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Herr, erbarme dich!

Esme Stuarts erster Fall: Wenn Sie bisher noch nicht wussten, wie man sich gruselt, dann lernen Sie es beim Lesen dieses Buchs, meint San Franciso Book Review.

"Wenn es einen Gott gäbe, hätte er mich aufgehalten."
Diese Nachricht steht über dem Portal einer Grundschule in Atlanta. Auf der Straße liegen die Leichen von vierzehn Männern und Frauen, alle schnell und präzise umgebracht. Zweifellos das Werk des Snipers Galileo. Er kann das Leben eines Menschen aus einer Entfernung von über hundert Metern mit einem einzigen Schuss beenden. Und das tut er auch.

Was Gott nicht schaffte, soll Esme Stuart jetzt richten. Sie war die beste Profilerin, die das FBI je hatte. Bis sie dem Job ihrer Familie zuliebe den Rücken gekehrt hat. Doch bei diesem Fall kribbelt es ihr wieder in den Fingern. Und als ihr ehemaliger Chef sie dann tatsächlich geradezu anfleht, ihm zu helfen, kann sie nicht Nein sagen. Denn noch ahnt sie nicht, wie gefährlich dieser Einsatz für alle Beteiligten werden wird.


  • Erscheinungstag: 10.11.2011
  • Aus der Serie: Esme Stuart
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862781140
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Penner trug Pink. Ein Ballkleid, um genau zu sein. Er war vom Hals bis zu den Knien in kaugummifarbenen Taft gehüllt. Seine spinnenartigen Gliedmaßen, schmutzig und schwarz behaart, standen im falschen Winkel ab. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Lache mitten auf dem MLK Drive und wurde erst um 3:16 Uhr morgens entdeckt.

Andre Banks (28 Jahre alt) und sein Mops Moira (3 Jahre alt) machten gerade einen Spaziergang. Andre lief gegen seine Schlaflosigkeit an. Seine Eltern wollten zu Besuch kommen, und das verhieß nie etwas Gutes. Andre und Moira blieben normalerweise immer auf der Lincoln Street, der schwach beleuchteten Sackgasse, in der sie lebten, doch der junge Mann musste heute gegen eine besonders ausgeprägte Schlaflosigkeit anlaufen. Moria stellte sicher, dass sie keinen einzigen Hydranten auf ihrem Weg versäumten; sie taufte gerade den elften, als Andre den Obdachlosen in der Straße entdeckte.

Auch in Atlanta war es im Januar eiskalt. Obdachlose schliefen im Januar nicht einfach mitten auf dem MLK Drive, und schon gar nicht in nagelneuen Ballkleidern. Dieser Obdachlose jedoch lag fast exakt in der Mitte des milchigen Ovals einer brummenden Straßenleuchte. Andre starrte durch die Nebelwolke seines Atems auf den Mann, dann sah Moira, die gerade ihr Ritual beendet hatte, ihn auch und bellte.

Angefeuert von seinem lauten kleinen Hund verließ Andre den Bürgersteig und näherte sich dem auf dem Gesicht liegenden Mann. Er kümmerte sich gar nicht erst um den Verkehr, weil es erstens 3:16 Uhr war und zweitens dieser Teil des MLK Drives auf beiden Seiten wegen (nicht zu erkennender) Straßenarbeiten mit Holzbarrieren abgesperrt war. Moira lief ihm voraus und zerrte an ihrer Leine. Sie konnte es kaum erwarten, diese rätselhafte pinkfarbene Gestalt zu erreichen. Sie bellte erneut und hüpfte aufgeregt in die Höhe. Die Gestalt regte sich nicht. Als sie in den elektrischen Lichtkegel traten, fragte Andre sich, was dazu geführt haben mochte, dass der Obdachlose hier lag (und auch noch so gekleidet!). War dieser Mann einmal erfolgreich gewesen? Hatte er eine Familie? Hatte seine Familie ihn rausgeworfen? Vielleicht gehörte das Ballkleid seiner Tochter, die gestorben war, und es zu tragen half dem Mann, sich an sie zu erinnern. Vielleicht war der Obdachlose ein Transvestit, und deswegen hatte seine Familie ihn zum Teufel gejagt. So was geschah in manchen Familien, sinnierte Andre, ohne auch nur eine Sekunde lang zu vergessen, dass seine eigenen Eltern, ein Bollwerk der Enttäuschung, in zehn Stunden auf dem Hartsfield-Jackson International Airport landeten und …

Moira sprang auf den in Taft gehüllten Rücken des Penners und begann, seinen Nacken zu lecken.

„Hey!“ Andre zog an der Lederleine. „Böser Hund!“

Mit einem gereizten Wimmern setzte Moira sich zur Wehr. Sie schleckte erneut über den Nacken und ließ sich das Salz schmecken. Andre zerrte seinen Mops von dem Mann herunter, und dann erst wurde ihm klar, dass der Obdachlose überhaupt nicht reagierte. Er stöhnte nicht, ja er atmete nicht einmal.

„Scheiße“, murmelte Andre und wählte um 3:18 Uhr (laut seinem Handy) die Nummer des Notrufs.

Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Polizei kam. Dieser abgesperrte Teil des MLK Drive war keine besonders gute Gegend. Der Rasen des Parks fünfzehn Meter von der Leiche entfernt war rostig, als ob die Vernachlässigung ihn in altes Metall verwandelt hätte. Dreißig Meter weiter, am Ende des Parks, ragte ein dreistöckiger Betonklotz in die Höhe, die Hosea Williams Elementary School. Ihre Fenster waren vergittert. Andre unterrichtete Sport an der Hosea Williams. Seine Eltern billigten diesen Job nicht, und noch viel weniger diese Gegend. Niemand tat das.

Da die Polizei zwanzig Minuten brauchte, führte Andre seinen Hund weiter spazieren. Er wusste, dass er Zeit hatte, und Moira war unruhig. Er führte sie bis zur nächsten Straßenecke, vorbei am Atlanta Food Shop (mit Brettern vernagelt) und dem roten Backsteingebäude der Holy Life Baptist Church (mit einem Tor abgesperrt). Dort schließlich hörte Andre die Polizeisirene. Er kam ungefähr zur selben Zeit wieder bei der Leiche an, als der Streifenwagen um die Absperrung herumfuhr.

Zwei Cops stiegen von Frittengeruch umweht aus. Sie stellten die Sirene ab, ließen aber das rotblaue Polizeilicht in trägem Rhythmus über die Straße tanzen. Moira, die mehr oder weniger farbenblind war, interessierte sich nicht für das Licht, doch Andre fand, dass die Farben seine Nachbarschaft um 3:40 Uhr in der Früh in eine hübsche kleine Diskothek verwandelten. Das wiederum erinnerte ihn an sein Alter und seine scheußlichen Teenagerjahre und daran, wie sehr sich sein Leben in so kurzer Zeit verändert …

„Sie haben uns gerufen?“, fragte Officer Appleby mit vor der Brust verschränkten Armen. Er war der Schwarze. Officer Harper, der Weiße, kniete neben der Leiche. Die Cops, die in dieser Gegend Dienst hatten, kamen immer in dieser Formation: einer schwarz, einer weiß. Einige von Andres Schülern bezeichneten sie deshalb nicht als „Bullen“ sondern als „Zebras“. Yo, heute sind Zebras unterwegs, passt auf!

„Ich war mit meinem Hund spazieren.“ Andre blies warmen Atem in seine Hände und rieb sie aneinander. Obwohl er eine Fleecejacke über seinem Sweatshirt trug, bedeutete Winter immer noch Winter. „Wir haben ihn hier liegen sehen.“

Officer Appleby runzelte die Stirn, ließ die Arme sinken und verschränkte sie dann erneut. „Kannten Sie den Verstorbenen?“

„Nein, Sir.“

Officer Harper suchte die haarigen, schmutzigen Gliedmaßen des Obdachlosen oberflächlich nach Erfrierungen ab. In ein paar Minuten würden sie Meldung machen, und dann würde der Fall an die Detectives und Gerichtsmediziner übergeben werden. Doch bis es so weit war, konnte er, wenn er vorsichtig mit der Leiche und dem Tatort umging, ruhig mal ein bisschen echte Polizeiarbeit leisten. Dass Appleby mit dem Zeugen plauderte, war reine Zeitverschwendung, aber zumindest konnte er in dieser Zeit nach Hinweisen suchen, um sie den Kollegen mitzuteilen, sobald sie hier waren. Wenn dann bei der nächsten Beförderung sein Name ins Spiel kam, würden sie sich daran erinnern, und er wäre endlich diese ständige Streifendienst-Nachtschichten-Scheiße für immer los.

Moira stupste ihn mit der Nase in den Hintern. Harper starrte den Mops finster an. Gott, er hasste Hunde! Sie sabberten und kauten auf allem herum. Sie brauchten ständig Aufmerksamkeit. Die Stadt wollte Geld für ihre Hundemarken, die Tierhandlung Geld fürs Fressen und der Tierarzt Geld für Impfungen. Hunde! Du lieber Himmel!

Moira stieß ihm erneut in den Hintern, und Harper schlug sie weg. Er schaute hinüber zu seinem Kollegen und dem Zeugen. Keiner von beiden hatte seinen kleinen Gewaltausbruch bemerkt. Gut. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein verärgerter Zivilist, der eine völlig überflüssige Beschwerde einreichte.

Andre spürte, wie Moira sich an seinen Turnschuhen rieb. Aus Gewohnheit beugte er sich hinunter und streichelte sie hinter den Ohren. Wahrscheinlich wollte sie nach Hause. Es war fast vier Uhr. Bestimmt würde sie sofort einschlafen.

„Nun, Mr Banks, sind Sie immer so spät noch unterwegs?“ Appleby hustete in seine Faust, verlagerte das Gewicht von dem rechten auf den linken Fuß. „Sie und Ihr Hund?“

„Schlafstörungen“, entgegnete Andre.

Appleby nickte mitfühlend. Der Zeuge schien nicht besonders verstört wegen der Leiche zu sein, aber schließlich waren sie in Atlanta. Auf dem MLK Drive. Der Tod hatte sich schon vor langer Zeit hier breitgemacht. Appleby arbeitete schon seit zehn Jahren in der Gegend. Wenn man mal alle Leute aus der Nachbarschaft zusammentrommeln würde, könnten die eine Menge Geschichten erzählen. Er selbst als Vertreter des Gesetzes kümmerte sich ja nur um das, was gemeldet wurde. Die Verbrechen, die nicht gemeldet wurden, waren die, die ihm Albträume bescherten.

„Nun, Mr Banks, wir brauchen noch eine offizielle Aussage, aber das muss vermutlich nicht vor …“

Die Glasleuchten auf dem Polizeiwagen explodierten mit einem lauten Knall. Alle vier – Andre, Moira, Appleby und Harper – blickten auf den Boden, der jetzt mit Glassplittern übersät war, dann auf das Autodach, und dann sahen sie sich gegenseitig an. Moira warf nachdenklich den Kopf hin und her.

„Jemand muss mit einem Baseball oder so was geworfen haben“, bemerkte Appleby.

Harper hatte seine Waffe gezogen. „Zeigt euch, ihr kleinen Scheißer!“

Ohne die Diskothekenbeleuchtung blieb nur noch das milchige Oval der Straßenlaterne als Beleuchtung übrig, in dem sie sich zwar gegenseitig sehen konnten, aber nicht, wer das Polizeilicht zertrümmert hatte. Harper wedelt mit seiner Kanone, woraufhin Appleby nach seiner eigenen griff. Sie versuchten den Kerl über ihr Gehör ausfindig zu machen, doch sie hörten nur ihren eigenen Herzschlag in der kalten Nachtluft.

Dann hörte Harper nicht einmal den mehr, denn eine Kugel durchschlug seine Schädeldecke, und er war tot. Er brach wie eine Marionette ohne Fäden zusammen, nicht mal einen Meter von der Leiche des Penners entfernt.

Appleby öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zu schreien, irgendetwas, doch darum kümmerte sich eine zweite Kugel, und er gesellte sich zu seinem Partner auf den Asphalt. Das Blut lief aus ihren Wunden und vermischte sich, als würden sie Händchen halten.

Eine Minute verging.

Andre rührte sich nicht.

Moira trottete zu Applebys Leiche und stupste mit einer Pfote an seine Wange. Dann sah sie zu ihrem Herrchen zurück und wimmerte.

Langsam machte Andre einen Schritt auf den Streifenwagen zu. Dort drinnen würde er sicher sein. Die Scheiben waren doch kugelsicher, richtig?

„Moira“, flüsterte er. „Komm hierher, Mädchen!“

Sie folgte ihm, als er sich zentimeterweise von dem Blutbad entfernte. Das Auto war fünf Meter entfernt. Vermutlich waren die Türen nicht verschlossen. Er würde einfach einsteigen und per Funk Hilfe rufen, dann wäre er in Sicherheit. Ihm und Moira würde nichts passieren.

Noch vier Meter, und sie hatten den Scherbenhaufen erreicht. Moira lief darum herum. Sie und Andre waren jetzt fast außerhalb des Lichtkreises der Straßenlaterne. Noch drei Meter, und Andre entschied, dass es nicht sinnvoll war, langsam zu machen – er lief ja nicht über ein Drahtseil. Er holte tief Luft (so wie er es seinen Schülern auf der Hosea Williams immer beibrachte) und bereitete sich auf seinen Sprint vor.

Die dritte Kugel traf ihn, bevor er die Chance dazu hatte. Und die vierte Kugel erledigte den Hund.

Wolken zogen über den Himmel. Die Straßenlaterne brummte. Um 4:25 Uhr erwachte das Funkgerät im Streifenwagen krächzend zum Leben. Der Einsatzleiter verlangte ein 10-4 über ihren Verbleib, over. Gegen 4:40 Uhr wurde der Einsatzleiter nervös und schickte Pennington und O’Daye los. Pennington und O’Daye kamen um 5:55 Uhr an. Der Tagesanbruch war nur noch eine Werbepause entfernt.

Pennington stieg als Erster aus, während O’Daye die Automatik auf „Parken“ stellte. Beide sahen sie den Streifenwagen, dann die Leichen. O’Daye rief den Einsatzleiter an, versuchte, ruhig zu bleiben, doch ihre Stimme zitterte wie eine gezupfte Saite.

„Zentrale, hier ist Baker-82. Wir sind am Tatort. Wir haben vier Leichen gefunden, wiederhole: vier Leichen. Officer Harper und Appleby hat es erwischt. Fordere sofortige Verstärkung an. Over.“

Gabe Pennington suchte die Gegend mit seinen grünbraunen Augen ab. Seine Brille beschlug von der Kälte, frustriert und zugleich panisch hob er eine behandschuhte Hand und wischte sie ab. Kein Zweifel – das war Roy Appleby. Seit seiner Scheidung hatte Pennington jeden Samstagabend im Haus dieses Bastards Poker gespielt. Pennington hasste das Spiel, aber er hielt es allein einfach nicht aus. Er wohnte nach seinem Auszug in einem Motelzimmer. Es war Appleby gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte. Und jetzt sickerte auf dem MLK Drive Blut aus seinem Körper. Verdammt.

„Verstanden, Baker-82“, antwortete der Einsatzleiter mit derselben Autorität wie immer. „Verstärkung ist auf dem Weg. Over.“

Officer O’Daye starrte durch die Windschutzscheibe. „Vielleicht leben sie noch.“

Pennington sah sie an, dann blickte er wieder zu den Leichen in dem milchigen Oval. Tatsächlich war sein erster Impuls gewesen, zu ihnen zu rennen und ihren Puls zu suchen, Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen. Doch sie wussten nicht, was sich hier abgespielt hatte, und bevor man das nicht wusste, ging man besser auf Nummer sicher. Nummer sicher hatte vielleicht nicht bei seiner Ehe funktioniert, aber ihn zumindest vor ernsthaften Verletzungen während seiner vierzehnjährigen Dienstzeit bewahrt. O’Daye war jung. Sie würde das auch noch lernen.

Als er sich neben sie ins Auto setzte, sah Melissa O’Daye auf ihre Armbanduhr. Sechs Uhr. Bald würden die Nachbarn aufwachen. Eltern würden ihre in warme Klamotten verpackten Kinder gegenüber in die Hosea Williams bringen. Die Eckensteher würden ebenfalls bald auftauchen, und die frühen Alkoholiker. Sie sollten das nicht sehen. Niemand sollte das sehen. Und sie selbst sollte das nicht sehen müssen. Sie sollte im Bett liegen. Sie brauchte diese Überstunden nicht. Was versuchte sie eigentlich zu …

Der Hund stöhnte.

O’Daye und Pennington richteten sich auf.

Der kleine Hund lag halb im und halb außerhalb des Lichtkegels. Sie hatten einfach angenommen, dass er nicht atmete, so wie die anderen, doch jetzt stöhnte er wieder, leise, zitternd.

„Herr im Himmel!“, murmelte O’Daye.

Sie öffnete die Tür.

„Warte.“ Pennington hob eine Hand. „Du kannst nichts tun.“

„Ich kann nichts …? Dieser Hund lebt!“

„Bist du Tierärztin? Nein. Also bleib sitzen. Die Verstärkung wird jeden Moment hier sein.“

„Wir können nicht einfach …“

„Ich sage das nicht aus Feigheit“, erklärte er. „Es ist Vorschrift.“

Sie schloss die Tür.

Sie warteten.

Der Hund, Moira, drei Jahre alt, heulte. Sie starb, und sie wusste es und wollte irgendwie an einen dunklen und ruhigen Ort, weg von ihrem Herrchen. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Alles, was sie konnte, war die Januarluft mit ihrem an ein Requiem erinnernden Schluchzen zu füllen.

Die Verstärkung kam, drei Streifenwagen und zwei zivile Fahrzeuge hielten neben dem Tatort. Kollegen waren umgebracht worden – ihre Brüder und Schwestern in Blau würden ihren Tod rächen. Die Sirenen fegten durch die Nachbarschaft wie ein Hurrikan. Eltern und Kinder setzten sich in ihren Betten auf und dachten, das Ende der Welt wäre gekommen. Manche spähten aus den Fenstern. Manche verriegelten die Tür. Selbst die Sonne lugte über die Wolkenkratzer, um einen Blick auf den Krawall werfen zu können.

Der leitende Officer war Deputy Chief Perry Roman. Er war Division Commander der Zone 4. Appleby und Harper gehörten zu ihm. Er kletterte aus seinem beigefarbenen Kombi, ließ seine Jacke offen (somit war sein farbbekleckstes Police Academy Sweatshirt zu sehen) und verteilte hastig die Aufgaben.

„O’Daye und Pennington, sperren Sie das Areal ab und kümmern Sie sich um die Schaulustigen! Halloway und Cruise, Jaymon und DeWright, suchen Sie die Gegend ab! Williams, Kayless, Ogleby, Sie nehmen Aussagen auf – irgendjemand muss irgendwas gesehen haben! Detectives, deutlicher kann ein Mordfall nicht sein. Sie wissen, was zu tun ist.“

Officer O’Daye wollte nach dem Hund sehen. Sie konnte ihn nicht mehr klagen hören – es wurde jetzt zu viel geredet –, aber sie musste einfach wissen, ob der Hund noch am Leben war. Es war nicht so, dass sie selbst Hunde hatte – sie hatte überhaupt kein Haustier. Sie lebte allein in ihrer Wohnung. Machte sie deshalb Überstunden? Und jetzt brach ihr wegen einem Tier fast das Herz (und nicht wegen einem der vier menschlichen Wesen!). Bescheuert. Sie schob ihre Neurosen in eine der hintersten Nischen ihres Verstands, so wie ihr Therapeut es ihr beigebracht hatte. Und als Pennington (der doch ein Feigling war – das wusste jeder) sich eine dicke Rolle gelbes Band aus dem Kofferraum schnappte, ging sie nicht zu dem Hund. Sie ging zu ihrem feigen Kollegen und half ihm, das Gebiet abzusperren.

Der Deputy Chief blieb auf dem Gehsteig, die Hände in den Hüften, und sah sich um. Elf Polizisten arbeiteten am Tatort – es war so leicht, Beweise zu zerstören. Das Letzte, was irgendeiner von ihnen hier im Angesicht dieser gefallenen Soldaten brauchen konnte, war irgendeine Fahrlässigkeit (oder, schlimmer noch, Inkompetenz), mit der der Anwalt des Schützen später vor Gericht auftrumpfen konnte. Und Perry Roman zweifelte nicht daran, dass sie den Schützen schnappten. Die Morgenschicht begann in zwei Stunden. Um neun Uhr würde jede einzelne Straßenecke in Südwest-Atlanta abgeriegelt sein. Zwei ihrer eigenen Leute waren tot. Roman nahm sich vor, seinen Männern zu sagen, dass sie den Scheißkerl, wenn sie ihn erwischt hatten, nicht tödlich verletzen durften. Es sollte ein sauberer, den Vorschriften entsprechender Einsatz werden. Das war das Mindeste, was die Toten verdienten (auch wenn Harper ein fauler Sack gewesen war).

Perry fixierte zwei Detectives des Morddezernats. Nicht gerade das scharfsichtigste Team, aber die beiden waren gut genug, zumindest für zwei Stunden. So mancher Polizist würde diese Tragödie als Chance für eine Beförderung betrachten, das wusste er. Perry Roman aber wollte nur den Job erledigen. Perry Roman war ein gläubiger Mann, der jeden Sonntag mit seiner Frau und seinen drei Kindern in die Kirche ging. Wenn der Herrgott der Ansicht war, dass er mit einer Beförderung belohnt werden sollte, dann bitte schön. In der Zwischenzeit wollte er einfach sein Bestes geben.

Er spürte, wie die aufgehende Sonne seinen Hinterkopf kitzelte. Das milchige Oval auf dem Asphalt verblasste allmählich wie ein Traum. Perry starrte über den Tatort hinweg in den verwahrlosten Park nördlich der Straße, und dann zu der Grundschule auf der anderen Seite des Parks.

Der Heckenschütze auf dem Dach der Grundschule starrte über den Tatort hinweg Perry Roman an. Die Morgendämmerung sorgte für genügend Licht. Er zielte mit seinem Gewehr auf zwei gestikulierende Detectives; auf den alten Cop mit dem gelben Absperrband und seine junge Kollegin, die immer wieder zu dem Hund schaute.

Er richtete den Sucher neu aus und legte den Finger an den Abzug. Ja, richtig. Genügend Licht.

2. KAPITEL

„Vierzehn Tote in Atlanta“

Esme klickte die Seite der „New York Times“ weg und gab die URL für „Atlanta Journal-Constitution“ ein. Die Story nahm den Großteil der Titelseite ein. Sie las jeden Artikel.

Vierzehn Tote. Fünfzehn, wenn man den Hund mitzählte.

Die Namen waren ihr langsam vertraut. Perry Roman, der Deputy Chief. Appleby und Harper. Andre Banks, der Mann, der den Landstreicher als Erstes entdeckt und um 3:18 Uhr die Polizei gerufen hatte. Guter Mann. Andere hätten sich einfach um ihren eigenen Kram gekümmert. Hätte Andre Banks sich um seinen eigenen Kram gekümmert, würde die heutige Schlagzeile allerdings ganz anders lauten.

Der Name des Landstreichers wurde in dem Artikel nicht genannt. Die Polizei war wohl noch dabei, seine Identität festzustellen. Vielleicht hatte ja jemand von der örtlichen Suppenküche sein Verschwinden bemerkt, was allerdings eher unwahrscheinlich war. Vielleicht war der Mann vorbestraft, dann konnten seine Fingerabdrücke mit jenen in den Akten verglichen werden. Esme wusste, wie das lief. Oh ja, sie wusste es.

Sie surfte zu der Homepage von „Associated Press“ und las deren Version. Dann „Reuters“. Dann „USA Today“.

Der Landstreicher hatte als Köder fungiert, so viel stand fest. Er war in einem lächerlich knallrosa Kleid in einer gut beleuchteten Straße abgelegt worden, um weitere Opfer anzulocken. Die Holzbarrieren waren vom Täter selbst aufgestellt worden, damit er die Straße kontrollieren konnte. Einen Teil davon las Esme in den Berichten, den Rest reimte sie sich selbst zusammen. Mit Sicherheit hatte die Task Force, die sich jetzt um den Fall kümmerte, dieselben Schlüsse gezogen. Sie kannte noch immer Leute im Revier. Ein kurzer Anruf würde doch nicht schaden …

Nein. Nein. Sie wollte nicht so eine werden! Sie wollte nicht zu diesen Gespenstern zählen, denen im Ruhestand so langweilig war, dass sie zurückkehrten, um an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz herumzuspuken und den früheren Kollegen auf die Nerven zu gehen. Anders als die meisten Gespenster im Ruhestand war Esme zwar nicht Ende sechzig, sondern Ende dreißig, aber trotzdem. Nein.

Sie legte das Telefon wieder weg und ging in die Küche, um sich ein Sandwich zu machen. Dort schob sie zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster und stellte ihn auf „dunkel“ ein. Während das Brot getoastet wurde, schnippelte sie Tomaten und Gurken in Scheiben, riss ein paar Blätter Eisbergsalat ab und nahm ein Glas mit halbfetter Mayonnaise heraus. Das Glas war fast leer. Sie nahm sich vor, beim Supermarkt haltzumachen, wenn sie Sophie von der Oyster-Bay-Grundschule abholte.

Esme Stuart, dies ist dein Leben.

Bewusst hielt sie sich die nächste Stunde von ihrem Computer fern und verbrachte stattdessen die Zeit mit einer Elvis-Costello-Biografie. Zur Untermalung legte sie ihre CD „My Aim is True“ auf. Nein, nicht ihre CD. Die gehörte Rafe. Ihre befand sich in einem Secondhand-CD-Laden in Washington. Als Esme und Rafe zusammengezogen waren, stellte sich ihre Musiksammlung als fast identisch heraus, also mussten sie die doppelten Scheiben loswerden. Hatte jemand ihre alte CD gekauft? Und wer? War es ein Spontankauf gewesen, oder hatte er nach genau diesem Album gesucht? Hatte er davon gehört, was in Atlanta geschehen war?

Was ihre Gedanken wieder darauf brachte.

Sie klappte die Biografie zu und schlurfte ins Badezimmer. „Alison …“, flehte Elvis, „I know this world is killing you …“ Sie knipste das Licht an und beäugte ihr Spiegelbild. Was stimmte nicht mit ihr? Schließlich war das nicht der erste Mordfall, über den sie las, seit sie vor sieben Jahren ausgeschieden war. Lag es an der Anzahl der Toten? Oder an der Tatsache, dass die meisten Opfer Polizisten waren? Sie verdrehte die Augen. So viel zum Thema verflixtes Unterbewusstsein. Da las sie von dem Angriff eines Scharfschützen und legte ein Album mit dem Titel „My Aim is True“ auf.

Sie strich sich eine haselnussbraune Haarsträhne hinters Ohr. Ihre Ohren waren nicht klein und hübsch. Als sie jünger war, etwa in Sophies Alter, hatte sie darauf bestanden, ihr Haar lang zu tragen. Doch ihre Ohren hatten immer eine Gelegenheit gefunden, herauszulugen. Mit zwanzig hatte sie einfach aufgegeben und ihr Haar auf Schulterlänge schneiden lassen. Dadurch hatte sie ein paar Jahre älter ausgesehen, doch mit zwanzig und als Polizistin war das durchaus ein Vorteil. Zumindest hatte sie geglaubt, dass man sie nun ernster nehmen würde.

Du liebe Zeit, sie war so naiv gewesen!

Esme wusch sich die Hände, trottete zurück ins Wohnzimmer und tauschte aus Prinzip die CD gegen etwas weniger Heftiges aus. „Bananarama’s Greatest Hits“? Perfekt. Sie drückte auf „Play“, starrte einen Moment zu lange auf ihren Computer (welche neuen Entwicklungen hatten sich in dem Fall ergeben?) und ließ sich auf die Couch plumpsen. Zerstreut griff sie nach einem der Sudoku-Hefte, die auf dem Glastisch verstreut lagen. Esme öffnete es an der Stelle, wo ein billiger schwarzer Kugelschreiber steckte, und tüftelte an einem Rätsel herum, das mit dem vielversprechenden Titel „Wahnsinnig schwer“ überschrieben war.

Das Durcheinander auf dem Glastisch stellte das einzige gemütliche Chaos in dem ganzen Raum dar. Rafe wollte, dass der Rest des zweistöckigen Hauses ordentlich und blitzsauber war. Er war nicht per se ein Ordnungsfanatiker; aber es kamen ständig Gäste von der Universität, und er wollte – genauso wie Esme damals bei der Polizei mit ihrem kurzen Haar – einen guten Eindruck machen. Esme hatte nichts dagegen einzuwenden (sie war sich über die Bedeutung von Äußerlichkeiten durchaus im Klaren), solange sie in jedem Raum eine Ecke für sich hatte. Wie auch immer, Sudoku-Heftchen waren sowieso schnell geordnet.

Die Bananarama-CD war zu Ende. Nach weiteren fünf Minuten hatte sie das Rätsel komplett gelöst, danach machte sie sich fertig, um ihre Tochter abzuholen. Sie schlüpfte in ihren olivgrünen Parka, rief sich noch einmal die Mayonnaise in Erinnerung und betrat die kalte, kalte Garage. Draußen musste es gefühlte minus fünfzehn Grad haben, und wegen des nächtlichen Schneeregens war bestimmt Glatteis auf den Nebenstraßen. Willkommen an der Nordküste Long Islands! So war es hier von Dezember bis März.

Esme schaltete ihr Prius-Satellitenradio an. Sie war gern von Musik umgeben. Musik, Sprache – eigentlich alles, was mit Kreativität zu tun hatte, lud sie mit Energie auf wie eine kurzfristige Fotosynthese. Ohne Musik, ohne gesprochenes Wort könnte sie morgens genauso gut im Bett liegen bleiben. Tom Piper hatte einmal angedeutet, dass sie womöglich unter Depressionen litt. Aber da hatte sie ihm gerade erst gesagt, dass sie den Dienst quittieren wollte, was wahrscheinlich seine Einschätzung beeinflusst hatte.

Tom. Der schlaksige Tom und seine ’78er Harley-Davidson Chrome. Bestimmt waren er und seine Harley jetzt unten in Atlanta. Dort würde er immer wieder den Tatort inspizieren, ungefähr skizzieren, was in diesem Verrückten vor sich gehen mochte, versuchen, seine Botschaft zu entschlüsseln. Und bei dieser ganz speziellen Mordserie …

Köder, Falle, vierzehn Morde. Geduld. Dieser Verrückte wollte mit Sicherheit nicht, dass man seine Absicht falsch deutete.

Ob er eine Nachricht hinterlassen hatte?

Esme und Tom schickten sich noch immer Weihnachtskarten, Geburtstagsgrüße … Bei ihm anzurufen, um sich ihren Verdacht bestätigen zu lassen, käme also nicht vollkommen überraschend …

Nein, Esme! Das ist nicht mehr dein Leben. Davon abgesehen ist Tom Piper ein großer Junge und durchaus in der Lage, den Bösen allein zur Strecke zu bringen. Du bist jetzt eine Fußball-Mutter, Esme. Lebe mit dieser Entscheidung.

Sie fuhr mit ihrem dunkelroten Prius rückwärts von der Auffahrt. All die schneebedeckten Häuser um sie herum sahen nach neuem Geld aus. Rafes und ihr schwarz eingefasstes Haus im Kolonialstil bildete da keine Ausnahme. Gute Amerikaner lebten in dieser Gegend. Leute, die naiv genug waren, um Demokrat zu sein und zu glauben, dass das Leben einen Sinn hatte. An den meisten Tagen glaubte Esme in der Abgeschiedenheit von Oyster Bay inzwischen selbst daran.

Ihr Radio schaltete von Public Enemys Wut-Hymne „Rise“ zu Elvis Costellos bedrohlichem „Riot Act“. Wieder Elvis. Lag wohl irgendwie in der Luft. Esme bog links auf die Main Street. Die Oyster-Bay-Grundschule war nur ein paar Blocks entfernt. Bei wärmerem Wetter gingen sie zu Fuß, Mütter und ihre Kinder hintereinander auf dem Gehsteig wie bei einer Parade. Heute war der Gehsteig fast leer. Vom Meer blies ein schneidender Wind aufs Land. Irgendwie kämpfte er sich doch immer an den riesengroßen Villen, die den Strand säumten, vorbei.

Nicht dass Esme selbst in einer Bruchbude gelebt hätte. Jedenfalls nicht, seit sie Rafe kannte.

Sie hielt vor der Schule. Normalerweise musste sie mit den anderen Eltern um einen Parkplatz streiten, aber heute war sie zehn Minuten zu früh dran. Und das nur, um ihrem Computer aus dem Weg zu gehen und den Informationen, die er lieferte. Natürlich könnte sie ihr Radio auch einfach auf einen Nachrichtensender umstellen.

In diesem Moment entdeckte sie eine ihrer Nachbarinnen bei einer erstklassigen illegalen Handlung. Amy Lieb, die Bewohnerin einer der kleineren der riesengroßen Villen (und Mutter einer rehäugigen Tochter namens Felicity, die in Sophies Jahrgang war), hämmerte ein „KELLERMAN FOR PRESIDENT“-Schild in den Schulrasen. Entweder hatten die Sicherheitsleute keine Ahnung von den Vorschriften bezüglich Wahlpropaganda (unwahrscheinlich), oder es war ihnen egal (viel wahrscheinlicher). Das Geld der Liebs zählte mehr als irgendeine simple Vorschrift.

„Hey, Amy“, flötete Esme voll süßlicher Unschuld. „Was machst du da?“

Amy Lieb, munter wie immer, zwinkerte und winkte herüber. Esme und sie hatten eine freundliche Beziehung zueinander. Da beide Ehemänner in der Soziologiefakultät des Colleges waren, besuchten sie oft dieselben Buchvorstellungen oder trafen sich auf Abendveranstaltungen und so weiter. Alles in allem waren die Liebs wie sie und Rafe selbst mit fünfzehn Jahren Vorsprung. Ihre Tochter Felicity war das jüngste von vier Kindern. Der Älteste, Trevor, ging auf ein Internat in West-Connecticut, wo er sich vor allem in Mathematik und Tennis hervortat.

Amy Lieb hatte ihr langes schwarzes Haar mit einer weißen Schleife zusammengebunden, als ob sie ein Geschenk an die Welt wäre. Wegen der fließenden, weiten Kleidung, die sie immer trug, blieb ihre Figur ein Geheimnis, der heutige unechte Pelzmantel war da keine Ausnahme. Sie lächelte Esme und die Sonne an, als die jüngere Frau sich ihr näherte.

„Die Vorwahlen stehen an“, erklärte Amy. „Diese Nachricht muss doch verbreitet werden!“

Esme lächelte zurück. „Klar, aber wissen Sie, Siebenjährige dürfen nicht wählen.“

„Ihre Eltern schon!“

Esme sah sich um. Besagte Eltern hielten gerade mit ihren Kombis und Geländewagen vor der Schule. Sie beugte sich zu Amy und flüsterte so freundlich, wie sie nur konnte: „Hören Sie, Sie dürfen das Schild hier nicht aufstellen! Das ist ein städtisches Grundstück.“

Amy blinzelte sie an.

„Das nennt man Wahlwerbung. Ist rechtswidrig.“

Amy sah hinunter auf ihr Schild, das doch niemandem schadete, dann wieder zu Esme. „Wieso?“

„Weil man daraus schließen könnte, dass die Schule Gouverneur Kellerman unterstützt.“

„Nun, er ist der beste Mann für diesen Job. Meinen Sie nicht?“

Esme spürte, dass ihre freundliche Miene zu bröckeln begann. Wie es schien, waren Amys Überzeugungen ebenso fest verankert wie ihr Schild. Großartig.

„Entspannen Sie sich, Esme! Außerdem tut das doch niemandem weh.“ Die anderen Eltern scharten sich nach und nach zusammen. „Oh, wo wir schon davon sprechen, haben Sie gehört, was unten in Atlanta geschehen ist?“

An diesem Abend, nachdem sie Sophie ins Bett gebracht hatte und Rafe zu einem Vortrag eines Gastprofessors der Soziolinguistik gegangen war, rief Esme schließlich doch Tom Piper an. Sie rechnete nicht damit, dass er rangehen würde, und bereitete sich schon auf die Nachricht vor, die sie auf seiner Mailbox hinterlassen wollte. Doch dann …

„Hier spricht Tom.“

Esme hatte eine Tasse grünen Tee mit an ihren Computertisch gebracht. Obwohl sie sich Grußkarten schickten, hatten sie schon eine Weile nicht mehr miteinander gesprochen. Wie lange? Vier Jahre? Vier Jahre. Eine ganze Wahlperiode. Der Zwischenfall mit Amy Lieb war ihr noch frisch im Gedächtnis. Sie fühlte sich wie eine Schwimmerin, die nach langer Zeit wieder einmal ans Meer kommt. Nachdem sie fast ertrunken war. Gott, ob er noch immer sauer wegen ihrer Kündigung war? Vielleicht war es ein Fehler, ihn anzurufen …

„Hallo? Jemand dran?“

Mist. Wie alt war sie, zwölf?

„Hi, Tom“, stieß sie hervor.

Stille.

Esme zog die Knie an.

Dann endlich: „Hallo, Esmeralda.“

Sein Kentucky-Bariton überwältigte sie. Esmeralda. Das war nicht ihr voller Name, aber so hatte er sie immer genannt. Als ob sie damals direkt aus Quasimodos Glockenturm nach Virginia gekommen wäre. Tom Piper. Der Mentor, den sie gar nicht verdient hatte.

„Tja …“ Esme versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen. „Wie ist das Wetter?“

„In Atlanta, meinst du?“

„Zum Beispiel.“

„Ich hatte so eine Ahnung, dass du anrufst.“

Esme musste lächeln. Natürlich hatte er eine Ahnung gehabt! Seine Intuition grenzte schon ans Übersinnliche. Früher, als die leidenschaftlichen Nächte mit Rafe Kratzspuren auf ihrem Körper hinterlassen hatten, hatte sie immer darauf geachtet, Tom bei der Arbeit bis mindestens zehn Uhr nicht über den Weg zu laufen, damit er nichts von ihren wenig keuschen Neigungen mitbekam. Was er von ihr hielt, bedeutete ihr damals einfach alles. Was hielt er heute von Esmeralda?

„Schlecht“, sprach er weiter. „Wir haben ungefähr sechs Leute hier, die denken, dass sie das Sagen haben, und da zähle ich den Bürgermeister, den Gouverneur und den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht mit, die sich ebenfalls alle einmischen.“

„Die Schreibtischhengste bekommen also ihre Wutanfälle, während die Erwachsenen den Ball flach halten und ohne großes Theater am Fall arbeiten. Vielleicht sorgen ein paar Erwachsene sogar dafür, dass die Schreibtischhengste miteinander streiten, damit die sich nicht plötzlich einmischen.“

„Bei dir klingt das nach Machiavelli.“

Sie kicherte. „Hey, der Zweck heiligt die Mittel …“

„Jedenfalls ist es schlimm. Der Fall, meine ich.“

Esme ließ ihre Knie los und lehnte sich zurück. „Kannst du darüber sprechen?“ Sie nippte an dem heißen Tee.

Tom antwortete nicht.

Verflucht. Sie war zu weit gegangen. Scheiße. War wohl besser, zurückzurudern, und zwar schnell …

„Tom, tut mir leid. Ich weiß, du darfst nicht … Ich hätte gar nicht anrufen sollen. Aber egal … Also, wie geht es dir? Wie geht es Ruth?“

„Meine Schwester kümmert sich noch immer um den Garten. Wir haben ihr sogar ein kleines Gewächshaus gebaut, damit sie sich nicht länger darüber ärgern muss, wenn die Eichhörnchen ihre Narzissen in Unordnung bringen.“

„Das ist nett. Ihr habt es zusammen gebaut?“

„Und das hat praktisch einen ganzen Monat gedauert. Dabei kann man weder Ruth noch mich als handwerklich begabt bezeichnen.“

„Ich weiß.“ Esme fühlte, wie die Anspannung aus ihren Schultern wich. „Ich kann mich gut erinnern, als mal dein Auto nicht angesprungen ist. Ich sehe noch immer vor mir, wie du die Motorhaube geöffnet und dann ewig lang auf den Motor gestarrt hast, als wäre er ein Mordverdächtiger, den du zum Blinzeln bringen könntest.“

Tom lachte. „Wir alle haben unsere Schwächen und Fehler.“

„Und manche von uns haben sogar Starthilfekabel.“

„Ha, ha.“

Esme sah lächelnd aus dem Fenster. Schneeflocken wirbelten im Mondlicht. Unten in Hotlanta war es wahrscheinlich mild. Sie war einmal im August in Atlanta gewesen, und da hatte sich die feuchte Hitze angefühlt wie ein lebendiger, atmender Organismus. Kein Wunder, dass die Verbrechensstatistiken im Sommer immer in die Höhe schossen. Die Temperaturen zerkochten das Hirn der Leute zu Brei.

Doch jetzt war Januar, und vierzehn Leute waren tot.

„Bist du noch dran?“, fragte er.

Sie drückte die Handfläche an die Stirn und seufzte. „Entschuldige, Tom, es ist nur … Ich habe gelesen, was gestern Nacht passiert ist und … Es ist fast sieben Jahre her, dass ich ausgeschieden bin. In der Zeit hat es andere aufsehenerregende Morde gegeben. Aber dieser Fall hier, der geht mir einfach unter die Haut … und ich weiß nicht, warum.“

„Nicht?“ Er klang überrascht. „Was meinst du wohl, warum ich wusste, dass du anrufen würdest?“

„Was meinst du?“

„Der Obdachlose. Als ich hörte, dass der Mörder ihn als Köder benutzt hatte, wusste ich, dass dieser Fall dich heimsuchen würde wie ein schlechter Traum. Ich hätte beinahe dich angerufen.“

„Der Obdachlose? Warum sollte das …“

„Wegen deiner Eltern, Esme.“

Oh.

Esme schrumpfte auf ihrem Stuhl zu einem kleinen Mädchen zusammen.

Ihre Eltern.

Die ihr Leben lang mehr oder weniger von der Sozialhilfe gelebt hatten. Die ihre Adressen gefälscht hatten, damit ihre Tochter die besten staatlichen Schulen besuchen konnte. Die sie jeden Tag gedrängt hatten, mehr aus ihrem Leben zu machen. Und dann, nachdem sie das Stipendium für die George-Washington-Universität bekommen und sich von ihnen verabschiedet hatte …

Im Süden Bostons hatte es ein Obdachlosenasyl gegeben, das Coleman House. Bleifarbe an den Wänden, aber das war im Dezember immer noch besser als gar keine Wände. Als die achtzehnjährige Esme nach ihrem ersten Semester voll mit Geschichten aus Washington zurückkehrte, gab es das Coleman House noch, ja. Doch ihre Eltern waren verschwunden. Alles, was sie ihr hinterlassen hatten, war ein gelber Zettel und die beiden mit Tinte geschriebenen Worte in der sorgfältigen Schreibschrift ihrer Mutter.

„SEI FREI“, stand da. „SEI FREI“.

Sie verbrachte die gesamten zwei Wochen damit, die Stadt nach ihrer Mom und ihrem Dad abzusuchen, aber sie wollten nicht gefunden werden. Und wenn man in den Nebenstraßen von Boston nicht gefunden werden wollte, hätte man sich genauso gut in Luft auflösen können.

Beinahe wäre sie nicht an die Uni zurückgekehrt, doch ihre Freunde drängten sie dazu. Sie sagten, dass ihre Eltern es so gewollt hätten. Immer in den Semesterferien kehrte sie nach Boston zurück, wohnte in der Jugendherberge in der Congress Avenue und suchte unter jeder Brücke und in jedem Obdachlosenheim der ganzen Stadt nach ihrer Familie. Bis zu dem Tag, als sie nach Quantico kam und beschloss, nie wieder zurückzukehren.

Rafe wusste nichts davon.

So ziemlich keiner ihrer Freunde wusste davon.

Tom wusste es nur, weil er eben alles wusste.

„Der Name des Mannes war Merle Inman“, ließ er sie jetzt wissen. „Er wurde in Macon geboren, zog mit Mitte zwanzig nach Atlanta, um Architekt zu werden, wurde drogenabhängig … Es ist doch immer dieselbe Geschichte. Er war zweiundvierzig. Wir werden diese Informationen zwar erst morgen herausgeben, aber gut, nun hast du sie schon jetzt.“

Esme merkte, dass sie weinte, und wischte sich über die Wangen. „Danke.“

„Der Typ, der das getan hat … also wirklich. Benutzt Menschen wie Tontauben. Er bildet sich ein, dass er schlauer ist als wir.“

„Schnapp dir den Dreckskerl!“

„Sehr wohl, Ma’am.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, fiel ihr ein, dass sie immer noch nicht wusste, ob der Mörder eine Nachricht hinterlassen hatte oder nicht. Doch das erschien ihr jetzt nicht mehr wichtig. Vielleicht hatte sie es einfach nur gebraucht, mit Tom zu sprechen. Mentor, Profiler, Freund, Therapeut. Dass ihr nicht selbst aufgegangen war, welche spezielle Bedeutung der Fall für sie hatte – nun, die menschliche Seele blieb ein ewiges Rätsel.

Esme ließ sich ein Bad ein. Rafe würde frühestens in einer Stunde nach Hause kommen. Sophie schlief bereits tief und fest, vielleicht träumte sie wieder von dem Mann, der aus Ballons gemacht war. Das war seit ein paar Tagen ein immer wiederkehrender Traum. Der Mann aus Ballons. Alle in verschiedenen Farben. Und morgen früh würde sie am Frühstückstisch verkünden: „Ich habe wieder von dem Ballonmann geträumt.“ Offenbar handelte es sich um einen schönen Traum.

Ihre Tochter hatte schöne Träume. Esme glitt in das heiße, heiße Badewasser. Ihr Leben war gut, oder nicht? Wieder dachte sie an Amy Lieb. Solche Dinge waren nun die Dramen in ihrem Leben, während Hunderte Meilen entfernt Tom nach einem Wahnsinnigen suchte. Sie hoffte, dass er ihn schnappte. Sie hoffte, dass Rafe bald nach Hause kommen würde. Sie schaltete den CD-Player im Badezimmer an (Joy Division diesmal, „Love Will Tear Us Apart“), schloss die Augen und erlaubte ihren Gedanken, endlich, endlich tief auszuatmen.

3. KAPITEL

Am 11. Februar wurde im Amarillo-Aquarium ein Feuer gelegt.

In den Tagen nach dem Brand bestätigten die Filme in den Überwachungskameras den Verdacht der Polizei, dass es sich um Brandstiftung handelte. FBI-Ermittler schauten sich das Filmmaterial über einen neuen Nachtportier namens Emmett Poole Bild für Bild an, der im dritten Stock den Boden wischte, und zwar zwanzig Minuten, bevor in dieser Etage das Feuer ausbrach.

Es war Tom Piper, der dahinterkam.

„Das ist Feuerzeugbenzin.“ Er deutet auf den Wischeimer, dann auf den breiten Rücken von Emmett Poole. Das Gesicht des Portiers hatten sie nie zu sehen bekommen. Andere Angestellte beschrieben ihn als unauffällig. Er hatte erst vor einer Woche den Job bekommen, nachdem er sich auf eine Stellenanzeige in der Zeitung beworben hatte. Seine Referenzen waren überprüft worden. Als man später seine Wohnung durchsuchen wollte, stellte sich heraus, dass er die Adresse einer Kirche angegeben hatte. Emmett Poole hatte sich wie das Aquarium, das er angezündet hatte, in Rauch aufgelöst.

Tom Piper und seine Sondereinheit waren jedoch nicht wegen der Brandstiftung in Amarillo.

Sie waren hier wegen der Katastrophe, die sich kurz danach ereignete.

Station 13 war um 9:55 Uhr wegen des Feuers ausgerückt. Ein Großteil der Mannschaft hatte die Demokraten-Debatte zwischen Jefferson Traynor und Bob Kellerman im Fernsehen verfolgt. In seinem Heimatstaat Ohio war Kellerman Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, weshalb die Jungs in der Feuerwache (allesamt durch und durch texanische Republikaner) zu ihm hielten, als wäre er einer von ihnen. Sie sahen die Diskussion im Gemeinschaftsraum auf einem rußverschmierten 52-Zoll-LCD-Fernseher, den sie im September beim Ausverkauf von „Best Buy“ ergattert hatten. Dann kam der Notruf, der Fernseher wurde ausgeschaltet, und die Männer schlüpften murrend in ihre Kluft.

Auf dem Weg zum Aquarium erklärte Lou Hopper, dass „Kellerman dem anderen ganz schön in den Arsch getreten hat“. Lou Hopper war das Großmaul der Einheit. An jedem Arbeitsplatz in Amerika gab es (mindestens) einen wie ihn. Den selbst ernannten Experten. Den Besserwisser. Die Bar in „Cheers“ hatte Cliff Clavin, Station 13 hatte Lou Hopper. Er trug sogar einen grauen Schnurrbart wie Clavin, allerdings nicht ein einziges Haar mehr auf dem Kopf. Er behauptete, es sei bei einem Brand abgesengt worden; irgendwie hätten die Flammen ihre heißen Zungen unter seinen Helm gleiten lassen und sein Haar abgeleckt.

Drei weitere Feuerwehrmänner saßen mit Lou hinten im Wagen. Der Chief war vorn bei Bobby Vega, dem Fahrer.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Aquarium von der Station in der Third Avenue aus erreichten. Amarillo war eine Stadt des Tageslichts, die meisten Geschäfte schlossen um achtzehn Uhr, deswegen war es nicht einmal nötig, die plärrende Sirene anzuschalten. Die paar Leute, die um zehn Uhr abends noch auf der Straße waren, sprangen entweder rechtzeitig aus dem Weg oder hatten es verdient, überfahren zu werden. Die drei Jungs im hinteren Teil jedoch, die hatten eine Tradition zu erfüllen: Der katzenhafte Roscoe Coffey drückte eine oft abgespielte Kassette in den Gettoblaster (1989 bei einem Ausverkauf von „Conn’s“ erstanden – das später vom zuvor erwähnten „Best Buy“ abgelöst worden war) und drückte auf „Play“. Während sie sich dem Aquarium näherten, über dessen Steinschädel eine Krone aus Rauch hing, begannen Johnny Cash und seine Mariachi-Musiker loszuträllern.

„I fell into a burning ring of fire …“

Niemand konnte behaupten, dass Station 13 nicht über einen tiefschwarzen Sinn für Humor verfügte.

Bobby Vega lenkte den Feuerwehrwagen die North Hughes hinauf auf das Aquarium zu. Seine Familie hatte sich in Amarillo angesiedelt, als er drei Jahre alt gewesen war. Sie wurden für Mexikaner gehalten, was ihnen nicht ungelegen kam. Aus Mexiko zu sein warf weniger Fragen auf, als aus Kolumbien zu kommen. Sie hatten Kolumbien während einer Dürreperiode verlassen, doch ein Jahr nachdem sie in Amarillo angekommen waren, litt nun Amarillo unter der längsten Trockenperiode seit einhundert Jahren. Auch heute noch war der sparsame Umgang mit den Wasservorräten von allgemeinem Interesse. Die Feuerwehr war öfter als einmal wegen ihrem „verschwenderischen Umgang“ gescholten worden.

Dieselben schwachsinnigen Wichtigtuer, die die Feuerwehr wegen ihres verschwenderischen Umgangs mit Wasser anprangerten, hatten ein dreistöckiges Aquarium im Herzen einer staubtrockenen Stadt bauen lassen. Bobbys Eltern, die noch immer Amarillos meteorologisches Pech auf ihre Ankunft in diesem Land zurückführten, hatten die Nachricht gelesen und gelacht. Bobby lachte nicht. Er fand idiotisches Verhalten von Politikern nie sonderlich amüsant. Idioten waren gefährlich. Idioten sorgten für Feueralarme und dafür, dass seine mutigen Freunde ihr Leben riskierten.

Bobby Vega war ein wütender junger Mann, tatsächlich, doch hinter dem Steuer zu sitzen half ihm, Druck abzulassen. Die Kontrolle über dieses riesige Lenkrad zu haben und seine Brüder zum Ziel zu bringen, besänftigte seine Wut enorm. Sein harter Kiefer entspannte sich. Er fuhr in direkter Linie auf das Aquarium zu und genoss diese paar Minuten des Friedens. Nicht einmal der idiotische Countrysong aus dem Kassettenrekorder störte ihn.

„I fell down, down, down, but the flames went higher …“

Für Tom Piper und sein Sondereinsatzkommando, die später die Ereignisse zurückverfolgten, die zu dem zweiten Massaker führten, waren die meisten Informationen über Station 13 und ihre Handlungen am 11. Februar im besten Fall spekulativ (im schlimmsten ganz und gar unbrauchbar). Es gab keinen wirklichen Beweis, dass die sechs Männer auf der North Hughes zum Aquarium gefahren waren oder auch nur, dass Johnny Cash sie auf ihrer Fahrt begleitet hatte. Tom Piper konnte sich nur daran orientieren, was er später über ihre Gewohnheiten herausfand. Er vermutete, dass sie an diesem Abend exakt dasselbe taten wie jede Nacht, wenn sie ausrückten. Er befragte die anderen Feuerwehrleute von Station 13, von denen die meisten irgendwann einmal mit den anderen in der Nachtschicht zusammengearbeitet hatten. Er befragte die Familien. Und daraus setzte er seine Vorstellung von der Nacht zusammen.

Es war, als würde man versuchen, sich das Universum anhand ein paar weniger Fotos vorzustellen.

Amarillo besaß eine Feuerwache. Vor einigen Jahrzehnten hatte irgendein vergessener Politiker sie Station 13 genannt, weil Amarillo im dreizehnten Kongressdisktrikt lag und niemand das jemals vergessen sollte. Station 13 hatte den Eingang des Glassteinbaus um 22:09 Uhr erreicht. Grauweiße Rauchwolken kreiselten vom Dach in den Himmel, doch das Feuer schien noch nicht weiter um sich gegriffen zu haben. Das Aquarium hatte nicht viele Fenster, aber gab es ein paar entlang der Treppe. Die Scheiben schienen intakt.

Daniel McIvey und sein Sohn Brian waren die Ersten, die aus dem Feuerwehrwagen kletterten, gefolgt von Roscoe Coffey und Lou Hopper. Daniel und Brian schienen einem Zeitrafferprojekt entstiegen zu sein: dieselben drahtigen roten Haare, dieselben rosa dicken Wangen, nur war der Vater etwas größer, etwas schwerer und hatte ein paar Falten mehr auf der Stirn. Wie Zwillinge sprachen sie miteinander im Stenogramm-Stil.

„Willst du …?“, fragte Daniel.

„Yeah“, entgegnete Brian. „Ich hol das Teil. Ich treffe dich da, wo du bist.“

Brian zerrte zwei Halligan-Spitzhacken aus dem Wagen, während Daniel sich zum Chief gesellte, der gerade den Wachmann des Aquariums befragte.

„… hab nur meine Arbeit erledigt“, jammerte der Mann. Er war ein großer Mann namens Cole. Zwei Meter. Hundertvierzig Kilo. Laut. „Ich habe Rauch gerochen und die Monitore überprüft, und dann habe ich Sie gerufen! Das schwöre ich!“

Der Chief nickte, heuchelte Mitgefühl, und dann stellte er die wichtigste Frage von allen: „Ist noch jemand im Gebäude?“

„Der Nachtwächter … sein Name ist Emmett Poole … Ich hab ihn nicht zurückgelassen! Aber ich glaube, er ist noch im dritten Stock …“

Daniel und Brian bildeten das vorgesehene Rettungsteam. Brian reichte seinem Vater eine der Spitzhacken, dann stürmten sie ins Gebäude. Sie kannten den Grundriss des Aquariums, weil sie jeden Sommer hierherkamen. Familienausflug. Daniel und seine Frau Margie. Brian und seine Frau Emilia. Brians und Emilias Zwillinge.

Roscoe und Lou schnappten sich zwei Feuerlöscher und rannten hinterher. Schnell hatten sie die beiden eingeholt. Sie liefen die Treppe hinauf. Roscoe leuchtete ihnen mit einer Taschenlampe den Weg. Als sie im zweiten Stock ankamen, schaltete sich das gelbe Notfalllicht an. Im dritten Stock konnten sie den Rauch riechen, und sie wussten, dass sie angekommen waren.

Brian berührte die Tür. „Heiß wie ein Ofen.“

Roscoe und Lou machten ihre Feuerlöscher betriebsklar. Alle vier Männer trugen feuerfeste Uniformen, aber trotzdem – ein Feuer war ein Feuer. Prometheus hatte es aus dem Himmel gestohlen, und seit diesem Tag war es stinksauer.

Draußen saß Bobby Vega beim Funkgerät. Sobald der Chief ihm Bescheid gab, würde er die Jungs rufen, die noch in der Feuerwache waren, damit sie mit der fahrbaren Leiter kamen. Sie ließen immer unter allen Umständen zwei Leute in der Wache zurück. Verstärkung war in fast jedem Krieg die Rettung. Die beiden Jungs in Station 13 hatten den Sender in dem 52-Zoll-LCD-Fernseher umgeschaltet. Statt der langweiligen Debatte sahen sie sich jetzt etwas viel Wichtigeres an: einen World-Wrestling-Titelkampf. Nicht dass sie es sich gemütlich gemacht hätten; sie würden sich erst entspannen, wenn ihre Brüder vom Schlachtfeld zurückgekehrt waren.

Cole, der gigantisch große Nachtwächter des Aquariums, lehnte sich gegen den Feuerwehrwagen und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Er hatte diesen Job übernommen, um nicht mehr so viel Stress zu haben. Sein Lebensberater hatte ihm erklärt, dass sein Chi nicht mit Aufregung klarkomme. Sein Lebensberater hatte ihm auch gesagt, dass Fische Glück brächten. Am nächsten Tag entdeckte Cole in der Zeitung die Stellenanzeige des Aquariums.

Er beruhigte seinen Atem mit einer Yogaübung. Was nur hatte er in seinem vergangenen Leben falsch gemacht, dass sein Karma so vergiftet war? War er ein Serienmörder gewesen? Er stieß den Atem durch die Nase in seinen Ärmel.

Im Aquarium schäumten Roscoe und Lou gerade mit wenig Erfolg den dritten Stock ein. Obwohl das Feuer sich nur auf Kniehöhe befand, versperrte der Rauch die ganze Sicht.

„Mr Poole!“, brüllte Daniel.

„Mr Poole!“, brüllte Brian.

Der dritte Stock war wie ein Glaslabyrinth gebaut. Die vier Feuerwehrmänner liefen geduckt hindurch. Sie hatten keine Ahnung, wo der Brandherd war, und konnten keine Anzeichen von Emmett Poole entdecken. Lou stellte mal wieder eine seiner aus der Luft gegriffenen Hypothesen auf.

Da explodierte einer der Glaskästen.

Sein Wasser (mit den exotischen Fischen) ergoss sich auf das Feuer. Statt gelöscht zu werden, verfolgte das Feuer das Wasser zurück in seinen Kasten und ließ ihn orangegrün aufleuchten.

Das war ein chemisches Feuer. Klasse B.

„Scheiße“, dröhnte Roscoe.

Die vier Männer liefen hastig rückwärts aus dem Stockwerk. Sie brauchten eine andere Ausrüstung. Roscoe funkte dem Chief den neuen Status zu. Keine Antwort. Der alte Mann sprach vermutlich gerade mit den Cops, der Presse und weiß der Teufel mit wem noch. Roscoe übernahm das Kommando, und die Feuerwehrleute stürzten die Treppe hinunter in die Eingangshalle.

Daniel und Brian dachten an ihre früheren Besuche im Aquarium. Die Zwillinge waren vor allem von den Seepferdchen begeistert gewesen. In welcher Etage waren die Seepferdchen gewesen? Bitte. Nicht in der dritten.

Lou Hopper dachte an seine Knie. Er musste unbedingt abnehmen. Ständig Treppen hinauf- und hinunterzurennen forderte einfach seinen Tribut.

Roscoe dachte an gar nichts. Er verließ sich ausschließlich auf seinen Instinkt und sein motorisches Gedächtnis. Sonst hätte er sich vermutlich Sorgen darüber gemacht, dass der Chief noch immer nicht auf seinen Funkspruch reagierte.

Die vier Männer rannten aus der Lobby in die frische Luft und fielen um wie Holzenten in einer Jahrmarktbude. Roscoe, Lou, Daniel, Brian. Plopp – plopp – plopp – plopp. Die Kugeln durchschlugen mit Leichtigkeit ihre Helme, Muskeln, und, ja, Knorpel.

Bobby Vega saß zusammengesunken hinter seinem geliebten Steuer. Sein Blut sammelte sich auf dem Armaturenbrett.

Cole, der Riese, lag ausgestreckt auf dem Gehsteig.

Der Chief, mit vollem Namen Harold Lymon, Spitzname „Catch“, hatte versucht, Cole aus der Schusslinie zu stoßen, und war dann losgerannt, um Bobby zu retten, als die Kugeln ihn trafen. Catch jedoch hatte sich bewegt und war somit schwerer zu stoppen gewesen. Die erste Kugel streifte seine linke Schläfe, er blutete und wurde – glücklicherweise – bewusstlos. Er sah nicht mehr, wie es Roscoe, Lou, Daniel und Brian erwischte.

Und zwei Tage später war Catch noch immer ohne Bewusstsein. Er hatte viel Blut verloren. Inzwischen war zudem die dritte Etage in die zweite gestürzt. Tausende von Meerestieren waren tot. Die Lokalzeitung listete tatsächlich die verschiedenen Spezies auf. Es waren auch überregionale Journalistenteams angereist, weil sofort eine Verbindung mit dem Anschlag in Atlanta vermutet wurde. Der Dreckskerl hatte jetzt zwanzig Leute hingerichtet und eine Spur hinterlassen, die so kalt war wie die Long-Island-Meerenge.

Und dabei hatte er gerade erst begonnen.

4. KAPITEL

„Haaaaaaaaaaaaaaaaaaaaappy Vaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalentine’s Daaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaay!“

Sophie hüpfte auf das Doppelbett ihrer Eltern. Es war drei Minuten nach sechs.

Esme stöhnte. Zwang sich, die Augen zu öffnen. Ihre Tochter starrte sie an, die blauen Augen (sie sahen exakt aus wie die von Rafe, der noch immer schlief) sprühten vor Energie.

„Ich habe Frühstück gemacht!“, verkündete Sophie und flitzte hinaus, vermutlich in die Küche.

Esme stöhnte erneut. Drei nach sechs in der Früh. Liebe war nie einfach.

Was aber längst nicht bedeutete, dass nur sie allein darunter leiden musste.

Sie klatschte ihrem Ehemann auf den Hintern. Zwei Mal, hart. Schließlich rührte er sich. Sah zu ihr hinüber, als ob sie ihm sein Nuckeltuch weggenommen hätte.

„Unsere Tochter hat Frühstück gemacht“, wiederholte Esme.

Rafes Blick aus blauen Augen (die im Moment überhaupt keine Ähnlichkeit mit denen seiner Tochter hatten, so matt wie sie waren) wanderte von Esme zum Wecker auf dem Nachttisch und dann zurück zu Esme.

„Kenne ich euch überhaupt?“, murrte er.

Sie pikte ihm spielerisch in den Bauch. „Ich liebe dich auch“, antwortete sie. „Jetzt lass uns in die Küche gehen, bevor Sophie sie abfackelt, okay?“

Esmes Befürchtungen stellten sich als überflüssig heraus. Sophie hatte Müsli gemacht. Was bedeutete, dass sie ihre Lieblingsmarke (Count Chocula) in zwei Schüsseln geschüttet und in Milch ertränkt hatte. Sie hatte sogar Servietten, Gabeln und Löffel hingelegt. Für Messer hätte sie auch gesorgt, wenn es ihr nicht verboten gewesen wäre, die Schublade mit den Messern zu öffnen.

Als Esme und Rafe in die Küche schlurften, stand ihre Tochter bereits am Tisch und platzierte gefaltete Karten aus rotem Tonpapier auf ihren Korbstühlen. Sie trug ihren rotweißen Schlafanzug mit kleinen Herzen und Pfeilen und Engeln in Windeln. Rote Kleidung ließ ihr kastanienbraunes Haar immer rötlich schimmern, als ob sie einen Hut aus Herbstblättern aufhätte.

„Wollt ihr Orangensaft oder Grapefruitsaft?“, fragte Sophie.

„Huhwahuh“, nuschelte Rafe.

„Grapefruitsaft“, lächelte Esme. „Ich hol ihn.“

Kurz darauf aßen alle drei ihr Frühstück. Esmes und Rafes Müsli war matschig, doch auch matschige Schokolade war noch Schokolade. Bei dem Bastelpapier auf den Stühlen handelte es sich um mit Leuchtstiften liebevoll bemalte Valentinskarten. Sie hatte Rafe mit Brille und gestutztem Bart gemalt. Nichts von beidem trug Rafe momentan. Die gemalte Esme hatte kleine Ohren. Sophie wusste genau, wie empfindlich ihre Mutter wegen ihrer Ohren war.

„Komm her!“ Esme nahm ihre Tochter fest in den Arm.

Rafe aß erst sein Müsli auf. Sein Frühstück bestand normalerweise aus einem alten Donut und einer Tasse löslichem Kaffee, beides im Pausenraum der sozialwissenschaftlichen Fakultät bereitgestellt. Zwar gab er vor, nach wie vor fast zu schlafen – er antwortete nur nuschelnd und gähnte übertrieben –, doch in Wahrheit amüsierte er sich königlich. Gedankenverloren strich er sich durch sein dünner werdendes schwarzes Haar und wünschte, diesen Moment für immer festhalten zu können … oder zumindest bis zum Ende des Semesters.

Aber die Pflicht rief. Rafe ging unter die Dusche, während Esme in der Küche blieb, um Sophie bei den Valentinskarten für ihre Klassenkameraden zu helfen.

„Aber Mom … Thad Crotty will ich keine geben! Er ist eklig.“

„Warum ist er eklig?“

„Er riecht wie eine Mülltonne.“

„Wir sollten über andere Leute nicht urteilen, Sophie. Jeder ist einzigartig und anders. Wie eine Schneeflocke.“

Sie steckten kleine Zuckerherzen in jeden der Miniumschläge – einen für jeden Klassenkameraden und einen für Mrs Leacy. Sophie dachte ausführlich darüber nach, wem sie welches Herz mit welcher Botschaft darauf zukommen lassen wollte. Als Rafe sich wieder zu ihnen gesellte, mit Brille und nun ganz der Professor, hatten Esme und Sophie erst die Hälfte geschafft.

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