf Joshs Gesicht breitete sich ein seltsames Lächeln aus, dann zuckte er mit den Schultern. “Tja, wenn du dich unbedingt für den Klassentrottel entscheiden willst, bin ich der Letzte, der dich daran hindern wird, Lady.”

Zu ihrer Überraschung machte das Einkaufen richtig Spaß. Obwohl Josh sich normalerweise überhaupt nicht für Klamotten interessierte, bewies er einen guten Geschmack. Hand in Hand bummelten sie durch die Shopping Mall, wo sie mehrfach Freunden von ihr über den Weg liefen. Darcy sah mit einer seltsamen Genugtuung, wie sie alle erst einmal erstaunt die Augen aufrissen, um sich dann intensiver mit Josh zu unterhalten. So stellte sich schließlich heraus, dass er Cissy Miller bei einem Matheproblem helfen konnte, mit dem sie sich schon seit Tagen herumschlug. Und als sie später im Restaurantbereich Tacos aßen, plauderte er munter mit Brenda Greeley, die nicht nur hübsch, sondern auch die erste Cheerleaderin der Schule war.

Nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, überredete Josh Darcy, ein sündhaft teures Ballkleid anzuprobieren, das sie auf dem Bügel noch scheußlich fand, es jedoch gar nicht mehr ausziehen wollte, als sie sich vor dem Spiegel darin sah. Zufälligerweise arbeitete in dem Laden einer von Joshs Computerfreunden, der es deichseln konnte, dass sie Prozente bekam und das Kleid dadurch erschwinglich wurde. Erst an der Kasse erwähnte der Verkäufer, Riley O’Hare, dass er und Darcy sich kannten, weil sie einmal denselben Kurs besucht hatten. Darcy lief rot an und entschuldigte sich wortreich für ihre Ignoranz. Ihr war die Sache schrecklich peinlich, und das sagte sie hinterher auch Josh.

“Darcy!” erwiderte er entschieden. “Jetzt mach aber mal halblang. Man kann sich doch nicht jedes Gesicht merken!” Er holte tief Luft und fuhr dann fort: “Darcy, du weißt, dass ich dich liebe, und wenn ich sage, dass du etwas ganz Besonderes bist, klingt das vielleicht abgegriffen, aber es stimmt trotzdem.” Kaum hatte Josh den Satz gesagt, wirkte er plötzlich verlegen. “He, komm, wir müssen für mich auch noch was finden. Mit meinen alten Klamotten kann ich doch kein so umwerfendes Mädchen wie dich ausführen.”

Und so kam dann Josh an die Reihe, und als sie ihm zu einem Anzug und einem Hemd riet – beides irgendwie Funky- und Retroschick – war er ebenfalls sofort begeistert und fand, dass er ein bisschen wie ein New-Age-Mozart aussah.

An diesem Tag gab es nur eins, oder besser einen, der die Harmonie störte.

Mike Van Dam.

Er war mit Hunter befreundet und ging zur Zeit mit Brenda. Wahrscheinlich hatte er sie im Restaurantbereich gesehen und beobachtet, wie Brenda sich angeregt mit Josh unterhalten hatte. Beim Verlassen des Einkaufszentrums jedenfalls krachte Josh, der die Einkaufstüten trug, die Tür so hart in den Rücken, dass er hinfiel. Und eine Sekunde später stand Mike dann da, der Schultern von der Breite eines Rammbocks hatte, und schaute auf Josh hinunter. “He, was ist los, du Clown, hast du ein Problem, auf zwei Beinen zu stehen?”

“Mike, was ist los mit dir, spinnst du?” fauchte Darcy ihn an, während sie Josh eine Hand hinstreckte, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Doch Mike packte sie grob an den Schultern und riss sie herum.

“Was zum Teufel ist los mit dir, Darcy? Willst du dich über uns lustig machen, indem du dich mit so einem Trottel abgibst, oder was?”

Energisch machte sie sich von ihm los. “Du bist wirklich ein Vollidiot, Mike. Hast du eigentlich vor, dein ganzes Leben in deinem Kleine-Jungs-Macho-Himmel zu leben? Oder wird dir bei dem Footballstarrummel langsam doch ein bisschen mulmig, weil du Angst hast, darüber das College nicht zu schaffen und in zehn Jahren womöglich zu Hause auf dem Sofa rumzusitzen, weil dich keiner haben will? Ein Quarterback im Ohrensessel, während Josh auf dem Weg in die oberste Etage einer namhaften Anwaltskanzlei ist?”

Der Satz traf ihn bis ins Mark, und das wusste Darcy auch. Mittlerweile war Josh wieder auf den Beinen. Wütend starrte Mike ihn an.

“Ich habe Tränengas dabei”, warnte Darcy Mike sanft.

Mike machte einen Schritt auf Josh zu, und seine blauen Augen blitzten vor Zorn, als er mit gerecktem Daumen und ausgestrecktem Zeigefinger auf Josh zielte und sagte: “Peng! Du bist ein toter Mann.”

Josh hielt dem Blick reglos stand, dann verzog er spöttisch einen Mundwinkel und gab leise zurück: “Kann sein. Du aber auch.”

Bevor Mike doch noch handgreiflich wurde, raffte Darcy eilig die am Boden liegenden Einkaufstüten zusammen und zog Josh mit sich fort. Sie hörten gerade noch, wie Mike wütend hinter ihnen herrief: “Was soll das denn heißen, du blöder Spinner? Pass bloß auf, was du sagst, sonst wirst du …”

Das Ende des Satzes hörten sie nicht mehr.

Auf dem Weg zum Auto warf Darcy Josh einen verunsicherten Blick zu. “Was meintest du eigentlich damit? Das war doch nicht womöglich wieder eine deiner Prophezeiungen, oder?”

Josh lachte und schüttelte den Kopf. “Ach was, Blödsinn. Aber das weiß er ja nicht.”

Darcy lachte ebenfalls. Vielleicht bereiteten Joshs Worte Mike ja ein paar schlaflose Nächte.

Und dann war der Abend des Abschlussballs auch schon da. Obwohl Darcy Josh so lange kannte, hatte sie seinen Vater bisher nur ein paar Mal gesehen. Joshs Mom war gestorben, als er noch ein Baby gewesen war, und sein Dad war meistens beruflich unterwegs. Josh hatte ihr nur erzählt, dass er der Chef einer Firma mit Sitz in Washington, D.C. war und deshalb nur so selten in die Kleinstadt in Südpennsylvania kam, in der sie lebten. Als Darcy ihn kennen lernte, fand sie ihn auf Anhieb sympathisch, obwohl er ihr schon ziemlich alt vorkam. Aber erst, als sie erfuhr, dass er Josh zum Abschluss einen funkelnagelneuen Volvo Sportwagen geschenkt hatte, wurde ihr klar, dass er zudem ziemlich gut verdienen musste.

Josh brachte ihr das schönste Ansteckbukett mit, das sie je gesehen hatte. Ihre Mutter veranstaltete einen mächtigen Wirbel um sie beide und schoss tausend Fotos, während ihr Vater aus allen Knopflöchern strahlte.

Eine weitere Überraschung an diesem Abend war Joshs ungeahntes tänzerisches Talent. Er verdankte es seinem Vater, der ihn bereits in der Junior High School in die Tanzstunde geschickt hatte, wie Josh ihr mit roten Ohren gestand.

Ihre Freundinnen verhielten sich an diesem Abend vorbildlich, insbesondere Brenda, und sogar die Jungs mussten zähneknirschend klein beigeben, weil ihre Begleiterinnen Josh zu akzeptieren schienen. Nur Hunter näherte sich ihnen kein einziges Mal. Darcy bemerkte, dass er und Mike sie aus der Ferne beobachteten. Und als sie und Josh beim “Wild and Wacky”-Tanzwettbewerb siegten, schien Mike jeden Moment explodieren zu wollen.

Hunter wirkte einfach nur bedrückt.

Darcy lächelte Josh an, und er hob fragend eine Augenbraue. “Danke”, sagte sie nur.

“Ich habe dir zu danken. Ich bin heute Abend eine Art Mister Aschenputtel. Der unscheinbare Prinz, der sich plötzlich als der Beau des Balls entpuppt.”

Darcy schüttelte den Kopf. “Nein, du musst nicht mir danken, sondern ich dir. Du hast mir gezeigt, dass es auch noch ein Leben nach Hunter gibt.”

Er ergriff ihre Hände und drückte sie fest. “Vergiss das nie, Darcy, hörst du? Die Welt da draußen gehört dir. Es ist eine schöne Welt, auch wenn sie gelegentlich nicht so aussieht.” Er sprach eindringlich und schaute ihr dabei tief in die Augen. “Aber es gibt immer wieder Menschen, die diese unvollkommene Welt allein mit einem Lächeln oder einem freundlichen Wort zu einem besseren Ort machen. Du bist so ein Mensch, Darcy, vergiss das nie. Es gibt Zeiten im Leben, in denen man verzweifelt und unglücklich ist, doch du bist ein Mensch, der es versteht zu geben. Man darf sich von seiner Verzweiflung nie so weit beherrschen lassen, dass man das Gefühl hat, nicht mehr weitermachen zu können.”

Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. “Du machst mir Angst, wenn du so redest, Josh.”

“Tut mir Leid, Darcy, das wollte ich nicht.” Dann horchte er kurz auf. “He, ich fasse es nicht. Sie spielen einen Charleston! Traust du dich?”

“Klar, warum nicht?”

Vergnügt gaben sie sich den Rhythmen hin, und nach einer Weile hatte Darcy seine Worte vergessen, wenngleich sie trotzdem dachte, dass sich ein kleines Wunder ereignet hatte: Hunter hatte ihr kurz vor dem Abschlussball einen schweren Schlag versetzt, aber sie war immer noch da und hatte mehr Spaß als je zuvor in ihrem Leben.

Irgendwann wurde es Zeit aufzubrechen, aber Darcy hatte noch keine Lust, ins Bett zu gehen. Josh ging es ähnlich, und so schlug er ihr vor, sich irgendwo noch einen oder zwei Filme anzusehen, um dann den Sonnenaufgang zu beobachten. Kurz nachdem sie sich in seinen funkelnagelneuen Volvo gesetzt hatten und vom Parkplatz fuhren, erreichte sie die erste Warnung.

Irgendetwas prallte hinten gegen Joshs Stoßstange. Es war nur ein leichter Stoß, aber dennoch …

Josh fluchte und drehte sich um. “Da ist jemand entweder sturzbetrunken, oder er kann nicht fahren.”

Geblendet vom Scheinwerferlicht der anderen Autos um sie herum konnten sie jedoch nicht erkennen, was hinter ihnen passierte. Also fuhr Josh vom Parkplatz und bog auf die Straße ein.

Gerade, als Darcy sich begeistert über Joshs Beatles-CDs äußerte, prallte wieder etwas gegen die Stoßstange. Diesmal krachte es allerdings bedeutend heftiger.

“Verdammt!” fluchte Josh erneut.

“Was zum Teufel ist das denn?” fragte Darcy und wandte den Kopf.

Sie brauchte sich nicht ganz umzudrehen. Das Auto hinter ihnen hatte rechts zum Überholen angesetzt und fuhr gleich darauf neben ihnen her. Darcy erkannte Mikes alten Chevy, und Mike war es auch, der am Steuer saß. Er hatte sein Fenster heruntergekurbelt und hielt eine Bierdose in der Hand.

“Blödmann!” rief Darcy.

Josh schwieg und schaute geradeaus auf die Straße. Er schien keine Angst zu haben. Er wirkte nur … seltsam resigniert.

Mike signalisierte ihr, das Fenster ebenfalls herunterzulassen.

“Mach es ruhig”, sagte Josh.

“Quatsch. Er ist ein Idiot. Fahr einfach weiter.”

Sie schaute stur geradeaus, bis Mike den Volvo mit seinem Chevypanzer seitlich rammte.

Obwohl Darcy angeschnallt war, wurde sie gegen Josh geschleudert. Benommen richtete sie sich wieder auf, während Josh alle Mühe hatte, den Wagen unter Kontrolle zu halten.

“Josh, es tut mir so Leid”, keuchte sie panisch. Sie wusste, dass Mike manchmal brutal sein konnte. Aber dass er so verrückt war, hätte sie im Traum nicht gedacht. Ängstlich und wütend schaute sie zu dem Chevy rüber, der jetzt wieder auf dem Standstreifen neben ihnen herfuhr.

Das Problem an Pennsylvania waren die einsamen Straßen zwischen den weit verstreut liegenden kleinen Ortschaften. Man fuhr meilenweit durch die Dunkelheit, ohne dass einem jemand begegnete, der einem im Notfall helfen konnte.

Und Mike wusste das. Das wurde ihr in dem Moment klar, in dem sie dieses böse Grinsen über sein Gesicht huschen sah. Im selben Augenblick erkannte sie auch zu ihrer größten Bestürzung, wer neben Mike auf dem Beifahrersitz saß: Hunter.

Jetzt kurbelte Darcy ihr Fenster herunter. “Aufhören! Ihr Idioten!” schrie sie.

“Ach, lässt du dich jetzt doch herab, mit den Blödmännern zu reden, ja?” brüllte Mike zurück.

Zwischen den beiden Autos heulte der Fahrtwind. Darcy befürchtete, dass ihre Stimme nicht weit genug tragen könnte. “Hunter! Sag ihm, dass er aufhören soll! Sofort!”

Als Hunter sich vorbeugte, sah sie sein geisterhaft blasses Gesicht. “Was glaubst du, was ich schon die ganze Zeit mache?”

Mike lachte und rammte den Volvo ein zweites Mal. Darcy hörte das kreischende Geräusch von aneinander schrammendem Metall.

“Aufhören! Halt einfach an, Josh”, sagte sie, wobei ihr das Herz vor Angst bis zum Hals schlug. “Hunter wird es nicht zulassen, dass Mike dir etwas antut. Er ist nicht betrunken, das kann ich ihm ansehen.”

In dem Moment, in dem sie ihren Satz beendet hatte, geriet der Chevy ins Schleudern. Als der Volvo ebenfalls aus der Spur kam, klammerte sie sich verzweifelt an ihrem Sitz fest. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Hunter neben ihnen versuchte, sich des Steuers zu bemächtigen.

Gleich darauf geriet alles außer Kontrolle. Der Chevy beschleunigte rasant, kam von der Fahrbahn ab, raste kurz darauf wieder auf die Straße, drehte sich einmal um die eigene Achse, überschlug sich dann und blieb fünfzig Meter vor dem Volvo auf dem Dach liegen. Josh trat mehrmals hintereinander hart auf die Bremse, aber auch dadurch ließ sich nicht mehr verhindern, dass sie mit voller Wucht in den Unfallwagen fuhren.

Bevor sich der Airbag in ihr Gesicht drückte, fühlte sich Darcy für einen Moment schwerelos. Eine Sekunde später verspürte sie den härtesten Stoß ihres Lebens. Sterne tänzelten in einem Bett aus schwarzen Samt vor ihren Augen, die einer nach dem anderen erloschen. Was blieb, war rabenschwarze Finsternis.

Asche zu Asche.

Staub zu Staub.

Darcy nahm mit Blutergüssen und Schürfwunden an Joshs Beerdigung teil. Dass sie noch am Leben war, verdankte sie nach Meinung der Ärzte allein dem funktionierenden Sicherheitssystem des Volvo.

Mike sollte in zwei Tagen beerdigt werden, während Hunter wie durch ein Wunder ebenfalls überlebt hatte. Darcy, die von ihren Eltern gestützt neben Joshs Grab stand, fand es seltsam, Hunter unter diesen Umständen überhaupt ansehen zu können, aber vielleicht stand sie ja noch unter Schock und hatte noch nicht wirklich begriffen, was passiert war. Im Grunde fand Darcy es sogar ziemlich mutig von ihm, zu dem Begräbnis zu kommen und haltlos zu weinen.

Der Unfall hatte die ganze Schule in Aufruhr versetzt, besonders aber diejenigen, die Josh jahrelang gehänselt hatten. Wenn Josh das wüsste, würde er sich am Ende noch darüber amüsieren, überlegte sie. Auf den einst so gehässigen Gesichtern spiegelte sich jetzt nur Entsetzen und Trauer. Diejenigen, die sich für unverwundbar gehalten hatten, mussten erkennen, dass es auf nichts eine Gewähr gab im Leben und der Tod jederzeit zuschlagen konnte. Wer denkt auch schon an ein tragisches Ende, wenn man doch bloß einem Dummkopf einen Streich spielen will?

Joshs Vater, groß und ernst, beugte sich zu dem Sarg hinunter, um ihn zärtlich zu küssen und eine Blume darauf zu legen. Seine Trauer schien so allumfassend zu sein, dass er nicht einmal weinen konnte. Ungeachtet dessen kam er auf Darcy zu, nachdem die letzten Worte des Priesters verhallt waren. Er bemühte sich um ein tröstliches Lächeln, fast so, als ob ihr Schmerz ebenso tief wäre wie sein eigener, und ergriff ihre Hand. Sie ließ sich von ihm zu dem Sarg führen, wo er ihr eine Blume reichte, die sie behutsam auf den Deckel legte.

Es war ein seltsamer Moment. Die Trauergäste hatten sich bereits angeschickt, Joshs Vater ihr Beileid auszusprechen. Doch als sie sahen, wie die beiden in ihrer eigenen kleinen Welt verharrten, hielten auch sie inne und überließen das Mädchen und den Vater ihrer stummen Andacht.

Minutenlang standen die beiden reglos da. In der tiefen Stille hörte sich das fröhliche Zwitschern eines Vogels, der sich in einen fast unwirklich blauen Himmel emporschwang, regelrecht laut an. Als Darcy schließlich das Wort ergriff, war ihre Stimme brüchig und zitterte, aber sie schaffte es, das zu sagen, was sie sagen wollte. “Es tut mir unendlich Leid. Ich … fühle mich für seinen Tod verantwortlich, obwohl ich weiß, dass Ihnen das nicht hilft. Er war mein bester und treuester Freund, er war immer für mich da und, oh Gott, ich weiß gar nicht, wie … ich …”

“Bitte, Darcy”, sagte Joshs Vater leise. “Sie trifft keine Schuld. Sie waren ihm eine ebenso gute und treue Freundin und haben sich nichts vorzuwerfen. Ich weiß, dass er Sie geliebt hat, wenn auch nur platonisch, und er wusste, dass Sie diese Liebe auf dieselbe Art erwidern. Sie waren etwas Besonderes für ihn. Etwas ganz Besonderes.”

Sie schaute zu dem alten Mann auf, der trotz seines Kummers so freundlich zu ihr war, und lächelte ihn mit tränenverschleiertem Blick an. “Bitte, versuchen Sie nicht, mich zu trösten. Sie haben gerade Ihr einziges Kind verloren.”

Er sah ihr lange in die Augen. “Ich wusste immer, dass es früher oder später passieren würde”, erwiderte er schließlich ruhig. “Und dennoch, was für ein sensibler, intelligenter Junge! Ich werde ihn immer lieben. Vergessen Sie nie, dass diejenigen, die wir lieben, für immer in unserem Herzen sind. Sie werden sich an seine Stimme erinnern. An Dinge, die er gesagt und getan hat und mit denen er Sie zum Lachen gebracht hat. Ich kann es nicht erklären, aber … Josh war nicht von dieser Welt.”

“Er ist jetzt an einem viel besseren Ort”, flüsterte sie und zuckte zusammen, weil die Worte so abgedroschen klangen, obwohl sie ganz und gar aufrichtig gemeint waren.

“Er war anders, Darcy. Das müssen Sie gewusst haben.”

“Klug, intelligent, zartfühlend, großzügig”, flüsterte sie.

Joshs Vater lächelte immer noch. Dann griff er nach seiner Brieftasche und holte eine Visitenkarte heraus. “Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch oft hier bin. Bitte, nehmen Sie meine Karte. Sollten Sie jemals Hilfe brauchen oder auch einfach nur reden wollen, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Kommen Sie einfach zu mir. Sie haben wundervolle Eltern, Darcy. Ich weiß, dass sie Ihnen in der jetzigen Situation eine große Hilfe sein werden. Aber falls Sie jemals nicht weiterwissen sollten oder sich … einsam und verloren fühlen, rufen Sie mich an. Erinnern Sie sich daran, dass ich sein Vater bin … war. Ich möchte für Sie da sein, weil Sie immer für meinen Jungen da waren.” Er zögerte. “Und vielleicht brauchen Sie mich ja irgendwann. Vergessen Sie es nicht, bitte.”

Nach diesen Worten berührte er sacht ihr Haar. Dann ging er weg und ließ sie am Sarg allein. Sie stand noch mehrere Sekunden lang unbeweglich da, spürte, wie der Wind ihr Gesicht streichelte und nahm ein weiteres Mal das unwirkliche Blau des Himmels wahr. Ein Stück weiter weg auf der Straße warteten ihre Eltern auf sie. Sie wusste, dass sie ihr alle Zeit lassen würden, die sie brauchte.

Auch Hunter wartete, auf seine Krücken aufgestützt, in einiger Entfernung.

Von plötzlicher Bitterkeit überwältigt, brach Darcy am Kopfende des Sargs in die Knie. “Oh, Josh, ich werde nie wieder auch nur ein einziges Wort mit ihm reden”, flüsterte sie und fügte bekräftigend hinzu: “So wahr mir Gott helfe!”

Sie schloss die Augen. Und plötzlich war sie sich ganz sicher, Joshs ruhige Stimme zu hören: “He, Darcy, geh mit Hunter nicht allzu hart ins Gericht. Du weißt, dass er wirklich versucht hat, Mike aufzuhalten.”

Die Stimme klang so real, dass Darcy erschrocken die Augen aufriss.

Aber um sie herum hatte sich nichts verändert. Der Himmel war immer noch genauso blau, der Wind immer noch genauso weich. Der Sarg ruhte weiter in der Vorrichtung, mit der man ihn bald in die Erde einlassen würde.

Darcy kamen wieder die Tränen. Sie schloss fest die Augen und betete. Danach stand sie auf, drückte ihre Lippen liebevoll auf den Sarg und flüsterte: “Josh, ich werde dich nie vergessen. Du wirst immer in meinem Herzen sein, genauso wie es dein Dad gesagt hat. Mein ganzes Leben lang. Selbst wenn ich hundert Jahre alt werde.”

Endlich wandte sie sich ab und schritt den Weg hinab auf ihre Eltern und Hunter zu.

Für einen Moment hielt der Hass auf den ehemaligen Freund noch an. Nicht einmal ansehen konnte sie ihn. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte, die sie so deutlich gehört hatte, als hätte wirklich Josh sie gesprochen. Geh mit Hunter nicht allzu hart ins Gericht.

Hunters Augen schimmerten feucht. Sie überwand sich, ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. “Du hast es versucht”, sagte sie leise.

“Oh, Darcy”, flüsterte er verzweifelt.

“Du hast es versucht”, wiederholte sie. “Eines Tages … eines Tages werden wir wieder miteinander sprechen können. Die Zeit wird kommen.”

Nach diesen Worten fühlte sich Darcy erstaunlicherweise besser. Sie wusste, dass Hunter es wirklich versucht hatte. Und sie wusste auch, dass sein Bein heilen würde. Anders als sein Herz. Er würde sein ganzes Leben lang mit dieser schrecklichen Nacht leben müssen, in der Josh und Mike gestorben waren. Und auch die Schuldgefühle würden ihn sein ganzes Leben lang begleiten.

Darauf wandte Darcy sich ab und ging mit schnellen Schritten auf ihre Eltern zu, die sie mit offenen Armen empfingen und sie trösteten, so gut es eben ging.

An diesem Abend nahm sie eine Tablette, weil sie seit dem Unfall nicht mehr richtig geschlafen hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie fest davon überzeugt, dass das Medikament diesen seltsamen Traum verursacht hatte.

Sie war wieder auf dem Friedhof. Aber diesmal war es kein so strahlend schöner Tag. Grau war er allerdings auch nicht. Es schien, als ob über der Landschaft ein silberner Firnis läge, wie Nebel. Es war inzwischen einiges an Zeit verstrichen, und sie wanderte zwischen den knorrigen Bäumen und den alten und neuen Gräbern des Friedhofs umher. Joshs Ruhestätte lag unter einer großen alten Eiche. Sie ging darauf zu, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem bunten Blumenstrauß in der Hand.

Und dann …

Beim Näherkommen sah sie einen extrem schlanken Mann unter dem Baum stehen. Als sie erstaunt auf ihn zuging, entdeckte sie, dass es Josh war.

Er sah sehr gut aus in seinem dunklen Anzug, dem weißen Hemd und dem dunkelroten Halstuch, die Sachen, in denen er beerdigt worden war. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und ordentlich gekämmt, so wie er es an dem letzten Abend getragen hatte. Er lehnte mit lässig verschränkten Armen am Baumstamm und lächelte sie an, während sie auf ihn zu lief.

Einen Moment lang fürchtete sie sich. Aber wirklich nur einen ganz kurzen Moment.

“Josh?”

“Darcy, arme Darcy”, sagte er leise. Sein bedauerndes Lächeln erinnerte sie an das Lächeln seines Vaters, als er am Sarg seines Sohnes mit ihr gesprochen hatte. “Darcy, ich wollte dir nur Bescheid sagen. Es ist okay. Glaub mir, wirklich, es ist absolut okay.”

“Es ist überhaupt nicht okay, dass du tot bist.” Sie stutzte, weil sie zu ihrem Erstaunen feststellte, dass sie direkt ein bisschen böse auf ihn war. “Du wusstest es, Josh! Du wusstest, dass du sterben würdest. An dem Tag, an dem Mike dir drohte, sagtest du, dass du vielleicht sterben würdest, er gewiss aber auch. Und das ist er! Er ist auch gestorben!”

“Ich weiß, es tut mir Leid. Er war ein echter Dreckskerl, aber ich hasse ihn trotzdem nicht.”

“Josh …”

“Ich muss jetzt gehen, Darcy. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht. Es geht mir wirklich gut. Und du musst dein Leben weiterleben.”

“Das werde ich, Josh, aber … ich hätte nie geglaubt, dass ich dich so sehr vermisse”, flüsterte sie.

Er berührte ihr Haar. So kam es Darcy jedenfalls vor. In Wirklichkeit war es natürlich nur der Wind, der mit den Strähnen spielte.

“Ich werde immer bei dir sein, Darcy. Denk einfach an mich, wenn du mich brauchst. Ganz tief da drin.” Er legte sich die Hand aufs Herz.

“Oh, Josh.”

Er verblasste. Verschmolz einfach nach und nach mit dem silbernen Nebel. Natürlich. Es war ein Traum. Ein durch das Schlafmittel hervorgerufener Traum.

Er lächelte. “Du bist etwas ganz Besonderes, Darcy. Ich habe es dir schon immer gesagt. Und du wirst sehr stark sein müssen”, sagte er leise.

Dann war er fort.

Es begann am nächsten Tag.

Ihr Vater hatte beschlossen, nicht ins Büro zu gehen, und auch ihre Mutter war zu Hause geblieben. Ihre Eltern wollten den Tag mit ihr verbringen und in die nahe gelegenen Berge fahren. Diese herrliche Gegend von Pennsylvania schien ihnen genau das Richtige für ihre Tochter zu sein, um einfach ein wenig auszuspannen und die Natur zu genießen.

Und dann konnte ihr Vater seinen Palmtop nicht finden.

“Du hast ihn auf der Konsole in eurem Bad liegen gelassen”, sagte sie.

“Woher um alles in der Welt willst du das wissen, Liebling? Warst du in unserem Schlafzimmer?” fragte ihr Dad.

“Nein”, sagte Darcy, selbst überrascht. “ Ich habe nur … na ja, ich nehme an, es ist einfach ein Platz, wo du ihn liegen gelassen haben könntest.”

Er ging nach oben in das ans Schlafzimmer ihrer Eltern grenzende Bad, und als er mit seinem Palmtop zurückkehrte, schaute er sie merkwürdig an. “Danke. Ich nehme an, du kennst deinen alten Herrn ziemlich gut, was?”

Natürlich, das war es.

Aber dann … Ab und zu blitzte vor ihrem geistigen Auge irgendetwas auf – Bruchstücke nur, entfernt bekannte Bilder, die Darcy dennoch nicht recht zuzuordnen vermochte. In diesem Sommer passierte ihr das nur gelegentlich, ein paar Mal auch während ihrer ersten Jahre auf dem College, später jedoch trat dieses Phänomen öfter auf.

Anfangs war es verstörend. Dann gewöhnte sie sich daran. Sie nahm es als etwas, das ihr Josh auf höchst seltsame Weise hinterlassen hatte.

Bis sie aber beschloss, Joshs Vater anzurufen, sollte noch eine Weile vergehen.

Das war erst, als die Geister kamen.

1. KAPITEL

Jeannie Mason Thomas lag im Lee-Zimmer von Melody House in dem breiten, weiß bezogenen Baldachinbett und schwelgte in reinster Glückseligkeit.

Roger neben ihr schnarchte leise vor sich hin. Männer, dachte sie zärtlich. Die haben es gut. Sie können in jeder Lebenslage schlafen, ganz egal, was passiert ist.

Sie konnte es nicht, sondern musste den hinter ihr liegenden Tag wieder und wieder Revue passieren lassen, jede einzelne Minute davon. Ihren Hochzeitstag.

Am Morgen hatte es das übliche Tamtam gegeben. Ihre Mom war vor Rührung alle paar Minuten in Tränen ausgebrochen und hatte ihr Vorträge über die Ehe und den Sex gehalten, die sie total überflüssig fand. Alice, ihre Brautjungfer, hatte sich beim Versuch, den Schleier zu befestigen, zwei ihrer neuen künstlichen Fingernägel abgebrochen, und Sandy, eine andere Brautjungfer, war von dem Champagner, den sie alle zusammen beim Ankleiden getrunken hatten, arg beschwipst gewesen. Die Limousine kam zu spät. Und dann war zu allem Überfluss auch noch die ursprünglich vorgesehene Sopranistin heiser gewesen, sodass sie gezwungen gewesen waren, in letzter Minute Ersatz zu suchen. Aber zum Glück hatten sie durch Father O’Hara ganz schnell diesen irischen Tenor gefunden, und als sie endlich die alte Kirche aus der Revolutionszeit am Stadtrand erreicht hatten, lief doch noch alles wie am Schnürchen.

Nach Aussage ihrer Gäste war es eine der schönsten Hochzeiten gewesen, an denen sie je teilgenommen hatten. Roger sah in seinem Smoking absolut umwerfend aus. Ihr Vater wirkte ausgesprochen stattlich, ihre Mutter schlicht schön. Ihr Bruder und ihre Schwester, beide Mitwirkende der Hochzeitszeremonie, hatten den Tag perfekt dirigiert. Der erste Tanz mit ihrem Bräutigam war magisch gewesen, aber erst als sie sich in den Armen ihres Vaters im Kreis drehte, war ihr bewusst geworden, wie überaus glücklich sie sich schätzen konnte, da sie jetzt nicht nur eine liebevolle Familie, sondern darüber hinaus auch noch einen unglaublichen Ehemann hatte.

Der Hochzeitsempfang würde in den nächsten Monaten Gesprächsthema im ganzen Landkreis sein. Der irische Tenor, der bereits in der Kirche gesungen hatte, hatte ebenfalls teilgenommen. Musikalisch war für jeden etwas dabei gewesen, angefangen von klassischer Musik über Rock und Pop bis hin zu Opernarien. Das Essen war köstlich, die Hochzeitstorte riesig.

Und schließlich waren sie nach der ausschweifenden Feier ins Melody House gefahren. Natürlich war es für sie und Roger nicht neu gewesen, miteinander Liebe zu machen, aber irgendwie war es trotzdem anders und sinnlicher, erotischer und befriedigender, als frisch gebackenes Brautpaar miteinander zu schlafen. Sie waren erhitzt und beschwipst gewesen, und beim Ausziehen lachten sie und alberten miteinander herum, bevor sie kurz unter die Dusche gingen, um sich schnell ins Bett zu kuscheln. Zwischen Küssen und Liebkosungen tranken sie auch noch den Champagner, der in einem eleganten silbernen Eiskübel auf dem antiken Tisch vor dem Kamin stand. Dazu genossen sie den köstlichen kleinen Imbiss, bestehend aus Kaviar, verschiedenen Quiches, Erdbeeren im Schokoladenmantel und vielem anderen mehr. Danach hatten sie sich noch einmal geliebt, mit träger Langsamkeit diesmal, und es war erneut unbeschreiblich schön gewesen. Im Melody House gab es alles, was das Herz begehrte. Morgen früh würde man ihnen in dem sonnigen Wintergarten das Frühstück servieren. Wenn sie Lust hatten, konnten sie den ganzen Tag an dem geheizten Swimmingpool verbringen, der eine relativ neue Errungenschaft des alten Kolonialhauses war. Und bei Sonnenuntergang würden sie vielleicht auf verschlungenen Wegen durch den Wald reiten. Hier konnten sie für sich sein und wurden dennoch nach Strich und Faden verwöhnt. Von daher hatte Jeannie allen Grund, sich rundum glücklich zu fühlen und großzügig darüber hinwegzusehen, dass sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte, während ihr frisch gebackener Ehemann zufrieden vor sich hin schnarchte.

Sie stand leise auf, wobei sie sich so agil und wunderbar geschmeidig fühlte wie eine Katze. Während sie sich streckte, beglückwünschte sie sich wieder einmal dazu, dass sie ihr selbst auferlegtes, hartes Fitnessprogramm in den Monaten vor der Hochzeit regelmäßig abgeleistet hatte – im Moment hatte sie kaum ein Gramm Fett am Leib, eine Tatsache, die Roger auch heute wieder gebührend gewürdigt hatte. Außerdem erwärmte sie sich an dem Gedanken, dass es ihr gelungen war, Matt Stone zu überreden, ihnen dieses nur höchst selten vermietete Zimmer zu überlassen. Und Stone war bekanntermaßen eine harte Nuss.

Auf dem Weg zur Balkontür verzog sie den Mund zu einem halben Lächeln. Roger behauptete, Matt Stone habe sich nur erweichen lassen, weil er dringend das Geld zur Instandhaltung von Melody House brauche. Und vielleicht hatte Roger damit sogar Recht – so ein altes Haus verschlang bestimmt Unsummen an Instandhaltungskosten. Aber vielleicht war es ja auch eine Mischung aus den sich für Stone ergebenden Notwendigkeiten und ihren mit Charme gepaarten Überredungskünsten gewesen, wer konnte das schon so genau sagen? Und egal wie, auf jeden Fall hatte es geklappt, und jetzt passte alles wunderbar zusammen. Jeannie interessierte sich brennend für Geschichte, und dass sie ihre Hochzeitsnacht an einem so geschichtsträchtigen Ort verbringen durfte, war wie das kunstvollste Sahnehäubchen auf dem herrlichsten Kuchen der Welt. Sie schob die Vorhänge einen Spalt auseinander und kostete das sinnliche Gefühl aus, die leichte Brise auf ihrer nackten Haut zu spüren. Sie war jetzt eine verheiratete Frau. Mrs. Thomas. Wenn sie wollte, konnte sie sich sofort wieder ins Bett legen, ihren Ehemann wecken und mit ihm jede erotische Fantasie, die ihr in den Sinn kam, ausleben.

Nichtsdestotrotz …

Sie erschauderte. Mit einem Mal war es gar nicht mehr ganz so köstlich, die kühle Luft auf der Haut zu fühlen. Eine eisige Kälte umwehte sie, die ihr durch und durch ging. Sie wirbelte auf dem Absatz herum, aber in dem schwachen Lichtschein, der aus dem Bad fiel, konnte sie nichts entdecken.

Sie verspürte …

Angst. Eine tief sitzende, irrationale Angst.

Jeannie schluckte und beeilte sich, die Balkontür zu schließen und von innen zu verriegeln. Sie schaute zu Roger. Er schnarchte immer noch leise vor sich hin. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Wenn sie Angst hatte, brauchte sie sich nur schnell wieder neben ihn ins Bett zu legen, dann würde er sie in den Arm nehmen und festhalten, und alles wäre gut.

Und genau das sollte sie jetzt tun.

Aber sie tat es nicht. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Da war doch etwas …

Eine silbrige Bewegung in der Dunkelheit des Raumes.

Sie blinzelte, aber das, was sie sah, verschwand nicht. Und das lag nicht an der Dunkelheit oder an der Widerspiegelung der Lichter oder an einer Kombination aus beidem. Da war irgendetwas, vage im Umriss, silbrigweiß schimmernd, das sich bewegte und ständig seine Form veränderte. Es stieg aus ihrer Seite des Bettes empor und kam auf sie zu.

Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, aber sie brachte keinen einzigen Ton heraus. Mit kalkweißem Gesicht starrte sie auf die Erscheinung und stieß erstickte leise Laute aus, während sie verzweifelt versuchte, ihre Stimme wieder zu finden. Es kam näher und näher und dann – ihr gefror das Blut in den Adern.

Jetzt berührte es sie. Sie spürte, dass sich ihr Haar bewegte … Kälte schlug ihr ins Gesicht, und sie hätte schwören mögen, dass sie ein spöttisches, verächtliches Flüstern vernahm: “Du dummes, kleines Mädchen. Er wird dich töten!”

Und dann … ihr Haar … es hob sich erneut, während sie selbst wie gebannt auf diese silbrige Erscheinung starrte. Eine Erscheinung, die flüsterte und sich im Wind bewegte. Aber da war gar kein Wind. Sie hatte die Balkontüren geschlossen.

Endlich fand sie zu Stimme, Beweglichkeit und Energie zurück. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und rannte los.

Allerdings nicht zum Bett und zu Roger, sondern geradewegs zur Tür, an der sie so heftig zog, dass sie fast den Knauf abriss. Gleich darauf flog die Tür auf und donnerte gegen die Wand, aber Jeannie achtete nicht mehr darauf. Sie schrie immer noch, während sie wie von wilden Furien gehetzt den breiten Treppenaufgang hinunterrannte.

Matt Stone war vor der Ankunft seiner Pensionsgäste vorübergehend in das kleine Wirtschaftsgebäude umgezogen, das ungefähr fünfzig Meter vom Haupthaus entfernt lag. Dort hatte er früher schon gewohnt, doch dann war sein Großvater gestorben und hatte ihm Melody House samt der damit verbundenen Verantwortung hinterlassen. Nachdem er sich anfangs gesträubt hatte, fühlte er sich inzwischen in dem alten Gemäuer recht wohl. Die Mastersuite, in der er sich eingerichtet hatte, war mit dem großen Schlafzimmer, dem Bad und Ankleidezimmer, einem Arbeitsbereich plus dem Salon ausgesprochen komfortabel.

Er war gerade fest eingeschlafen, als er von einem gellenden Schrei geweckt wurde. Aufgeschreckt fuhr Matt hoch und sah sich hektisch um.

Obwohl es in ihrem kleinen Städtchen normalerweise ruhig zuging, war er als Sheriff von Stoneyville daran gewöhnt, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Deshalb hatte er jetzt innerhalb von Sekunden seine Jeans an und lief im Eilschritt über den breiten Rasen, der zwischen dem Wirtschaftsgebäude, einem jüngst komplett saniertem Cottage, und dem Haupthaus lag. Kaum zwei Minuten, nachdem der Schrei ertönt war, schloss er die Tür auf.

Im Foyer brannte wie immer eine kleine Lampe, genau wie auf der Veranda. Trotzdem war er auf alles vorbereitet, als er das Haus betrat.

Das glaubte er zumindest, bis er die Gestalt sah, die splitternackt und schreiend vor ihm stand. Jeannie war eine hübsche Frau, mit einem perfekten, wohl modellierten Körper. Matt zwang er sich, seinen Blick von ihr loszureißen und sich nach einer bislang verborgenen Gefahr umzuschauen. Da er jedoch nichts entdecken konnte, wandte er sich erneut der jungen Ehefrau zu.

“Jeannie?” fragte er behutsam mit tiefer beruhigender Stimme. Unter normalen Umständen wäre er jetzt auf sie zu gegangen. Er hätte ihr einen Arm um die Schultern gelegt und geduldig herauszufinden versucht, was ihre Panik verursacht hatte. Aber unter diesen Umständen entschied er sich dagegen “Jeannie, bitte, sagen Sie doch etwas. Was ist denn …?”

In diesem Moment kam auch Roger verschlafen die Treppe hinuntergetappt. Als sein Blick auf seine Frau fiel, wurde er schlagartig hellwach.

“Jeannie!” schrie Roger erschrocken.

Matt durchquerte mit langen Schritten das Foyer und betrat einen kleinen, durch eine Kordel abgetrennten Salon, wo er ein Plaid von einem zierlichen antiken Sofa riss. Damit kehrte er eilig zu Jeannie zurück und legte es ihr um die Schultern. Obwohl die junge Frau mittlerweile aufgehört hatte zu schreien, wirkte sie völlig verängstigt und zitterte am ganzen Körper.

Roger, der sich immer noch nicht gefasst hatte, bedankte sich flüchtig und schaute dann wieder auf seine Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand.

“Du lieber Himmel, Jeannie, was ist denn passiert?”

Jetzt endlich drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn erst verständnislos und dann angespannt an. “Hast du es nicht gesehen? Hast du nichts gespürt?”

“Jeannie, bitte, ich habe geschlafen. Wovon redest du?”

In diesem Moment betrat Penny Sawyer, das grauschwarze Haar vom Schlaf zerzaust und eingehüllt in einen Frotteebademantel, das Foyer.

“Was in aller Welt ist denn hier los?” fragte sie perplex.

Penny war Haushälterin, Verwalterin und Buchhalterin in einer Person. Außerdem führte sie die Besichtigungstouren durch. Sie hatte schon für Matts Großvater gearbeitet und hing wahrscheinlich noch mehr an dem Haus als Matt selbst. Für Matt war sie nicht nur unverzichtbar, sondern zudem so etwas wie die gute Seele des Anwesens.

Nur in einer einzigen Frage würden sie sich wahrscheinlich nie einigen. Missmutig knirschte Matt mit den Zähnen. Er wusste genau, was Penny über diesen Zwischenfall denken würde.

“Es spricht alles dafür, dass unsere Braut einen Albtraum hatte”, erklärte Matt ruhig.

“Albtraum!” kreischte Jeannie, dann zwang sie sich jedoch, etwas ruhiger fortzufahren: “Ich habe nicht geschlafen.”

“Und was genau war das Problem?” fragte Roger leicht gereizt.

“Ich glaube, ich hole besser erst mal eine kleine Stärkung”, schlug Penny vor.

“Aber vorher sollte sich Jeannie etwas anziehen”, warf Roger jetzt hörbar unwillig ein.

“Etwas anziehen?” fragte Jeannie, wobei ihr offensichtlich erst in diesem Moment bewusst wurde, dass nur das Plaid ihren Körper bedeckte.

“Ich mache Tee mit einem kräftigen Schuss Whiskey”, erklärte Penny entschieden.

“Und inzwischen kannst du raufgehen und dir was überziehen, Jeannie. Und dann erzählst du uns, was in dich gefahren ist”, sagte Roger, immer noch mit einem Hauch Gereiztheit in der Stimme.

“Was in mich gefahren ist?” wiederholte Jeannie mit vorwurfsvoll gerunzelter Stirn. “Hör zu, Roger Thomas, ich habe mich eben zu Tode erschreckt, begreifst du das nicht?”

“So sehr erschreckt, dass du mitten in der Nacht splitternackt durch die Gegend läufst?”

Matt musste sich ein lautes Aufstöhnen verkneifen. Er hätte sich nicht breitschlagen lassen sollen, das Lee-Zimmer zu vermieten. Er warf Penny einen finsteren Blick zu. Wenn sie ihn nicht ständig daran erinnern würde, dass sie jede Einnahmequelle für Melody House nutzen müssten, hätte er es sicher auch nicht getan.

Penny zuckte mit den Schultern, wobei sie Matt einen ihrer wissenden Blicke zuwarf.

Die Leute erzählten sich, dass es in Melody House spukte, aber solche Geschichten waren in Matts Augen ganz normal. Das Haupthaus war weit über zweihundert Jahre alt. Es hatte die amerikanische Revolution überlebt, den Bürgerkrieg und jede Menge Konflikte dazwischen. Natürlich wusste er, dass sich um alles, was so alt war, immer gewisse Legenden rankten. Und offensichtlich wollte fast die ganze Welt an Spukgeschichten glauben. Die Leute schafften es eben nicht, einfach nur traurig auf die Tragödien der Vergangenheit zurückzublicken, sondern mussten irgendetwas “hineingeheimnissen”.

Aber Matt glaubte nicht an Geister. Er hatte früher im Großraum Washington, D.C. gearbeitet und wusste, dass sich schon in der Welt der Lebenden so grausame, barbarische Dinge abspielten, dass es schlicht sinnlos war, sich auch noch über die Welt der Toten den Kopf zu zerbrechen.

“Geh schon endlich und zieh dir was an”, befahl Roger in barschem Ton.

Aus ihren immer noch weit aufgerissenen blauen Augen starrte Jeannie ihn rebellisch an.

“Ich werde nicht – und zwar nie mehr, hast du mich verstanden? – in dieses Zimmer hinaufgehen! Da spukt nämlich ein Gespenst herum und … bedroht mich.”

Matt schüttelte den Kopf und betete um Geduld, dann schaute er erst Braut, dann Bräutigam an. Wahnsinn! Wie schnell doch im Paradies der Segen schief hängen konnte.

“Hören Sie zu, Jeannie”, sagte er geduldig, “hier gibt es keine Gespenster. Ich habe immerhin den größten Teil meines Lebens in diesem Haus verbracht, und irgendwann gab es sogar mal einen Stromausfall. Da war es stockdunkel, und spätestens in diesem Moment hätte sich mir der Geist doch gezeigt, meinen Sie nicht? Sie können es mir wirklich glauben, es gibt hier keine Gespenster.”

Obwohl er sich um einen beiläufigen Ton bemüht hatte, hörte er, dass zumindest in seinem letzten Satz eine gewisse Schärfe mitgeschwungen hatte. Diese idiotischen Gespenstergeschichten hingen ihm wirklich langsam zum Hals heraus.

“Da siehst du, was du angerichtet hast”, sagte Roger vorwurfsvoll zu Jeannie. “Großartig. Wir werden hier traumhafte Flitterwochen verleben, nachdem du den Hauseigentümer so vor den Kopf gestoßen hast.”

“Entschuldigen Sie, aber ich bin nicht verärgert, auch wenn es sich vielleicht so anhört”, beeilte sich Matt zu versichern. “Ich glaube nur einfach nicht an Geister. Hören Sie, Jeannie, heute war ein großer, anstrengender Tag für Sie, und ich bin mir sicher, dass Sie beide … bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie haben bestimmt auch etwas getrunken. Sie sind ganz einfach immer noch aufgeregt, Jeannie. Natürlich müssen Sie nicht in das Zimmer zurück. Wir holen Ihre Sachen, und dann können Sie und Roger für den Rest Ihrer Flitterwochen im Cottage wohnen; wie finden Sie das? Und jetzt macht Penny uns allen erst mal einen Tee, und ich räume drüben das Feld. Es dauert nur ein paar Minuten.”

Abrupt drehte sich Jeannie zu ihm um. Es sah fast so aus, als wollte sie sich in seine Arme zu werfen.

Tu das nicht, Jeannie, bitte! flehte Matt in Gedanken.

“Und warum schlägt niemand vor raufzugehen, um nachzusehen, ob da irgendwas im Zimmer ist?” fragte Jeannie erregt.

Matt hob beschwörend die Hände. “Ich werde sofort nachsehen.”

Er ging an den Neuvermählten vorbei die Treppe hinauf. Als er den ersten Absatz erreicht hatte, hörte er Roger wütend brummen: “Du lieber Himmel, Geister! Du bist eine Exhibitionistin, das ist alles. Du warst schon immer scharf auf Matt Stone, weißt du, Jeannie. Hast du endlich die passende Ausrede gefunden, um dich nackt vor ihm zu zeigen?”

“Roger Thomas! Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten, du Mistkerl!” flüsterte sie empört. Dann rief sie mit lauter Stimme: “Sie brauchen Ihre Sachen nicht zu holen, Matt, wir ziehen nicht um. Ich fahre nach Hause, und zwar auf der Stelle. Nach Hause zu meiner Familie! Da behandelt mich wenigstens niemand so, als ob ich den Verstand verloren hätte.”

“He, he, immer mit der Ruhe!” protestierte Penny gelassen. “Hören Sie, wir sind wirklich alle müde, aber wir werden der Angelegenheit auf den Grund gehen. Matt ist ein durch und durch pragmatischer Mensch und glaubt eben nicht an Geister, aber Sie sollten mit Ihrer Frau trotzdem nicht so hart sein, Roger. Es gibt nämlich jede Menge Leute, die fest davon überzeugt sind, dass es hier mehr als nur ein bisschen spukt, glauben Sie mir.”

Matt betrat unterdessen das Lee-Zimmer. Ganz wie erwartet, fand er dort absolut nichts Außergewöhnliches. Die Balkontüren standen offen, und die Vorhänge bauschten sich im Wind. Das war es wahrscheinlich gewesen, was der jungen Frau einen Schrecken eingejagt hat. Vielleicht hatte sie auch einfach eine blühende Fantasie. Sie redete sich so lange ein, dass es hier spukte, bis sie es am Ende wirklich geglaubt hat.

Sein Blick fiel auf Jeannies Negligee, das ihm allerdings zu durchsichtig erschien, um es mit nach unten zu nehmen. Ihr Mann würde nicht glücklich darüber sein, so viel war sicher. Deshalb ging er zum Schrank, in dem zwei schneeweiße flauschige Bademäntel mit eingesticktem Monogramm hingen – eine Anschaffung, auf der Penny bestanden hatte, damit den wenigen Gästen, an die er das Zimmer vermietete, zumindest einen Hauch von echtem Luxus geboten wurde. Er nahm einen Bademantel vom Bügel und eilte damit nach unten.

Penny, Jeannie und Roger waren mittlerweile in die Küche gegangen. Durch den alten Holzkohleherd, die antiken Pfannen und Töpfe aus Kupfer sowie die Kräutertöpfe auf den Gesimsen wirkte sie anheimelnd altmodisch. Der große Kühlschrank aber war ebenso modern wie die Gefriertruhe und der blitzblanke Herd aus Edelstahl – Einrichtungsgegenstände, die zur Ausrichtung der vielfältigen gesellschaftlichen Ereignisse, die hier stattfanden, von Wohltätigkeitsveranstaltungen bis Galadinners, unerlässlich waren.

Penny hatte mit dem frisch gebackenen Brautpaar am Tisch Platz genommen. Offenbar hatte sie den Tee in Windeseile zubereitet, denn als Matt in die Küche kam, nippten sie bereits alle an den großen Steingutbechern.

Aber die drei waren nicht mehr allein. In der Zwischenzeit hatten sich die übrigen Bewohner von Melody House zu ihnen gesellt, die wahrscheinlich von dem Geschrei aufgewacht waren. Ebenfalls mit am Tisch saß Matts Cousin Clint, der eines der Apartments über den Stallungen bewohnte. Als Matt Clints Blick begegnete, sah er in den Augen seines Cousins ein belustigtes Glitzern. Und auch Sam Arden, der Hausmeister – alt, hager und barsch, mit wirrem weißem Haar – war mit von der Partie. Zu guter Letzt war da noch Carter Sutton, ein alter Collegefreund von Clint, der eigentlich im Nachbarort wohnte. Ihm gehörten eine Menge Grundstücke in der Gegend, und er hatte sich erst kürzlich in der Nähe ein Haus gebaut. Da die Handwerker es aber immer noch besetzt hielten, wohnte er ebenfalls in einem Apartment über den Stallungen. Dieses Arrangement nutzte allen, weil der von seinen Zinserträgen lebende Carter, der gelegentlich zwar “reich an Papieren, aber knapp an Bargeld” war, wie er selbst sagte, sich freute, gegen Unterkunft und Verpflegung hin und wieder den Stallburschen oder Fremdenführer in Melody House geben zu können.

Matt reichte Jeannie wortlos den Bademantel und setzte sich dann an die Stirnseite des Tisches. Penny war gerade sichtlich beglückt dabei, ihre einschlägigen Kenntnisse der Geisterwelt vor den Versammelten auszubreiten, während Roger seine Frau immer noch davon zu überzeugen versuchte, dass da außer der Aufregung des Tages nichts gewesen war.

“Und falls da wirklich ein Geist war, hatte er wahrscheinlich mehr Angst als Sie”, versicherte Clint der Braut.

“Himmel, da sind wirklich Gespenster.” Sam nickte weise mit seinem alten Kopf.

“Bitte, Sam”, protestierte Matt.

“Es wollte mir etwas antun”, behauptete Jeannie.

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass Geister Menschen etwas antun”, wandte Carter ein. Sein Schnauzbart zuckte unter dem nur mühsam verkniffenen Grinsen.

“Er wollte es aber”, wiederholte Jeannie hartnäckig.

“Ich habe auch schon in diesem Zimmer geschlafen”, mischte sich Clint ein, “aber mir ist nichts passiert, ehrlich.”

“Ich kenne das Lee-Zimmer aus mehr als einer Nacht und habe nur die allerangenehmsten Erinnerungen daran”, versicherte Carter der Braut mit einem Augenzwinkern.

Sie wurde rot und lachte verlegen.

“Matt, ich habe Ihnen auch Tee eingeschenkt”, sagte Penny. “Nehmen Sie.”

“Danke. Ich trinke ihn später. Ich will vorher nur noch rasch meine Sachen rüberholen.” Er wandte sich dem Brautpaar zu. “Damit Sie gleich umziehen können.”

“Hören Sie, Mr. Stone, es ist mir wirklich peinlich, und ich … ich möchte Ihnen nicht noch mehr Unannehmlichkeiten machen”, sagte Roger.

“Ich werde aber in diesem Haus kein Auge mehr zubekommen”, jammerte Jeannie.

“Es ist wirklich kein Problem”, versicherte Matt den beiden.

Er wollte im Moment einfach nur weg hier – vor allem deshalb, weil er absolut keine Lust hatte, sich noch eine weitere von Pennys Geschichten anzuhören. Er gestattete ihr einmal pro Woche – sie entschied sich immer für den Freitag oder Samstag – eine Führung mit dem Titel “Melody House und seine Legenden” zu machen, die sie zum Anlass nahm, alle möglichen haarsträubenden Anekdoten über das Haus zum Besten zu geben, in dem angeblich Geister, unter denen auch die Geister historischer Berühmtheiten sein sollten, herumspukten.

Sie hatte diese Führungen “Gespensterreise” nennen wollen, aber das hatte Matt sich vehement verbeten. Doch nachdem sie es tatsächlich geschafft hatte, auch so zahlende Touristen anzulocken – Leute aus Williamsburg, Richmond, Harpers Ferry oder sogar D.C. – hatte er ihr weitgehend freie Hand gelassen. Nach der ersten Hälfte der Veranstaltung reichte sie Apfelmost, Tee, Plätzchen und Blätterteiggebäck, und in einem musste er ihr Recht geben: Dank dieser Führungen konnten sie viele Rechnungen bezahlen. Deshalb duldete Matt den Zirkus, auch wenn ihm das Ganze immer noch ganz und gar nicht schmeckte.

“Geh ruhig, Matt, wir unterhalten sie schon, bis du fertig bist”, meinte Clint.

“Danke”, sagte Matt trocken und überließ sie ihrer Debatte über die Existenz oder Nichtexistenz von Geistern.

Eine Stunde später lag Matt wieder in seiner Suite im Haupthaus. Zuvor hatten er und Penny und Roger sehr zur Beruhigung der jungen Frau die Sachen des Brautpaars ins Cottage gebracht.

Matt war kaum eingeschlafen, als er von einem Klingeln geweckt wurde. Verschlafen versuchte er den Wecker abzustellen, und es dauerte einen Moment, bis ihm dämmerte, dass nicht der Wecker, sondern das Telefon klingelte. Es war einer seiner Angestellten, der aufgeregt in den Apparat rief, dass Matt sich beeilen solle. Ein Fall von häuslicher Gewalt drohe zu eskalieren.

Während Matt hastig in seine Kleider schlüpfte, dachte er sowohl an den Teil der Nacht, der hinter ihm lag, wie auch an den kommenden Tag. Da war sie wieder – die Wahrheit. Wie früher schon sein Dad zu ihm gesagt hatte, wenn es ihm als Kind auf einem Friedhof gegruselt hatte: Vor den Toten brauchte man keine Angst zu haben.

Es waren die Lebenden, vor denen man sich in Acht nehmen musste.

Der auf diese unruhige Nacht folgende Tag war für Matt die Hölle. Begonnen hatte er wenige Stunden nach Mitternacht mit dem Ehekrach der Creekmores, weil der alte Harry gedroht hatte, seine ganze Familie umzubringen, da seine Frau, wie er behauptete, in der Gegend herumhure, und er nicht einmal wüsste, ob die Kinder tatsächlich von ihm waren. Thayer hatte sich bemüht, die Situation bis zu Matts Eintreffen so gut es ging unter Kontrolle zu halten. Matt hatte Harry erst mit Engelszungen überreden müssen, die Tür zu öffnen, dann hatte er eine Flasche Whiskey mit ihm geleert, von der Matt allerdings kaum etwas trank, und versucht, den aufgebrachten Mann davon zu überzeugen, einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Irgendwann war Harry dann so voll gewesen, dass er am Tisch einschlief, was Matt zum Anlass nahm, ihm die Schrotflinte abzunehmen und ihn zum Ausnüchtern in seine Kammer zu hieven.

Und so ähnlich ging es die ganze Woche weiter, und sein einziger Trost war, dass er das glückliche junge Paar Tag und Nacht im Swimmingpool herumplanschen hörte.

Irgendwann kam Jeannie auch zu ihm, um sich wortreich dafür zu bedanken, dass er sie in jener ersten Nacht nicht einfach an die Luft gesetzt hatte. Sie versicherte ihm, dass sie sich ihre Flitterwochen niemals so schön hätte ausmalen können und wie sie jede Minute genossen.

Den Geist hatte sie in der Zwischenzeit offensichtlich längst vergessen, worüber Matt sehr froh war.

Ganz im Gegensatz zu Penny. Sie beharrte weiter darauf, dass es im Haus spukte, und dass er, Matt, ein Dummkopf war, weil er nicht auf sie hörte. Sie schwor Stein und Bein, dass bald irgendetwas Schlimmes passieren würde oder – wenn man es positiv sah – dass sie kurz davor waren zu beweisen, dass der Geist wirklich existierte. Und wenn das stimmte, brauchten sie sich nie wieder den Kopf darüber zu zerbrechen, woher sie das Geld für den Unterhalt des Hauses nehmen sollten. So zumindest sah es Penny.

Schließlich reiste das junge Brautpaar ab, und alles ging kurzfristig seinen gewohnten Gang, bis Penny wieder mit dem Thema anfing und ihn bekniete, eine Séance abhalten zu dürfen.

Matt wehrte sich, so gut er konnte. Er flehte sie an, ihn mit diesem Blödsinn in Ruhe zu lassen, besonders jetzt, wo er bis über beide Ohren in Arbeit steckte.

Penny wollte schon nachgeben und sich mit ihren wöchentlichen Führungen begnügen, als dieser Brief von Adam Harrison von Harrison Investigations kam.

Vier Wochen später blieb Clara Issy, eine der fünf Angestellten, die Matt in Melody House beschäftigte, abrupt stehen.

Es war ein sonniger Morgen. Das schöne, antik eingerichtete Schlafzimmer sah genauso aus wie immer. Das Bett mit seinen vier glänzenden Pfosten und der Patchwork-Tagesdecke, die Clara gerade darüber gebreitet hatte, stand mit dem Kopfteil an der Wand. Die elektronischen Geräte in dem auf Hochglanz polierten Mahagonisekretär verliehen dem Möbelstück einen modernen Anstrich. Der Fernseher war ausgeschaltet. Weil es ein sonniger Tag war, standen die großen Flügeltüren, die auf einen rund um das Haus herumführenden Balkon führten, offen, und die weißen Vorhänge wehten leicht im Wind. Daran war nichts Ungewöhnliches, und Clara liebte diese lichtdurchflutete, samtene Atmosphäre des Sommers. Nein, mit dem Raum selbst war alles so wie immer.

Trotzdem stand sie wie erstarrt neben der geöffneten Balkontür und starrte auf einen Punkt.

Obwohl außer ihr niemand im Zimmer war, bewegte sich etwas. Etwas, das vom Bett wegdriftete. Etwas, das seine Form veränderte, etwas Kaltes, das etwas ausgesprochen Bedrohliches hatte.

Es näherte sich Clara. Sie spürte, dass es ihr Gesicht berührte, es war fast so, als ob Finger über ihre Wange strichen. Eiskalte Finger. Totenfinger. Sie glaubte ein Flüstern zu hören. Heiser, ganz nah an ihrem Ohr. Etwas, das flehte … oder drohte.

Ihre Hände umklammerten den Besenstiel so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Eiszapfen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Die Kälte … sie hüllte sie ein. Undurchdringlich. Und noch undurchdringlicher.

Endlich machte sie ihren Mund wieder zu. Fest. Doch dann riss sie ihn erneut auf und versuchte zu schreien, aber alles, was herauskam, war ein kaum hörbares Ächzen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

Schließlich fand sie die Kraft und rannte aus dem Zimmer.

Auf dem Flur im ersten Stock war niemand. Clara raste wie der Blitz nach unten ins große Foyer, aber auch dort war niemand. Deshalb rannte sie auf den zweiten Flur rechts neben der Wendeltreppe. Bestimmt arbeitete jemand in einem der beiden Büros, und wenn es auch nur Penny war – eine kleine Bastion gegen das Böse war immer noch besser als gar keine.

Als eine Sekunde später Claras Blick auf Matt fiel, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. Gott sei Dank, Matt! Er stand schon im Arbeitsanzug auf der Schwelle zu seinem Büro, hatte das Haus aber zum Glück noch nicht verlassen.

Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu. “Clara! Um Himmels willen, was ist denn los?”

Sie war fünfundfünfzig. Zwei Jahrzehnte älter als er, mindestens. Aber Matt war Matt – solide wie ein Fels. Ein hoch gewachsener Mann im besten Alter, mit einer respektgebietenden Art, die ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelte und es ihr erlaubte, einen Ton herauszubringen, obwohl ihre Lippen sich vor Angst immer noch ganz starr anfühlten.

“Ich … ich kündige”, keuchte sie.

“Clara, was um alles in der Welt ist passiert?” fragte er ruhig und fasste sie an den Schultern, damit sie seinem Blick nicht ausweichen konnte.

“Ich sage es Ihnen, diese Braut war nicht verrückt. In dem Zimmer ist wirklich ein Geist!”

“Oh, Clara, bitte! Wir kennen beide die Märchen, die man sich über dieses Haus erzählt. Wir haben sie praktisch mit der Muttermilch eingesogen. Aber ich bitte Sie, wir leben doch trotzdem seit Jahren relativ unbehelligt hier, oder etwa nicht? Ernsthaft, auch auf die Gefahr hin, dass ich Sie langweile, aber ich betone es noch mal: Es gibt keine Geister. Ende der Durchsage. Manchmal wollen die Leute, dass es sie gibt. Penny wünscht sich brennend ein paar Gespenster, damit noch mehr Touristen ihr Geld bei uns lassen. Heutzutage reicht es offenbar nicht aus, wenn ein Haus eine historische Sehenswürdigkeit ist, nein, da muss es gleich spuken.”

“Aber da ist ein Geist im Lee-Zimmer, ich schwöre es Ihnen. Er hat mich sogar angefasst.” Clara hatte sich inzwischen etwas gefasst und stemmte die Hände in die Hüften. “Wie lange kennen Sie mich jetzt schon? Eine Ewigkeit, oder? Und war ich nicht immer Ihrer Meinung, dass dieses Gerede über Geister Blödsinn ist? Aber Sie müssen mir glauben – in diesem Zimmer ist irgendetwas. Es hat mich bedroht. Wirklich, Matt, ich habe es mir nicht eingebildet, es war real. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Kommen Sie mit, und schauen Sie selbst.”

Matt stieß einen tiefen Seufzer aus. Doch da die Beunruhigung in ihren Augen nicht zu übersehen war, willigte er zähneknirschend ein. “Also gut, Clara, sehen wir nach.”

Dicht hinter Matt folgte Clara ihm nach oben ins Lee-Zimmer, und wie Matt erwartet hatte, fanden sie dort nichts Ungewöhnliches.

Clara hob ihren Besen auf. “Ich stand hier.”

“Clara, vielleicht haben Sie gesehen, wie sich die Vorhänge im Wind bewegt haben. Die Balkontüren stehen offen.”

Clara straffte beleidigt die Schultern. Sie konnte Matt förmlich ansehen, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um nicht die Geduld zu verlieren. “Ich kann sehr gut zwischen Vorhängen, die im Wind wehen, und einem Geist unterscheiden!”

Matt fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar und schüttelte den Kopf. “Clara, ich weiß einfach nicht mehr, was ich dazu noch sagen soll. Da ist nichts.”

Clara schnaubte. “Ja, weil es jetzt weg ist. Aber es war da, Matt, ich schwöre es Ihnen. Warum glauben Sie mir nicht? Das ist wirklich nicht normal. Und wie lange ist es jetzt her, seit diese Braut mitten in der Nacht schreiend und splitternackt die Treppe runtergerannt kam? Noch gar nicht lange. Ich war zwar nicht dabei, als es passierte, aber ich habe genug darüber gehört.” Clara machte eine Pause und nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. “Na ja, ich gebe schon zu, dass ich damals auch nur darüber gelacht habe, aber jetzt weiß ich, dass hier was nicht stimmt, Matt.”

“Hören Sie, Clara, Jeannie Thomas hat später zugegeben, dass sie an diesem Abend eine ganze Menge getrunken hatte. Und ihr Mann hat absolut nichts gesehen oder gehört, was am Ende noch dazu führte, dass sich die beiden in ihrer Hochzeitsnacht schrecklich gestritten haben. Jeannie wollte damals unbedingt dieses Zimmer haben, weil sie gehört hatte, dass es hier angeblich spukt. Begreifen Sie denn nicht, was das heißt? Die Braut wollte sich in ihrer Hochzeitsnacht richtig schön gruseln, und dann hat ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt, mehr war es nicht. Jetzt kommen Sie schon, Clara! Sie sind doch eine vernünftige Frau. Tief innen drin wissen Sie doch, dass Sie sich die Sache nur eingebildet haben.”

“Nein, Matt, ich kündige.”

“Oh, Clara!”

Sie wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, eine Angestellte zu verlieren.

“Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag, Clara. Was halten Sie davon, wenn Sie bleiben, aber dieses Zimmer nicht mehr sauber machen. Wie wäre das?”

Sie überlegte einen Moment. “Wer macht es denn dann?”

“Wir werden Penny bitten, sich darum zu kümmern. Penny findet es großartig, dass es hier spukt. Und vielleicht trickst sie ja auch nur ein bisschen herum, weil sie sich doch so brennend ein echtes Gespenst wünscht. Oder vielleicht ist jemand … ach, was weiß denn ich … eingebrochen vielleicht, und hat hier irgendetwas aufgeführt.”

“Was denn?” fragte Clara ungläubig.

“Keine Ahnung”, brummte er ungehalten.

Clara stemmte wieder die Hände in die Hüften und fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. “Und wer bitte schön sollte das sein? Wer würde denn die Frechheit besitzen, in das Haus des Sheriffs einzubrechen?”

“Ich weiß es nicht. Aber da Sie sich so sicher sind, dass hier jemand war, habe ich die Absicht herauszufinden, wer.”

Clara schüttelte den Kopf. “Nein, wir beide haben uns die ganze Zeit etwas vorgemacht, Matt. Es kann nämlich wirklich sein, dass es in diesem Haus spukt, und dieses Zimmer hier ist … bedrohlich!”

“Geister bedrohen keine Menschen, Clara.”

Clara schüttelte wieder energisch den Kopf und wirkte plötzlich sehr weise. “Nun, Mr. Matt, dazu muss ich leider sagen, dass das absolut nicht stimmt. Haben Sie noch nie von der Bell Witch aus Tennessee gehört? Angeblich soll sogar der alte Andrew Jackson vor ihr Angst gehabt haben. Sie hat die Leute an den Haaren gezogen, die Kinder herumgeschubst, und sie soll sogar den Tod des Hausherrn verschuldet haben. Sie wollen einfach nicht zugeben, dass nicht alles rational erklärbar ist und verschließen sogar vor Dingen, die in Ihrem eigenen Haus vorgehen, die Augen.”

Matt lehnte sich lächelnd gegen den Türrahmen. “Jetzt sage ich es noch einmal, Clara: Ich glaube daran, dass sich Leute bestimmte Dinge so einbilden können, dass sie real werden.”

“Dann glauben Sie also, dass der alte Andy Jackson besonders fantasiebegabt war?”

“Dass Andrew Jackson Angst vor Geistern hatte, müssen Sie mir schon schriftlich geben. Aber bitte nicht in Form eines Artikels aus irgendeinem dubiosen Blättchen für Okkultisten oder einem der zahlreichen Bücher mit Geistergeschichten.”

Clara deutete mit dem Finger auf ihn. “So, jetzt sag ich Ihnen mal was, Mr. Matt. Sie sollten lieber etwas unternehmen, bevor es zu spät ist und die Geschichten über dieses Haus so real werden, dass sich kein Mensch mehr her traut. Allein mit dem, was Sie als Sheriff verdienen, werden Sie die Instandhaltungskosten für dieses Haus nämlich nicht aufbringen können.”

“Vielen Dank, Clara, ich werde Ihren Rat beherzigen. Andererseits ist Penny felsenfest davon überzeugt, dass wir bald steinreich sind, wenn wir es erst schriftlich haben, dass es hier …” Irritiert hielt Matt in seinem Vortrag inne. “Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?”

“Mit meinem Gesicht?” Fragend sah Clara ihn an und ging zum Spiegel hinüber. Auf ihrer Wange war ein roter Fleck, ganz so, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätte.

Wütend drehte sie sich um. “Aber Geister tun ja niemandem was, stimmts?”

“Clara”, erwiderte Matt beherrscht, “ich glaube, es reicht. Sie werden sich in Ihrer Panik irgendwo gestoßen haben.”

Clara schaute ihn scharf an und schüttelte den Kopf. “Nein, ich habe mich garantiert nicht gestoßen. Das hätte ich wohl gemerkt! Hören Sie, Matt, es gibt da diese alten Geschichten, die man sich schon seit vielen Jahren erzählt. Zum Beispiel von den Bürgerkriegssoldaten, die angeblich unten durch die Zimmer spazieren. Oder die Frau in Weiß auf der Treppe. Das sind lauter Gespenster aus der Vergangenheit. Aber erst nach dem Tod Ihres Großvaters ist es wirklich ernst geworden. Erinnern Sie sich noch daran, wie Randy Gustav seine Sachen gepackt hat, nachdem er nur eine Nacht im Lee-Zimmer verbracht hatte? Er wollte Ihnen nicht mal erzählen, was passiert war. Es ist erst seit ein paar Jahren so, dass … dass die Geister eine Art Bedrohung darstellen.”

“Es gibt keine Geister!”

“Ach ja? Nur dass ich einen roten Fleck auf der Wange habe und nicht weiß wovon.”

Damit verließ Clara verärgert das Zimmer und rief ihm über die Schulter noch zu: “Okay, Matt, weil Sie es sind, bleibe ich, aber egal, ob Sie es mir glauben oder nicht, Sie sollten wirklich etwas gegen diesen Geist unternehmen – der existiert garantiert nicht nur in meinem Kopf.”

An diesem Abend, an dem er sehr spät von der Arbeit nach Hause gekommen war, sah Matt gerade an seinem Schreibtisch im Haupthaus die Post durch, als es klopfte.

“Herein.”

Penny steckte ihren Kopf durch den Türspalt. “Störe ich, Matt?”

“Gar nicht.”

Sie kam ins Zimmer und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. “Hören Sie, Matt, Sie müssen wegen dieser Sache mit Clara irgendetwas unternehmen.”

“So?” Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

“Clara wurde verletzt!”

“Penny, bitte. Es tut mir Leid, ich halte wirklich große Stücke auf Clara, wir kennen uns schon lange, und ich habe ihr den Rest des Tages freigegeben. Aber alles andere – nein. Sie muss sich irgendwo gestoßen haben.”

Penny schüttelte den Kopf.

Er beugte sich unvermittelt vor. “Sagen Sie, Penny, Sie führen doch da oben nicht etwa irgendetwas auf, um dem Rest der Welt – einschließlich meiner Wenigkeit – zu beweisen, dass es hier spukt, oder?”

Sie schaute ihn so gekränkt an, dass er seine Worte sofort bereute.

“Also wirklich, Matt, ich würde nie …”

“Dann vielleicht jemand anders.”

“Na ja, vielleicht”, räumte Penny widerstrebend ein. Dann aber hob sie mahnend einen Zeigefinger. “Wissen Sie, manchmal sind Sie einfach zu vertrauensselig. Zu diesem Haus haben einfach zu viele Leute Zugang.”

“Ich bin überhaupt nicht vertrauensselig, Penny. Aber wir leben hier schließlich in einer Kleinstadt.”

Penny zuckte die Schultern. “Sicher, das stimmt natürlich. Aber warum können Sie es nicht einfach akzeptieren, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht?”

“Penny, Sie wünschen sich seit Jahren nichts sehnlicher als einen echten Geist.”

Penny, die plötzlich besorgt wirkte, schüttelte wieder den Kopf. Gleich darauf stutzte sie und schaute sich suchend auf seinem Schreibtisch um. “Was ist eigentlich aus diesem Brief von Harrison Investigations geworden? Rufen Sie Adams an. Sie halten doch etwas von ihm. Er war immerhin mit Ihrem Großvater befreundet.”

Matt stöhnte.

“Bitte, Matt. Sie vermuten, dass irgendwer hier im Haus sein Unwesen treiben könnte. Dann lassen Sie doch da Adam mal ran. Er kann Ihnen bestimmt bald sagen, was real ist und was nicht.”

“Für ihn ist real, was er für real hält”, brummte Matt.

“Hören Sie, ich verfolge seine Arbeit ein bisschen. Er versucht nicht, den Leuten irgendeinen Unfug einzureden. Er untersucht unerklärliche Phänomene sehr kritisch. Letztes Jahr hat er zum Beispiel nachgewiesen, dass ein angeblicher Spuk in einer Goldmine nur ein Schwindel war, an dem sich jemand bereichern wollte.”

“Großartig. Ich lasse Geisterjäger kommen und mache mich zum Gespött der ganzen Stadt. Dann kann ich ja gleich auswandern.”

Penny schüttelte den Kopf. “Matt, man könnte es doch wenigstens versuchen.” Sie rutschte von der Schreibtischkante herunter. “Bitte, versprechen Sie mir, wenigstens darüber nachzudenken.”

Damit verließ sie das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Matt trat auf den Balkon hinaus. Es war Vollmond. In der Ferne konnte er die vagen Umrisse der Berge erkennen. Gott, er liebte diese Gegend. Und er liebte dieses alte Haus.

Nachdenklich kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück. Der rote Fleck auf Claras Wange … es hatte wirklich so ausgesehen, als ob jemand sie geschlagen hätte. Er glaubte zwar immer noch nicht an Geister, aber …

Er dachte an die Leute, die hier wohnten. Penny, Sam, Clint, Carter, ab und zu Clara und gelegentlich irgendwelche Freunde oder Verwandte. War es möglich, dass einer von ihnen hier einen faulen Zauber veranstaltete?

Er ging ins Lee-Zimmer, warf einen Blick unters Bett, einen in den Schrank und schaute sich danach im ganzen Raum gründlich um. Nichts. Absolut nichts.

Und dennoch …

Er kehrte in seine eigene Suite zurück, drehte einen Moment Adam Harrisons Brief in den Händen, dann griff er nach dem Telefonhörer und wählte Harrisons Nummer.

“Hallo, Matt. Freut mich, von Ihnen zu hören.”

“Haben Sie meinen Anruf erwartet?” erkundigte sich Matt trocken.

“Nein. Diesmal nicht.”

“Sie wissen, dass ich nicht an übersinnliche Phänomene glaube.”

“Das ist mir bewusst.”

“Wenn ich Sie bitte herzukommen, dann nur, weil ich will, dass Sie zweifelsfrei nachweisen, dass hier keine Gespenster ihr Unwesen treiben.”

“Man wird sehen”, sagte Adam.

“Wann können Sie kommen?”

“Mein Terminkalender ist ziemlich voll, aber … ich werde mich bemühen, es so bald wie möglich einzurichten.”

“Und Sie beabsichtigen, mich dafür zu bezahlen, dass ich Sie in mein Haus lasse, so wie es in Ihrem Brief steht?”

“Ja. Mir liegt wirklich viel daran, mich bei Ihnen ein bisschen umsehen zu dürfen.”

“Um die Mittagszeit finden Sie mich gewöhnlich im Wayside Inn.”

“In Ordnung, meine Sekretärin wird Sie anrufen und einen Termin vereinbaren.”

“Gut”, sagte Matt. “Ich freue mich darauf, Sie zu sehen, Adam.”

Adam Harrison wollte offenbar gerade noch etwas sagen, aber Matt hatte schon aufgelegt. Noch während er auf den Hörer schaute, fragte er sich, ob er nicht einen Riesenfehler gemacht hatte.

Am anderen Ende der Leitung starrte Adam Harrison ebenfalls auf sein Telefon. Allerdings nicht nachdenklich, sondern eher belustigt. Er hatte Matt immer gemocht. “So, mein Junge. Jetzt sollst du deine Lektion bekommen. Gegen einen echten Geist kommt man nämlich selbst mit noch so viel Mut, Verstand und Muskelkraft nicht an”, sagte er leise. “Nun gut.”

Er hatte Matt eigentlich noch sagen wollen, dass er seine beste Mitarbeiterin vorschicken würde, wenn er selbst nicht gleich kommen könnte. Darcy kam mit jedem zurecht, egal ob lebendig …

… oder tot.

2. KAPITEL

Ab dem Moment, in dem Darcy die Kneipe betrat, fühlte sie sich entschieden im Nachteil.

Die Bar nannte sich Wayside Inn. Bubbas Nostalgieschuppen wäre ein besserer Name gewesen.

Die dichte Wolke aus Zigarettenrauch, die Darcy beim Öffnen der Tür entgegenschlug, haute sie fast um; der Qualm hing wie Nebelschwaden über den uralten, mit Plastik bezogenen Sitzbänken und Barhockern. Links von ihr standen zwei ramponierte Poolbillardtische und eine kleine Tanzfläche.

Und sogar ein paar Spucknäpfe für Leute, die Tabak kauten.

Als sie eintrat und die Tür hinter sich schloss, wurde es schlagartig mucksmäuschenstill. Die vier Männer am Billardtisch hörten auf zu spielen und schauten ebenso in ihre Richtung wie die Leute, die neben ihnen standen und die Partie beobachteten. Die mollige Frau hinter der Theke, die ihr Haar zu etwas gestylt hatte, was wie ein 60er-Jahre-Bienenstock aussah, und Gläser spülte, schaute ebenfalls auf, genau wie die Männer, die an einem der verschrammten Holztische im Essbereich saßen.

Vom Qualm eingenebelt wartete Darcy, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Wobei ihr allerdings auf Anhieb klar wurde, dass es besser gewesen wäre, wenn nicht sie, sondern Adam gekommen wäre. Und zwar am besten in ausgewaschenen Jeans und einem uralten karierten Arbeitshemd. Obwohl Adam so etwas normalerweise nie anzog, aber er war ein zu allem entschlossener Mann. Und aus irgendeinem Grund wollte er unbedingt Zugang zu Melody House bekommen.

Darcy hingegen trug ein elegantes Straßenkostüm – ihre normale Arbeitskleidung, wie sie sich vor sich selbst zu rechtfertigen versuchte, als ihr klar wurde, wie fehl am Platz sie in diesem Aufzug wirkte. Aber obwohl sie nicht damit gerechnet hatte, dass das Wayside Inn ein Fünfsternerestaurant war, hätte sie doch einen etwas weniger … einfachen Laden erwartet.

“Kann ich irgendetwas für Sie tun, Honey?” fragte die mollige Frau hinter der Theke. Die Stimme war warm und freundlich und machte ihr ein bisschen Mut. Darcy bedankte sich mit einem Lächeln. Aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, erhob sich einer der Männer von den Tischen im Essbereich.

“Miss?”

Er war hoch gewachsen und ein wenig schlaksig, und als er lächelte, sah sie, dass er immerhin noch alle Zähne im Mund hatte und ein Grübchen in der linken Wange. Er hatte hellbraune Augen und eine gewinnende Art und strahlte mit jedem Wort und jeder Geste den viel gerühmten Südstaatencharme aus.

“Ich suche Matt Stone. Man hat mir gesagt, dass ich ihn um die Mittagszeit hier finden kann.” Sie hoffte, dass einer der Männer Stone kannte. Auf die Idee, dass er einer von ihnen sein könnte, kam sie nicht, da sie sich in ihrer Vorstellung bereits ein festes Bild von ihm gemacht hatte, das zu keinem der Typen hier passte. Er war der Nachfahre eines Mannes, der zu Zeiten der Unabhängigkeitserklärung so etwas wie ein Staatsmann gewesen war. Folglich müsste er groß sein, sich so kerzengerade halten, als ob er einen Stock verschluckt hätte, und sich unglaublich würdevoll gebärden. Er gehörte wahrscheinlich zu der Sorte Mann, die um Tische saßen, die noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammten, und die ständig nur über vergangene Zeiten redeten. Und zu allem Überfluss würde er auch noch uralt sein.

“He, Honey, nehmen Sie einfach mit mir vorlieb!” rief einer der Billardspieler.

“Benimm dich, Carter”, sagte ein anderer, und ein dritter lachte leise auf.

Am Tisch erhob sich jetzt noch ein zweiter Mann.

“Kommen Sie, nehmen Sie Platz”, sagte er.

Sie musste zugeben, dass die Jeans, die der Mann anhatte, ziemlich gut saß, ja, dass sie regelrecht an den schmalen Hüften und den langen muskulösen Beinen klebte. Er trug sogar hier drin – in diesem fürchterlichen Qualm – eine Sonnenbrille, aber vielleicht tat ihm ja der Rauch in den Augen weh. Er war garantiert über einsneunzig groß, mit schwarzen Haaren, die eine Spur zu lang waren, dafür aber offensichtlich frisch gewaschen. Sie schätzte ihn um die dreißig, fünfunddreißig vielleicht. Glatt rasiertes Kinn, energische, wie gemeißelt wirkende Gesichtszüge. Doch während der erste Typ sie sofort entgegenkommend angegrinst hatte, verzog der hier keine Miene, sodass sein Gesicht aussah wie aus dem Mount Rushmore gehauen. Obwohl er höflich aufgestanden war und ihr einen Stuhl angeboten hatte, wirkte er irgendwie ungnädig.

Sie ging zu dem Tisch. Der erste Typ – der mit dem Grübchen – hatte ihr einladend einen Stuhl hingeschoben. Sie musterte kurz die beiden anderen Männer, die am Tisch saßen und jetzt aufstanden. Einer war schon älter, stark ergraut, mit einem weißen Bart. Darcy stellte ihn sich in einer braungrauen Konföderiertenuniform vor. Der Vierte in der Runde war ebenfalls um die dreißig. Er trug einen ordentlichen Haarschnitt und sogar ein anständiges Hemd zu einer Hose mit Bügelfalte.

“Worum geht es denn?” fragte der hoch gewachsene Mann mit dem gemeißelten Gesicht abrupt, während er sich wieder setzte. Alle schauten sie an.

“Mein Name ist Darcy Tremayne. Ich bin hier mit Matt Stone verabredet. Kennen Sie ihn?”

Sie sprach ruhig und höflich – immerhin war sie geschäftlich hier. Aber sie spürte plötzlich eine feindselige Atmosphäre. So feindselig, dass sie am liebsten aufgesprungen und weggelaufen wäre.

“Was wollen Sie denn von ihm?” fragte der große schlaksige Typ mit dem Grübchen.

Sie kam nicht dazu zu antworten, weil ihr der Mann, den sie in Gedanken “das gemeißelte Gesicht” nannte, das Wort abschnitt. “Gehören Sie zu diesen Übersinnlichen?” fragte er abfällig.

Darcy zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Und sei freundlich zu den Einheimischen, hatte Adam sie ermahnt.

Na schön, dann würde sie eben freundlich sein. “Wenn Sie es so bezeichnen wollen. Ich arbeite für Harrison Investigations”, gab sie vorsichtig zurück. Sie kannte die Vorbehalte, die ihr in Kleinstädten immer wieder entgegengebracht wurden. Die Menschen hier tickten einfach anders als in New York oder in D.C., wo sie jetzt schon viele Jahre lebte.

“Dann sind Sie also eine leibhaftige Geisterjägerin?” scherzte der Typ mit dem Grübchen.

“Geisterjägerin?” Sie zog wieder eine Augenbraue hoch und lehnte sich zurück, entschlossen, gelassen, freundlich und würdevoll zu bleiben. “Harrison Investigations ist eine kleine Firma, die unerklärliche Phänomene untersucht.” Sie lächelte. “Meistens finden wir in den Häusern nur knarrende Dielenbretter und tropfende Wasserhähne, aber wenn ein Gebäude so alt ist und historisch so bedeutsam wie Melody House, treten manchmal die erstaunlichsten Dinge zu Tage.”

“Melody House ist wirklich verdammt alt”, sagte der Mann mit dem Grübchen und grinste wieder.

Jetzt ergriff der Weißhaarige das Wort: “Ms. Tremayne, es gibt viele Leute, die da draußen in Melody House einen Riesenrummel veranstalten und alle möglichen Überwachungskameras und Abhörgeräte aufstellen wollen. Aber der Eigentümer hat sich bisher strikt geweigert.”

“Ja, und genau aus diesem Grund bin ich mit Matt Stone verabredet. Mr. Harrison und er sind alte Bekannte. Mr. Stone weiß, dass wir keinerlei Sensationsheischerei betreiben, sondern sehr diskret vorgehen. Aber natürlich verstehe ich Mr. Stones Bedenken. Ich bin überzeugt davon, dass viele Leute glauben, man könnte mit Geistern tüchtig absahnen.”

“Ah ja, ich verstehe”, mischte sich das gemeißelte Gesicht ein. “Und Ihnen geht es also allein um die Sache und keinesfalls darum, mit Geistern Geld zu verdienen, verstehe ich das richtig?” Seine Stimme war tief und ruhig, aber der Spott, der darin mitschwang, war nicht zu überhören.

“Wir versuchen lediglich, für bestimmte Phänomene eine Erklärung zu finden, wenn auch nicht unbedingt eine rationale. Wir sind Forscher.”

“Hm”, brummte das gemeißelte Gesicht skeptisch. Dann musterte er sie eingehend. “Sie sagen, dass Sie meistens nur knarrende Dielenbretter oder tropfende Wasserhähne vorfinden. Was passiert, wenn es mal anders ist?”

“Dann tun wir unser Bestes, um die Angelegenheit zu bereinigen”, gab sie zurück, wobei sie sich wünschte, sich nicht auf diese Unterhaltung eingelassen zu haben. Die forschenden Blicke der anderen waren ihr sehr wohl bewusst.

“Und wie macht man das? Auf seriöse Art und Weise, meine ich natürlich.”

Sie zögerte. Eigentlich hatte sie es wirklich nicht nötig, ein solches Gespräch zu führen; der Einzige, mit dem sie sich auseinander setzen musste, war Matt Stone. Aber sie war nun einmal hier gelandet, und Adam hatte ihr ans Herz gelegt, sich mit den Einheimischen gut zu stellen. Auf diese Weise kam sie vielleicht an Informationen, die sich unter Umständen als hilfreich erweisen könnten.

“Wissen Sie, so mancher Hauseigentümer wünscht sich einen Geist, der ab und zu an Wände klopft oder mit seinen Ketten rasselt, um auf diese Weise Touristen anzulocken. Man braucht nur fernzusehen, um zu wissen, dass es viele Leute gibt, die sich gern ein bisschen gruseln. Und wir versuchen herauszufinden, ob es da wirklich ein unerklärliches Phänomen gibt oder ob es ein Schwindel ist. Aber wenn sich herausstellt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, versuchen wir uns ihm auf unsere ganz besondere Art und Weise zu nähern”, erklärte Darcy, wobei sie den Typ mit dem gemeißelten Gesicht fest im Blick behielt.

Plötzlich ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie sich von diesen good old boys hatte einschüchtern lassen. Himmel. Sie hatte schließlich lange genug in einer ganz ähnlichen Umgebung gelebt, um solche Typen einschätzen und ihnen Kontra geben zu können. Und mit Skeptikern, die glaubten, sie mit Hohn und Spott überschütten zu können, hatte sie auch genug Erfahrung. Im Übrigen war sie hier niemandem Rechenschaft schuldig.

Sie beschloss, dass sie jetzt umgänglich genug gewesen war.

“Entschuldigen Sie bitte, meine Herren, aber ich muss leider gehen. Ich werde mit Mr. Stone einen neuen Termin vereinbaren.”

“Ich weiß nicht, aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob ich Sie von irgendwoher kenne”, sagte Grübchengesicht plötzlich. Und grinste wieder träge. “Ich könnte schwören, dass ich Ihr Gesicht schon mal irgendwo gesehen habe.”

Darcy zögerte. Jetzt brauchte sie bloß noch zu erzählen, dass sie während ihres Studiums für eine bekannte Kosmetikfirma Werbung gemacht hatte, dann würde sie hier überhaupt niemand mehr ernst nehmen.

“Ich bin mir sicher, dass wir uns nie getroffen haben”, sagte sie jedoch nur höflich. “Besten Dank, aber entschuldigen Sie mich bitte.”

“Ah, ich habs. ‘Original Sin’“, sagte Grübchengesicht triumphierend. Dann grinste er ein bisschen verlegen. “Am Ende hab ich mir doch tatsächlich das After Shave gekauft. Ihr Gesicht lächelte von allen Plakatwänden.”

Sogar hier, in diesem Kaff? hätte sie fast gesagt, aber dann schämte sie sich für ihre Arroganz.

“Das war nur vorübergehend”, sagte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben. “Während meines Studiums. Ich habe an der NYU amerikanische Geschichte und Soziologie studiert.”

“Soweit ich weiß, wollte Adam Harrison persönlich kommen”, bemerkte das gemeißelte Gesicht.

Darcy musste sich beherrschen, um nicht deutlich mit den Zähnen zu knirschen. “Ja, das wird er auch irgendwann im Verlauf meiner Untersuchung, aber im Moment hat er noch in London zu tun.”

Sie wollte gerade aufstehen, als der vierte Mann am Tisch – der mit dem ordentlichen Haarschnitt – sich plötzlich vorbeugte und ihr eine Hand hinstreckte. “Bitte entschuldigen Sie, wir hätten uns vorstellen sollen, besonders ich. Ich bin David Jenner von Jenner Equipment. Ich soll Ihnen Aufnahmegeräte zur Verfügung zu stellen. Ein Herr aus Ihrer Firma hat mich angerufen.” Er zuckte die Schultern, während er mit einem Blick in die Runde fortfuhr: “Damit hier endlich mal was vorwärts geht.”

“Freut mich, Sie kennen zu lernen, David”, sagte sie. “Ja, das war Justin, unser Geschäftsführer. Er hat mir erzählt, dass er sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat.”

“Sie haben keine eigene Ausrüstung?” fragte das gemeißelte Gesicht.

“Selbstverständlich haben wir einige sehr spezielle Geräte”, zwang sie sich höflich zu erwidern. “Aber die Videokameras und Tonaufzeichnungsgeräte leihen wir uns, wenn es geht, immer vor Ort aus. Auf diese Weise versuchen wir dem Verdacht vorzubeugen, wir könnten irgendetwas manipuliert haben. Mr. Stone weiß, wie wir vorgehen – er hat unser Informationsblatt zugeschickt bekommen.”

Das gemeißelte Gesicht legte den Kopf schräg, und sie wünschte sich, seine Augen sehen zu können. Warum musste dieser Idiot auch in einer verqualmten Kneipe eine Sonnenbrille aufhaben? “Freut mich zu hören, dass Sie hier bei uns alles bekommen, was Sie brauchen – eine Ausrüstung, die Ihren Ansprüchen genügt, meine ich.”

“Wir sind im ganzen Land tätig – und im Ausland”, erwiderte sie kühl “und wir haben überall sehr gute Kontakte.”

“Klingt ja wirklich beeindruckend.”

Als Darcy die Stimme hinter sich hörte, drehte sie sich um und sah, dass der Billardspieler, den jemand Carter genannt hatte, hinter sie getreten war. Er war noch größer, als sie anfangs gedacht hatte, dabei war sie selbst ziemlich groß und trug außerdem auch noch hohe Absätze. Er hatte einen Bart und leuchtend grüne Augen. Und unter seinem ausgewaschenen Flanellhemd schien er in einem außergewöhnlich guten Zustand zu sein. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, rechtzeitig zurücktreten zu müssen. Wenn er eine Uniform angehabt hätte, hätte man ihn glatt für einen Wiedergänger von General Jeb Stuart halten können. In seinem Blick lag eine merkwürdige Aufrichtigkeit, als er sagte: “Es passiert eben immer noch viel zu oft, dass Yankees runter in den Süden kommen und sich aufspielen wie Gott der Allmächtige. Aber he, Leute, diesmal könnte es anders ein. Vielleicht ist Ms. Tremayne ja eine rühmliche Ausnahme.”

“Vielen Dank”, murmelte sie. Yankees kommen runter in den Süden? Sie war in ihrem Leben schon viel herumgekommen, aber bisher hatte sie noch nirgends so sehr das Gefühl gehabt, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. “Nur zu Ihrer Information”, sagte sie ruhig, “der Sitz meiner Firma in Washington, D.C. ist keine zwei Stunden von hier entfernt … So, jetzt muss ich aber gehen. Die Welt dreht sich nämlich weiter.”

“D.C.”, murmelte das gemeißelte Gesicht, dann grinste er seine Kumpels an. “Ich wette, für die Jungs damals war das alles ein und dasselbe, oder was meint ihr, Leute?”

Darcy stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte auf und musterte ihn kühl. Dann platzte sie ohne nachzudenken heraus: “Wissen Sie, ich habe ganz vergessen, Ihr reaktionäres Kompliment zu erwidern. Dafür, dass Sie so ein Oberarschloch sind, sehen Sie eigentlich gar nicht mal so übel aus. So, und das sollte es für heute gewesen sein. Ich bin Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig – absolut nicht. Es gibt nur einen einzigen Menschen, dessen Fragen ich beantworten muss, und das ist Mr. Stone.” Sie erlaubte es sich, die ganze erlauchte Gesellschaft mit einem verächtlichen Blick zu streifen, dann wandte sie sich ab und ging mit klackenden Absätzen zur Tür, wo sie sich umdrehte und sagte: “Und noch mal zu Ihrer Erinnerung: Der Süden hat den Krieg verloren. Falls irgendjemand von Ihnen Mr. Stone sehen sollte, wäre ich ihm sehr verbunden, wenn er ihm ausrichten würde, dass ich hier mit ihm verabredet war. Ich melde mich telefonisch bei ihm.”

Sie starrte die Männer finster an, während diese aufstanden und zurückstarrten. Nur der Typ mit dem Grübchen verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

“Was ist?” fragte sie.

“Oh”, sagte er, “ich glaube, Matt Stone weiß, dass Sie hier sind.”

“So?” fragte sie schroff. “Wie kommen Sie denn darauf?”

Jetzt ergriff das gemeißelte Gesicht das Wort: “Ms. Tremayne, ich bin Matt Stone.”

Oh Gott. Adam Harrison hätte das alles viel besser gehandhabt. Er hätte ganz sicher einen Weg gefunden, sich würdevoll und gewandt aus der Affäre zu ziehen. Oder er hätte es verstanden, sich bei den bärbeißigen Kerlen umgehend Respekt zu verschaffen.

Darcy gelang es nicht ganz, die Wut, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken.

“Nun, leider kann ich nicht behaupten, es sei mir ein Vergnügen, weil Sie nichts anderes getan haben, als sich über mich lustig zu machen, Mr. Stone. Und wenn Sie Ihren Auftrag wieder zurückziehen möchten, bitte schön. Es ist mein Chef, der die Vorgänge in Ihrem Haus für untersuchenswert hält, nicht ich.”

Nach diesen Worten ging sie, immer noch hellauf empört, hinaus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

“Na toll”, sagte Mae hinter der Bar.

Matt nahm seine Sonnenbrille ab und drehte sich mit einem herausfordernden Blick zu der Barfrau um. “Herrgott noch mal, Mae, ich wusste doch am Anfang nicht, wer sie ist. Ich musste zunächst davon ausgehen, dass Harrison selbst kommt. Wir brauchen hier keine Spinner, die sich einbilden, das Blair-Witch-Projekt zu wiederholen.”

“Er hat vollkommen Recht”, sagte Clint. Als er grinste, blitzte sein Grübchen auf, und seine Augen funkelten belustigt. “Da erscheint eine Göttin auf der Bildfläche – und er schickt sie so unhöflich wie nur möglich wieder weg. Gut gemacht, Matt.”

Clint war Matts Cousin zweiten Grades, aber obwohl er denselben Namen trug, war sein Großvater ein uneheliches Kind gewesen. Für Matt hatte das eindeutig Vorteile, denn Clints finstere Entschlossenheit, sein Leben zu genießen, war zwar oft amüsant, aber Matt war sich ziemlich sicher, dass sie diese Diskussion jetzt nicht führen würden, wenn Clint das Haus geerbt hätte – weil es schon längst seiner Spielleidenschaft zum Opfer gefallen wäre.

Matt schaute von Mae zu Clint und schüttelte den Kopf. “Habt ihr beide eigentlich schon mal was von Würde gehört?”

“Nicht die Bohne”, erwiderte Clint vergnügt.

“Ich wette, sie ist daran gewöhnt, immer alles, was sie will, zu bekommen”, brummte Matt mit einem Schulterzucken. “Und erzähl du mir nichts von Würde, Carter.” Vor sich selbst räumte er jedoch ein, dass er wahrscheinlich ein bisschen zu rabiat gewesen war, wenn auch nicht grundlos. Trotzdem fühlte er sich bemüßigt, seinen Freund an sein eigenes Benehmen zu erinnern. “Wenn mich nicht alles täuscht, hast du irgendwann hier in dieser Bar deine Freundin Catherine Angsley so vor den Kopf gestoßen, dass sie von einem Tag auf den anderen untergetaucht ist und nie mehr gesehen wurde.”

Carter zuckte die Schultern. “Ich hatte wenigstens einen Grund.”

Mae kicherte. “Und du, junger Mann”, sagte sie zu Clint, “hast diese wundervolle Texanerin, wie hieß sie doch gleich? Ach ja, Salela Bennett. Die hast du doch auch so in die Flucht geschlagen.”

“Sasha”, korrigierte Clint.

“Sasha, richtig. Sasha. Warum kann ich mir diesen Namen bloß nie merken?” fragte Mae. “Na, wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass ich die ganze Zeit versuche, mit den Frauen, die in euren Leben kommen und gehen, auf dem Laufenden zu bleiben.”

“Also, wirklich, Mae! Wir warten doch nur auf die große Liebe”, flachste Clint.

“Mein Herz! Das Einzige, wonach ihr Ausschau haltet, ist der nächste tolle Körper und sonst gar nichts. Aber ich fürchte, bei dieser Geisterjägerin habt ihr schlechte Karten”, sagte Mae mit einem schadenfrohen Grinsen.

“Ja, weil Matt so charmant zu ihr war, dass sie wahrscheinlich gleich wieder schreiend davonläuft”, sagte Carter aufseufzend. Er schaute Matt mit hochgezogener Augenbraue an. “Lavinia hast du manchmal auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst, wenn ich mich recht erinnere.”

“Aber wenigstens hat er sie vorher geheiratet”, warf Mae ein.

“Ich habe Lavinia nie schlecht behandelt – nicht mal in der Zeit, als wir in Scheidung lebten”, behauptete Matt, verärgert über sich selbst, weil er immer noch glaubte, sich wegen seines Verhaltens rechtfertigen zu müssen. Und dann wurde er auch noch an seine katastrophale Ehe erinnert. “Wir hatten einfach nur unterschiedliche Vorstellungen davon, wie wir leben wollen”, sagte Matt, wobei er sich fragte, warum zum Teufel er jetzt auch noch seine Exfrau verteidigte. Schließlich war Lavinia wirklich ein ziemliches Biest gewesen. Reich, verwöhnt und rücksichtslos.

“Wir übersehen hier alle das Entscheidende”, schaltete sich jetzt der Weißhaarige ein. “Mae, mir scheint, die Welt hat sich mächtig verändert in den letzten Jahrzehnten. Himmel, ja, diese jungen Leute sollen erst mal ausprobieren, ob sie auch wirklich zusammenpassen, bevor sie sich aneinander binden. Sich scheiden zu lassen ist heutzutage zwar einfach, aber für den Einzelnen ist es immer noch verdammt schwer. Vor allem für die Kinder ist es schlimm!”

“Na, zum Glück hatten Matt und Lavinia keine Kinder. Sonst wäre vielleicht einem von ihnen ein Teufelsschwanz gewachsen”, sagte Clint. “Obwohl Lavinia sich ihren natürlich von einem Schönheitschirurgen hätte wegoperieren lassen, aber in den Genen wäre er trotzdem.”

“Hört doch jetzt schon endlich mal auf mit Lavinia. Das ist längst Geschichte”, sagte Matt schroff.

“Diese Sibel, Shana oder Sheila, mit der Clint damals was hatte, war aber nicht so ein Biest”, sagte Mae. “Sie hatte eine eigene Meinung, war intelligent und konnte auf sich selbst aufpassen. Aber ein Biest war sie nicht.”

Clint stieß einen theatralischen Seufzer aus. “Mae, sie hieß Sasha. Sasha Bennett. Und sie wollte unbedingt, dass ich mit ihr nach Texas gehe, das war das Problem. Und wir haben es hier in dieser Bar ausdiskutiert!”

Anthony schüttelte vehement sein weißes Haupt. “So, jetzt will ich euch mal was sagen! Matt, hör mir zu! Vergessen wir vergangene Sünden – Sünder sind wir nämlich alle. Aber nicht jede Frau eignet sich für eine flüchtige Affäre. Und die hier scheint mir absolut ungeeignet zu sein. Sie ist gekommen, um in deinem Haus zu arbeiten. Und du hast Probleme dort, Matt, das hast du mir selbst erzählt. Und du hast mir auch erzählt, dass du Harrison kontaktiert hast, nachdem du seinen Brief erhalten hast. Warum also hast du eben diesem armen Mädchen so zugesetzt?”

“Ganz einfach, weil sie Lavinia zu ähnlich sieht”, sagte Clint.

“Blödsinn”, widersprach Carter. “Höchstens der Gang, die Bewegungen … diese natürliche Anmut, die sie beide haben, aber dann hat es sich auch schon mit den Ähnlichkeiten.”

Matt schaute sie der Reihe nach finster an. “Mit dem Aussehen hat das alles gar nichts zu tun, Gentlemen.”

“Gentlemen?” fragte Mae mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen.

“Vermutlich bin ich ganz einfach nicht besonders glücklich über die Sache”, räumte Matt zerknirscht ein. “Und es stimmt ja, dass ich mich an Harrison gewandt habe, aber genau das – ich habe mich an ihn gewandt. Mit ihr hat das alles nichts zu tun.” Er warf Clint und Carter einen bösen Blick zu. “Und dass sie Lavinia irgendwie ähnlich sieht, kann ich schon gleich gar nicht erkennen.”

“Tut sie ja auch nicht. Sie ist viel hübscher”, warf Mae ein.

“Sag mal”, wechselte Anthony Larkin das Thema. “Ich habe gehört, du willst Liz erlauben, in deinem Haus eine Séance abzuhalten”, sagte. “Wo bleiben da deine Grundsätze?”

“Liz stand Gramps sehr nah”, sagte Matt. “Sie hat ihn am Ende wirklich gut gepflegt, und dafür bin ich ihr dankbar.” Er zuckte die Schultern. “Sie hat mich darum gebeten, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass Harrison Investigations Nachforschungen anstellen will. Aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig, da vorher noch mal eine Séance abzuhalten. Außerdem tagt sie einmal im Monat mit ihrem Verein in Melody House, und dabei kommt auch Geld rein, das wir gut gebrauchen können.”

Anthony zuckte die Schultern. “Aha. Na, irgend so was hab ich mir schon gedacht. Ich bin ihr im Drugstore in die Arme gelaufen. Da hat sie mir erzählt, dass sie in Melody House so oft diese Kälte spürt, besonders oben, in diesem Schlafzimmer. Deshalb wäre es wirklich falsch, wenn du dieses hübsche Mädchen vergraulst, weil sie ja vielleicht doch was rausfindet.”

Matt nickte langsam. Wahrscheinlich hatten sie Recht. Vielleicht weil sie aussah wie einem Modemagazin entstiegen, so kultiviert und weltgewandt, mit diesen klackenden Absätzen, den sorgfältig manikürten Fingernägeln und dem Gesicht eines Engels – oder einer Sirene, wo war da der Unterschied?

Rothaarige bedeuteten immer Probleme.

“Ich schätze, ich war einfach nur irritiert, weil ich nicht mit ihr gerechnet hatte. Ich sollte mich entschuldigen.”

In diesem Moment klingelte das Telefon auf der Theke. Matt spürte umgehend die Wut erneut in sich aufsteigen. Das war sie wahrscheinlich schon wieder. Mae nahm ab.

“Hallo … ja, Penny, er ist da. Hat wohl sein Handy wieder mal abgeschaltet, was?” Sie warf Matt einen ungnädigen Blick zu und hielt ihm den Hörer in.

Nach anfänglichem Zögern stand er auf und ging zur Theke, um das Gespräch entgegenzunehmen.

“Ja?”

“Matt, ich habe gehört, wie unhöflich Sie dieses Mädchen behandelt haben.”

“Aber Penny, so ein Unfug, wer sagt denn so etwas?”

Matt schaute sich um. Na wunderbar, Marty Sawyer – Pennys Neffe – der Carter beim Billard spielen zugeschaut hatte, hatte sich unbemerkt aus dem Staub gemacht.

“Matt Stone! Es gibt so viel Gutes, was man hier im Haus machen könnte. Rektor Joe von der Grundschule hat mir eben erst wieder erzählt, wie begeistert die Kinder von dem Lebendige-Geschichte-Projekt waren, das wir letzten Sommer hier realisiert haben. Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir diese Art Programm nicht weiterführen können, wenn die Sicherheit im Haus nicht hundertprozentig gewährleistet ist. Außerdem haben Sie bereits zugestimmt, dass wir die Séance abhalten dürfen. Oh, Matt, bitte! Wenn Sie das Haus mit seiner Geschichte wirklich lieben und es weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen, dann müssen Sie dieses Mädchen einfach kommen lassen, ganz egal, was bei den Nachforschungen am Ende rauskommt.”

Matt schaute sich um. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Penny redete so laut, dass fast die ganze Kneipe mithören konnte. “Penny, ich stimme Ihnen ja zu. All diese Geschichten von Liebe, Leidenschaft, Verrat, Mord und Selbstmord werden nie aufhören. Und die Frau in Weiß wird bis in alle Ewigkeit die Treppe hinunterschweben, ganz egal, was ich mache.”

“Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen”, sagte Penny nachdrücklich.

“Penny, ich bin der Sheriff. Ich habe mit Nachforschungen auch ein paar Erfahrungen, glauben Sie mir.”

“Aber Matt, wo bleibt Ihr Patriotismus?”

“Was?” fragte er ungläubig.

“Hören Sie, das Haus hat eine so große historische Bedeutung. Und was ist, wenn wirklich jemandem etwas passiert?”

Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Damit hatte Penny eine neue Front eröffnet.

Er hörte, dass sich am Tisch jemand räusperte, dann sagte David Jenner: “Im Moment läuft es bei mir nicht besonders gut, Matt. Ich könnte diesen Auftrag wirklich gebrauchen.”

“Richtig. Du weißt, dass wir nicht alle reich, in gewisser Hinsicht berühmt und mit einem lupenreinen Stammbaum geboren sind”, sagte Clint grinsend mit einem Schulterzucken.

“Genau, Matt, vielleicht tust du uns allen ja etwas Gutes”, warf Carter ein.

“Sie würden auch gar keine Arbeit damit haben”, tönte Penny wieder durch die Leitung. “Sagen Sie Ms. Tremayne einfach, dass sie sich an mich wenden soll. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht mal in die Nähe des Hauses zu kommen, so lange sie da ist. Sie müssen sie jetzt lediglich aus dieser Bruchbude rausholen, in der sie abgestiegen ist, und dann brauchen Sie sich um nichts mehr zu kümmern.”

“He, he, he!”

Carter hatte offensichtlich genau gehört, was Penny eben gesagt hatte. Er war der Besitzer der Bruchbude, die eigentlich als Hotel firmierte.

Wieder konnte sich Matt ein Grinsen nicht verkneifen. “Himmel, ja, in Ordnung. Ich werde mit ihr sprechen, Penny”, sagte er knapp und legte auf.

Mae grinste glücklich wie ein Kind, das einen Schokoriegel bekommen hat. “Oh, Wahnsinn – jetzt kriegt Melody House doch noch echte Geisterjäger.”

“Das sind keine Geisterjäger, Mae”, widersprach Matt.

“Also, bei dieser Séance muss ich unbedingt dabei sein!” fuhr sie unbeeindruckt fort.

“Ihr habt offenbar wirklich jedes Wort verstanden”, sagte Matt resigniert und als alle zustimmend grinsten, brummte er: “Verdammt, vor euch kann man aber auch nichts geheim halten.”

“Na?” fragte Clint gedehnt. “Und wann sagst du dem Mädchen Bescheid?”

“Bald. Aber ganz sicher nicht von hier aus”, gab er zurück, während er seine Sonnenbrille wieder aufsetzte. Dann ging er mit langen Schritten zur Tür, wobei er im Vorbeigehen seinen Hut von einem Haken an der Wand riss. Als er auf der Straße stand, knirschte er wütend mit den Zähnen. Er glaubte an Geister und umherschwirrende Seelen ebenso wenig wie an den verdammten Osterhasen.

Eine halbe Stunde nach Verlassen des Pubs klingelte Darcys Handy.

“Ich soll was tun?” fragte sie ungläubig. “Mich entschuldigen? Das ist ja wohl nicht dein Ernst, oder?”

Darcy nahm das Mobiltelefon vom Ohr und schaute es an, als ob sie das Gesicht ihres alten Freundes und Chefs darin sehen könnte.

Adam, der noch in London war, schien einen Moment zu überlegen, bevor er fortfuhr: “Darcy, ich habe ein wohl begründetes Interesse an diesem Haus. Ich erkläre es dir, wenn ich zurück bin, versprochen.” Er seufzte leise. “Hör zu, du weißt, wie sehr ich auf deine Fähigkeiten baue. Ich brauche dich. Und, mal Hand aufs Herz, ich verlange doch nicht von dir, dass du deine Seele verkaufst. Hab einfach etwas Geduld mit den Männern. Das sind nun mal raue Burschen.”

Darcy zuckte zusammen. Sie wusste, dass Adam ihr bis jetzt noch nicht alles über Melody House erzählt hatte. Und dafür musste er ziemlich gewichtige Gründe haben. Gründe, über die er nicht mit ihr reden wollte. Noch nicht.

“Adam, wenn es so wichtig ist, solltest du eigentlich selbst hier sein.”

“Ich weiß. Aber es ging nicht anders.”

Sie fragte nicht, warum dieser Besuch in London so dringend war. Adam war ein Mann, der auf Diskretion achtete, und sogar ihr erzählte er nur, was sie unbedingt wissen musste.

“Darcy, ist sonst alles in Ordnung?”

“Na ja, wie man’s nimmt, wenn man sich gerade mit einem Haufen Skeptiker auseinander setzen musste”, sagte sie. “Ich habe bisher noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der so offen feindselig war. Das ist nicht besonders angenehm.”

“Du schaffst das schon”, redete Adam ihr gut zu. “Ich bin sicher, dass du es schaffst.”

“Aber”, sagte sie ruhig, “du verlangst nicht ernsthaft von mir, dass ich diesen Typ anrufe und mich entschuldige, oder?”

“Nein, wart erst mal ab. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich meldet.”

“In Ordnung. Und was genau soll ich dann jetzt tun?”

“Bleib einfach da, wo du bist. Ist das Hotel okay?”

Darcy schaute sich in dem Raum um. “Ja”, log sie, und im selben Moment begann das Zimmertelefon zu klingeln. Sie streifte den Apparat mit einem angewiderten Blick. Er war dreckiger als der Münzfernsprecher an einer viel frequentierten Tankstelle.

“Ich muss auflegen, ich bekomme gerade einen Anruf”, sagte sie zu Adam.

“Soll ich dir sagen von wem?” fragte Adam beiläufig. “Ich bin bereit zu wetten, dass das Stone ist.”

“Mal sehen. Ich melde mich wieder.”

“Eigentlich brauchst du das nicht.” Damit legte er auf. Wieder schaute Darcy auf ihr Handy, schüttelte den Kopf und zwang sich dann, den Hörer des Hoteltelefons abzunehmen.

“Ja?”

“Ms. Tremayne, hier ist Matt Stone.”

Sie schwieg und wartete. Adam hatte Recht gehabt.

Natürlich.

Offenbar konnte Matt Stone ebenso stur sein wie sie, denn auch er brach das Schweigen nicht.

“Ja?” fragte sie schließlich knapp. Sie glaubte fast sehen zu können, wie er die Zähne zusammenbiss.

“Wie Sie wissen, bin ich zwar der Eigentümer von Melody House, aber ich bewohne es nicht. Deshalb möchte ich Sie mit Penny Sawyer bekannt machen, die das Haus verwaltet und auch die Führungen durchführt. Sie ist schon sehr neugierig auf Sie und freut sich, dass Sie da sind.”

“Ganz im Gegensatz zu Ihnen.”

“Ich habe mit Adam Harrison gesprochen”, erwiderte er ausweichend. “Das Haus ist von großer historischer Bedeutung.”

“Natürlich.”

“Hören Sie, Penny kümmert sich um alles. Sie ist ganz vernarrt in das Haus und weiß alles darüber. Deshalb kann sie Ihnen fürs Erste mit Sicherheit all Ihre Fragen beantworten. Und wenn Sie wissen, wie Sie vorgehen wollen, reden wir beide wieder. Weit reichende Entscheidungen möchte ich nämlich doch lieber selbst treffen.”

“Selbstverständlich”, sagte Darcy, und es klang wie Du kannst mich mal, aber leider habe ich keine andere Wahl.

“Penny schlägt vor, dass Sie noch heute nach Melody House umziehen.”

“Oh, das ist nicht nötig …”

“Aber um Ihre Nachforschungen anzustellen, müssen Sie doch in dem Haus sein, oder?”

“Ich wollte damit nur sagen, dass kein Grund zur Eile besteht.”

“Penny will Sie so bald wie möglich dort haben. Sie kann es kaum erwarten. Also, wenn Sie möchten … Sie könnten sofort anfangen.”

Darcy schaute sich in ihrem Hotelzimmer um. Dieses Loch ein Hotel zu nennen, war eindeutig vermessen. Kakerlaken hatte sie zwar keine gesehen, aber allein von den Schmutzrändern in Dusche und Waschbecken war ihr fast schlecht geworden.

Vielleicht hatte Matt Stone ja selbst so etwas wie eine übersinnliche Wahrnehmung. Seine nächsten Worte bestätigten jedenfalls, dass er sich ihre Situation gut vorstellen konnte.

“Ms. Tremayne, ich kenne das Hotel.”

“Na schön, vielleicht haben Sie Recht. Ich kann genauso gut gleich anfangen.”

“Ich hole Sie in einer halben Stunde ab.”

Sie kam nicht dazu zu protestieren. Er hatte bereits aufgelegt.

Fluchend schaute Darcy sich in dem kleinen Zimmer um. Sie hätte gern ein wenig mehr Zeit gehabt, obwohl sie noch gar nicht dazu gekommen war, ihren Koffer auszupacken, und ihre persönlichen Sachen aus dem Bad hatte sie in weniger als zehn Minuten zusammengesammelt. Sie wollte sich gerade ein letztes Mal umsehen, da klopfte es auch schon an der Tür. Matts Zeitgefühl schien nicht besonders präzise zu sein!

Sie öffnete. Matts Augen waren erneut von der Sonnenbrille verdeckt, über die eine Strähne des windzerzausten Haars fiel. Mit ihren hohen Absätzen war sie relativ groß, aber er war überragte sie dennoch um einiges. Seine imposante Erscheinung beunruhigte sie, wenngleich sie nicht recht wusste, was genau dieses Gefühl verursachte.

“Fertig, Ms. Tremayne?”

Sie atmete tief durch und rang sich ein Lächeln ab. “Wirklich, Mr. Stone, irgendwie schaffen Sie es, ein schlichtes Ms. so gedehnt auszusprechen, als ob es aus nichts als einem langen klebrigen Z bestünde. Ich heiße Darcy und bin daran gewöhnt, dass man mich auch so nennt.”

Er legte den Kopf leicht zur Seite. Die dunkle Sonnenbrille verhinderte, dass sie in seinen Augen lesen konnte. “Schön – dann also Darcy. Können wir los? Ich habe es nämlich eilig, ich muss wieder ins Büro. Wo ist Ihr Koffer?”

“Ich kann ihn selbst nehmen, danke.”

“Würden Sie mir den verdammten Koffer einfach zeigen?”

Sie stemmte die Hände in die Hüften. “Geht es vielleicht noch etwas unfreundlicher?”

“Tut mir Leid, aber meine Zeit ist begrenzt. Bitte, Ms. Tremayne – verzeihen Sie, Darcy –, würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu erlauben, Ihren Koffer zu tragen?” Seine Stimme troff förmlich von Sarkasmus.

Kopfschüttelnd zeigte sie auf ihr Gepäck. Matt schnappte sich den Koffer und machte sich wortlos auf den Weg hinaus auf den Parkplatz. Er machte so lange Schritte, dass Darcy kaum mitkam, aber draußen blieb er stehen, nahm seine Sonnenbrille ab und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. Er bemerkte, dass sie sich suchend nach seinem Auto umschaute.

“Oh, Verzeihung”, sagte er schroff. “Der da drüben ist es. Ich schätze, man hat vergessen, es Ihnen zu erzählen. Ich bin der Sheriff. Und Adam hat es offenbar auch nicht erwähnt. Da Sie andererseits aber vorgeben, eine Hellseherin zu sein, hätten Sie es eigentlich auch so wissen müssen.” Er schaute sie leicht spöttisch an.

Sie lächelte zuckersüß. “Mr. Stone, als Hellseherin würde ich mich nicht direkt bezeichnen, auch wenn ich bekannt dafür bin, gelegentlich Leichen aufzuspüren, die manche Leute in ihrem Keller haben.”

Schweigend sah er sie an. Seine Augen waren dunkel, aber nicht braun, sondern von einem irritierenden Dunkelgrau. Er schien direkt durch sie hindurchschauen zu können, und doch lag ein schützender Schleier über ihnen, der es Darcy unmöglich machte, in ihnen zu lesen. Und dennoch, zumindest für einen Moment hatte es ihm offenbar die Sprache verschlagen.

“Fahren wir?” fragte sie.

“Aber ja. Ich sterbe schon vor Neugier, was für Leichen Sie in meinem Keller finden, Ms. Tremayne.”

“Hervorragend. Dann …”

“Was dann?”

“Dann sind wir uns ja einig. Aber ich warne Sie: Manchmal gefällt es den Leuten ganz und gar nicht, was wir bei ihnen finden.”

3. KAPITEL

“Für mich ist es schlicht eins der unglaublichsten Häuser – und eine historische Sehenswürdigkeit ersten Ranges!” schwärmte Penny.

Darcy lächelte, geneigt, zuzustimmen – trotz der Schwierigkeit, die das Haus in Gestalt seines Eigentümers mit sich brachte.

Er hatte sich während der Fahrt bemüht, so etwas wie eine höfliche Konversation zu führen, indem er ihr erklärte, wo im Bürgerkrieg die Frontlinien verlaufen waren. Außerdem hatte er ihr erzählt, dass der berühmte Südstaatengeneral Robert E. Lee in Melody House Station gemacht hatte. Und nachdem sie an ihrem Ziel angekommen waren, hatte er sie zwar nicht direkt aus dem Auto geworfen, aber doch zugesehen, dass er sie so schnell wie möglich loswurde, da er, wie er sagte, noch zu tun habe.

Darcy fragte sich, ob er im Wayside Inn auch im Dienst gewesen war.

Penny Sawyer hingegen war wundervoll. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, irgendwas zwischen vierzig und sechzig, mutmaßte Darcy. Sie war mittelgroß, schlank, mit kurz geschnittenen dunklen, von silbergrauen Strähnen durchzogenen Haaren und strahlend blauen Augen. Sie trug einen modischen Hosenanzug und war ebenso freundlich wie ihr Arbeitgeber unfreundlich.

“Das Haus ist wirklich wundervoll”, beteuerte Darcy begeistert. “Es gibt eine ganze Reihe historisch bedeutsamer Häuser, die – meistens von Privatstiftungen – mit größter Sorgfalt restauriert wurden, aber es ist schon erstaunlich, wie gut erhalten dieses Haus hier ist, vor allem, wenn man bedenkt, dass es die ganze Zeit über in Familienbesitz war. Normalerweise fehlt in solchen Fällen das Geld für die aufwendige Instandhaltung.” Darcy musterte ihre Umgebung mit anerkenndendem Blick.

“Nun, Matts Großvater hat sehr an dem Anwesen gehangen. Es war sein Baby. Er wollte es trotz der Kosten weiterhin als Zuhause für die Familie erhalten. Er war wirklich ein erstaunlicher alter Herr.”

“Offensichtlich.”

Penny lächelte sie seltsam zerknirscht an. “Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussieht: Matt liegt es genauso am Herzen. Und deshalb will er auch nicht, dass sich ein Verein darum kümmert. Also muss es sich auf längere Sicht weit gehend selbst tragen, denn so ein Sheriff verdient schließlich nicht die Welt. Oh! Verstehen Sie mich nicht falsch. Matt ist absolut integer. Er würde nie etwas Ungesetzliches tun, um das Haus zu retten, auch wenn er es noch so sehr liebt. Aber das haben Sie natürlich auch gar nicht gedacht!” Penny unterbrach sich mit einem Auflachen. “Er ist ein wunderbarer Sheriff. Die Leute lieben ihn. Er schafft es fast immer, brenzlige Situationen zu entschärfen, und er hat ein Händchen für die jungen Leute … aber was wollte ich jetzt eigentlich sagen? Ach so, ich meinte nur, dass wir auf die Führungen und Veranstaltungen angewiesen sind, damit ein bisschen Geld reinkommt. Das ist alles. So! Und was denken Sie? Spukt es hier?”

Darcy lächelte wieder. “Bis jetzt spüre ich eigentlich fast nur Wärme. Als ob das, was von der weit zurückliegenden Vergangenheit zurückgeblieben ist, vorwiegend gutartig wäre. Allerdings ist da auch noch etwas anderes. Aber das muss in einem alten Haus, in dem sich so viele Schicksale begegnet sind, nicht schlimm sein. Es gibt genügend Menschen, die der Theorie anhängen, dass Energien, die an einem Ort freigesetzt wurden, diesen Ort nicht verlassen, weil wir Menschen aus Energie bestehen und Energie unzerstörbar ist.”

Penny schaute sie mit hochgezogener Augenbraue an. “Ich bilde mir oft ein zu wissen, was die Leute fühlen und denken. Aber Sie haben ausgeprägtere übersinnliche Fähigkeiten. Deshalb … was glauben Sie? Obwohl ich meine Meinung sowieso nicht ändere, egal was Sie sagen.” Sie sah Darcy verschwörerisch an. “Ich weiß nämlich, dass es Geister gibt. Ich habe sogar schon einen Geist gesehen.”

“Wirklich?”

Penny nickte ernst. Die beiden Frauen saßen in einem geschmackvoll eingerichteten Raum im Erdgeschoss direkt neben Matts Büro, wie Penny Darcy erklärt hatte.

“Ich habe die Frau in Weiß aus dem Lee-Zimmer kommen und die Treppe hinunterschweben sehen. Allerdings befürchte ich langsam, dass sie keine gutartige Erscheinung ist. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich liebe die Gespenstergeschichten, die sich um dieses Haus ranken, sie sind wichtig – sie bringen uns Touristen. Es ist nur leider so, dass die Geister in letzter Zeit anfangen … gewalttätig zu werden.”

Gespannt sah Darcy sie an. “Was meinen Sie damit?”

“Na ja, vor nicht allzu langer Zeit verbrachte ein Brautpaar seine Hochzeitsnacht im Lee-Zimmer. Als die Braut nicht einschlafen konnte, stand sie auf, um auf den Balkon zu gehen. Und da sah sie den Geist, einen silbrigweißen Nebel, der seine Form veränderte und sie sogar an den Haaren zog. Sie war so verängstigt, dass sie schreiend splitternackt ins Foyer rannte und sich strikt weigerte, auch nur noch einen einzigen Fuß in das Zimmer zu setzen. Und dann kam irgendwann Clara Issy, eine der Reinemachefrauen hier, nach unten gelaufen, weil ihr etwas ganz Ähnliches passiert war. Sie hatte auf der Wange einen knallroten Fleck, so als ob jemand sie geschlagen hätte.”

“Und was sagt der Sheriff dazu?” fragte Darcy.

Penny machte eine wegwerfende Handbewegung. “Ach, er sagt, dass Clara sich bestimmt nur irgendwo gestoßen hat. Er weigert sich einfach, an Dinge zu glauben, die er nicht mit Händen greifen kann. Aber immerhin hat er sich einverstanden erklärt, dass wir hier eine Séance abhalten. Das grenzt schon fast an ein Wunder. Und Sie sind ja nun auch da!” resümierte Penny stolz.

“Die Séance wird bestimmt interessant”, sagte Darcy höflich.

“Ja, und sie findet morgen Abend statt”, berichtete Penny eifrig. “Elizabeth sagt, dass wir sie mittendrin – im Herzen des Hauses sozusagen – abhalten sollen, und ich bereite alles dafür vor.”

“Das klingt gut. Elizabeth wird sich bestimmt als ein gutes Medium erweisen.” Lächelnd stand Darcy auf. “Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich jetzt draußen ein bisschen umsehe?”

“Aber nein, meine Liebe, selbstverständlich nicht! Ihren Koffer hat man ins Lee-Zimmer hinaufgebracht, das ist der Raum, wo sich die Erscheinung immer gezeigt hat. Ich nehme an, Sie würden nicht in Panik davonlaufen, sondern mit dem Geist sprechen, ist es nicht so?”

“So ähnlich”, stimmte Darcy nachsichtig zu.

“Na gut, dann richten Sie sich jetzt am besten erst einmal häuslich ein.” Sie reichte Darcy eine Broschüre. “Und die Broschüre hilft Ihnen vielleicht zur Orientierung. Ich verteile sie immer bei den Führungen.”

“Wunderbar”, sagte Darcy. “Vielen Dank.” Das Informationsblättchen in der Hand trat Darcy auf den schmalen Flur, der in das Foyer mit dem breiten Treppenaufgang mündete.

Sie blieb einen Moment stehen und versuchte, sich in die Atmosphäre einzufühlen. Das war der wichtigste Teil ihrer Arbeit. Adam Harrison war ein Spezialist für die verschiedenen Geräte, die Temperaturschwankungen, Luftbewegungen, Geräusche und Spannungsfelder registrierten. Wenn er kam, würde er mit einem Störungsmesser elektromagnetische Felder und sämtliche physikalische Phänomene untersuchen.

Adam hatte eine streng wissenschaftliche Herangehensweise.

Für sie hingegen war es eine Sache des Gefühls. Sie fühlte sich lieber in die jeweilige Örtlichkeit ein.

Und oft, wenn sie an einem Ort eintraf, an dem es angeblich spukte, spürte sie, dass Josh bei ihr war. Bereit, sie zu begleiten, wachsam, ihr Führer und Beschützer in einer fremden Welt, vielleicht.

Sie wartete. Aber heute fühlte sie seine Präsenz nicht. Sie verharrte noch eine Weile reglos, wobei sie versuchte, ihren Kopf von allen Gedanken zu befreien. Trotzdem gelang es ihr nicht, Verbindung mit ihm aufzunehmen, was absolut ungewöhnlich war, zumal in diesem Haus mehr Energien aus der Vergangenheit zu pulsieren schienen, als sie jemals erlebt hatte.

Sie ging zuerst zurück ins Foyer und warf zur Orientierung einen Blick auf den kleinen Plan in der Broschüre, die Penny ihr gegeben hatte. Nicht dass das Gebäude eine komplizierte Aufteilung gehabt hätte. Von draußen gelangte man über eine um das ganze Haus herumlaufende Veranda in das große Foyer mit dem herrlichen breiten Treppenaufgang. Gleich rechts davon war wie bei vielen im Kolonialstil erbauten Häusern der ehemalige Dienstbotengang, der direkt zum Hintereingang führte. Früher, als es noch keine Klimaanlagen gab, hatte man im Sommer durch Offenlassen der Vorder- und Hintertür für Kühlung und Durchzug gesorgt.

Auf dieser Seite des Hauses gab es außer Pennys und Matts Büros noch einen weiteren Raum – die Bibliothek. Darcy warf einen kurzen Blick hinein. Drei Wände waren mit bis zur Decke reichenden Bücherregalen gefüllt, während der größte Teil der vierten Wand von einem schön verzierten Kamin eingenommen wurde. Auf dem gewienerten Holzfußboden lag ein kostbarer, wahrscheinlich antiker Perserteppich. In der Mitte des Raums stand ein großer antiker Mahagonischreibtisch, während vor dem Kamin bequeme Polstersessel zum Sitzen einluden. Darcy fragte sich, ob Matt Stone überhaupt wusste, was für einen Schatz an Büchern er da in seiner Bibliothek beherbergte.

Auf dem auch ansonsten gut ausgestatteten Schreibtisch sah sie Computer und Drucker. Die Geräte schienen für die Pensionsgäste reserviert zu sein, da Penny und Matt ihre eigenen Büros hatten.

Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich in ihre Umgebung einzufühlen. Die Schwingungen, die Darcy wahrnehmen konnten, waren mannigfaltig. In dem Raum hatten sich eine Menge Leidenschaft, Gefühl und Leben eingenistet. Allerdings fand sie keine Anhaltspunkte für irgendetwas Böses oder Heimtückisches. Wenig später machte sie ihre Augen wieder auf, verließ die Bibliothek und ging zurück ins Foyer.

Auf dem Treppenaufgang herrschte eine ziemliche atmosphärische Unruhe, was für Darcy allerdings wenig verwunderlich war. Sie fragte sich, wie viele Männer wohl, gefolgt von ihren Frauen, diese Treppe hinuntergegangen sein mochten, nur um in einen Krieg zu ziehen, aus dem sie vielleicht nie wieder heimgekehrt waren.

Auch der Salon war bezaubernd. Darcy ignorierte die Absperrung aus Samtkordeln, die den Raum vor dem Schaden schützen sollten, den große Besuchergruppen anrichten konnten. Wie in der Bibliothek war die Vergangenheit hier ebenfalls deutlich spürbar. Wenn sie die Augen schloss, wurde sie von den Energieströmen beinahe hin und hergerissen. Doch wieder bemerkte sie keine bösen Kräfte.

Hinter dem wunderschön eingerichteten Salon lag das Esszimmer – elegant gedeckt wie für eine aus zwanzig Personen bestehende Abendgesellschaft, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts so getafelt haben musste. In die Küche, die nichts von ihrem alten Charme eingebüßt hatte, obwohl sie auf dem neuesten Stand der Technik war, verliebte Darcy sich auf den ersten Blick. Auch von diesem Raum aus gelangte man auf die Veranda. Der Blick, den man von dort hatte, war atemberaubend. Es war ein herrlicher Sommertag, und in der Ferne konnte man die Berge in den prächtigsten Grün-, Violett-, Pink-, Orange- und Goldtönen leuchten sehen. Überall zwischen sattem Grün blühten bunte Blumen.

Darcy ging zurück. Doch statt sich wieder ins Foyer zu begeben und dort den großen Treppenaufgang zu benutzen, wählte sie die weit weniger beeindruckende Dienstbotentreppe, die im hinteren Teil der Küche in den ersten Stock hinaufführte. Als sie oben angelangt war, warf sie einen Blick auf ihren Plan. Früher waren hier sechs Schlafzimmer gewesen. Jetzt waren es nur noch fünf, da es in der Hauptsuite jetzt neben dem Schlafzimmer noch ein zweites Arbeits- oder Wohnzimmer gab.

Darcy verzichtete auf einen näheren Blick, da sie vermutete, es würde sich um Matts Privaträume handeln. Und die wollte sie nicht betreten. Zumindest im Moment noch nicht.

Die restlichen Zimmer waren offenbar alle nach Südstaatengenerälen benannt. Das Lee-Zimmer war laut Plan das größte, und als Darcy davor angelangt war, spürte sie sofort, dass eine angespannte Schwere sie einhüllte wie eine dunkle Wolke. Sie öffnete die Tür und betrat den Raum.

Durch die geöffneten Balkontüren strömte frische Luft hinein. Bis auf die Vorhänge, die leise im Wind raschelten, war nichts zu hören.

Trügerisch, dachte Darcy. Dicht unter der friedlichen Oberfläche verspürte sie eine enorme Unruhe.

Sie malte sich aus, wie sie versuchte, Matt Stone das, was sie fühlte, zu erklären.

Es war kein schönes Bild.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals verstand, was es mit ihrer speziellen Gabe auf sich hatte. Adam verstand es. Er war ein beeindruckender Mann mit mannigfaltigen Talenten. Seine eigentliche Befähigung lag jedoch darin, Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten zu erkennen und zu fördern. Ohne ihn hätte sie vielleicht längst den Verstand verloren, weil sie Dinge hörte und sah, die anderen Menschen verborgen blieben. Es war Adam, der ihr klar gemacht hatte, dass sie als eine von wenigen in der Lage war, armen verlorenen Seelen Frieden und Erleichterung zu bringen. Damit hatte er ihrem Leben eine neue Richtung und einen neuen Sinn gegeben – und ihr selbst die Möglichkeit, sich mit einer Arbeit, bei der ihre Gefühle unbeschadet blieben und sie selbst sich nützlich fühlen konnte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Und so fühlte sie auch sofort, dass Gefühle von Leid und Qual in diesem Zimmer herumwirbelten wie schwarze Wolken, die der Sturm vor sich hertrieb.

Trotzdem war der Raum wunderschön, und nach dem so genannten Hotel, in dem sie zuerst abgestiegen war, sicher nicht der schlechteste Ort, um zu bleiben. Sie ging zu ihrem Koffer, der am Fußende vor dem Bett stand, und begann leise vor sich hin summend ihre Sachen auszupacken.

Bemerkte sie zunächst außer dem Luftzug kaum eine Bewegung im Raum, war sie sich nach einer Weile jedoch sicher, dass sie beobachtet wurde. Das sagte ihr ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Es war, als ob ein außerirdischer Blick sie berührte.

Gefühle … Intuition. Sie bekam eine Gänsehaut.

Und verharrte einen Moment bewegungslos.

Aber …

Da war nichts Stoffliches. Absolut nichts. Doch Darcy wusste Bescheid.

Was immer in diesem Zimmer war, es würde warten, sie beobachten und auf die richtige Gelegenheit warten.

Matt kam um sechs nach Hause und schaute im Haupthaus vorbei. Er hätte wetten mögen, dass Penny und sein Gast immer noch zusammenhockten und sich Geistergeschichten erzählten. Vielleicht hatten sie ja sogar das Ouija-Board hervorgekramt.

Aber Penny war mit Joe McGurdy, dem Koch, in der Küche. Matt war überrascht, Joe zu sehen, weil er normalerweise nur kam, wenn es in Melody House einen besonderen Anlass zum feiern gab. Matt warf Penny einen fragenden Blick zu.

“Gucken Sie nicht so”, sagte die Haushälterin vorwurfsvoll. “Wir haben schließlich einen Gast, und den können wir an seinem ersten Abend schlecht mit einem Teller Schmalzstullen abspeisen, oder?”

“Gott bewahre, nein, natürlich nicht”, beteuerte Matt gespielt entrüstet. “Wo ist sie denn?”

“Carter hat Nellie für sie gesattelt. Sie wollte sich ein bisschen in der Gegend umsehen.”

“Und woher wissen wir, ob sie reiten kann? Außerdem ist Richtung Westen der Wald sehr dicht. Sie könnte sich verirren.”

“Matt, ich bitte Sie, Darcy ist eine erwachsene Frau. Sie hat gesagt, dass sie reiten kann.”

“Trotzdem … wahrscheinlich ist es besser, wenn ich nach ihr sehe”, brummte Matt ungehalten und schüttelte mit einem Blick auf Penny den Kopf. Nicht genug damit, dass diese Person empfangen wird wie ein Staatsgast, jetzt musste er sich auch noch um sie kümmern. Er wunderte sich, warum Carter sie überhaupt allein hatte losreiten lassen.

Diese Frage stellte Matt ihm auch, nachdem er sich Jeans und Pullover angezogen hatte und den Freund im Stall bei den Pferden traf. Carter zuckte nur mit den Schultern. “Sie wollte irgendwas erkunden, was für ihre Arbeit wichtig ist, und dafür müsste sie allein sein, wie sie mir sagte. Selbstverständlich habe ich ihr angeboten, sie zu begleiten, was denkst denn du? Bei dem Aussehen …”

“Trotzdem spinnt sie”, sagte Matt lakonisch, während er Vernon aus der Box holte und dem Tier das Zaumzeug anlegte.

“He, von irgendwas muss schließlich jeder leben, oder?” sagte Carter.

Matt warf einen Sattel über Vernons Rücken. “Ich könnte mir vorstellen, dass sie noch ein paar andere Möglichkeiten hat.”

“Vielleicht hat sie ja wirklich diese komische Wahrnehmung.” Carter kaute nachdenklich auf einem Strohhalm herum. “Wie du weißt, habe ich kürzlich das alte Reed-Haus gekauft. Wenn du sie also nicht willst, übernehme ich sie. Sie kann gern dort nach Geistern suchen.”

“Ich bin mir sicher, dass du keine Gelegenheit ungenutzt lassen wirst, um sie zu überreden”, sagte Matt kopfschüttelnd und saß auf. “Aber vorher würde ich mich ganz gern noch davon überzeugen, dass sie nicht irgendwo mit einem gebrochenen Bein im Wald liegt. Wie konntest du sie bloß allein losreiten lassen?”

“Kann es vielleicht daran liegen, dass sie keine Gesellschaft wollte?”

Kopfschüttelnd drückte Matt Vernon sanft die Absätze in die Flanken und ritt aus dem Stall.

“He, aber komm nicht zu spät zum Abendessen!” rief Carter ihm nach. “Wenn mich nicht alles täuscht, hat Penny Joe für heute Abend engagiert.”

Matt spürte seinen Groll wachsen, er versuchte jedoch, ihn im Zaum zu halten. Immerhin war Adam Harrison bereit, ein nettes Sümmchen dafür hinzublättern, dass er hier das, was er als “Nachforschungen” bezeichnete, anstellen durfte. Dafür mussten sie die Frau eben ertragen, Teufel noch mal. Es gab Schlimmeres.

Matt verscheuchte die Gedanken und konzentrierte sich auf seine Suche. Er wählte den Weg, der quer über das Feld südlich am Haus vorbeiführte und sich nach einer Weile gabelte. Er schien Darcy richtig eingeschätzt zu haben, denn schon bald entdeckte Matt frische Pferdespuren.

Nach etwa zwanzig Minuten gelangte er an einen rauschenden Wildbach, der sich durch den Wald schlängelte. Die Gegend hier war seit hundert Jahren nahezu unverändert, und die Wege waren nur deshalb nicht zugewuchert, weil sie regelmäßig benutzt wurden. Die Luft war angenehm kühl und duftete stark nach Tannennadeln.

Als er Nellie reiterlos am Ufer des Wildbachs stehen sah, befürchtete er schon das Schlimmste, doch gleich darauf sah er auch Darcy, die seelenruhig auf einem umgestürzten Baumstamm saß und mit einem dürren Ast irgendetwas in den Sand kritzelte. Ohne eine Miene zu verziehen beobachtete sie, wie er vom Pferd sprang und auf sie zu kam.

“Hallo”, sagte er, als er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war.

Im Wald war es dämmrig, und die Lichtstrahlen, die durch das dichte Blätterdach der Bäume fielen, warfen seltsame schwarzgrünliche Schatten. Darcys Haar schimmerte tiefrot, und ihre Augen waren noch grüner als das satte Grün der Bäume. Hier in diesem unheimlichen Licht wirkte sie blasser und von so zerbrechlicher Eleganz wie eine Waldnymphe, obwohl er wusste, dass sie für eine Nymphe viel zu groß war. Bei diesem Gedanken wurde ihm klar, dass das, was ihn am meisten an ihr störte, diese hoch gewachsene geschmeidige Eleganz, diese Ruhe und Gelassenheit war, in die sie eingehüllt zu sein schien wie in einen Mantel.

Sie legte ihre gefalteten Hände um die Knie und rief ihm mit einem sarkastischen Unterton zu: “Hallo, Sheriff. Wie Sie sehen, habe ich mir weder den Hals gebrochen noch Ihr Pferd zu Schanden geritten oder mich im tiefen Wald verirrt.”

“Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie vorhaben, hier herumzureiten?”

“Wann denn?” Sie lächelte spöttisch, während sie ihn herausfordernd ansah. “Nachdem Sie mich aus dem Auto geworfen hatten, blieb nicht mehr viel Zeit.”

“Das habe ich nicht getan.”

Ihre Antwort bestand aus einem Schulterzucken. Wieder verspürte er diese seltsame Verwirrung, und zu seiner eigenen Beunruhigung begriff er langsam, was ihn so bewegte. Diese Frau war nicht nur groß und elegant, sondern darüber hinaus auch noch extrem sinnlich, mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen. Sie schien innerlich zu glühen, aber äußerlich war sie kalt wie ein Eiszapfen.

“Ich habe eigentlich erwartet, dass Sie sich innerhalb des Hauses umsehen.”

“Das habe ich bereits.” Diese grünen Augen weigerten sich, ihn loszulassen.

“Aber den bösen Geist haben Sie bis jetzt noch nicht gefunden?”

“So schnell geht das nicht. Dafür muss ich erst das gesamte Umfeld erkunden”, gab sie in ruhig distanziertem Tonfall zurück.

“Aha.” Er ließ sich neben ihr auf dem Baumstamm nieder und schaute zwischen den Bäumen hindurch auf das Wasser, auf dem die Sonnenstrahlen glitzerten wie Diamanten. Schließlich wandte er sich wieder ihr zu. “Hier im Wald soll es angeblich auch spuken, wissen Sie. Aber das hat nichts mit Melody House zu tun.”

“Das ist gut zu hören”, sagte sie seltsamerweise. “Was erzählt man sich denn über den Wald?”

“Irgendwann vor langer Zeit – ich glaube im späten siebzehnten Jahrhundert – soll hier in der Nähe eine Familie auf einer kleinen Farm gelebt haben. Die älteste Tochter war unscheinbar, die jüngste dagegen bildschön. Und dann passierte es, dass sich der Freier der älteren Tochter unsterblich in die jüngere verliebte. Der Bursche musste zurück nach Osten, um sich um seine Geschäfte zu kümmern, aber zum Abschied küsste er die heiß geliebte jüngere Schwester und versprach ihr, so bald wie möglich zurückzukommen und sie zu heiraten. Das ertrug die Verschmähte nicht. Sie lockte die jüngere in den Wald, wo sie …”

“… ihre Schwester da unten am Fluss mit einem Beil enthauptete. Und nun irrt der Geist der jüngeren Schwester ruhelos durch den Wald”, schloss Darcy an seiner Stelle.

Matt hob die Hände. “Sie kennen die Geschichte bereits!”

Sie erwiderte einen Moment lang nichts, dann fragte sie: “Und was ist mit der älteren Schwester passiert?”

“Nun, der junge Mann kehrte zurück, aber als er vom Tod der jüngeren Schwester erfuhr, nahm er sich das Leben. Die ältere wurde zwar niemals für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen, aber sie verlor den Verstand. Die Familie sperrte sie in der Scheune ein, bis sie mit achtzig Jahren starb. Irgendwann gegen Ende ihres Lebens gestand sie den Mord und schrie tagelang aus Angst, dass ihre Schwester zurückkommen und sich an ihr rächen könnte.”

“Tja, so etwas würde man heute wahrscheinlich als eine echte Familientragödie bezeichnen”, bemerkte Darcy.

“So könnte man es sagen.” Er musterte sie aus dem Augenwinkel. Ihr klassisches Profil wirkte wie gemeißelt. Er dachte daran, dass sie während ihres Studiums als Model gejobbt und dabei wahrscheinlich nicht schlecht verdient hatte. Warum hatte sie auf diese Chance verzichtet, warum hatte sie auch ihren akademischen Abschluss in den Wind geschlagen, um sich statt dessen mit so einem Unsinn zu beschäftigen?

“Der Torso der jüngeren Schwester, der von der älteren verscharrt worden war, wurde zufällig von einem Hund entdeckt, aber der Kopf blieb verschwunden”, berichtete Darcy. “Erst wenn der Kopf bei den übrigen sterblichen Überresten begraben liegt, wird der Spuk aufhören.”

“Das sind doch Ammenmärchen. Du lieber Himmel, wir würden ihn ohnehin nicht finden, selbst wenn wir den ganzen Wald danach umgraben. Bestimmt haben die Tiere ihn gefressen. Oder er wurde im Fluss bis nach Florida runtergeschwemmt. Aber so oder so. Die Leute lieben diese Geschichten. Warum also soll der arme Geist nicht weiterhin schreiend und blutüberströmt durch den Wald irren?”

“Weil es schrecklich traurig ist”, sagte Darcy.

“Nun, wenn Sie Zeit haben, können Sie ja ein bisschen nach ihm suchen. Das Land gehört der Gemeinde, aber wir werden ein Auge zudrücken. Bloß tun Sie mir wenigstens den Gefallen und schütten Sie die Löcher wieder zu – hier in der Gegend reiten viele Leute, und wir wollen nicht, dass noch ein weiterer Geist, diesmal mit gebrochenem Genick, durch den Wald irrt.”

Ungeduldig stand Matt auf.

Seine Unruhe schien sie ebenfalls aufzuscheuchen, da sie unmittelbar nach ihm aufsprang und rief: “Was zum Teufel ist eigentlich los mit Ihnen? Warum sind Sie so aggressiv?”

Irritiert und verunsichert sah er sie an. “Darcy, Geschichte hat oft ihre grausamen Seiten. Aber sie ist Vergangenheit. Lassen Sie die Toten ruhen.”

“Aber Sie wollten doch, dass ich komme!”

“Falsch. Ich wollte, dass Adam Harrison kommt.”

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn aus ihren vor Zorn sprühenden grünen Augen an. “Auch falsch – Sie haben sich bereit erklärt, Harrison Investigations in Ihr Haus zu lassen. Und ich bin genauso Teil der Firma wie Adam. Fast genauso, jedenfalls.”

Er musterte sie mit hochgezogener Augenbraue und sah mit Genugtuung, dass ihr eine leise Röte in die Wangen stieg. Matt hatte gut Lust, sie anzubrüllen, ihr zu zeigen, wo ihr Platz war. Aber ihm fehlten die Worte, deshalb machte er nur eine hilflose Geste und sagte verärgert: “Wir müssen zurück. Das Essen ist fertig.”

Damit wandte er sich ab, um auf sein Pferd zuzugehen.

“Wissen Sie, nicht jede Frau mit roten Haaren ist ein Biest.”

Überrascht drehte er sich um. Seine Stimme war weit heiserer, als ihm lieb war. “Ich weiß nicht, wovon Sie reden.”

“Von Ihrer Exfrau Lavinia Harper”, sagte sie ohne Umschweife.

“Ich verstehe. Und das wissen Sie, weil Sie hellseherische Fähigkeiten haben, richtig?”

“Sie mögen keine rothaarigen Frauen. Um das zu erkennen, braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten. Penny hat mir von Lavinia erzählt.”

“Rote Haare gibts in Tuben zu kaufen. Im Übrigen käme es mir nie in den Sinn, einen Menschen wegen seiner Haar-, Haut- oder Augenfarbe oder sonst irgendeinem körperlichen Merkmal abzulehnen”, erklärte er mit erzwungener Ruhe, aber seine Verärgerung war ihm trotzdem anzumerken.

Sie lächelte bemüht, als sie an ihm vorbeiging. “Gewiss. Dann entschuldigen Sie bitte.”

Er ließ sie vorbei und hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln und seine zu scharfe Reaktion zu überdenken. Aber bevor er sich noch eines Besseren besinnen konnte, saß sie bereits im Sattel und galoppierte den Waldweg hinunter.

Er hielt sich dicht hinter ihr, und als sie an die Lichtung gelangten, sah Matt auf der anderen Seite des Feldes Melody House auf seinem kleinen Felsen noch in den letzten blutroten Strahlen der Abendsonne erleuchtet, sodass es fast aussah, als ob das Haus glühte.

Nicht mehr lange, dann würde die Sonne endgültig untergehen und die Nacht ihre schwarze Decke über die Landschaft werfen.

Das Abendessen in Melody House entpuppte sich als eine unterhaltsame Angelegenheit – trotz oder vielleicht sogar wegen Matt Stones Anwesenheit –, und Darcy ertappte sich dabei, dass sie mehrmals laut auflachte.

Auch wenn Matt und Penny durchaus nicht immer einer Meinung waren, ließ sich doch nicht übersehen, dass sie bestens miteinander auskamen. Penny liebte Geschichten und erzählte leidenschaftlich gern, und Matt korrigierte sie, wenn sie der Versuchung erlag, ihre Erzählungen allzu sehr auszuschmücken.

“Es war fast, als ob die gesamte Südstaatenarmee in Melody House Zuflucht gesucht hätte”, sagte Penny.

“Die gesamte Südstaatenarmee”, schnaubte Matt. “Eine Kompanie, allerhöchstens. Zwanzig Mann, Penny, mehr nicht.”

Penny wischte den Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung vom Tisch. “Es waren großartige Soldaten”, fuhr sie unbeirrt fort. “Es hätten genauso gut Tausende sein können. Sie schlugen die Yankees …”

“Was? Die ganze Nordstaatenarmee?” fragte Matt mit belustigt funkelnden Augen.

“Hundert waren es mindestens!” gab Penny mit einem finsteren Blick auf ihren Brötchengeber zurück. “Das Entscheidende dabei aber ist, dass unsere Jungs nicht bereit waren aufzugeben und zu retten versuchten, was zu retten war, aber ihr Vorgesetzter, ein junger Hauptmann, wurde getötet. Eine Kugel, die durch das Fenster des Salons kam, traf ihn mitten ins Herz. Und er soll angeblich immer noch hier sein und Melody House bewachen.”

Matt lehnte sich weit über den Tisch. Seine Augen glitzerten, als er Darcys Blick suchte. “Und bis jetzt scheint ihm niemand gesagt zu haben, dass der Krieg vorbei ist und der Süden verloren hat. Übrigens, Yankeeakzente kann er gar nicht leiden – so erzählt man sich zumindest.”

“Wie gut, dass ich keinen Yankeeakzent habe”, gab Darcy zuckersüß zurück.

Mittlerweile waren sie bei der Nachspeise – einer köstliche Eistorte – angelangt. Darcy rechnete damit, dass jeden Moment ein mit einer makellosen Uniform bekleideter Butler auftauchte und verkündete, dass sich die Damen nach dem Essen zu Tee und Gebäck in den einen und die Herren zu Whiskey und Zigaretten in einen anderen Raum zurückziehen sollten.

Aber es kam kein Butler – zumindest an diesem Abend nicht. Sie hatten alle gemeinsam den Tisch gedeckt und das Essen aufgetragen.

“Und?” fragte Penny und schaute Darcy erwartungsvoll an. Darcy hatte das Gefühl, dass sie dieses fragende “Und” noch sehr oft von Penny hören würde.

“Und was?” gab sie lächelnd zurück.

“Haben Sie ihn schon gesehen?”

“Wen?”

“Na, unseren Hauptmann!”

“Den, der Melody House vor den marodierenden Yankees beschützt hat, die es niederbrennen wollten”, erinnerte Matt trocken.

Darcy zuckte mit den Schultern. “In den ersten Tagen versuche ich mich nur auf ein Haus einzustimmen”, erklärte sie Penny.

“Oh! Natürlich. Damit Sie die Schwingungen spüren”, sagte die Haushälterin mit einem weisen Kopfnicken.

“So ungefähr”, gab Darcy zurück.

“Dann gibt es hier also Schwingungen?” erkundigte sich Matt scheinheilig.

Sie schaute ihm fest in die Augen. “Das ganze Haus bebt”, erwiderte sie leise.

“Vor?”

“Feindseligkeit”, gab sie zur Antwort.

Clint lachte laut auf. “Die Lebenden senden auch Schwingungen aus, stimmts?”

Matt starrte Darcy einen Moment an, dann umspielte ein zerknirschtes Lächeln seine Mundwinkel. Darcy lief ein Schauer über den Rücken. Wenn er so schaute, wirkte er plötzlich ungemein sympathisch und liebenswert.

“Falls von mir feindselige Schwingungen ausgehen sollten, ist es keine böse Absicht”, sagte Matt einlenkend.

“Manchmal ist es nicht ganz einfach, diese Schwingungen zu lokalisieren”, sagte sie und merkte zu ihrer Überraschung, dass sie ebenfalls lächelte.

Und dass Penny, Clint und Carter sie und Matt anstarrten.

Errötend stand Darcy auf, wenn auch nicht ganz so geschmeidig, wie sie es sich gewünscht hätte. “Das Essen war wirklich wunderbar. Vielen Dank. Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Es ist schon spät, und ich hoffe, Sie nehmen es mir deshalb nicht übel, wenn ich mich jetzt zurückziehe. Ich bin ziemlich müde.”

Matt, Carter und Clint erhoben sich wie ein Mann. Ein gewisses Ausmaß an Höflichkeit schienen diese Männer – selbst Matt – offensichtlich doch noch mit der Muttermilch aufgesogen zu haben.

“Bestimmt schlafen Sie gut”, sagte Carter. “Ich habe auch schon im Lee-Zimmer übernachtet. Und wie Sie sehen, lebe ich noch.”

“Und er ist bisher kein einziges Mal mitten in der Nacht nackt die Treppe runtergerannt”, ergänzte Clint augenzwinkernd.

“Gott sei Dank!” keuchte Penny.

“He!” protestierte Carter. “Ich sehe nackt mindestens genauso gut aus wie angezogen.”

Darcy lachte. “Nun, ich denke, mir wird es an nichts fehlen.”

Sie war überrascht, als sie sah, dass Matt fast ein bisschen besorgt wirkte. “Ich schlafe heute Nacht im Haus, also rufen Sie einfach laut, wenn Sie irgendwelche Probleme haben.”

“Aber wie sollte das denn passieren? Sie glauben doch nicht an Gespenster!” erinnerte Darcy ihn.

Er zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. “Dafür glaube ich umso mehr an Menschen, die Böses tun”, brummte er. Seine seltsam tiefen grauen Augen ruhten einen Moment auf ihr. “Mein Zimmer ist am Ende des Flurs.”

Sie nickte und verabschiedete sich, dann verließ sie das Esszimmer und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie setzte langsam und bewusst einen Fuß vor den anderen, während sie darüber nachdachte, wie seltsam es war, dass Matt Stone in dem Haus absolut nichts Ungewöhnliches spürte. Penny hatte die Schwingungen erwähnt. Man fühlte sie, wo man ging und stand. Sanfte verlorene Seelen größtenteils.

Das einzig Böse schien aus dem Lee-Zimmer zu kommen.

Im Raum war es kühl, ungewöhnlich kühl sogar für die sommerliche Jahreszeit. Diese Tatsache versuchte sie ebenso zu ignorieren wie das erneute Gefühl, beobachtet zu werden. Ziemlich erschöpft kroch sie nach einer kurzen Dusche schließlich ins Bett. Als sie einschlief, lief im Fernsehen immer noch ein Film über die Geschichte Englands.

Tief in der Nacht begann sie zu träumen. Sie sah sich im Bett liegen und schlafen, gleichzeitig jedoch bewegte sie sich in einer anderen Persönlichkeit. Das Herz ihres schlafenden Selbst krampfte sich vor Angst zusammen, und in dem Moment, in dem sie den anderen kommen fühlte, spürte sie die Wut, eine tief sitzende, gefährliche Wut. Und dann …

… war sie dieser andere, sie sah, fühlte und wusste alles, was er sah, fühlte und wusste.

Eine verschmähte Frau … konnte gefährlich werden.

Er war tief in Gedanken versunken und schweigsam an diesem Abend, wütend, aber noch nicht ganz sicher, worauf er hinauswollte. Durch die Dunkelheit starrte er zum Haus hinüber und dachte an alles, was gewesen war und was noch kommen würde.

Das Haus wirkte majestätisch wie immer. Ein Haus, das ebenso einen Charakter hatte wie ein Mensch. Und so war es von Anfang an gewesen. Die Zeit hatte ihm genauso wenig anhaben können wie die Dramen, die sich in ihm abgespielt hatten. Das wusste er.

Sie war da.

Er wusste, dass sie da war.

Und es gab Dinge, die gesagt werden mussten. Dinge, die zwischen ihnen geklärt oder beendet werden mussten.

Und dennoch …

Er starrte immer noch auf das Haus. Und wartete. Er war nicht bereit, sich einzugestehen, dass er mit einer bösen Absicht gekommen war.

Sein Herz war hart wie ein Stein. Tief unten auf dem Grund seiner Seele lag das Samenkorn einer Idee, die Wahrheit, die noch aus den Gedanken verbannt werden musste. Er hatte keine andere Wahl.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, öffneten sich wieder, als würden sie sich um den Hals der Geliebten legen, die, wie er wusste, im Haus war.

Denn wenn eine Frau verschmäht wurde …

war sie so gut wie tot.

Darcy fuhr abrupt aus dem Schlaf hoch und merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte die Vergangenheit am eigenen Leib gespürt. Und zwar weniger einen bestimmten Menschen als vielmehr den Zorn und die Bösartigkeit, die Teil einer weit zurückliegenden Zeit waren.

Sie setzte sich im Bett auf und schaute sich im Zimmer um, dann schloss sie ihre Augen und öffnete sie erneut.

Was immer da bei ihr gewesen war, welche Gefühlsüberreste es auch gewesen sein mochten, es war jetzt weg.

Und doch …

Irgendetwas war da.

Irgendetwas, irgendjemand, heimlich, still und leise.

Schaute.

Wartete.

4. KAPITEL

“Wir wissen alle, weshalb wir uns hier versammelt haben.” Elizabeth Holmes hatte eine tiefe, aber sehr weibliche Stimme. Darcy hatte sich eine Frau aus dem Ort, die erst vor einem Jahr ihren Hang zum Okkulten entdeckt hatte, ganz anders vorgestellt. Sie hätte eher jemanden erwartet, der einen Turban trug oder die Augen dick mit schwarzem Kajal umrandete. Elizabeth Holmes hingegen wirkte alles in allem wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau zwischen fünfundfünfzig und sechzig – groß, schlank und elegant, mit silberweißem Haar und freundlichen blauen Augen.

Allein die Stimme passte zu dem Bild, das man sich allgemein von einem Medium machte.

Diese Stimme hallte im Esszimmer von Melody House, als ob die Wände Teil einer hochmodernen Verstärkeranlage wären.

“Melody House ist eine sehr alte ehrwürdige Dame, die seit dem Jahr 1710 hier auf diesem Felsen steht. Eine Dame, die in all diesen Jahren viele Freuden, aber auch viele Tragödien erlebt hat. Sie gehört zu den wenigen berühmten alten Häusern unseres Landes, die überlebt haben und sich immer noch in Händen der Nachfahren ihrer Erbauer befinden. George Washington hat hier geschlafen!” Elizabeth machte eine Pause und schaute lächelnd auf die Gruppe, die sich bei gedämpftem Kerzenlicht um den Tisch versammelt hatte. “George war hier, und es ist ein Wunder, dass Martha nicht viel aufgeregter war. Aber ich schweife ab. Washington war nicht der einzige berühmte Gast. Patrick Henry, Thomas Jefferson und viele große Männer aus der Revolutionszeit haben ebenfalls hier übernachtet, genauso wie Staatsmänner und Generäle aus anderen traurigen Kriegsperioden – Robert E. Lee, Stonewall Jackson, Jeb Stuart und sogar Ulysses Grant und Abe Lincoln sollen in Melody House Unterkunft gefunden haben. Das Haus hat bei Kämpfen, die hier stattfanden, viele Narben davongetragen, die man heute noch sehen kann. Innerhalb seiner Mauern sind Soldaten gestorben. Aber es gab auch tragische Begebenheiten, die nichts mit Kriegen zu tun hatten. Wie zum Beispiel die traurige Geschichte von der schönen Melody, der Tochter des Erbauers, die bei einem Streit zwischen ihrem Vater und ihrem Geliebten die Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach. Man erzählt sich, dass sie nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo wir im Moment sitzen, in den Armen ihres Liebsten starb. Oder denken wir an Eliza, die Tochter von General Stone, die angeblich ihre Nebenbuhlerin Sally Beauville vergiftet hatte, woraufhin deren Vater General Stone erschoss und dafür am Galgen endete. Und das sind längst nicht alle Geschichten. Es gibt noch unzählige mehr.

Melody House steht seit fast dreihundert Jahren, und wir können uns nur ausmalen, was für Dramen sich im Lauf dieser Zeit in seinen ehrwürdigen alten Mauern abgespielt haben, wie viele Leidenschaften und Träume hier gestorben sind. Der Mensch besteht aus Energie, und Energie vergeht nicht. Nun wird behauptet, dass es in Melody House spukt. Angenommen, hier sind tatsächlich Seelen zurückgeblieben, dann ist ihre Energie in diesen Mauern, und es wäre nur natürlich, wenn man sie heute spürt. Im Lauf der Jahre haben viele Menschen diese tragischen Seelen in Gestalt von Geistern gesehen oder geglaubt, sie zu sehen. Der mutige Andrew Jackson, der nur eine halbe Nacht in diesem Haus verbracht hat, soll gesagt haben, dass er lieber wieder gegen die Briten kämpfen würde, als sich noch einmal in eines der Betten von Melody House zu legen. Es gibt Leute, die schwören, beobachtet zu haben, wie eine Frau in Weiß die Treppe hinunterschwebt. Andere haben Soldaten in historischen Uniformen gesehen, und vielleicht schlagen hier tatsächlich immer noch einige Kämpfer ihre lange verlorenen Schlachten.” Elizabeth unterbrach sich mit einem bedauernden Lächeln, das verriet, wie gern sie noch weitererzählt hätte. “Aber gut. Legen wir nun unsere Hände so auf den Tisch, dass sie die jeweilige Hand unseres Nachbarn berühren, damit die Energie fließen kann, und dann werden wir sehen, ob uns die Geister etwas zu sagen haben.”

Obwohl es in Melody House schon seit langer Zeit Strom gab, stand heute Abend nur eine einzelne brennende Kerze auf dem Tisch.

Darcy hatte die Kälte bereits gespürt. Unabhängig davon, ob Elizabeth in der Lage war, mit der “Energie”, die im Haus zurückgeblieben war, Verbindung aufzunehmen oder nicht, hatte Darcy wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Aus welchem Stoff die Präsenzen, die in Melody House zurückgeblieben waren, auch sein mochten, sie waren anwesend. Darcy sah, wie Penny erschauerte.

Darcy wurde aus ihren Gedanken gerissen, als jemand sie leicht anstupste. Sicher, sie sollten ja die Hände auf den Tisch legen! Rechts von ihr saß Jason Johnstone, ein vor Ort lebender Schriftsteller und Historiker, und links von ihr Clint Stone. Er wirkte amüsiert, aber auch neugierig. Matt saß ihr gegenüber, neben Elizabeth. Auf seinem gemeißelten Gesicht lag ein Ausdruck von sorgfältig kontrollierter Ungeduld. Mae, die Barfrau aus dem Wayside Inn, die sich für den feierlichen Anlass fein herausgeputzt hatte, lächelte aufgeregt an Matts anderer Seite. Und zwischen Johnstone und Mae saß eine hübsche junge Frau mit dem unglaublichen Namen Delilah Dey, die erst vor kurzem in den Stadtrat gewählt worden war.

David Jenner von Jenner Electronics, der bei Darcys Eintreffen ebenfalls im Wayside Inn gewesen war, stand mit Videokamera und Kassettenrekorder in einiger Entfernung vom Tisch. Darcy hatte erwogen, ebenfalls einen Teil ihrer Ausrüstung mit nach unten zu bringen, hatte sich dann jedoch dagegen entschieden.

“Wir haben uns hier zu einem wohlwollenden und fürsorglichen Kreis zusammengeschlossen und bitten um Hilfe bei einigen vergangenen und gegenwärtigen Problemen”, begann Liz, an die Geister gewandt. “Wir sind in Zuneigung und Freundschaft gekommen, bereit, jeder Präsenz in diesem Haus eine Stimme zu verleihen, die sich danach sehnt. Unser Verstand und unser Herz sind offen. Ihr Geister seid gerufen, uns ein Zeichen zu geben.”

Darcy verspürte einen Luftzug im Nacken und schloss die Augen. Sie war ihre Angst nie richtig losgeworden. Josh, der mit seinen übersinnlichen Fähigkeiten bereits auf die Welt gekommen war, kannte keine Furcht. Aber für Darcy, für die sich irgendwann ganz unerwartet eine Tür ins Jenseits geöffnet hatte, war es immer noch eine beängstigende Erfahrung. Obwohl sie wusste, dass sie diese beunruhigenden Sinneswahrnehmungen zulassen musste, hatte sie jedes Mal das Gefühl, als presse eine eisige Hand ihr Herz zusammen, und es bedeutete stets eine Überwindung für sie, das zu tun, von dem sie wusste, dass sie es konnte.

Sprich mit mir, bat sie in Gedanken.

Als sie ein Klopfen hörte, riss sie die Augen wieder auf. Dann spürte sie eine Art Ruck, der durch alle Anwesenden ging, um sich am Ende in einer Person zu konzentrieren.

“Wir haben Verbindung!” sagte Elizabeth mit vor Aufregung vibrierender Stimme. “Bitte, klopf noch einmal, wenn du bei uns bist.” Alle hielten den Atem an.

Es klopfte.

Darcy, die nicht daran glaubte, dass ein Geist geklopft hatte, schaute sich zweifelnd um. Matt wandte ebenfalls den Kopf.

Die Präsenz, die Darcy so nah gewesen war und kurz davor, sich zu erkennen zu geben, hatte sich wieder zurückgezogen.

“Bist du die Frau in Weiß?” fragte Elizabeth.

Keine Antwort.

“Oder vielleicht ein Soldat?”

Es klopfte wieder.

Als Darcy Matts Blick begegnete, sah sie die Feindseligkeit in seinen Augen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Offenbar hatte er sie in Verdacht, geklopft zu haben.

“Hast du in revolutionären Zeiten gelebt?” fragte Elizabeth in einfühlsamem Ton.

Nichts. Matt starrte Darcy noch immer an.

“Vielleicht während des Bürgerkriegs?” forschte Elizabeth behutsam.

Wieder ein Klopfen.

“Ja, ja!” sagte Elizabeth mit geschlossenen Augen und konzentriert. “Wir glauben, deine Geschichte zu kennen. Du hast so hart für eine gerechte Sache gekämpft. Dafür bist du in diesem Haus gestorben. Aber du musst nicht mehr kämpfen. Der Krieg ist lange vorbei. Wir leben im Frieden. Es ist gut. Du kannst ruhen. Hast du mich gehört? Du kannst Frieden finden.”

Wieder ein Klopfen, erst zaghaft, dann mehrmals rasch hintereinander.

“Wir wollen aber nicht, dass unsere Geister weggehen! Wir wollen nur, dass sie glücklich sind”, sagte Penny flüsternd zu Elizabeth und schaute sie vorwurfsvoll an.

“Sie sind nur glücklich, wenn sie in Frieden ruhen”, sagte Carter und schaute Penny mit einem seltsamen Lächeln an.

“Gott, wie aufregend das alles ist!” wisperte Mae.

“Psst!” sagte Elizabeth, dann stöhnte sie leise auf. “Jetzt ist die Verbindung abgerissen.”

Irgendwo am Tisch schnaubte jemand höchst ungeduldig. Es war Matt.

“Bitte!” sagte Elizabeth. “Hauptmann, du bist doch ein Hauptmann, oder?” fragte sie den Geist.

Keine Reaktion.

“Sag es uns. Wir sind deinetwegen hier”, fuhr Elizabeth fort.

Wieder klopfte es.

“Ja, du bist ein Hauptmann. Ein wahrer Gentleman, der immer noch für seine Ziele kämpft!”

Plötzlich ertönte ein spitzer Schrei. Der Tisch ruckte.

Den Schrei hatte Delilah ausgestoßen. “Irgendetwas hat mich am Oberschenkel berührt.”

“Das würde sich ein Hauptmann nie erlauben”, bemerkte Clint trocken.

Der Tisch bewegte sich wieder.

Fluchend sprang Matt auf. “Es reicht. David, kannst du bitte das Licht anmachen?” rief er.

Als es hell wurde, wanderte sein Blick zornig von einem zum anderen. “Wer von euch hat Delilah angefasst?”

“Matt, wir hatten eine Verbindung, eine richtige Verbindung”, rief Elizabeth bestürzt.

“Oh, bitte!” gab Matt ungehalten zurück.

“Mit einem Geist, der sich offenbar nicht beherrschen konnte”, mutmaßte Carter belustigt.

Matt starrte ihn finster an. “Ich wars nicht!” protestierte Carter.

“Niemals!” verwahrte sich auch Clint.

“Ich sage Ihnen, wir hatten Verbindung mit einem Soldaten aus dem Bürgerkrieg”, beharrte Elizabeth.

Delilah erschauerte. “Glauben Sie wirklich, dass da ein … Hauptmann aus dem Bürgerkrieg hier mit uns in diesem Raum war?”

“Unter uns befindet sich immerhin eine Expertin. Wir sollten sie um ihre Meinung fragen”, sagte David und richtete seine immer noch laufende Kamera auf Darcy. “Was denken Sie?”

Die zuckte mit den Schultern und schwieg einen Moment, bevor sie ausweichend erwiderte: “Ich fürchte, so schnell konnte ich mir keine Meinung bilden.”

Jason lächelte sie an. “Aber was ist Ihr erster Eindruck? Was fühlen oder ahnen Sie? Spukt es in Melody House tatsächlich?”

“Das Haus hat eine aufregende Geschichte”, gab Darcy absichtlich vage zurück. “Man bekommt hier beinahe automatisch ein Gefühl für die Vergangenheit. Vielleicht ist es allein das.”

Clint lachte. “He, um Ausreden sind Sie aber auch wirklich nicht verlegen, das muss man Ihnen lassen.”

“Ich war so aufgeregt”, meldete sich Elizabeth wieder zu Wort. “Und ich weiß ganz genau, dass ich Verbindung bekommen habe. Aber wir werden die Sitzung wiederholen. Wir haben gerade erst begonnen. Allerdings glaube ich nicht, dass es gut wäre, wenn wir es heute Abend noch mal versuchen würden. Ich meine … also, ich finde, wir sollten ein bisschen Zeit verstreichen lassen. Matt …”

“Elizabeth, seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte nicht, dass hier noch weitere derartige Treffen stattfinden. Es tut mir wirklich Leid, aber ich glaube nicht an diesen Zauber.”

“Matt, Sie sind wirklich ein Zyniker!” protestierte Penny.

“Oje, oje”, sagte Delilah, und um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln, während sie die Männer im Raum musterte.

“Er verdächtigt entweder dich oder mich”, sagte Carter zu Clint.

“Du sagst es”, gab Matt verärgert zurück.

Darcy hielt es nicht länger aus und entschuldigte sich damit, dass sie kurz frische Luft schnappen wolle.

“Ich hole eine kleine Stärkung”, sagte Penny.

“Ah, endlich etwas zu trinken!” bemerkte Carter hocherfreut.

“Warten Sie, ich helfe Ihnen”, bot Mae Penny eifrig an. “Gott, wie aufregend das alles ist! Ich bin mir sicher, dass Elizabeth Verbindung bekommen hat. Haben Sie es nicht gespürt? Da war plötzlich so ein kalter Luftzug. Da war jemand bei uns. Etwas. Ganz bestimmt. Und, Matt, du musst es wieder erlauben. Du musst einfach. Du musst!”

Darcy hörte Maes letzte Worte noch, als sie das Foyer betrat und das Haus verließ. Sie verspürte leichte Gewissensbisse, weil sie Penny keine Hilfe angeboten hatte, aber sie sehnte sich nach frischer Luft.

Was für eine herrliche Nacht! Die Berge waren ganz nah, und am samtschwarzen Nachthimmel glitzerten Abermillionen Sterne. Darcy lehnte sich für einen Moment gegen die Verandabrüstung und sog die mit Blumenduft angereicherte Luft tief in die Lungen.

Gleich darauf setzte sie sich in einen der Schaukelstühle und genoss es, den weichen Wind auf ihrer Haut zu spüren, wobei sie überlegte, wer oder was da wohl geklopft haben mochte.

Nur wenig später wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, weil sie etwas neben sich fühlte. Etwas höchst Lebendiges allerdings, das einen schwachen Duft nach After Shave verströmte.

Als sie die Augen aufmachte, sah sie, dass sich Matt in den Stuhl neben sie gesetzt hatte und sie schweigend musterte.

Sie wandte sich ab, schaute in die Nacht hinaus und beantwortete dann seine unausgesprochene Frage: “Nein, ich glaube nicht, dass es ein Geist war, der geklopft hat.”

Um seine Mundwinkel zuckte ein zerknirschtes Lächeln.

“Das beruhigt mich! Wenn Sie etwas anderes gesagt hätten, hätte ich nämlich jedes Vertrauen in Sie verloren.”

“Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass Sie überhaupt Vertrauen zu mir haben.”

“Es gibt noch mehr, was Sie nicht wissen.”

“Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute nicht an Übersinnliches glauben”, sagte Darcy. “Gleichzeitig aber haben sie den Verdacht, dass es zwischen unserer Welt und der Welt der Toten vielleicht doch irgendwie geartete Bande geben könnte.”

Er schaukelte eine Weile schweigend und sagte dann immer noch tief in Gedanken: “In unserer Familie gibt es eine lange militärische Tradition. Ich bin gleich nach der Schule auf die Militärakademie gegangen und war anschließend mehrere Jahre in der Armee. Die Toten, die ich damals sah, haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gegraben. Nach dem Militärdienst habe ich zuerst als Polizist im Großraum Washington gearbeitet, und obwohl die meisten Leute davon ausgehen, dass sich dort nur Politkrimis abspielen, gibt es viele Verbrecher, die wissen, wie man tötet, das können Sie mir glauben. Der Tod ist meistens hässlich und setzt unweigerlich einen Schlusspunkt. Ich kenne den Tod gut. Wer also könnte ein besseres Bindeglied zur Vergangenheit sein als ich?”

Darcy lachte. “Nicht, wenn es in Ihrem Kopf nicht einmal einen winzigen Spalt gibt, der es den Toten erlaubt, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.”

Matt schaukelte einen Augenblick schweigend weiter, dann schaute er sie mit diesem Lächeln an, bei dem ihr unweigerlich ganz heiß wurde, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.

“Nach dem Tod meines Vaters habe ich mir sehnlichst gewünscht, wenigstens noch ein einziges Mal mit ihm sprechen zu können. Ich hätte alles dafür gegeben – ich wäre sogar zu ihm in den Sarg gekrabbelt, so sehr liebte ich ihn. Als mein Großvater starb, fühlte ich genauso, nur dass ich damals schon älter war und es leichter hinnehmen konnte, dass sein Leben, ein gutes Leben, an seinem Ende angelangt war.”

Die Gefühle, die in seinen Worten mitschwangen, rührten Darcy. Matt schien das zu merken und wechselte das Thema: “Das waren doch nicht etwa Sie, die da geklopft hat, oder?”

Automatisch versteifte sich Darcy: “Natürlich nicht! Aber soll ich Ihnen mal was sagen: Ich glaube, Sie haben etwas gegen Frauen. Bei Ihren Ausführungen eben zum Beispiel haben Sie mit keinem Wort Ihre Mutter erwähnt.”

In diesen so seltsam grauen Augen glomm ein gefährlicher Funke auf. “Oh, ich habe absolut nichts gegen Frauen, Darcy. Die Aufrichtigen sind mir sehr sympathisch … Und meine Mutter habe ich nicht erwähnt, weil ich bei ihrem Tod erst ein paar Monate alt war und von daher kaum Zeit hatte, sie kennen zu lernen.”

Darcy wandte sich wieder ab und schaute in die Nacht hinaus. “Das tut mir Leid.”

“Und Sie?”

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. “Ich habe absolut nichts gegen Frauen.”

“Nein, ich meine, wie haben Sie Ihre übersinnlichen Fähigkeiten entdeckt?”

“Ach das”, murmelte sie.

“Na?”

“Nun, ich hatte zusammen mit einem sehr guten Freund einen Autounfall. Er kam dabei ums Leben.”

“Und nach seinem Tod hat er mit Ihnen Verbindung aufgenommen?”

“So ähnlich.” Sie machte sich wieder auf eine höhnische Bemerkung gefasst, stattdessen aber spürte sie überrascht, dass er seine Hand sanft auf ihre legte.

“Glauben Sie nicht, dass manche Menschen nur Geister sehen, weil sie sich so verzweifelt wünschen, wenigstens noch ein einziges Mal mit einem ganz bestimmten Menschen sprechen zu können?” fragte er leise.

“Manchmal schon.”

“Aber bei Ihnen war das nicht der Fall?”

“Ich wünschte, es wäre so”, erwiderte Darcy aufrichtig.

In seinen Augen blitzte fast so etwas wie Sympathie auf, und der Blick, mit dem er sie plötzlich betrachtete, ließ ihr das Herz bis zum Hals klopfen. Ihr fiel plötzlich auf, dass sie sich schon seit Jahren zu niemandem mehr so hingezogen gefühlt hatte. Vielleicht sogar noch nie. Dieser Mann hatte etwas an sich, das über seine außergewöhnliche Erscheinung und die Aura von Autorität und Sicherheit, die er ausstrahlte, weit hinausging. Etwas, das in ihr den Wunsch weckte, sich an ihn zu schmiegen, sein Gesicht zu streicheln und zu fühlen, wie die Wärme, die sich in ihr angesammelt hatte, explodierte und noch weit größere Gefühle auslöste. Sie hatte fast Angst davor, seine Stimme zu hören, weil sie ahnte, dass sie dann der Versuchung, sich weiter zu ihm hinüberzulehnen, nicht mehr widerstehen könnte.

Doch gerade als er etwas sagen wollte, flog die Haustür auf und Delilah kam, über das ganze Gesicht lächelnd und vor Charme sprühend, auf die Veranda gefegt.

“Wollen Sie nicht wieder reinkommen und uns noch ein bisschen Gesellschaft leisten? Penny ist wirklich unschlagbar, Matty! Sie glauben gar nicht, was für leckere Sachen sie vorbereitet hat.”

Betreten sahen die beiden zu der jungen Frau auf. Darcy hatte Delilah auf Anhieb sympathisch gefunden. Jetzt aber verwünschte sie sie.

“Wir kommen.” Delilah verschwand wieder im Haus, und Matt hielt Darcy die Hand hin. “Sie doch auch, oder?”

Darcy nahm seine Hand und stand auf. Als ihre Finger sich berührten, war ihr, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Sie fragte sich, ob er dasselbe gefühlt hatte.

“Matty?” fragte sie beiläufig mit hochgezogener Augenbraue.

“So was passiert eben, wenn man in einer Kleinstadt lebt und die Leute zu lange und zu gut kennt.”

“Aha”, murmelte sie, obwohl sie am liebsten hinzugefügt hätte: Wie gut?

Aber sie verkniff es sich und ging wieder mit ihm ins Haus.

Penny hatte sich wirklich mächtig ins Zeug gelegt. Es gab Tee, Kaffee, Mixgetränke, Chips mit verschiedenen leckeren Dips, Buffalo Wings, Pecan Pie nach Südstaatenart und viele andere köstliche Häppchen, die sie, wie Darcy wusste, im Lauf des Tages vorbereitet hatte.

Darcy hatte absolut keinen Hunger, nahm aber Penny zum Gefallen ein Stück selbst gebackenen Kuchen und einen Irish Coffee – coffeinfreien, wie ihr Penny versicherte, der sie nicht die ganze Nacht wach halten würde. Clint und Carter alberten herum und beschuldigten sich gegenseitig, geklopft zu haben. Delilah machte ihnen schöne Augen, und Mae bedankte sich bei Matt wortreich für die Einladung, wobei sie geschickt einfließen ließ, dass sie sich freuen würde, bei der nächsten Séance wieder dabei sein zu dürfen. Liz schimpfte mit den Jungs, weil sie sich über eine derart ernste Angelegenheit lustig machten. Penny gab die perfekte Gastgeberin, und David Jenner hielt einen Vortrag über die Qualität von Videobändern.

Schließlich machten sie sich daran, den Tisch abzuräumen. Darcy spülte die benutzten Teller unter fließendem Wasser ab und stellte sie in die Maschine. Clint und Carter gaben vor, ihr zu helfen, während sie in Wahrheit nur mit ihr zu flirten versuchten. Darcy mochte die beiden irgendwie, obwohl sie bei dem bärtigen Carter stets das seltsame Gefühl beschlich, einen Wiedergänger von Jeb Stuart vor sich zu haben. Seltsam überdreht und gleichzeitig erschöpft überließ sie die beiden bei der erstbesten Gelegenheit sich selbst, wünschte allen eine gute Nacht und beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen.

Sie zog sich aus und fiel fast sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Aus dem sie aufschrak, als plötzlich ein stummer Schrei in ihr Unterbewusstsein drang. Erschrocken fuhr Darcy hoch und schaute sich um.

Und da war sie, eine Frau in einem bodenlangen, silbrigweiß schimmernden Negligee. Sie stand an der Tür, mit einer Hand an der Kehle, der dieser Schrei entfahren war.

Darcy sah in dem diffusen Licht, wie die Frau sich verzweifelt abmühte, den Riegel vor die Tür zu schieben, es aber nicht schaffte, weil jemand von außen dagegen drückte. Daraufhin raste die weiße Gestalt zum Bett, und als sich ihre Blicke für einen Moment begegneten, erkannte Darcy die flehentliche Bitte in den Augen der Frau. Hilf mir! riefen sie.

Hier war ein Mensch, der versuchte, dem Tod zu entrinnen. Kaum eine Sekunde später flog die Schlafzimmertür auf. Darcy sah eine große schwarze Gestalt den Raum betreten. Sie ging auf die Frau zu, und eine Sekunde später blitzte eine Messerklinge auf, so klar und deutlich, als ob sie vom Strahl einer Taschenlampe erfasst worden wäre.

Wieder ertönte der Schrei … grauenhafter noch als zuvor.

Das Messer …

Die Klinge näherte sich Darcy gefährlich.

Sie war nicht leicht zu erschrecken. Immerhin war sie daran gewöhnt, mit den Toten in Verbindung zu treten. Doch in dieser Nacht …

Das Böse war fast mit Händen zu greifen, die Gefahr schien so real. Das Messer … bedrohte sie, das spürte sie genau.

Darcy ermahnte sich zur Ruhe. Sie hatte lediglich ein Bild aus der Vergangenheit vor sich. In Wirklichkeit war da kein Messer, das eine schattenhafte Gestalt gegen sie richtete. Was sie sah, war nur eine Episode, die sich in längst vergangenen Zeiten abgespielt hatte.

Aber das Messer kam eindeutig weiter auf sie zu, glitzernd und … tropfend.

Es tropfte von Blut.

Von ihrer Angst übermannt sprang Darcy aus dem Bett, und jetzt war sie selbst diejenige, die schrie. Das Bild verblasste nicht. Was sie vor sich hatte, war keine unerlöste Seele, sondern das nackte Böse. Todesangst, älter und elementarer als jede andere menschliche Emotion, erfasste sie, und wie von wilden Furien gehetzt rannte sie an der Erscheinung vorbei auf den Flur.

Als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, hörte sie hinter sich jemanden ihren Namen rufen. Ruckartig blieb Darcy stehen. Langsam begann ihr Verstand wieder zu arbeiten.

Und dann hätte sie sich am liebsten selbst einen Tritt gegeben.

Matt Stone kam in offenem Bademantel und Boxershorts hinter ihr die Treppe hinuntergestürmt und rief nach ihr.

Unten wurde sie bereits von Penny im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren erwartet.

Auch Carter und Clint ließen nicht lange auf sich warten.

Für Darcy hatte die Tatsache, dass sich alle so plötzlich am Fuß der Treppe versammelten, etwas Unheimliches. Sie empfand es fast so bizarr wie ihren Traum – oder die Wirklichkeit, die sie soeben erlebt hatte. Aus allen Himmelsrichtungen strömten sie in das Foyer, erschrocken zunächst, und als sie merkten, dass ihr nichts fehlte, erstaunt oder verärgert.

Matt Stone musterte sie mit einem harten, argwöhnischen Blick.

“Haben die Geister Sie aus dem Zimmer gescheucht?” fragte er mit einem leicht verächtlichen Unterton in der Stimme. “Dabei dachte ich, dass Sie die Geister jagen und nicht umgekehrt.”

Sie schaute Matt an. “Es tut mir Leid. Ich muss einen Albtraum gehabt haben.”

“Aha, ich hätte nicht gedacht, dass Albträume schlimmer sein können als Gespenster”, brummte Matt.

“Sie haben die Frau in Weiß gesehen”, sagte Penny.

“Nein”, sagte Darcy entschieden. “Ich habe wirklich nur schlecht geträumt. Ich gehe jetzt wohl besser zurück in mein Zimmer.”

Doch Matt schien sie nicht zu hören. Er eilte den Flur zurück und stieß die nur angelehnte Tür des Lee-Zimmers auf. Mit Carter und Clint im Schlepptau betrat er den Raum. Finster entschlossen riss Matt die Schranktür auf und fegte die Bügel mit Darcys Kleidungsstücken rücksichtslos beiseite, ohne zu wissen, wonach er suchte. Als er nichts fand, schaute er unters Bett, dann ging er zur Balkontür und riss sie ebenfalls auf. Er trat auf den Balkon, spähte in die Nacht und kam wenig später mit über der Brust verschränkten Armen ins Zimmer zurück. Grimmig sah er Darcy an.

“Was genau haben Sie gesehen?”

“Nichts”, log sie. “Ich hatte nur einen Traum, das ist alles. Es tut mir Leid, wirklich. Es tut mir wirklich schrecklich Leid.”

“Ich glaube nicht, dass Sie weiter in diesem Zimmer schlafen sollten.”

Sie spürte, dass ihre Angst zurückkehrte, aber sie gab ihr nicht nach.

“Das muss ich aber.”

“Warum? Sie können Ihrer Arbeit auch tagsüber hier nachgehen.”

Darcy schüttelte den Kopf. “Hören Sie, ich sage es noch einmal, es tut mir wirklich sehr Leid. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich.”

“Ich bestehe aber darauf, dass Sie umziehen”, beharrte Matt.

“Hören Sie, ich bin aus einem Albtraum aufgeschreckt, das ist alles. Und für meine Nachforschungen ist es unerlässlich, dass ich hier bleibe. Lassen Sie es mich wenigstens noch einmal versuchen”, bat Darcy, die aus Erfahrung wusste, dass sie die Angst, die sie befallen hatte, überwinden konnte. Ein zweites Mal würde sie garantiert nicht panisch aus dem Lee-Zimmer flüchten.

“Hör zu, Matt”, versuchte Carter die Wogen zu glätten, “deine Sturheit ist ja allgemein bekannt, aber Miss Tremayne steht dir in diesem Punkt offenbar in nichts nach. Deshalb schlage ich vor, du lässt sie jetzt einfach wieder ins Bett gehen, damit wir alle weiterschlafen können. Du glaubst doch sowieso nicht an Geister.”

“Ich glaube zwar nicht an Geister, aber ich glaube daran, dass es Menschen gibt, die Böses tun”, sagte Matt, ohne Darcy aus den Augen zu lassen.

“Sie schlafen doch praktisch nebenan”, wandte sie ruhig ein.

“Ich will aber nicht, dass Ihnen irgendetwas zustößt! Das hätte mir nämlich gerade noch gefehlt”, brummte er unwirsch.

“Weil es schlecht für Ihren Ruf wäre?” fragte sie in beißendem Ton und fügte hinzu: “Hören Sie, ich verspreche Ihnen, nicht ein weiteres Gespenst von Melody House zu werden. Im Übrigen darf ich Sie vielleicht daran erinnern, dass ich ein erwachsener Mensch bin.”

Einen Augenblick sah Matt sie scharf an, dann warf er die Hände in die Luft und wandte sich ab. Clint grinste und hob den Daumen. Carter zwinkerte ihm zu. Nur Penny wirkte noch immer besorgt.

“Sind Sie sicher, dass Sie allein zurechtkommen?” fragte sie leise.

“Absolut”, versicherte Darcy.

“Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Ma’am”, sagte Clint in scherzhaftem Ton zu Darcy. “Sie haben es hier mit drei äußerst charmanten und heldenhaften Südstaatengentlemen zu tun, die bereit sind, Sie jederzeit aus der Gefahr zu retten. Wir würden uns glücklich schätzen, einen Geist, der Sie bedrängt, in die Flucht schlagen zu dürfen.”

Penny stöhnte laut auf. “Marsch ins Bett, ihr zwei. Hoffen wir bloß, dass nicht einer der Geister beschließt, einem von euch seine Aufwartung zu machen. Dann würde euch euer respektloses Gerede nämlich bald Leid tun!”

“Schon gut, schon gut, wir verschwinden ja schon”, sagte Clint begütigend und fuhr an Darcy gewandt fort: “Im Ernst: Schreien Sie einfach laut, wenn Matt nicht schnell genug zur Stelle ist.”

“Gute Nacht”, sagte Darcy mit einem Lächeln für Penny und einem nicht besonders freundlichen Blick für Matt, nachdem die beiden Männer gegangen waren. “Es tut mir wirklich Leid. Es wird nicht wieder vorkommen.”

Matt nickte nur und war gleich darauf in seinem Zimmer verschwunden.

Penny blieb noch einen Moment stehen. In einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, sagte sie: “Selbstverständlich sind sie da, ich weiß es genau.”

Darcy lächelte. “Wir müssen nur herausfinden, was sie wollen.” Sie zögerte. “Wenn Geister aggressiv werden, versuchen sie uns damit etwas zu sagen.”

Penny erschauerte. “Es wird schlimmer werden”, sagte sie nachdenklich und schaute dabei verunsichert auf Matts geschlossene Tür. “Vielleicht hat er ja doch Recht. Vielleicht sollten Sie wirklich woanders schlafen und Ihre Nachforschungen nur tagsüber im Lee-Zimmer anstellen.”

“Penny, das ist mein Beruf!” erinnerte Darcy sie. “So etwas mache ich jeden Tag. Das lag nur an … an der Eindringlichkeit meines Traums. Aber es ist okay. Wirklich.”

Penny wirkte noch immer nicht überzeugt, wünschte Darcy aber dennoch eine gute Nacht und ging.

Darcy schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Die Temperatur im Zimmer schien sich normalisiert zu haben; die Luft war klar wie an einem Morgen in den Bergen. Darcy war überzeugt, dass sie für heute ihre Ruhe haben würde. Nun, nachdem sie ihre Angst überwunden hatte, ging es ihr besser. Sie fühlte sich stärker als vorher, gewappneter. Und noch entschlossener.

Melody House barg viele Geheimnisse. Offensichtlich aber war, dass die Frau in Weiß eines gewaltsamen Todes gestorben und ihr Mörder nie zur Rechenschaft gezogen worden war.

Darcy fuhr sich mit kaltem Wasser über das Gesicht, schaute sich noch einmal um und legte sich dann wieder ins Bett.

Wenig später jedoch schrak sie ein weiteres Mal aus dem Schlaf hoch.

Sie erfühlte das Zimmer, konnte aber nichts erkennen. Und dennoch, irgendetwas hatte sie geweckt.

Sie stand auf. Reglos verharrte Darcy neben dem Bett und versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Da war nichts, nur Stille.

Sie ging zu den geöffneten Balkontüren und strich im Vorbeigehen mit der flachen Hand über die Vorhänge. In dem Moment, in dem sie auf den Balkon hinaustrat, kam ein Windstoß und wehte ihr die Vorhänge ins Gesicht. Gleichzeitig spürte sie, wie sich starke Arme um sie legten und eisern festhielten.

5. KAPITEL

Carter musterte Clint argwöhnisch, als sie die Treppe zu ihren Apartments über den Stallungen hinaufstiegen.

“Warum hast du das gemacht?” fragte er.

Clint schaute ihn überrascht an. “Was?”

“Warum hast du geklopft?”

“Das war ich nicht. Ich dachte, du seist es gewesen.”

“Himmel, nein.”

“Na, dann war es ja vielleicht doch ein Geist”, sagte Clint beiläufig.

“Ach, fängst du jetzt auch schon so an?” fragte Carter spöttisch.

Clint schwieg einen Moment und meinte dann nachdenklich: “Penny.”

“Was ist mit Penny?” fragte Carter.

“Sie könnte es gewesen sein. Weil sie unbedingt beweisen will, dass es in Melody House Geister gibt.”

“Ja, schon, aber kannst du dir wirklich vorstellen, dass Penny heimlich klopft?”

“Warum nicht?” fragte Clint mit einem Schulterzucken.

“Und dann wäre da noch Elizabeth – das Medium”, fügte er mit einem Auflachen hinzu. “Sie muss sich selbst beweisen – vor allem in Gegenwart einer echten Geisterjägerin.”

“Hm”, überlegte Carter. “Und wie findest du es, dass unsere Geisterjägerin mitten in der Nacht genau so panisch aus ihrem Zimmer läuft wie die junge Braut?”

Clint grinste breit. “Bloß schade, dass sie im Gegensatz zu der errötenden Braut etwas anhatte.”

“Pass gut auf, was du sagst, Junge”, scherzte Carter, der diese Vorstellung nicht weniger anregend fand. Dann fuhr er fort: “Ich wundere mich einfach. Darcy Tremayne ist weder ängstlich noch hysterisch, und ich frage mich, was sie derart in Panik versetzt haben könnte, dass sie so reagiert. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmt. Vielleicht hat Matt Recht, und irgendjemand veranstaltet da im Lee-Zimmer einen Hokuspokus. Dann würde ich aber wirklich verdammt gern wissen, wer das ist.”

“Blödsinn, das ist alles nur Einbildung”, tat Clint die Sache ab und grinste. “Wir hatten doch beide schon viel Spaß in dem Zimmer, oder etwa nicht? Und Matt genauso. Himmel, ich habe dort einige meiner besten Nächte verbracht. Frauen fliegen auf so unheimliches Zeug. Aber bei mir hat sich nie ein Geist blicken lassen. Bei dir etwa?”

“Kein einziger”, beteuerte Carter.

“Na schön, dann vergiss es.”

“Sicher, aber irgendjemand veranstaltet hier doch seinen faulen Zauber. Nur, wenn du es nicht bist und ich auch nicht … wer könnte es dann sein? Und warum tut er es?” fragte Carter.

“Keine Ahnung”, erwiderte Clint zögernd. “Aber interessieren würde es mich schon.”

Wenn sie einen Gast im Haus hatten, logierte Penny, die normalerweise ebenfalls ein Apartment über den Stallungen bewohnte, meistens im Stuart-Zimmer, das links um die Ecke nur zwei Türen vom Lee-Zimmer entfernt lag.

Sie hätte ins Bett gehen sollen, aber ihr fehlte nach den Ereignissen die Ruhe dazu. Ihre Gedanken drifteten zu Matt. Was musste eigentlich noch alles passieren, bis ihm klar wurde, dass dieses Haus außergewöhnlich war? Oh, natürlich, er liebte das Anwesen und wusste auch, dass es historisch bedeutsam war. Aber es war mehr. Einzigartig. Was um Himmels willen sollte sie bloß tun, um zu beweisen, dass sie Recht hatte?

“Ich bin hier! Ich höre zu!” sagte sie laut. “Sprich mit mir, wer oder was du auch immer bist. Ich werde deine Geschichte weitererzählen.”

Wartend schaute sie sich um.

Aber der Geist hatte ihr offensichtlich nichts zu sagen.

“Mir macht es nichts aus, wenn du mich an den Haaren ziehst oder mich schlägst, aber die anderen solltest du besser in Ruhe lassen. Ich bin bereit, dir zu helfen.”

Noch immer regte sich nichts, und mit einem missbilligenden Schnauben ging nun auch Penny endlich schlafen.

Darcy wurde, eingehüllt in den voluminösen weißen Vorhang, von zwei bärenstarken Armen festgehalten, die unnachgiebig waren wie Schraubstöcke. Gepackt von instinktiver Angst, aber dennoch entschlossen, Widerstand zu leisten, öffnete sie den Mund, um zu schreien.

Doch der Laut blieb ihr im Hals stecken, weil eine vertraute Stimme an ihr Ohr drang. “Wer sind Sie, und was zum Teufel wollen Sie hier?”

Die Stimme, die tief und gefährlich leise war, fuhr ihr messerscharf durch Mark und Bein, bis Darcy sie erkannte und die Angst von ihr abfiel.

Sie verharrte einen Moment reglos, dann sagte sie: “Ich bin Ihr unerwünschter Gast und wollte gerade auf den Balkon gehen, als mir ein Windstoß den Vorhang ins Gesicht wehte. Und gleich darauf packte mich jemand äußerst unsanft.”

Sie spürte, wie sich der Schraubstock langsam löste. Für einen Sekundenbruchteil genoss sie es, von Matts muskulösen Armen umfasst zu werden, genoss die Wärme, die sein Körper abstrahlte, das angenehme Gefühl, gehalten zu werden, das pulsierende Leben, seine Männlichkeit und Sexualität. Darcy geriet leicht ins Taumeln.

Dann gaben seine Arme sie frei.

Eilig versuchte sie, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, während er sie aus dem Vorhang wickelte, in dem sie sich hoffnungslos verheddert hatte.

Mit geröteten Wangen und zerzaustem Haar sah sie ihn an. “Was machen Sie auf meinem Balkon?” fragte sie energisch.

Matt verschränkte die Arme vor der Brust. “Zum einen ist es mein Balkon, und zum anderen bin ich nicht herumgeschlichen. Aber ich gebe die Frage gern an Sie weiter: Was bitte treibt Sie mitten in der Nacht auf den Balkon?”

“Ich habe etwas gehört.”

“Mich offensichtlich.”

“Aha – und was hat Sie nach draußen getrieben?”

“Ich habe etwas gehört – offenbar Sie.”

Sie schüttelte den Kopf. “Ich bin mir sicher, dass ich erst etwas hörte und dann auf den Balkon ging.”

“Ich gestatte mir, anderer Meinung zu sein.”

“Ich bitte Sie, das Ganze bekommt langsam etwas Lächerliches.”

Er musterte sie mit hochgezogener Augenbraue, und aus seinem Gesichtsausdruck ließ sich schließen, dass für ihn allein die Situation, sie in seinem Haus zu haben, etwas Lächerliches hatte.

Sie atmete tief aus. “Hören Sie, Ihre Nacht war unruhig genug … Da außer uns beiden niemand hier draußen ist, finde ich, dass wir jetzt beide wieder beruhigt ins Bett gehen können.”

“Sie sollten Ihre Balkontür künftig abschließen”, sagte Matt trocken.

“Und warum, wenn ich fragen darf?”

“Weil Ihnen jemand offensichtlich einen Streich spielen will.”

“Dann nehmen Sie also an, die Gefahr kommt von außerhalb?”

“Von wo sonst?”

“Warum weigern Sie sich so bloß so hartnäckig zu glauben, dass nicht alles auf der Welt rational erklärbar ist?” fragte sie leise.

“Ich weigere mich nur, an Gespenster zu glauben, sonst gar nichts.”

“Falls sich in diesem Haus wirklich bedrohliche Dinge zutragen, dann kommen sie von innen”, beharrte Darcy.

“Aber Sie wollen trotzdem weiter im Lee-Zimmer bleiben?”

Sie senkte den Kopf und betete um Geduld. “Warum haben Sie sich eigentlich bereit erklärt, uns in Ihr Haus zu lassen, wenn Sie so ein unverbesserlicher Skeptiker sind?”

“Weil ich Adam kenne. Und weil ich weiß, dass er jeden Hokuspokus, den jemand hier aufführt, aufdecken kann.”

“Adam ist ebenfalls zutiefst davon überzeugt, dass es Phänomene gibt, die sich jeder rationalen Erklärung entziehen. Und er glaubt an mich”, fügte sie hinzu.

Matt zuckte mit Schultern, dann ging er an ihr vorbei und betrat das Lee-Zimmer.

“Ich habe hier schon unzählige Nächte verbracht”, brummte er. In seinen Worten schwang ein Ton mit, den sie nicht recht einordnen konnte. Dann drehte er sich um und sah ihr direkt in die Augen. “Wirklich sehr viele Nächte. Und doch habe ich nie etwas Ungewöhnliches bemerkt. Ich habe auch kein Flüstern in der Dunkelheit gehört. Oder kalte Luftzüge gespürt.”

Sie presste die Lippen aufeinander. “Etwas Derartiges habe ich auch nie behauptet. Ich sagte doch, ich habe schlecht geträumt.”

“Richtig. Deshalb sind Sie schreiend die Treppe hinuntergerannt.”

“Es war ein wirklich scheußlicher Albtraum.”

Er machte einen Schritt auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Schultern und schaute ihr tief in die Augen. Die körperliche Nähe elektrisierte Darcy. Sie roch seinen männlichen Duft, und die schlichte Berührung wirkte wie eine Liebkosung. Darcy versuchte sich einzureden, dass sie schon zu lange keinem so vitalen, faszinierenden Mann mehr begegnet war und ihre Sinne sich deswegen schärften, aber ganz gelang es ihr nicht. Sie neigte normalerweise nicht zu solchen Reaktionen, und das wusste sie.

“Darcy, auch ich glaube, dass hier etwas Ungutes vor sich geht. Aber etwas sehr Reales. Und ich will nicht, dass Ihnen etwas zustößt.”

Seine Worte klangen aufrichtig. Die unterschwellige Feindseligkeit war vollständig aus seinem Ton verschwunden, und Darcy betete fast, sie möge wiederkommen. Sie brauchte sie: Sie stand in einem durchscheinenden Nachthemd fast auf Tuchfühlung mit einem atemberaubenden Mann, der außer einem offenen Bademantel und Boxershorts nichts am Leib trug in ihrem Schlafzimmer. Wenn sie nur einen winzigen Schritt näher an ihn heranginge, würde sie erfahren, ob sie auf ihn dieselbe Wirkung hatte wie er auf sie.

“Ich … mir passiert schon nichts”, versicherte sie ihm mit belegter Stimme.

Schweigend sah er sie an. Er hatte ganz offenbar nicht die Absicht, sie loszulassen. Im Gegenteil wirkte auch Matt versucht, diesen winzigen Schritt auf sie zu zu machen. Natürlich könnte sie ausweichen, aber sie würde es nicht tun. Und dann würde sie spüren, wie sie von seinen starken Armen zärtlich umfangen und an seinen Körper gepresst wurde. Seine Handflächen würden sich an ihr Gesicht legen, Fingerspitzen ihre Wange streicheln. Verschmelzen würde sie mit ihm, eins werden und …

Matt ließ sie los und wich einen Schritt zurück. “Ich bin nebenan. Schreien Sie einfach, wenn etwas ist.”

Darcy hatte den Eindruck, dass Matts Lächeln etwas unsicherer war als gewöhnlich.

“Ich meine es ernst, melden Sie sich, wenn Ihnen danach ist.” Sanft strich er ihr mit seinem Handrücken über das Gesicht, worauf Darcy automatisch die Augen schloss.

Und gleich darauf war er weg.

Der folgende Tag hätte nicht schlimmer werden können. Ohnehin müde, ereilte Matt gleich als Erstes ein Notruf aus einer der drei Mittelschulen des Landkreises. Ein Junge hatte seine Mitschüler mit einer Spritzpistole bedroht und leider nicht begriffen, dass das heutzutage kein Mensch mehr lustig fand. Noch vor dem Mittagessen musste sich Matt mit dem Schulpsychologen, dem Rektor, den Eltern des Jungen und diesem selbst auseinander setzen, bevor er zu einer Tankstelle auf dem Highway gerufen wurde, die überfallen worden war. Zum Glück konnten er und seine Leute den Täter überwältigen, ohne dass jemand verletzt wurde, aber an einem Tag wie diesem fragte sich Matt, warum er ausgerechnet diesen Beruf ergriffen hatte.

Sicher, er war in Stoneyville ebenso fest verwurzelt wie die uralten Eichen im Wald, und er fühlte sich seinen Mitmenschen gegenüber verantwortlich. Vielleicht war es so etwas wie seine Bestimmung, denn er kam mit aufmüpfigen Jugendlichen ebenso zurecht wie mit pistolenschwingenden Desperados.

Das Einzige, womit er nicht zurechtkam, waren die Dinge, die er nicht sehen, berühren, hören oder in einem Zweikampf niederringen konnte. Was bedeutete, dass ihn die Ereignisse der vergangenen Nacht mehr beunruhigten, als ihm lieb war.

Ebenso wie Darcy Tremayne.

Normalerweise strahlte sie eine fast königliche Gelassenheit aus, aber nach ihrer Flucht aus dem Lee-Zimmer war sie außer sich gewesen, auch wenn sie ihre Angst schnell wieder unter Kontrolle bekommen hatte. Letzte Nacht war ihm klar geworden, dass er sie nicht hier haben wollte. Er wollte, dass sie weit weg war, wo ihr nichts zustoßen konnte. Obwohl ihm ihre Entschlossenheit, ihren Auftrag zu Ende zu bringen, durchaus imponierte. Himmel, er bekam schließlich auch jedes Mal einen Schreck, wenn er in eine Pistolenmündung schaute, was ihn jedoch nicht daran hinderte, seine Pflicht zu tun.

Matt glaubte nicht an Geister. Aber das war im Moment unerheblich. Darcy hatte Todesangst verspürt. Das hatte er in ihren Augen gesehen. Und dafür musste es einen Grund geben. Die Séance konnte man noch als Kinderkram abtun, doch was den Rest betraf …

Genauso Kinderkram. Es musste einfach Kinderkram sein. Und wer an Geister glaubte, war imstande, sie allein durch die Kraft der Fantasie heraufzubeschwören. Bei Penny und der in Panik geflohenen Braut kann es so gewesen sein, überlegte Matt, aber was war mit Clara? Sie war eine bodenständige, realistische Frau.

Wie er es auch drehte und wendete, irgendetwas an der Sache gefiel ihm nicht. Womöglich war Clara tatsächlich gegen eine Tür gelaufen oder hatte sich sonst irgendwo gestoßen. Trotzdem konnte er nicht aufhören zu rätseln, ob am Ende doch irgendjemand seine Spielchen in dem Haus spielte. Er hatte das Lee-Zimmer mehrmals durchsucht, aber nie etwas gefunden. Keine Mikrofone, keine Kabel, gar nichts.

Als er merkte, dass er mit einem Stift in der Hand auf das vor ihm liegende Formular starrte, gab er sich einen Ruck und versuchte sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Dieser unsägliche Papierkram war der wahre Grund dafür, warum der Polizei so viele gute Leute davonliefen.

Er zwang sich, das Formular zu Ende auszufüllen, dann beschloss er, Feierabend zu machen. Es war mittlerweile schon nach sechs, und er war seit fast zwölf Stunden im Dienst.

Bei diesem Gedanken spürte er eine leichte Unruhe in sich aufsteigen. Ja, es wurde Zeit, dass er nach Hause kam. Er war schon viel zu lange unterwegs.

Obwohl Stoneyville eine Kleinstadt war, hatte es eine der schönsten und beeindruckendsten öffentlichen Bibliotheken, die Darcy je gesehen hatte.

Mrs. O’Hara, die zart und klein war wie ein Vögelchen und ebenso munter zwitscherte, liebte all die Bücher ganz offensichtlich, und ebenso offensichtlich machte es ihr Spaß, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Bibliotheksbesucher an ihnen erfreuen konnten. Auf den Lesetischen standen hübsche Zierpflanzen, und die einladenden Polstersessel hatte Mrs. O’Hara auf verschiedenen Sonderverkaufsaktionen erstanden, wie sie Darcy stolz erzählte, als sie ihr die Bücher zur Geschichte des Ortes auf den Tisch legte.

Darcy war überrascht, wie viele Chronisten sich die Mühe gemacht hatten, das, was ihnen interessant schien, aufzuzeichnen. Bei ihrer Recherche stieß sie auch auf einen Eintrag aus dem Jahr 1870, in dem von den Clayton-Schwestern berichtet wurde, die in den gleichen Mann verliebt waren, eine Geschichte, die, wie sie von Matt bereits wusste, so tragisch endete.

“Nun, wie kommen Sie bei Ihren Nachforschungen voran, junge Dame?”

Darcy schrak zusammen. Sie hob den Kopf und sah Mrs. O’Hara neben sich stehen. “Ich wollte mir gerade einen Tee machen. Möchten Sie auch ein Tässchen?”

Darcy lächelte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Neben dem Buch über die Claytons hatte sie auch verschiedene über die Stones entdeckt, in denen sie gern noch ein bisschen geschmökert hätte, aber sie befürchtete, dass sie das im Moment nicht viel weiterbringen würde. Außerdem wollte sie heute noch einmal in den Wald.

“Vielen Dank für das Angebot, aber vielleicht könnten wir es ja auf morgen verschieben, Mrs. O’Hara”, lehnte Darcy freundlich ab und stellte das Buch, in dem sie gerade geblättert hatte, wieder ins Regal zurück.

Mrs. O’Hara versicherte Darcy, dass sie jederzeit herzlich willkommen wäre und versprach ihr nachzusehen, ob sie nicht noch mehr alte Bücher finden konnte, die für die Geschichte von Melody House von Bedeutung waren. “Aber ich warne Sie, die einzige Schwierigkeit, die sich bei Ihren Recherchen ergeben könnte, ist die, dass über Melody House nicht zu wenig, sondern zu viel geschrieben wurde. Ach, dabei fällt mir eine Freundin ein, mit der Sie sich unbedingt unterhalten sollten. Ihr Name ist Marcia Cuomo. Sie hat kurz nach dem Tod von Matts Großvater angefangen, in Melody House zu arbeiten. Aber damit war dann plötzlich Schluss. Sie kann Ihnen eine Geschichte erzählen, die Sie bestimmt interessieren wird.”

“Ach ja?” fragte Darcy. Der Name Marcia Cuomo war ihr bis jetzt noch nicht untergekommen. “Ich würde mich gern mit ihr unterhalten. Vielleicht können Sie ihr ja meine Telefonnummer geben und sie bitten, mich anzurufen.” Darcy schrieb ihre Nummer auf und fügte hinzu: “Ich würde mich sehr freuen, von ihr zu hören.”

Nachdem sie die Bibliothek verlassen hatte, fuhr Darcy in dem kleinen Volvo, den sie sich von Penny geliehen hatte, nach Melody House zurück. Zwanzig Minuten später war sie bereits im Stall und sattelte Nellie.

Obwohl es heller Tag war, war es im Wald dämmrig, weil das Blätterdach kaum einen Sonnenstrahl durchließ. Darcy ritt wieder zu der Stelle, wo sie bei ihrem letzten Ausritt Rast gemacht hatte. Sie band Nellie unten am Fluss fest und setzte sich dann wieder auf den Baumstamm.

Darcy zog ihre Knie an die Brust, und wie immer war ihr nicht ganz wohl bei dem, was sie vorhatte. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich darauf, die Vergangenheit zu spüren, die sie vorher schon ziemlich klar vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte.

Zuerst senkte sich die Kälte auf den Wald nieder. Darcy spürte die Angst, aber sie wusste, dass sie sie überwinden konnte. “Josh!”

Ich bin da.”

Es war das leiseste Flüstern, das man sich nur vorstellen konnte.

Als sie die Augen wieder öffnete, war es im Wald noch dunkler. Und dann hörte sie die Stimme. Eine helle, lachende Mädchenstimme. Es ging um eine bevorstehende Hochzeit. “Ophelia, du bist so wundervoll. Ihr wart verlobt, aber ihr kanntet euch vorher ja nicht, und als wir beide uns dann kennen lernten … oh, Ophelia, es war einfach Liebe auf den ersten Blick. Aber warte es nur ab, wir werden für dich ganz bestimmt auch noch den Richtigen finden, das weiß ich einfach. Vielleicht nicht hier in dieser kleinen Stadt, aber du wirst mit Barry und mir reisen, und es wird herrlich werden.”

Jetzt konnte sie die beiden Schwestern sehen. Zu Nellie am Fluss hatten sich zwei Geisterpferde gesellt. Das Tier hob den Kopf und schnaubte unruhig.

Beide Mädchen hatten dichtes langes braunes Haar und trugen schlichte Baumwollkleider mit Petticoats und Reitstiefel.

Amy stieg zuerst vom Pferd.

“Ja, es wird bestimmt herrlich werden”, stimmte Ophelia ihr zu, bevor auch sie absaß.

“Warum wolltest du hier Rast machen?” fragte Amy, während sie sich hinkniete und ihre Hände zu einer Schale formte, um aus dem Fluss kaltes Wasser zu schöpfen.

“Ich möchte dir etwas zeigen. Es ist im Wasser. Du musst noch ein bisschen tiefer hineingehen.”

“Aber ich werde ganz nass.”

“Das macht nichts, es ist schließlich Sommer, Gänschen. Du wirst schon wieder trocknen.”

Amy zögerte.

Darcy hätte am liebsten laut aufgeschrien, während sie zuschaute, wie die Vergangenheit an ihrem geistigen Auge vorüberzog. Sie wollte Amy warnen, ihr helfen. Aber sie saß wie in Trance da und schaute gebannt auf das, was passierte. Sie konnte ohnehin nichts ausrichten.

“Was ist denn da im Wasser?” fragte Amy.

“Das wirst du gleich sehen, geh einfach noch ein Stück weiter rein und knie dich hin.”

Es war eine klassische Hinrichtung. Nachdem Amy sich mit dem Rücken zu Ophelia hingekniet hatte, zog die ältere Schwester blitzschnell die schwere Axt aus ihrer Satteltasche. Ihr erster Hieb betäubte Amy nur, die laut aufschrie und seitwärts ins Wasser fiel. Ophelia erkannte, dass sie noch einmal zuschlagen musste, also schwang sie die Axt erneut und hieb auf die Schwester ein. Die rasch aufeinanderfolgenden Schläge, die Fleisch, Muskeln, Sehnen und Knochen durchtrennten, hallten dumpf wie Trommelschläge in dem Wald wider.

Da konnte Darcy es nicht länger ertragen. Sie vergaß sich, sprang auf und rannte schreiend und von dem irrationalen Wunsch beseelt, dem grausigen Tun Einhalt zu bereiten, auf die Stelle zu.

Doch weder die sterbende Amy noch die zu allem entschlossene Ophelia nahmen auch nur die geringste Notiz von ihr.

Als Darcy bei den Schwestern angelangt war, verblasste das Bild, und sie fiel im Wasser zitternd auf die Knie. Noch ganz benommen von den Grausamkeiten, die Ophelia ihrer eigenen Schwester angetan hatte, sah Darcy, wie sich keine zwanzig Meter von ihr entfernt die kopflose Amy ihren Weg durchs Unterholz bahnte.

Darcy erhob sich langsam und folgte ihr.

Als Matt zu Hause ankam, stieß er bei den Stallungen als Erstes auf Clint und Carter, die sich lautstark darum stritten, wer Riley, einen großen Buckskin, reiten durfte.

“Wir haben noch mehr Pferde”, erinnerte Matt die beiden.

“Ja, aber nur einen Gast mit wunderschönen roten Haaren”, gab Clint zurück.

“Ist sie wieder ausgeritten?” fragte Matt.

“Ja, und ich finde, dass diesmal ich derjenige sein sollte, der ihr nachreitet.” Carter strich sich seinen Bart glatt und grinste: “Ihr wisst schon, damit sie ein Gefühl dafür bekommt, wie charmant der raue Süden sein kann.”

Ohne sich weiter um die beiden zu kümmern, griff Matt nach Rileys Zügeln und schwang sich kurz entschlossen in den Sattel. Dann schaute er auf die beiden Streithähne hinunter und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: “Ich reite. Wir sehen uns beim Abendessen”, sagte Matt, während er die Absätze in die Flanken des Pferdes drückte.

“He!” schrie Clint ihm nach.

Matt drehte sich noch einmal um. Einen kurzen Moment lang sah Clint aus wie der kleine Junge, der er einst gewesen war. Trotzig und irgendwie beleidigt.

Matt zügelte das Pferd und blieb stehen.

“Sie ist nichts für eine Nacht, Matt. Auch nicht für dich”, sagte Clint.

“Falls du es vergessen haben solltest: Sie arbeitet für mich”, gab Matt zurück.

“Tu doch nicht so! Als ob es zwischen euch nicht auf Anhieb gefunkt hätte.”

Matt fühlte sich ertappt. Natürlich war ihm nicht entgangen, welch elektrisierende Wirkung Darcy auf ihn hatte. Aber er würde einen Teufel tun, gegenüber diesen beiden zuzugeben, dass er sich zu einer Frau hingezogen fühlte, die Geistern hinterher jagte.

“Sie ist nur hier, bis sie etwas findet … oder bis Adam kommt”, sagte Matt ausweichend. Dann gab er Riley erneut die Sporen, ohne sich zu erkundigen, in welche Richtung sie geritten war, noch hielt er Ausschau nach Hufspuren auf dem Boden. Aber er ahnte ohnehin, wo er sie finden würde.

Auf dem Weg zu der Stelle, wo er Darcy beim letzten Mal getroffen hatte, überlegte Matt kurz, ob Clint oder Carter, beides unverbesserliche und für viele Frauen unwiderstehliche Schürzenjäger, wohl Chancen bei ihr hätten. Es war lange nicht vorgekommen, dass sie sich wegen einer Frau in die Haare bekommen hatten. Doch der Gedanke tat weh, und so schob er ihn umgehend zur Seite.

Als Matt den umgestürzten Baumstamm, auf dem Darcy gesessen hatte, erreicht hatte, sah er Nellie mit angstgeweiteten Augen zitternd im Wasser stehen. Von Darcy selbst keine Spur.

Eine Sekunde später hörte er ein Geräusch. Ein Ächzen. Es kam aus Richtung der alten Eichen. Er schaute hin, erst ein und dann ungläubig noch ein zweites Mal und stieg schließlich, ohne Darcy aus den Augen zu lassen, vom Pferd.

Sie kauerte auf allen vieren und buddelte mit bloßen Händen und einem Stein wie besessen in der Erde. Er ging auf sie zu, aber sie war zu vertieft, um ihn zu bemerken.

“Darcy?”

Ohne auf ihn zu reagieren, stieß sie einen triumphierenden Schrei aus und reckte gleich darauf im grauen Licht der Abenddämmerung einen Totenschädel in die Höhe.

6. KAPITEL

Sie hatte ihn gefunden! Sie hatte Recht behalten! Und dieses Gefühl tat ihr gut.

“Darcy!”

Jetzt erst drang der Ruf in ihr Bewusstsein, und vor Schreck ließ sie fast den Schädel fallen. Sie drehte sich um, noch zu gebannt von ihrem Fund, um sich über Matts Gegenwart zu wundern.

“Matt! Das ist er!” sagte sie enthusiastisch, doch sein Blick sagte ihr, dass er ihre Freude nicht teilte.

“Was zum Teufel machen Sie da?” fragte er.

“Matt, das ist der Schädel – der Schädel der jüngeren Schwester. Die Geschichte ist wahr. Amy ist wirklich von ihrer älteren Schwester ermordet worden.”

“Legen Sie ihn auf der Stelle hin”, befahl er barsch.

Verwirrt schaute sie ihn an.

“Hinlegen, verflucht noch mal, legen Sie ihn sofort hin!”

Langsam befolgte sie seinen Befehl. “Was um alles in der Welt ist los mit Ihnen?” fragte sie. “Ich habe diesen verfluchten Schädel gefunden. Jetzt können wir ihn bei den übrigen sterblichen Überresten bestatten. Wir müssen es einfach tun, wenn die Seelen Frieden finden sollen.”

Er kniete sich neben sie hin und betrachtete den Totenschädel, der jetzt auf der frisch aufgeworfenen Erde lag. Er berührte ihn nicht und schaute sie gleich darauf wieder an. “Fassen Sie ihn bloß nicht an.”

“Aber …”

“Das ist ein menschlicher Schädel. Und ich bin der Sheriff.”

Sie schaute ihn ungläubig an. “Aber dieser Mord ist vor mehr als zweihundert Jahren passiert. Was haben Sie vor – wollen Sie jemanden verhaften?”

“Woher wissen Sie das?”

“Was meinen Sie damit, woher ich das weiß? Sie kennen die Geschichte genauso gut wie ich.”

Er wischte ihre Empörung mit einer Handbewegung weg. “Sind Sie jetzt auch noch eine Knochenexpertin, Miss Tremayne?”

Wut stieg in ihr auf, gepaart mit dem Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Verdammt, er wusste es. Er wusste es genauso gut wie sie, dass dieser Schädel schon seit einer halben Ewigkeit da in der Erde lag. Und doch spürte sie an seiner angespannten Körperhaltung, dass er es nicht wahrhaben wollte, dass er die Geschichte, die man sich erzählte, nicht glauben wollte, genauso wenig wie er jemals zugeben würde, dass sie eine übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeit besaß.

“Schon gut. Der Schädel gehört Ihnen. Was werden Sie damit tun?” fragte sie in besänftigendem Ton.

“Ich werde dafür sorgen, dass auf angemessene Art und Weise mit ihm verfahren wird.”

“Er gehört einem armen unschuldigen jungen Mädchen, das von einem nahe stehenden geliebten Menschen, dem sie vertraute, brutal ermordet wurde. Angemessen heißt, ihn mit ihren anderen sterblichen Überresten zu bestatten”, sagte Darcy, schon wieder gereizt.

“Und Sie können mir garantieren, dass der Schädel von ihr stammt, ja?” fragte er ebenso ungehalten.

“Ja.”

“Nun, das lässt sich aber nun mal nicht mit unseren Gesetzen in Einklang bringen.”

“Machen Sie sich nicht lächerlich.”

“Ich erledige nur meinen Job.”

Darcy stand auf und wischte sich ihre mit Erde beschmierten Hände an der Hose ab. “Fein. Dann tun Sie, was Sie glauben tun zu müssen.” Nach diesen Worten wandte sie sich ab und wollte zu ihrem Pferd gehen, aber Matt griff nach ihrem Arm und hielt sie grob zurück. Darcy sah erst auf seine Hand, dann in seine Augen. Der Blick genügte, damit Matt sie losließ.

“Graben Sie öfter irgendwelche Körperteile aus?”

“Nein, aber wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich möchte zurückreiten und duschen.”

Er nickte, ohne sie aus den Augen zu lassen. Darcy spürte einen seltsamen Stich in der Brust und verfluchte sich für diese Regung ihres Körpers. Matt Stone hatte ihr gegenüber von Anfang an eine feindselige Haltung angenommen. Sie durfte es nicht zulassen, dass sich so etwas wie Anziehungskraft zwischen ihnen entwickelte, es wäre einfach dumm. Obwohl … Anziehungskraft entwickelte sich nicht. Sie war einfach da. Selbst jetzt, hier im Wald, in diesem Moment, während sie sich wütend musterten. Sie lag in der Luft wie ein elektrisches Knistern. Darcy hatte sich noch nie so brennend gewünscht, einem anderen Menschen nah zu sein, sich an ihn zu pressen, zu spüren, wie er seine Arme um sie schlang. Sie war überzeugt, dass er es war, der diese Hitze ausstrahlte. Dass auch er dieses Begehren fühlte, auch wenn er es sich noch nicht eingestand.

Dennoch zwang sie sich, sich wortlos abzuwenden und mit schnellen Schritten davonzugehen. Eine Minute später stieg sie in den Sattel und ritt wütend davon.

Jedem anderem hätte sie vielleicht gern bewiesen, dass sie tatsächlich gewisse hellseherische Fähigkeiten hatte. Aber nicht Matt. Er konnte Harrison Investigations noch so oft gestatten, sich in seinem Haus umzusehen, und trotzdem würde er niemals an die Existenz von Geistern glauben. Wenn überhaupt, kam für ihn nur ein Mensch als Verursacher der rätselhaften Ereignisse in Frage.

Aber sie hatte Amy geholfen. Und sie wollte herausfinden, was in Melody House vor sich ging, denn so etwas Seltsames hatte sie noch nie erlebt.

Etwas derart Unheimliches.

Etwas, bei dem ihr, anders als hier im Wald, nicht einmal Josh helfen konnte.

Wenn sie ein Geheimnis aufspüren und eine verlorene Seele retten konnte, liebte sie ihren Beruf. Viel zu oft aber machte ihre Arbeit ihr Angst, während sie gleichzeitig ein tiefes Mitleid mit den ruhelos umherirrenden Geistern verspürte. Trotzdem, ein Tag wie heute war eine unglaubliche Belohnung!

Wenn sie es nur nicht mit Matt Stone zu tun hätte, einem dickköpfigen, rationalen Skeptiker.

Es war schon spät, aber das war ihm egal. Matt saß in seinem Büro am Schreibtisch und starrte tatenlos ins Nichts.

Er hatte ein paar Leute damit beauftragt, den Totenschädel und die Erde, in der er gelegen hatte, zu holen und in einer stabilen Kiste zu deponieren.

So stur er auch wirken musste, ahnte er doch, dass Darcy mit ihrer Theorie Recht hatte. Aus diesem Grund hatte er die Knochen an das Expertenteam im Smithsonian Museum geschickt. Matt rechnete damit, dass er schon am nächsten Tag wissen würde, dass dieser Totenschädel mehr als zweihundert Jahre alt war.

Also wartete er. Anfangs hatte er noch versucht, sich auf irgendwelchen Papierkram zu konzentrieren. Als er merkte, dass ihm das nicht gelangt, lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ die Bilder erneut vor seinem inneren Auge Revue passieren.

Er konnte den Anblick einfach nicht vergessen.

Darcy, wie sie in der Erde buddelte.

Darcy, die den Totenschädel hochhielt wie eine Trophäe.

Ihr Triumphschrei.

Beim bloßen Gedanken erschauerte er.

Diese Frau war verrückt. Sie musste verrückt sein! Und trotzdem fühlte er sich unglaublich zu ihr hingezogen. Sie war interessant. Verführerisch. Reizvoll. Eigentlich sollte er sie davonjagen oder wenigstens ignorieren, aber genau das wollte er nicht. Er wollte ihr näher kommen, wollte sie besser kennen lernen. Er wollte sich mit ihr unterhalten, wollte herausfinden, was für ein Mensch sie war, wo ihre Wurzeln lagen. Er liebte den Klang ihrer Stimme, ihre Sprechweise und Intonation. Genauso fasziniert war er von ihren Bewegungen, ihre Gesten. Manchmal war sie so energiegeladen und zupackend, bewegte sie sich so schnell und zielstrebig, und dann wieder strahlte sie eine so kühle Gelassenheit und Zurückhaltung aus, dass es ihn krank machte.

Hier im Büro fand er den Abstand, den er dringend brauchte. Wenn an der ganzen Sache überhaupt irgendetwas unheimlich war, dann war es der eigentümliche Reiz, den sie auf ihn ausübte. Gewiss, sie sah gut aus, aber gut aussehende Frauen gab es viele. Und auch dass sie sinnlich und geschmeidig war wie eine Katze, war nichts Ungewöhnliches. Viele Menschen hatten solche Reize.

Aber nicht so ausgeprägt wie diese Frau.

Vielleicht liegt es an diesem tiefen Wissen, das ihre Augen ausstrahlen, an den Dingen, die sie wahrnehmen kann, rätselte Matt.

Warum zum Teufel fühlte er sich bloß so angezogen davon?

Es klopfte.

“Ja?” rief Matt und nahm er seine Füße vom Schreibtisch.

Deputy Harding öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. “Alles in Ordnung?”

Alan Harding war jung. Ein gutes Alter, um zwischen Mitternacht und acht Uhr morgens für Recht und Ordnung zu sorgen. Der blonde Alan mit den blauen Augen war fast einsneunzig groß und wurde mit den betrunkenen Rowdys, mit denen es die Polizei um diese Zeit gelegentlich zu tun bekam, in den meisten Fällen spielend leicht fertig.

“Ja, alles bestens. Warum?”

“Na ja … ich wollte bloß mal nachsehen. Normalerweise sind Sie um diese Zeit nicht mehr hier, das ist alles.”

Matt hob eine Augenbraue. “Wie spät ist es denn?”

“Kurz vor zwei.”

“Morgens?”

Harding grinste. “Das ist meine Schicht.”

“Ja, klar.” Matt kratze sich an der Wange. “Ich wollte sowieso gerade gehen.”

Er stand auf und schnappte sich seinen Hut vom Haken. “Rufen Sie mich an, wenn Sie …”

“Wenn ich Sie brauche, jawohl, Sir”, sagte Alan und lächelte. “Habe gehört, dass Sie heute im Wald einen alten Totenschädel gefunden haben.”

“Ich nicht.”

“Die Hellseherin, hm?”

Matt versteifte sich. Warum hasste er es bloß, wenn die Leute Darcy als Hellseherin bezeichneten?

“Miss Tremayne von Harrison Investigations hat den Schädel gefunden, wenn es das ist, was Sie meinen”, gab er hölzern zurück.

“Dann kann sie ja offenbar wirklich hellsehen, was?”

Matt stülpte sich seinen Hut auf den Kopf. “Sie kann lesen und sitzt offenbar gern in Bibliotheken herum. Deshalb heißt nämlich die Firma, für die sie tätig ist, Harrison Investigations, Alan. Weil sie Nachforschungen anstellen.”

“Ja, klar … Sir!” sagte Alan.

Matt schüttelte den Kopf und ging nach draußen, wobei er Alan noch über die Schulter zurief: “Rufen Sie mich an, wenn …”

“Wenn ich Sie brauche”, beendete Alan den Satz erneut für ihn.

Matt brummte irgendetwas in sich hinein.

Draußen hatte sich ein leichter Nebel gebildet. Obwohl er sie zu ignorieren versuchte, beschlich ihn plötzlich eine leise Unsicherheit. Was hatte er nur so lange im Büro verloren?

Er sollte eigentlich schon seit Stunden im Bett liegen.

Mit langen Schritten ging er zu seinem Auto und fuhr deutlich schneller, als erlaubt war, nach Hause. Irgendeinen Vorteil musste es ja haben, dass er der Sheriff war.

Es hätte eigentlich eine ganz und gar friedliche Nacht für Darcy sein müssen. Sie wusste, dass sie einen Erfolg für sich verbuchen konnte. Und normalerweise fiel in einer derartigen Situation zumindest ein Teil der Anspannung, unter der sie stand, von ihr ab, sodass sie imstande war, so etwas wie eine heitere Gelassenheit zu verspüren.

Aber heute Nacht …

Das Abendessen begann noch recht viel versprechend. Immerhin waren Penny, Clint und Carter über ihren Fund ganz aufgeregt gewesen. Penny hatte ihr verschwörerisch zugelächelt und war offensichtlich stolz wie ein Pfau, dass sie es geschafft hatte, Matt zu überreden, Harrison Investigations in sein Haus zu lassen. Und sogar der alte Sam Arden hatte voller Respekt mit dem Kopf genickt. Es war fast so, als ob sie eine Feuerprobe bestanden hätte. Und niemand schien sich in ihrer Nähe unbehaglich zu fühlen. Im Gegenteil: Clint und Carter fragten ihr Löcher in den Bauch. Aber Darcy hüllte sich in Schweigen und sagte nur, dass sie die Geschichte in der Bibliothek nachrecherchiert und daraufhin zwei und zwei zusammengezählt habe.

Clint schüttelte den Kopf. “Aus zwei und zwei wird nicht notwendigerweise vier! Das war schon eine Glanzleistung.”

“Erzählen Sie uns doch, wie Sie den Schädel gefunden haben”, bettelte Carter.

“Durch Nachforschungen”, sagte sie wieder, konnte sich dabei jedoch ein Lächeln nicht verkneifen. “Daraus besteht unsere Arbeit.”

“Dem Gespenst im Lee-Zimmer wird das aber gar nicht gefallen”, bemerkte Penny.

“Sie sollten vorsichtig sein”, meinte Clint, der plötzlich beunruhigt wirkte. “Ich meine, vielleicht ist es ja ein Geist, der nicht erkannt werden will, und jetzt wird er noch aggressiver, weil er Angst vor Ihnen hat.”

“Was meinst du damit?” fragte Carter mit gerunzelter Stirn.

“Geister zeigen sich nur, weil sie erkannt werden wollen”, mischte sich überraschenderweise Sam Arden ein. “Wie Serienmörder. Sie geben der Polizei immer wieder Hinweise, weil sie irgendwo in ihrem Unterbewusstsein geschnappt werden wollen.”

Auf diesen Satz folgte unbehagliches Schweigen, das Clint mit dem Entkorken einer Flasche Champagner unterbrach. “Auf Darcys Erfolg”, toastete er. Die Runde stieß miteinander an, und kurz darauf ging Darcy – gefolgt von Clint – mit ihrem Glas auf die Veranda.

“Wissen Sie”, sagte er leise, “er benimmt sich bloß so unmöglich, weil er Angst hat.”

“Was? Wer?”

“Matt. Er hat Angst.”

“Das verstehe ich nicht. Sie glauben, Matt hat wirklich Angst vor Geistern?”

Clint lachte laut auf. “Matt und Angst vor Geistern? Niemals. Er hat ja nicht mal vor irgendwelchen Verrückten Angst, die mit Messern und Pistolen auf ihn losgehen. Nein, Sie sind es, vor der er sich fürchtet.”

“Warum sollte er sich denn vor mir fürchten?”

Clint hatte sich zu ihr an die Brüstung gesellt. Er war groß, schlank, charmant und unverschämt gut aussehend. Sie fragte sich, warum sie sich nicht zu ihm hingezogen fühlen konnte, nicht so, jedenfalls …

Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

“Weil er Sie mag – und respektiert. Aber er wehrt sich dagegen. Weil Sie eine schöne Rothaarige sind.”

Darüber musste sie lächeln. “So ein Unsinn.”

Clint schüttelte den Kopf. “Seine Frau war ein ziemliches Biest, wirklich. Am Anfang war sie verrückt nach ihm, aber dann fing sie an, mehr und mehr an ihm zu zerren, versuchte, ihn eifersüchtig zu machen, aber da war sie bei Matt an den Falschen geraten. Es bewirkte bei ihm das genaue Gegenteil. Sie hatte schon so ihre Eigenheiten, deshalb … na ja, und als die Ehe in die Brüche ging, war ihm so ziemlich der Appetit vergangen.”

“Was rothaarige Frauen betrifft.”

“Bestimmte Rothaarige jedenfalls.”

“Aha, welche denn?”

“Die kühlen, glatten, kultivierten. Solche wie Sie.” Clint sah sie eindringlich an. “Deshalb sollten Sie ihn schleunigst vergessen und Ihr Augenmerk auf mich richten. Es wird nicht lange dauern, bis Sie merken, was für ein unwiderstehlicher Bursche ich bin.”

Darcy lachte. “Das ist mir nicht entgangen.”

“Und trotzdem sind Sie nicht an mir interessiert. Noch nicht … aber falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, sagen Sie mir Bescheid, ich bin sofort zur Stelle und bereit, Sie jederzeit zu beschützen.”

“Ich brauche hoffentlich keinen Beschützer.”

“Treten Sie meinen Heldenmut nicht mit Füßen!”

“Na schön, wenn ich jemanden brauche, werde ich mich gern an Sie wenden, wie finden Sie das?”

“Zu wenig, aber besser als nichts!” sagte Clint grinsend und legte ihr kameradschaftlich einen Arm um die Schultern, während er mit ihr zurück ins Haus ging.

Als sie wieder im Esszimmer waren, hatte Penny Tee und Scones aufgetragen, aber Darcy war so müde, dass sie sich schnell entschuldigte und auf ihr Zimmer ging. Trotz der sommerlichen Temperaturen draußen war es dort kalt wie in einer Gruft. Darcy öffnete die Balkontür und war sich sicher, dass von außen nichts Böses hereinkam.

Was immer es auch sein mochte, was sie beobachtete, es war innerhalb des Hauses. Irgendetwas im Raum wartete auf sie.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Darcy endlich einschlief und erneut in diesen Traum verfiel. Sie kannte ihn bereits. Beim ersten Mal war sie ein Mann gewesen, der das Haus betrat.

In dieser Nacht schlüpfte sie in die Haut der Frau, die auf ihren Verfolger wartete.

Sie verspürte an diesem Abend kein Gefühl von großer Angst oder besonderer Dringlichkeit. Eigentlich war sie nur wütend, entschlossen zu kämpfen, sich zu wehren, ihre Meinung zu sagen – und ihr Leben zu ändern. Sie dachte mit keinem Gedanken daran, sich ins Bett zu legen und zu schlafen.

Sie war sich sicher, dass er heute nicht kommen würde. Das, was zwischen ihnen tobte, war zu nah, zu ungestüm, zu leidenschaftlich.

Sie war so zornig!

In dem schummrigen Licht setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Er konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Sie konnte ihn nicht aufhalten.

Aber er würde dafür bezahlen.

Sie nahm ein Blatt Papier mit ihrem persönlichen Briefkopf heraus und überlegte, was sie schreiben wollte. Doch dann hob sie wieder den Kopf. Es war eine herrliche Nacht. So klar, dass es sogar die dünne Mondsichel schaffte, die sanft geschwungenen Hügel draußen vor dem Fenster mit einem silbernen Glanz zu überziehen. Einen Moment lang zögerte sie. Da war so vieles, was sie verband.

Ah, aber …

Sie war verraten worden. Von ihm! Er hatte sie verraten.

Sie begann zu schreiben. Irgendwo in der Nähe wieherte ein Pferd. Ein Hund bellte. Sie schrieb weiter, ohne Notiz davon zu nehmen. Die Würfel waren gefallen.

Dann …

Ein Geräusch.

Darcy schrak aus dem Schlaf hoch. Das Gefühl, den Traum eines anderen Menschen zu träumen, diese Person zu sein, die Vergangenheit noch einmal zu erleben, fiel von ihr ab wie ein Mantel, den ihr jemand von den Schultern nahm.

Und dennoch war sie sich nicht sicher, was sie geweckt hatte. Sie schaute sich in dem dunklen Zimmer um. Hatte sie das Geräusch nur im Traum gehört?

Nein …

Sie zögerte, horchte in die Nacht, bis sie den Ton orten konnte.

Er kam vom Balkon.

Schritte, langsam, leise, zögernd.

Sie biss sich auf die Unterlippe und lauschte bewegungslos in die Dunkelheit. Gleich darauf schlug sie die Bettdecke zurück und stand leise auf. Lautlos huschte sie auf dem weichen Teppich zur offenen Balkontür. Vor den sich im Wind bauschenden Vorhängen blieb sie stehen und spähte nach draußen. Nichts. Nichts, nur der Mond am Himmel und ein sanfter Luftzug. Sie schlich hinaus, doch da war noch immer nichts.

Darcy runzelte die Stirn, stieß einen leisen Seufzer aus und trat an die Brüstung.

Dann hörte sie es wieder. Ein leises Geräusch … eine Art Schaben … dicht hinter ihr. Sie schickte sich an, sich umzudrehen.

Sie sah nur eine verschwommene Bewegung in der Dunkelheit. Gleich darauf spürte sie, wie ihr Kopf von einem harten Gegenstand getroffen wurde.

Der Schlag war jedoch nicht stark genug, um sie ohnmächtig werden zu lassen. Aber sie taumelte und ging mit einem Aufschrei in die Knie.

Sie hob eine Hand und betastete die Stelle, wo sie der Schlag getroffen hatte. Sie tat nicht besonders weh und blutete auch nicht. Noch während sie sich wieder aufrappelte, wurde die Balkontür neben ihrer aufgerissen.

Bekleidet mit Calvin-Klein-Boxershorts stand Matt vor ihr. Wütend starrte er sie an.

“Was um alles in der Welt machen Sie da?” fuhr er sie an.

Vermutlich wirkte sie wirklich etwas seltsam, wie sie da so derangiert und nur notdürftig bekleidet direkt vor seiner Balkontür stand. Sie trug heute keins der knielangen T-Shirts, die sie sonst oft im Bett anhatte, sondern lediglich ein dünnes, bodenlanges weißes Nachthemd ohne Ärmel und darunter einen Spitzenslip. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern.

“Ich … da war irgendetwas hier draußen”, sagte sie.

Er zog eine Augenbraue hoch, lehnte sich leicht zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. “Ach ja, vielleicht wieder der Geist?”

“Ich glaube nicht.”

“Sie glauben nicht?”

“Nein, diesmal war es ein Mensch.”

Er musterte sie unverhohlen skeptisch und schüttelte leicht den Kopf, schien aber immerhin bereit, sich umzuschauen, denn er schritt an ihr vorbei den Balkon hinab. Als er um die Ecke in der Dunkelheit verschwand, verspürte sie ein seltsames Gefühl von Verlust, bei dem ihr ganz kalt wurde.

Darcy wartete scheinbar endlos, bis sie Matt von der anderen Seite schließlich zurückkommen sah.

“Ich kann niemanden entdecken”, sagte er höflich, aber schroff.

Verärgert stemmte sie die Hände in die Hüften. “Und was soll das heißen? Sie behaupten doch die ganze Zeit, dass hier ein Mensch seine Finger im Spiel hat. Warum werden Sie dann so wütend, wenn ich glaube, jemanden auf dem Balkon gehört zu haben?”

Jetzt wirkte sein Gesicht wieder wie in Stein gemeißelt, ein Gesichtsausdruck, den sie schon oft an ihm gesehen hatte. Er hatte die Arme immer noch vor der Brust verschränkt.

“Tut mir Leid. Aber ich habe nichts gehört. Und ich kann mich über mein Gehör nicht beklagen.”

“Auch wenn Sie schlafen?”

“Auch wenn ich schlafe.”

“Ihnen kann trotzdem etwas entgangen sein.”

“Alles ist möglich.”

“Freut mich zu hören, dass Sie das glauben.”

“Ich glaube, Ihnen gesagt zu haben, Sie sollen Ihre Balkontür nachts abschließen. Wenn ich hier nicht etwas total missverstehe, haben Sie die Gefahr wohl eher unterschätzt.”

Sie schwieg einen Moment und presste trotzig die Kiefer aufeinander.

“Irgendwer hat mich niedergeschlagen!” sagte sie schließlich.

“Was?” Matts Haltung änderte sich schlagartig. Er machte einen Schritt auf sie zu, hob ihr Kinn und schaute ihr forschend in die Augen. “Sind Sie verletzt?”

Sie schüttelte den Kopf, aber er zog seine Hand dennoch nicht weg. Er war ihr zu nah, viel zu nah, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. “Ich … ich bin nicht verletzt. Aber da war jemand, und … na ja, ich weiß nicht … vielleicht hat die Person mich angegriffen, damit sie ungesehen verschwinden konnte.”

“Sie behaupten also, Sie seien von einem Menschen aus Fleisch und Blut niedergeschlagen worden.” In seinem Ton schwang Besorgnis mit, doch da war noch mehr. Vielleicht verspürte er ja einen gewissen Triumph.

“Ja”, sagte sie.

Matt stand noch immer dicht bei ihr. Wie betäubt sog sie seinen männlichen Geruch in sich auf. Sie wollte sich nicht bewegen. Sie wollte ihren Kopf an seine Brust legen.

Seine Finger strichen nun federleicht über ihr Haar und berührten sanft ihre Schläfe. “Wo … hat er Sie denn erwischt?”

“Ich … äh … seitlich am Kopf.”

“Haben Sie ein Beule?”

Sie schüttelte den Kopf. “Ich glaube nicht.”

“Ist Ihnen schwindlig?”

“Nein.” Das war eine glatte Lüge, aber sie wusste, dass ihre weichen Knie nichts mit dem Schlag auf den Kopf zu tun hatten.

“Ist wirklich alles in Ordnung?”

Sein Atem, der über ihre Stirn strich, fühlte sich an wie eine Liebkosung. Ihre Lippen waren trocken. Sie bejahte, ohne sich zu bewegen. Seine Hände umschlossen immer noch ihren Kopf. Ihre Lippen streiften fast seine Haut.

“Ich bin … okay.”

Daraufhin legte er ihr wieder einen Finger unters Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. Er hatte sich bestimmt zwei Tage nicht rasiert, und seine dunklen Haare waren zerzaust. Sein Körper verstrahlte eine sinnliche Hitze, und seine Muskeln spannten sich mit jedem Atemzug mehr an. Sie konnte sein Herz schlagen hören. Und ihr eigenes.

“Das wäre verrückt”, flüsterte er.

“Allerdings”, sagte sie, und doch rührte sich keiner von beiden. Der auffrischende Wind ließ die Luft kühl erscheinen, während die zwischen ihnen ansteigende Spannung eine köstlich erregende Wärme entfaltete.

Dann streifte sein warmer Atem ihr Ohr, und allein das Timbre seiner Stimme brachte ihr Blut in Wallung.

“Glauben Sie, Sie sind verrückt?” fragte er.

“Komplett wahnsinnig”, flüsterte sie zurück.

Seine Hand umschloss wieder ihr Kinn, und gleich darauf lag sein Mund auf ihrem. Es hätte eigentlich ein langsamer und sanfter Kuss sein müssen, ein Kuss zum Kennenlernen, und am Anfang war er das auch. Doch dann verwandelte sich die sanft gleitende Bewegung ihrer Münder fast schlagartig in etwas Verzehrendes, Leidenschaftliches, Wildes. Vielleicht lag es daran, dass er die Arme so fest um sie schlang, dass nicht mal mehr ein Windhauch zwischen sie gepasst hätte, oder daran, dass sie seinen nahezu unbekleideten Körper in seiner ganzen Länge an sich spüren konnte; sie wusste es nicht. Ihre Münder klebten aneinander, ihre Zungen wurden zu Schwertern der Verführung, und während sie in der Nacht standen, wurden sie von einem gewaltigen Hunger gepackt.

Der Kuss war sinnlicher als alles, was sie je erlebt hatte, allein die Bewegung seiner Lippen, der Zunge, schien alles vorwegzunehmen, was noch kommen sollte. Das bist du nicht, dachte Darcy, als ihr klar wurde, dass sie mit unverhüllter Dringlichkeit reagierte und alles und noch mehr wollte. So etwas bot einem das Leben nur höchst selten, und sie dachte nicht an morgen, an das, was sie tat, was er tat, wollte oder glaubte. Es gab kein Morgen, solange er sie hielt, solange sein Mund ihren versengte, solange sich der harte Beweis seines Verlangens mit allergrößter Dringlichkeit gegen ihr Becken presste, wo er pochte und sie so reizte, dass sie an nichts anderes denken konnte als an den Sturm der Leidenschaft, der mit so fantastischer Wucht durch sie hindurchraste.

Darcy hatte das Gefühl, mit Matt zu verschmelzen, sich aufzulösen wie ein Tautropfen im Gras, wenn die Sonne am Himmel aufsteigt, und sie war den Armen, die sie hielten, dankbar und bemerkte es kaum, als sie hochgehoben und durch die Balkontür ins Zimmer getragen wurde. In sein Zimmer, wie sie registrierte, aber nur vage, weil sie viel zu betört von seinen muskulösen Arme war und lieber die Winkel und Flächen seines kantigen Gesichts erforschte, während er sie zum Bett trug.

Die Laken fühlten sich wunderbar kühl und frisch an, und sie dufteten einladend. Aber im Grunde war das egal, denn alles, was zählte, waren seine Lippen, die sich jetzt von ihren lösten und an ihrem Hals abwärts wanderten, über den dünnen Stoff ihres Nachthemds ihren Körper liebkosten, bis seine Zunge verlangend ihre Knospe umspielte.

Darcy durchzuckte es glühend heiß. Sein sanfter Mund, der fast quälend langsam über ihren noch immer von dem Nachthemd bedeckten Bauch glitt. Und dann die Hände, diese herrlichen lustspendenden Hände, die sich endlich unter den Stoff schoben und sanft die Innenseiten ihrer Schenkel berührten; eine Berührung, die so intim war, zu intim, und doch war genau das die Lust, in der sie schwelgte, nach der sie verlangte. Gleich darauf ertastete seine Zunge jeden Quadratzentimeter ihres Körpers und entfachte in jeder Pore ein ungeahntes Feuer. In diesem Moment verspürte sie nicht das leiseste Zögern, die geringste Zurückhaltung, sie verschwendete nicht einen Gedanken daran, dass man sich für diese Art Liebesspiel Zeit lassen, dass man sich besser kennen und etwas füreinander empfinden sollte …

Sie stöhnte und wand sich, bäumte sich auf und gab zurück, was er ihr schenkte – berühren, streicheln, kosten, liebkosen und wachrufen, und innerhalb weniger Minuten verschmolzen ihre Leiber gänzlich miteinander. Als er in sie eindrang, entfuhr seiner Kehle ein heiserer Aufschrei, und auch Darcy strebte einem neuen Höhepunkt entgegen, war erfüllt von Sehnsucht und zügellosem Begehren. Sie sah die hingebungsvolle Anspannung in seinem Gesicht, das Feuer der Leidenschaft in seinen Augen, Wollust, Begierde … bis er sich schließlich in ihr verströmte, während sie ebenfalls so ungestüm kam, dass sie laut aufschrie und erzitterte wie die Blätter an einem von einem Herbststurm gepeitschten Baum. Es dauerte lange, bis die Nachbeben abgeklungen waren und man nur noch das leise Keuchen hörte, das sich ihren Lungen entfuhr.

Langsam jedoch kehrten sie aus dem Schatten der Nacht in die Wirklichkeit zurück: Darcy schaute auf die noch immer offen stehende Balkontür, das breite Bett, die Bücher auf dem Nachttisch, betrachtete den Menschen neben ihr, der Mensch, der bislang nur Hohn und Spott für sie übrig hatte und ihr jetzt zärtlich eine Strähne aus der Stirn strich. Da schob sie ihre Zweifel beiseite, schmiegte sich mit einem genüsslichen leisen Aufseufzen an ihn und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie wollten seinem Blick entrinnen, nicht in diese grauen Augen schauen, die viel zu viel sahen, im Tageslicht, in der Dämmerung und sogar in der Dunkelheit.

Darcy wäre beinahe eingeschlafen, wenn da nicht erneut diese zärtlichen, fordernden Hände über ihren Bauch gestrichen wären, sich seine Lippen nicht auf ihre gelegt hätten.

“Matt, ich …” versuchte Darcy ihn zurückzuhalten.

Doch da war es bereits zu spät. “Schsch!” machte Matt nur leise, und gleich darauf begann alles, was so roh und unverstellt und real und trotzdem irgendwie magisch gewesen war, wieder von vorn, nur dass Matt diesmal den einen Gedanken nicht vergessen konnte.

Wenn doch nur …

Wenn das doch nur Wirklichkeit wäre …

Wenn sie doch nur nicht …

so eigenartig wäre.

7. KAPITEL

Jeder Tag birgt eine neue Überraschung, sinnierte Penny, während sie in kleinen Schlucken ihren Kaffee trank und über den Rand ihrer Tasse auf Clint und Carter schaute. Seit Darcy Tremayne in Melody House war, hatte sich so ziemlich alles verändert. Und das gefiel Penny.

“Wie um Himmels willen hat sie es bloß angestellt, diesen Totenschädel zu finden?” fragte Clint kopfschüttelnd, während er sich sein English Muffin mit Marmelade bestrich. “Irgendwie gruselig, findet ihr nicht? Am Ende hat sie wirklich übersinnliche Kräfte.”

Carter zuckte mit den Schultern. “Er lag schon ewig da draußen. Vielleicht hat ja bisher einfach noch niemand wirklich danach gesucht.” Carter kratzte sich sein bärtiges Kinn. “Wahrscheinlich war es einfach Glück.”

“Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Gentlemen!” protestierte Penny vehement. “Natürlich hat sie übersinnliche Kräfte.”

“Oh, bitte, Penny, hören Sie endlich auf mit dem Unsinn”, widersprach Carter.

“So oder so, auf jeden Fall hat sie eine Menge anderes”, brummte Clint.

Carter lachte trocken. “Ja, stimmt, aber ich fürchte, wir sind dazu verdammt, die Finger von ihr zu lassen.”

“Hm. Er steht definitiv auf sie, daran gibt es keinen Zweifel”, sagte Clint.

“Wer?” fragte Penny.

Die beiden starrten sie verständnislos an.

“Matt”, sagten sie schließlich wie aus einem Mund.

“Oh.” Penny lehnte sich zurück.

“Dabei ist sie rothaarig”, sagte Clint, als ob das jedes Weiterdenken verbieten würde.

“Und groß noch dazu”, fügte Carter hinzu.

“Und gut gebaut”, ergänzte Clint.

“Atemberaubend geradezu”, präzisierte Carter. “Aber aus den beiden wird nichts”, mutmaßte Carter.

“Niemals”, stimmte Clint zu.

“Warum?” wollte Penny wissen.

“Na, weil sie an Gespenster glaubt”, erklärte Clint mit einem breiten Grinsen. “Matt ist stur wie ein Maulesel. Matt ist viel zu rational, um so etwas je akzeptieren zu können. Ich dagegen bin charmant … und offen.”

“Himmel, das kann doch nicht wahr sein”, sagte Carter kopfschüttelnd. “Trotzdem fährt Matt auf sie ab, das sieht selbst ein Blinder, mein Lieber”, klärte er Clint auf. “Und das kann eine ganze Weile anhalten.”

“Ja, bei Lavinia hat es auch eine Weile gedauert.”

“He, wir sind am Anfang alle auf sie abgefahren.”

“Lavinia war ein Biest”, mischte sich Penny ein.

“Ja, schon, aber sie hat es geschafft, uns erst mal allen den Kopf zu verdrehen”, sagte Clint sarkastisch.

“Mir nie!” widersprach Penny trotzig. “Und sie hatte nicht das Format, um Matt zu halten.”

“Na ja, wenn ein Partner fremdgeht, ist das nie besonders gut für eine Ehe”, brummte Clint.

“Ich glaube, das war ihm damals schon egal”, sagte Penny.

“Trotzdem irgendwie unheimlich – zwei Rothaarige”, bemerkte Clint.

“Von denen die eine ein Biest und die andere eine Hellseherin ist”, amüsierte sich Carter. “Wirklich, Clint, ich könnte mir vorstellen, da kommen wir auch noch zum Zug.”

“Ja, weil Matt sich todsicher nicht wirklich auf sie einlässt”, stimmte Clint zu. “Mir dagegen würde es absolut nichts ausmachen, wenn meine Frau regelmäßig mit der Geisterwelt Kontakt aufnähme. Ganz im Gegenteil, ich würde dem Himmel danken, dass er sie mir geschickt hat.”

“Wirklich?”

Beim Klang von Matts Stimme zuckten alle zusammen. Penny sprang so schnell auf, dass sie fast ihren Stuhl umwarf. “Matt! Ich dachte, Sie sind längst im Büro! Ich habe Sie noch nie um diese Zeit zu Hause gesehen!” sagte Penny bemüht, die Spannung aus dem Raum zu nehmen.

Mit rotem Kopf schaute Clint auf sein Muffin. “Aber sie ist eine Hellseherin”, murmelte er, als ob das alles erklärte.

“Irgendwas Neues über den Schädel?” wechselte Carter das Thema.

“Das erfahre ich, wenn ich im Büro bin.”

“Wir wissen doch sowieso, dass er dem armen unglücklichen Mädchen von anno dazumal gehört”, sagte Carter.

“Gut möglich”, stimmte Matt zu. “Aber das hätte ich gern Schwarz auf Weiß.” Matt drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

“Irgendwie ist es wirklich unheimlich”, brummte Clint.

“Ach, jetzt hören Sie schon auf, was soll daran denn unheimlich sein?” fragte Penny.

“Na ja, es stimmt doch, wir haben alle Leichen im Keller, und ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn man erst mal in den alten Geschichten herumbohrt”, erwiderte Clint.

Als Matt das Sheriffbüro betrat, saß Shirley Jamison wie immer an ihrem Schreibtisch neben der Tür. Sie lächelte ihn an und war offensichtlich nicht allzu überrascht darüber, dass er so spät kam. Seine Nachtschicht hatte sich wohl bereits herumgesprochen.

“Hi!” Shirley war eine schlanke attraktive Frau in ihren Dreißigern, deren Freundlichkeit von Herzen kam. Sie liebte ihren Beruf, ihren Mann und ihre beiden süßen Kinder. Sie war in Stoneyville geboren und hatte nie auch nur den geringsten Wunsch verspürt, irgendwo anders zu leben.

“Guten Morgen.”

“Guten Morgen. Ich habe noch gar nicht mit Ihnen gerechnet”, sagte sie munter. “Aber ich wollte eben versuchen, Sie zu Hause zu erreichen. Digger hat angerufen.”

Digger hieß mit bürgerlichem Namen Darrell Jordy und arbeitete als Anthropologe im Smithsonian Museum in D.C. Er war einer aus dem Team, der von sämtlichen Polizeistationen aus dem ganzen Bundesstaat ebenso wie vom FBI Knochenfunde zur Untersuchung bekam.

“Und?”

Shirley zuckte mit den Schultern. “Genau was Sie dachten. Der Karbontest hat ergeben, dass der Schädel über zweihundert Jahre alt ist. Er gehörte einer jungen Frau im Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren. Der Fund deckt sich exakt mit der Geschichte von der Frau, die ihrer jüngeren Schwester aus Eifersucht den Kopf abgeschlagen hat.”

“Freut mich zu hören”, sagte Matt trocken.

“Die Zeitung hat auch schon angerufen. Sie wollen wissen, wann Sie vorhaben, den Schädel mit den übrigen sterblichen Überresten bestatten zu lassen.”

“Wer genau war dran?”

“Max Aubry.”

“Na toll.”

Aubry würde die Sache zu einer Riesensensation aufblasen. Zugegeben, Stoneyville war eine Kleinstadt. Und in einer Kleinstadt machten eben auch kleine Ereignisse Schlagzeilen. Aber Matt graute es schon jetzt vor dieser Art von Medienrummel.

“Ach, kommen Sie schon, Matt! Ist doch eine tolle Geschichte. Traurig zwar, aber spätestens jetzt hat sie doch noch einen glücklichen Ausgang.”

“Aubry wird diesen Geisteraspekt hochspielen und das alles mit Darcy Tremayne und Harrison Investigations in Zusammenhang bringen.”

“Na und?”

Er machte eine verärgerte Handbewegung. Was sollte bloß dieser ganze Quatsch mit diesen idiotischen Geistergeschichten? Hatte denn die ganze Stadt den Verstand verloren?

Den Verstand verloren.

Die Worte hallten in seinem Kopf wider. Er selbst schien auch nicht so ganz weit entfernt davon, den Verstand zu verlieren, und zwar vor Lust. Wer hatte doch gleich behauptet, dass sie ihn anzog? Carter oder Clint? Egal, wer es war, Matt wusste nur zu gut, dass es stimmte, auch wenn er sich das Gegenteil einzureden versuchte. Seine Neugier auf sie war fast unstillbar, er wollte alles über sie wissen, weil es so vieles an ihr gab, was ihm rätselhaft schien. Er glaubte ihr nicht, und doch hielt er sie für keine Schwindlerin, denn jedes Mal, wenn er in ihre Augen schaute, sah er die Aufrichtigkeit darin, die Angst und vor allem diese erschreckende Vorsicht. Als ob Nähe für sie eine Gefahr bedeutete.

Matt überlegte einen Moment. Bei ihm war es ja nicht anders. Auch er gab sich einem Menschen nicht mehr blauäugig hin, und dennoch konnte er Darcy einfach nicht widerstehen: In derselben Sekunde, in der er heute Morgen aus dem Bett aufgestanden war, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als sich wieder neben sie zu legen, ihre glatte kühle seidenweiche Haut zu spüren, zu beobachten, wie sie die Augen aufschlug, in denen sich nur für eine Sekunde ihre Verletzlichkeit zeigte. Sie war die sinnlichste und wunderbarste Geliebte, die er je gehabt hatte, und wenn er mit ihr zusammen war, wollte er so viel mehr und fühlte sich so anders als mit anderen Frauen. Er wusste, dass es mit ihr, der Geisterseherin, keine Zukunft geben konnte. Aber genau dieses Wissen machte ihn gleichzeitig wütend.

“Matt?”

“Ich bin in meinem Büro”, sagte er ein bisschen zu schroff. Verwundert schaute Shirley ihn an, doch Matt kommentierte ihren Blick nicht. Was hätte er schon sagen sollen?

Um Viertel nach acht wachte Darcy auf. Als ihr klar wurde, dass Matt bereits weg war, versuchte sie, über die vergangene Nacht nachzudenken. Aber schon bei den ersten Bildern, die ihr durch den Kopf gingen, wurde ihr das Herz schwer.

Seit ihrer Collegezeit lebte Darcy relativ zurückgezogen. Sie hatte eine liebevolle Familie und gute Freunde bei Harrison Investigations, aber von den Männern hatte sie sich weit gehend bewusst fern gehalten. Sie war nun einmal anders, und damit konnten die wenigsten umgehen. Seit Matt jedoch in ihr Leben getreten war, schien es aus den vertrauten Bahnen zu laufen. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass man sich zu einem Mann dermaßen hingezogen fühlen konnte – körperlich, aber durchaus auch emotional.

Sie wusste genau, dass die letzte Nacht ein schwerer Fehler gewesen war, dass sie, wenn sie so weitermachte, verletzt werden würde. Dennoch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als erneut in seinen Armen zu liegen und mit seinem Körper zu verschmelzen. So hatte sie nicht mehr empfunden seit … nun, vielleicht hatte sie überhaupt noch nie in ihrem Leben so empfunden. Das Bett strömte noch seinen Duft aus, und bei den Erinnerungen an die heiße Leidenschaft wurde ihr fast schwindelig.

Darcy zwang sich aufzustehen und in ihr eigenes Zimmer zu schleichen, damit sie niemand zufällig erwischen konnte. Dort legte sie sich, erschöpft und müde, in ihr eigenes Bett, um sich noch ein wenig auszuruhen. Hinterher sah die Welt möglicherweise schon anders aus.

Und als sie schließlich tiefer einschlief als beabsichtigt, spürte sie im Unterbewusstsein exakt den Moment, in dem dieser eine Traum erneut von ihr Besitz nahm. Dieses Mal schlüpfte sie wieder in die Haut des Mannes.

Er schaute auf das Haus und wusste, dass sie allein war. Nach einer Weile betrat er es und schloss leise die Tür hinter sich.

Er kannte das Haus. Kannte diejenigen, die es normalerweise bewohnten, die es ihr Zuhause nannten oder Anspruch darauf erhoben. Und er wusste, wo sich die Bewohner im Moment aufhielten. Genauso wie er gewusst hatte, dass sie kommen würde, weil sie glaubte, das Recht dazu zu haben.

Aber dieses Recht hatte sie nicht.

Sie hatte überhaupt kein Recht, zu gar nichts.

Und alles, was sie war, war sie allein durch ihn.

Er stand im Foyer und ließ den Blick die Treppe hinaufwandern, während er mit den Fingerspitzen auf seinen Hosentaschen herumtrommelte. Dabei spürte er den Lederriemen aus dem Stall, den er vorhin eingesteckt hatte. Er zog den Riemen aus der Tasche, packte ihn an beiden Enden und straffte ihn …

Nein …”

Das Wort hallte in seinem Kopf wider. Als wollte es ihn aufhalten.

Er knirschte mit den Zähnen, während sich sein ganzer Körper so anspannte wie der gestraffte Riemen in seinen Händen.

Langsam …

Er zwang sich, sich zu entspannen.

Und schaute zur Treppe …

“Darcy! Darcy! Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Liebe?”

Darcy schrak aus ihrem Traum hoch. Das Klopfen an der Tür hallte wie Donnerschläge, eine Störung, die sie zutiefst bedauerte. Wo sie doch gerade begonnen hatte, so vieles klarer zu sehen, und wusste, dass sie die Antworten finden würde, sobald es ihr gelang, durch diese Bilder hindurchzusehen.

“Darcy!”

“Keine Sorge, Penny, mir geht es gut. Ich habe nur verschlafen, das ist alles!” rief sie ihr durch die geschlossene Tür zu und bemühte sich ihrer Stimme einen heiteren Klang zu geben.

“Gott sei Dank! Ich dachte schon, dass vielleicht der Geist … na ja … es macht mich einfach nervös, Sie nachts so ganz allein da drin zu wissen.”

Während Darcy auf die Tür starrte, fragte sie sich, ob Penny sich besser fühlen würde, wenn sie wüsste, dass sie letzte Nacht bei Matt geschlafen hatte.

“Ich … mir geht es gut”, wiederholte sie.

“Soll ich Ihnen das Frühstück raufbringen?” fragte Penny.

“Nein, nein, ich bin gleich unten, danke.”

“Darcy?” fragte Penny wieder.

“Ja?”

“Ich muss es Ihnen einfach gleich erzählen. Stellen Sie sich bloß vor, Sie hatten tatsächlich Recht! Der Totenkopf, den Sie gefunden haben, war der Schädel der jüngeren Schwester. Zumindest nehmen wir an, dass es ihr Schädel ist. Ich meine, es ist die einzige bekannte Geschichte von einem Mädchen in diesem Alter. Das haben Sie großartig gemacht.”

“Danke, Penny.”

“Wir werden sie bestatten – das heißt, wir werden den Schädel zusammen mit den anderen sterblichen Überresten beerdigen – und dann wird sie in Frieden ruhen können, oder was meinen Sie?”

“Ja, das denke ich auch”, rief Darcy.

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