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Herzblut - Gegen alle Regeln

hier erhältlich:

Eine verbotene Liebe, Blutsgeheimnisse und eine Heldin zwischen zwei Welten: Melissa Darnells mitreißendes Romandebüt! Wenn zwei Herzen in deiner Brust schlagen und du für deinen Freund zur größten Gefahr werden kannst - was würdest du tun? Als Kinder waren sie wie Seelenverwandte. Doch auf der Jacksonville High leben sie wie in zwei Welten. Denn Tristan gehört zur elitären Clann-Clique. Und es vergeht kein Schultag, an dem Savannah den Hass der anderen Clanns nicht zu spüren bekommt … Dennoch fühlt sie sich immer noch die besondere Verbindung zu Tristan. Als plötzlich dunkle Kräfte in Savannah erwachen, offenbart ihr Vater ihr ein erschütterndes Blutsgeheimnis. Jetzt weiß sie, warum die Clanns sie ablehnen und warum sie Tristan nicht lieben darf: Sie alle haben eine magische Gabe, aber Savannah ist anders - und kann für Tristan zur tödlichen Gefahr werden! Und trotzdem siegt Savannahs Sehnsucht, als Tristan sich heimlich mit ihr treffen will …


  • Erscheinungstag: 15.11.2015
  • Aus der Serie: Herzblut
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 396
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733785291
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, info@books2read.de

 

 

Copyright © 2011 by Melissa Darnell
Originaltitel: “Crave”
Erschienen bei: Harlequin TEEN, Toronto
Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l

Deutsche Erstausgabe Copyright © 2013 bei darkiss ® in der Harlequin Enterprises GmbH
Übersetzung: Peer Mavek

Copyright © 2015 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

 

Umschlagmotiv: Yuliya Yafimik/Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 11/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733785291

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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PROLOG

Savannah

orsichtig näherte ich mich meinem bewusstlosen Freund, der an einen Stuhl gefesselt war.

Meine Richter hatten sich, ein paar Schritte entfernt, zu einem engen Halbkreis aufgebaut. Wahrscheinlich wollten sie eine gute Sicht haben, wenn ich bei ihrer Prüfung versagte.

Der Wächter sah gelangweilt aus, gerade so, als wollte er sagen, dass das hier nicht persönlich gemeint war. Was eine Lüge war. Es war eindeutig persönlich gemeint. Und es war ganz allein meine Schuld.

Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte zwei Gegenstände heraus – eine Spritze und ein Skalpell. Ihre durchsichtigen Plastikschutzhüllen schnackten laut, als er sie abzog.

Ich schluckte schwer. Mein Keuchen war in der Stille des kalten, betonierten Raums nicht zu überhören.

Als der Wächter näher kam, schrie alles in mir danach zu kämpfen, und ich spannte die Oberschenkel an. Der Wächter blickte mich misstrauisch an. Er wusste, dass ich verzweifelt war. Aber das ließ mich nicht leichtsinnig werden. Der Mann war kräftig gebaut, in seinem schlecht sitzenden Anzug steckte der Körper eines Footballspielers. Und falls ich ihn trotzdem irgendwie abwehren könnte, würden die Richter, die zuschauten, eingreifen und mich aufhalten.

Ich versuchte, normal zu atmen, mich zu beruhigen und klar zu denken. Nicht Gefühle, sondern Logik war jetzt gefragt.

Also gut. Dieses Mal sind wir ihnen wirklich in die Falle gegangen.

Aber wir waren nicht verloren. Noch nicht. Die Richter hatten versprochen, dass ich nur eine Prüfung bestehen müsste, damit sie meinen Freund freilassen würden.

Einen unschuldigen Jungen, der nicht einmal hier wäre, wenn ich mich nicht in ihn verliebt hätte. Wegen mir war er in Gefahr …

Nein, jetzt war nicht die Zeit für Schuldgefühle. Ich musste mich auf die Prüfung konzentrieren, damit wir nach Hause gehen konnten.

Nur eine einzige Prüfung musste ich bestehen.

Eine Prüfung, der ich genetisch nicht gewachsen war.

KAPITEL 1

Savannah

ein letzter Tag als richtiger Mensch begann wie jeder andere Montag im April in Osttexas. Klar, es gab alle möglichen Warnsignale, dass meine ganze Welt zusammenbrechen würde. Aber die erkannte ich erst, als es zu spät war.

Ich hätte wissen sollen, dass etwas ganz schön schieflief, als ich mich morgens beim Aufwachen hundeelend fühlte, obwohl ich ganze neun Stunden geschlafen hatte. Ich war noch nie krank gewesen, hatte nicht mal eine Grippe oder Erkältung gehabt, das konnte es also nicht sein.

„Guten Morgen, mein Schatz. Dein Frühstück steht auf dem Tisch“, begrüßte mich meine Großmutter Nanna, als ich in die Küche schlurfte. Wie immer war sie die Widersprüchlichkeit in Person. Ihre Stimme und ihr Lächeln zeigten diese typische Südstaatenmischung – warmherzig und eisern zugleich. Als würde man seine alte Schmusedecke um einen Morgenstern wickeln. „Iss schnell. Ich suche schon mal meine Schuhe.“

Ich nickte und ließ mich auf einen der knarrenden Stühle am Tisch fallen. Was das Kochen anging, war Nanna die Größte. Und sie machte den besten Haferbrei der Welt, mit Ahornsirup, braunem Zucker und einer Tonne Butter, genau, wie ich es mochte. Aber an diesem Tag schmeckte er wie fade Pampe. Nach zwei Löffeln gab ich auf und kippte das Essen in den Mülleimer unter der Spüle. Eine Sekunde später kam sie rein.

„Bist du schon fertig?“, fragte sie, bevor sie ihren Tee schlürfte. Das Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein.

„Äh, ja.“ Ich stellte die Schüssel mit dem Löffel in die Spüle. Dabei drehte ich ihr den Rücken zu, damit sie nicht sah, dass ich rot wurde. Ich war eine schrecklich schlechte Lügnerin. Ein Blick auf mein Gesicht hätte ihr verraten, dass ich ihr Frühstück gerade weggeworfen hatte.

„Und dein Tee?“

Ups. Ich hatte meine tägliche Tasse Tee vergessen, eine spezielle Mischung für mich aus Kräutern, die Nanna über Monate in unserem Garten zog. „Keine Zeit, Nanna, tut mir leid. Ich muss mir noch die Haare machen.“

„Du schaffst beides.“ Mit einem strahlenden Lächeln, das ihren strengen Blick jedoch nicht verschleiern konnte, streckte sie mir die Tasse entgegen.

Seufzend nahm ich die Tasse mit ins Badezimmer und stellte sie auf den Waschtisch. So hatte ich beide Hände frei, um meine wilden, karottenroten Locken zu bändigen.

„Hast du deinen Tee schon getrunken?“, fragte sie zehn Minuten später, als ich meine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

„Mann, Mann, Mann“, grummelte ich.

„Das habe ich gehört, Fräulein“, rief sie aus dem Wohnzimmer, und ich musste lächeln.

Ich trank den kalten Tee auf ex aus, knallte die leere Tasse auf den Waschtisch, damit sie es auch hörte. Dann ging ich in mein Zimmer, um meinen Rucksack zu holen. Und es haute mich fast hin, als ich ihn hochheben wollte. Oje. Anscheinend hatte ich letzte Woche vergessen, ein paar Bücher im Spind in der Schule zu lassen. Mit beiden Händen wuchtete ich mir einen Tragegurt über die Schulter, um dann durch den Flur zurückzustapfen.

Am Esstisch wühlte Nanna in ihrer riesigen Handtasche nach ihren Schlüsseln. Das konnte dauern.

„Treffen wir uns am Auto?“, fragte ich.

Sie winkte abwesend, was ich als Ja deutete, also durchquerte ich das Wohnzimmer Richtung Haustür.

Mom saß wie immer schon seit Stunden auf dem Sofa und redete in ihr Handy, umgeben von Papierstapeln. Die Stifte, die überall herumflogen, waren sicher bis heute Abend unter den Sofakissen verschwunden. Ich begriff nicht, warum sie nicht wie jede andere Vertreterin für Arbeitsschutzprodukte an einem Schreibtisch arbeiten konnte. Aber anscheinend fühlte sie sich in diesem Chaos wohl.

Als sie gerade ein Gespräch beendet hatte, klingelte das Handy schon wieder aufdringlich. Es hatte keinen Sinn, zu warten, also winkte ich ihr nur zu.

„Bleib mal dran, George.“ Sie schaltete das Handy auf stumm und breitete die Arme aus. „He, was soll das? Kein ‚Guten Morgen, Mom‘, keine Abschiedsumarmung?“

Grinsend ging ich zu ihr und drückte sie. Ich musste ein Husten unterdrücken, als mir ihr Lieblingsparfüm, ein Blumenduft, in Nase und Kehle stieg. Als ich wieder aufstand, knackte es in meinem Rücken.

„War das dein Rücken?“, fragte sie erschrocken. „Meine Güte, du klingst heute ja schlimmer als Nanna.“

„Das habe ich gehört“, rief Nanna aus dem Esszimmer.

Ich verkniff mir ein Grinsen und zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich habe ich am Wochenende zu viel trainiert.“ Wir sollten mit meinem Anfängerkurs in Ballett und Jazztanz demnächst in Miss Catherines Tanzschule bei der Frühjahrsaufführung auftreten. Während meine neueste öffentliche Demütigung immer näher rückte, wurde ich langsam wahnsinnig.

„Ach so. Geh es doch etwas ruhiger an. Es sind noch zwei Wochen bis zu der Aufführung.“

„Ja, schon, aber ich muss so viel üben, wie ich kann.“

Zumindest, wenn ich meinen Vater nicht schon wieder enttäuschen wollte.

„Wenn du dich im Garten zu Tode schuftest, ist dein Vater aber auch nicht beeindruckt.“

Ich erstarrte. Scheußlich, wenn man so leicht durchschaut wurde. „Den beeindruckt gar nichts.“ Wenigstens nicht genug, um mich öfter als zweimal im Jahr zu besuchen. Wahrscheinlich, weil ich im Sport so eine Niete war. Der Mann bewegte sich leicht und anmutig wie ein Profitänzer, aber offenbar hatte ich nicht einmal einen Hauch seiner Gene geerbt. Mom hatte mich im Laufe der Jahre bei allen Aktivitäten angemeldet, bei denen die Auge-Hand-Koordination trainiert wurde – Fußball, Twirling, Gymnastik, Basketball. Letztes Schuljahr war Volleyball dran gewesen. Dieses Jahr war es Tanzen, sowohl in Miss Catherines Tanzschule als auch an meiner Highschool.

Anscheinend hatte mein Vater die Nase voll von meinen sportlichen Fehlschlägen. Im letzten September, als ich mit dem Tanzen anfing, hatte Mom sich mit ihm deswegen am Telefon gestritten. Er wollte auf keinen Fall, dass ich in diesem Jahr Tanzunterricht nahm. Er dachte wohl, bei einer Grobmotorikerin wie mir wäre das Verschwendung.

Jetzt wollte ich ihm das Gegenteil beweisen. Und bisher war ich gnadenlos gescheitert.

Mom seufzte. „Ach, Schätzchen. Mach dir doch nicht solche Sorgen, ob es ihm gefällt. Tanz einfach für dich, dann geht schon alles gut.“

„Hm- hm. Das Gleiche hast du letztes Jahr beim Volleyball auch gesagt.“ Und trotz ihres Rates, „einfach Spaß“ zu haben, hatte ich bei einem Turnier einen Ball durch die Deckenplatten gepfeffert. Die zerbrochenen Platten hätten fast mein halbes Team um die Ecke gebracht, als sie auf sie niederprasselten. Danach hatte ich genug vom Volleyball.

Mom biss sich auf die Lippen; wahrscheinlich erinnerte auch sie sich daran und musste sich ein Lachen verkneifen.

„Ich habe sie!“, trällerte Nanna triumphierend im Esszimmer. „Packen wir’s, Kleine?“

Mit einem Seufzer schob ich mir den Rucksackgurt, der heruntergerutscht war, wieder auf die Schulter. Er kratzte durch mein Shirt hindurch so fest auf meiner Haut, dass ich zischend Luft ausstieß. Autsch. „Vielleicht sollte ich ein Aspirin nehmen, bevor wir gehen.“

„Auf keinen Fall.“ Nanna marschierte rein, in einer Hand die klimpernden Schlüssel. „Aspirin ist nicht gut für dich.“

Was? „Aber du und Mom nehmt es doch st…“

„Aber du nicht“, unterbrach mich Nanna schroff. „Du hast diesen künstlichen Mist noch nie genommen, und du fängst jetzt nicht damit an, deinen Körper zu vergiften. Ich mache dir lieber noch eine Tasse von meinem Spezialtee. Hier, nimm schon mal meine Handtasche mit ins Auto, ich komme gleich nach.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte sie mir ihre zentnerschwere Tasche in die Hand und verschwand Richtung Küche. Na toll. Ich würde bestimmt zu spät kommen. Mal wieder.

„Warum kann ich nicht einfach ein Aspirin nehmen, wie jeder andere auch?“

Mom lächelte und griff nach ihrem Handy.

Vier sehr lange Minuten später setzte sich Nanna endlich neben mich ins Auto. Sie drückte mir einen metallenen Thermobecher in die Hand. „Hier, das bringt dich wieder auf den Damm. Aber Vorsicht. Es ist heiß. Ich musste die Mikrowelle benutzen.“

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Nanna konnte die Mikrowelle nicht ausstehen. Der einzige Knopf, den sie kannte, war die Dreiminutenautomatik. Ich würde von Glück sagen können, wenn der Tee bis zur Schule überhaupt ein bisschen abkühlte, dabei lag sie zehn Minuten entfernt.

Wir wohnten in einem kleinen, etwas abgelegenen Pulk Häuser acht Kilometer außerhalb der Stadt. Während ich auf meinen Tee pustete, sah ich mir im Vorbeifahren die sanften Hügel an, hier und da mit vereinzelten Häusern, großen runden Heuballen und Kühen in allen Schattierungen von Rot, Braun und Schwarz. Früher hatten dichte Kiefernwälder ganz Osttexas überzogen, aber sie waren längst abgeholzt. Jetzt reihte sich eine Ranch an die nächste, nur von langen Zäunen getrennt, meistens aus Stacheldraht, manchmal aus breiten Holzlatten, die das Wetter und die Zeit grau gefärbt hatten. Hier draußen konnte man atmen.

Näher bei der Stadt gab es immer mehr dichte Baumgruppen, bis man kurz vor der Junior Highschool und der Mittelschule durch einen breiten Streifen Kiefernwald fuhr. An der ersten Kreuzung mit Ampel begann die Innenstadt von Jacksonville, mit lauter Straßen und reihenweise Geschäften. Unter die einstöckigen Läden mischten sich einige drei- und vierstöckige Gebäude von Banken, Hotels oder Krankenhäusern. Und überall standen noch mehr Kiefern. Sie durchzogen und umringten jedes Wohngebiet und drängten sich sogar gegen die Korbfabrik und die Tomato Bowl, das Freilichtstadion aus Sandstein, in dem alle Football- und Fußballspiele stattfanden.

Früher hatte ich meine Heimatstadt mit ihren süßen Boutiquen und den Antiquitätenläden, in denen Nanna ihre Häkelarbeiten verkaufte, geliebt. Ich mochte sogar die Kiefernreihen, die sich durch die Stadt zogen, und das leise Seufzen, das der Wind den Bäumen entlockte. Wenn die Wiesen und Felder im Winter braun wurden und abstarben, behielt Jacksonville durch die Kiefern das ganze Jahr über frische Farbe.

Aber die Familien der Stadtgründer, die wegen ihrer irischen Vorfahren bei uns nur „der Clann“ hießen, hatten mir alles verdorben. Wenn ich jetzt den Wind in den Bäumen hörte, klang er wie Flüstern, als würden sich sogar die Pflanzen am Tratsch der Stadt beteiligen. Wahrscheinlich war dieses Getratsche der Grund für die lange Reihe berühmter Schauspieler, Sänger, Comedians und Models, auf die das relativ kleine Jacksonville mit seinen dreizehntausend Einwohnern so stolz war. Wenn man hier, wo jeder über jeden redete, aufwuchs, wollte man entweder sein ganzes Leben hier verbringen oder weglaufen und etwas ganz Besonderes werden, um es den Tratschweibern und dem Clann zu zeigen.

Ob ich berühmt werden wollte, wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall wollte ich von hier abhauen.

Unsere übliche Strecke zur Jacksonville Highschool führte durch bescheidene Straßen, die von noch mehr Kiefern und ein paar Laubbäumen gesäumt wurden, bevor plötzlich die blaugelbe Heimat der JHS Indians auftauchte. Beim Anblick der dichten, schattigen Wälder, die das Gelände fast erdrückten, verspannten sich meine Schultern und mein Hals.

Willkommen in meinem täglichen Gefängnis für die nächsten vier Jahre. Es gab sogar ein Wachhäuschen und einen Wachmann, der jeden Morgen um Punkt acht eine schwere Metallschranke vor der Einfahrt herunterließ. Kam man zu spät, kassierte man einen schriftlichen Verweis. Einen Lehrer hätte man vielleicht breitschlagen können, damit er einen so hereinließ, aber der Wachmann herrschte so gnadenlos über die Einfahrt zur Schule, als wäre sie das Tor zu einem mittelalterlichen Schloss.

Wenn die JHS ein Schloss war, bestand die königliche Familie eindeutig aus den zweiundzwanzig genauso gnadenlosen Kindern des Clanns, die über die restliche Schule herrschten.

Die Clann-Typen hatten ihre Rüpelhaftigkeit wahrscheinlich ihren Eltern abgeguckt, die in der Stadt und einem guten Teil von Texas das Sagen hatten und sich auf verschiedenen Regierungsebenen in Führungsrollen drängten. In der Stadt gingen Gerüchte um, dass das dem Clann nur durch Zauberei gelingen könne, ausgerechnet. Was völliger Schwachsinn war. Die machtgeilen Methoden des Clanns hatten so gar nichts Zauberhaftes an sich. Das wusste ich nur zu gut. Von den „magischen“ Späßen ihrer Kinder hatte ich in der Schule schon mehr als genug mitbekommen. Nach dem Abschluss würden sie sich aus dem Staub machen.

Während Nanna vor dem Hauptgebäude hielt, schlürfte ich schnell einen Schluck Tee und handelte mir zu allem anderen auch noch eine verbrannte Zunge ein.

„Nimm das lieber mit.“ Nanna deutete mit dem Kopf auf den Thermobecher. „Der Tee müsste schnell wirken, aber vielleicht brauchst du später noch mehr.“

„Ist gut. Ach, und vergiss nicht, heute ist ein A-Tag. In der letzten Stunde habe ich Algebra, also …“

„Also hole ich dich auf dem vorderen Parkplatz vor der Cafeteria ab. Ich weiß, ich weiß. Ich bin alt, nicht senil. Dass sich die A- und die B-Tage abwechseln, kann ich mir gerade noch merken.“ Ihre blitzenden grünen Augen verschwanden fast, als ein ironisches Grinsen ihre runden Wangen hob.

An A-Tagen lag der vordere Parkplatz näher an dem Klassenzimmer, in dem der letzte Kurs stattfand. Der erste Kurs seit fünf Jahren, den ich zusammen mit Tristan Coleman besuchte …

„Savannah?“ Sie schaltete den Wagen auf Drive und gab mir mit hochgezogenen Augenbrauen stumm zu verstehen, dass ich mich beeilen sollte. Beim Aussteigen empfing mich warme Luft, die nach Kiefern duftete. Ich schlug die Tür zu und winkte ihr zum Abschied.

Tristan …

Sein Name hallte in meinem Kopf wider, die alten Erinnerungen und Gefühle brachten mich durcheinander. Wie als Antwort lief ein Kribbeln von meinem Nacken aus über die Kopfhaut. Ich achtete nicht darauf, verbannte die verbotenen Gedanken wieder in ihre imaginäre Kiste und drehte mich zum Haupteingang um. Der Tag würde schon scheußlich genug werden, da musste ich nicht noch über so einen hinterhältigen Verräter nachgrübeln.

Und tatsächlich – als ich die ungewöhnlich schwere Glastür aufstieß, lief ich direkt in die Zickenzwillinge hinein, zwei besonders üble Clann-Mitglieder. Der perfekte Anfang für einen großartigen Tag.

„Pass auf, wo du hinläufst, du Schwachkopf!“, schimpfte Vanessa Faulkner und wischte nicht vorhandenen Schmutz von ihrer neuesten Edelhandtasche von Juicy Couture.

„Genau, guck dich erst mal um, bevor du reingerannt kommst“, fügte ihre Schwester Hope hinzu, die aussah wie Vanessas Spiegelbild. Der einzige Unterschied war ein winziges Muttermal links neben den zynisch verzogenen Lippen. Sie hob eine Hand und tätschelte sich die platinblonden Locken.

Ich sah mich um. Mein peinlicher Moment des Tages hatte schon ein Publikum angezogen. Na toll. Es kribbelte mir in den Händen, meine eigenen wilden Locken glatt zu streichen, und mein Magen verkrampfte sich. Wieso mussten mich die Zickenzwillinge so behandeln? Nur weil ich blass war? Weil meine Haare die falsche Farbe hatten, nicht glatt oder glänzend genug waren?

„Und jetzt? Willst du dich nicht wenigstens entschuldigen?“, fragte Vanessa.

Im ersten Augenblick blendete meine Wut alles andere aus. Was würde passieren, wenn ich ihr das Grinsen mit einem Schlag aus dem Gesicht wischen würde? Sie konnte nicht heulend zu ihrem großartigen Clann laufen und die übliche Rache fordern. Nanna war Rentnerin, Mom arbeitete bei einer Firma aus Louisiana, und meinem Vater gehörte eine Firma, die historische Wohnhäuser renovierte. Meiner Familie konnte der Clann nichts anhaben.

Oder doch? Einige Mitglieder des Clanns arbeiteten als Politiker auf Bundesebene. Und nach Louisiana war es von Osttexas aus nur ein Katzensprung. Also waren ihre Verbindungen vielleicht gut genug, um meine Mom feuern zu lassen. Mist.

Die Riemen meines Rucksacks schnitten mir in die Hände, als ich alles herunterschluckte, was ich am liebsten sagen wollte, und stattdessen murmelte: „Tut mir leid.“

„Das sollte es auch“, sagte Vanessa. Sie und ihre Schwester lachten wie Hyänen auf Helium und wandten sich ab.

Ich hätte sie einfach gehen lassen und froh sein sollen, dass ich sie los war. Aber ich hatte Kopfweh, in meinen Schläfen hämmerte es, und ich konnte nur noch daran denken, wie anders es mal war. Als Kinder waren wir beste Freundinnen gewesen.

Vanessa zischte, als ich sie an der Schulter berührte. Beide Schwestern wirbelten herum. Vanessa sah mich so wütend an, dass ich erschrocken zurückwich, bis ich an die Schließfächer stieß. Wow. Das war doch verrückt.

„Van, wieso benimmst du dich so?“ Ich benutzte absichtlich meinen alten Spitznamen für sie. „Wir waren doch mal Freundinnen. Erinnerst du dich noch an den Valentinstag in der vierten Klasse? Wir haben Hochzeit gespielt, und ihr beide wart meine Brautjungfern.“ Das war der letzte Tag, an dem wir zusammen gespielt hatten, und eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Vor der Zeremonie hatten wir zu dritt im Kreis auf dem kleinen Karussell gesessen und uns gegenseitig Blumen ins Haar geflochten. Dabei hatte mein erster und einziger Freund, Tristan Coleman, in der Nähe unter einer Eiche gestanden, uns beobachtet und auf mich gewartet.

Auf mich und darauf, mir meinen ersten und einzigen Kuss zu geben …

In dieser halben Stunde hatte sich alles so gut angefühlt, so vollkommen, fast magisch. Aber offenbar hatte ich das als Einzige so gesehen. Denn am nächsten Tag hatten sich alle Kinder des Clanns geweigert, mit mir zu sprechen. Sie wollten mir nicht mal sagen, womit ich sie geärgert hatte. Nicht einmal Tristan. Seit damals bestand mein einziger Kontakt zum Clann darin, dass mich die Zwillinge beschimpften oder mich „aus Versehen“ auf dem Flur anrempelten.

„Wir haben uns gegenseitig Gänseblümchen ins Haar geflochten“, flüsterte Hope und lächelte fast.

Sie erinnerte sich noch. Ich nickte und wagte selbst ein schüchternes Lächeln. Ich stieß mich von den Schließfächern ab.

Für einen kurzen Moment blickte mich Vanessa sanfter an. Sie glich dem Mädchen, das ich früher gekannt hatte, als würde sie sich auch an unsere Freundschaft erinnern. Aber dann verfinsterte sich ihre Miene durch eine Wolke von Hass. „Dieser Tag war ein riesiger Fehler. Dein Fehler, weil du gedacht hast, ein Freak wie du könnte mit jemandem aus dem Clann befreundet sein. Und du könntest jemanden wie Tristan, wenn auch nur als Spiel, heiraten.“

„Genau. Mit solchen Freaks wie dir gibt sich der Clann gar nicht ab“, fügte Hope hinzu.

So viel zu den Erinnerungen an die guten alten Zeiten.

Ich seufzte. Die Niederlage ermüdete mich noch mehr. „Ich verstehe euch nicht. Auch Tristan nicht. Ihr wart meine besten Freundinnen. Was habe ich denn getan, dass ihr …“

Vanessa stand so plötzlich so dicht vor mir, dass ich gar nicht reagieren konnte. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast. „Du wurdest geboren, Freak. Das reicht, damit dich jeder aus dem Clann sein Leben lang hasst. Und jetzt. Hau. Ab!“ Mit beiden Händen stieß sie mich gegen die Schließfächer und rauschte davon. Hope folgte ihr auf dem Fuß.

Es hätte mich nicht überraschen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass die Vergangenheit vorüber war und man nicht zurückkonnte. Trotzdem brauchte ich einen Moment, bevor ich die Füße wieder bewegen konnte. Meine Kehle und meine Augen brannten. Ich versuchte, nicht auf die Blicke der anderen zu achten, und lief mit hoch erhobenem Kopf zu meinem Spind am Ende des Flurs, als wäre dieser Zusammenstoß halb so wild gewesen.

Drei Stunden später ließ ich mich in der Cafeteria am Tisch meiner Freundinnen auf meinen Stuhl plumpsen.

Carrie Calvin zog die Augenbrauen hoch, die unter ihrem langen, blonden Pony verschwanden. „Ein bisschen früh, um so müde zu sein, oder?“ Sie warf ihr schulterlanges Haar zurück.

Grummelnd konzentrierte ich mich darauf, meinen Thermobecher mit dem Tee aufzuschrauben. Ich brauchte die nächste Dosis hausgemachter Medizin. Hoffentlich würde sie dieses Mal schneller wirken. Vielleicht sollte ich mir einen Tropf legen und sie direkt ins Blut kippen.

Wie versprochen hatte Nannas besonderer Tee in der ersten Stunde – Englisch – geholfen. Aber im Sport- und Kunstgebäude zwei Etagen hochzulaufen und danach anderthalb Stunden zu tanzen, hatte alle Genesung zunichtegemacht. Jetzt ging es mir noch mieser als vorher.

„Ach, sie ist nur von dem vielen Tanzen kaputt“, sagte Anne Albright. „Du weißt schon, von diesen ganzen Pirouetten in diesen süßen Tutus in Miss Catherines Tanzstudio. Und dem Rumhüpfen mit diesen traurigen Fällen, die so gern bei den Charmers mittanzen würden.“ Grinsend zog sie ihren dicken kastanienbraunen Pferdeschwanz straffer; eine kleine Stichelei vor dem Mittagessen konnte sie sich wohl nicht verkneifen.

Ich bewarf sie mit Pommes. Sie hatte Glück, dass sie meine beste Freundin war, sonst hätte ich darüber nachgedacht, ihr stattdessen ihre Limo über den Kopf zu schütten. Sie wusste, dass Carrie und Michelle noch sauer waren, weil ich dieses Jahr tanzte, statt wieder mit ihnen Volleyball zu belegen. Schlecht Volleyball zu spielen fanden sie immer noch besser, als zu tanzen.

Michelle Wilson sah mich mit ihren großen haselnussbraunen Augen an. „Willst du es auch bei den Charmers versuchen, Sav?“

Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was sie meinte. Die meisten Schülerinnen belegten den Tanzkurs nur, weil das eine Voraussetzung war, um sich im Mai für die Tanzgruppe der JHS Cherokee Charmers zu bewerben.

„Natürlich nicht“, mischte sich Anne ein, bevor ich antworten konnte. „Ihre Mom meinte, sie kann mit dem Tanzen ihre Sportstunden abdecken, ohne so eine Blamage wie letztes Jahr zu riskieren.“

„Na, vielen Dank auch“, sagte ich. Dabei konnte ich gar nicht böse sein. Anne sagte nur wie üblich die Wahrheit. Ich hatte mich tatsächlich für den Tanzkurs angemeldet, weil ich damit meine Pflichtstunden im Sport abdecken konnte und es weder Zuschauer noch Wettkämpfe gab, bei denen ich mein Team runterreißen konnte. Eine Bewerbung bei den Charmers war wirklich das Letzte, worauf ich Lust hatte.

„Entschuldige“, sagte Anne. Man sah ihr an, dass sie es ernst meinte. Und man hörte es auch.

Zwischen gierigen Schlucken Tee grinste ich sie ein bisschen an, um ihr zu zeigen, dass ich nicht wirklich sauer war. Sie war seit über zwei Jahren meine beste Freundin, und ich hatte mich an ihre unverblümte Art gewöhnt. Irgendwie fand ich sie sogar tröstlich. Wenigstens konnte ich mich immer darauf verlassen, dass sie ehrlich war.

Wieder stieg mir eine Woge von Schmerzen bis in Magen und Brust, dass mir das Lächeln verging. Diese Schmerzen kannte ich nur zu gut. Sie trafen mich jedes Mal, sobald er mir näher als hundert Meter kam, meistens sogar, bevor ich ihn sah oder hörte.

Michelle, die mir gegenübersaß, seufzte verträumt und bestätigte damit, was mein Körper schon wusste.

„Den würde ich zu gern umhauen“, tuschelte Anne, nachdem sie sich umgesehen und ihn auch entdeckt hatte.

Ich hielt den Blick auf Michelle gerichtet, obwohl der verliebte Gesichtsausdruck der zierlichen Blondine schwer zu ertragen war. Wenigstens starrte ich dadurch weiter geradeaus. Wenn Tristan zur Essensausgabe wollte, musste er entweder an der Wand der Cafeteria entlanggehen oder mitten durch den Raum an unserem Tisch vorbei. Die meisten nahmen den Mittelgang. Er würde das bestimmt auch tun.

Nur noch ein paar Sekunden, dann würde er hinter mir vorbeigehen. Während das seltsame Kribbeln auf meiner Haut verriet, dass er näher kam, redete ich mir ein, es würde mich gar nicht interessieren.

Und dann hörte ich es … ein Pfeifen, die Töne so leise, dass ich fast gedacht hätte, ich würde es mir nur einbilden, aber dazu war mein Gehör zu gut. Die Ballettmusik war so deutlich zu erkennen, als hätte er sie mir direkt ins Ohr gepfiffen.

Seit Tristan vor einer Weile mitbekommen hatte, wie mir in Algebra die Ballettschläppchen aus dem Rucksack gefallen waren, pfiff er jedes Mal, wenn er mich sah, den Tanz der Zuckerfee aus dem Nussknacker. Ich kannte noch seinen Sinn für Humor und wusste, wie er tickte. Er wollte sich so über meinen Wunsch lustig machen, Ballerina zu werden, ohne dass er wirklich mit mir reden musste. Schließlich konnte so ein Tollpatsch wie ich nie im Leben richtig tanzen lernen, oder?

Ich spürte richtig, wie ich an Wangen und Hals errötete, und ärgerte mich noch mehr. Jetzt sah ich bestimmt aus wie eine Erdbeere … rotes Gesicht, rote Haare, rote Ohren. Aber zumindest würde ich nicht den Kopf einziehen. Soweit ich es im Griff hatte, wollte ich jede Reaktion, die er sich wünschte, vermeiden.

„Okay, jetzt stelle ich ihm wirklich ein Bein“, zischte Anne und drehte ihren Stuhl in seine Richtung. Offensichtlich verstand auch sie seinen Sinn für Humor. Nur: Er gefiel ihr nicht.

„Nicht, das kannst du nicht machen!“ Michelle langte über den runden Tisch, packte Annes Arm und zerrte sie fast von ihrem Stuhl. Bis Anne sich gefangen hatte, war Tristan schon an unserem Tisch vorbeigegangen.

„Er gehört zum Clann. Du weißt doch, wie diese Hexen Savannah behandeln“, sagte Anne.

„So ist Tristan Coleman nicht. Er ist nett“, widersprach Michelle. „Die ganze Sache mit der Zauberei ist nur ein Gerücht. Und ein dummes dazu.“

Carrie, Anne und ich sahen uns an.

Michelle seufzte. „Tristan ist auf keinen Fall eine Hexe! Oder ein Hexer oder wie man sie nennt. Seine Familie besucht die gleiche Kirche wie ich. Und er ist zu nett, um kleine Tiere zu opfern. Wisst ihr noch, wie er mich letzten Sommer beim Leichtathletikwettkampf gerettet hat? Von den anderen hätte das keiner gemacht, aber er schon.“

Carrie und Anne stöhnten laut auf. Diese Geschichte hatten wir dieses Jahr schon tausendmal gehört, bis Anne schließlich gedroht hatte, Michelle zu erschlagen, falls sie noch einmal davon anfangen sollte.

Ich stöhnte nur innerlich. Mir hatte sich die Brust so zugeschnürt, dass mir das Atmen schwerfiel. Wie schaffte er das nur?

„‚Gerettet‘ ist etwas hochgegriffen“, meinte Carrie. „Und übrigens opfern Hexen keine Tiere.“

„Stimmt, Michelle“, sagte Anne. „Er hat dir nur von der Laufbahn geholfen, als dir die Schienbeine wehtaten.“

„Genau!“, erwiderte Michelle. „Das hat übel wehgetan. Und er hat mir als Einziger geholfen. Dabei kannte er mich nicht mal!“

Carrie seufzte und stützte das Kinn in eine Hand.

„Krieg dich ein, Michelle. Damit wollte er nur die Zuschauer beeindrucken.“ Anne kippte den Rest ihrer Limo herunter und rülpste, ohne sich zu entschuldigen. „Er ist einfach nur ein verwöhnter reicher Junge.“

„Das stimmt nicht. Und er muss sich nicht erst anstrengen, um irgendwen zu beeindrucken. Das schafft er schon mit seinem Aussehen. Diese Brust und die breiten Schultern.“ Wieder seufzte Michelle. „Wachstumsschübe sind doch was Wunderbares. Ich könnte schwören, dass er dieses Jahr mindestens fünfzehn Zentimeter gewachsen ist. Und diese neue Stimme. Mmhh!“

„Mir wird übel“, sagte Anne. „Und ich wette, dass sein Ego locker mitgewachsen ist. Er glaubt, jedes Mädchen auf der Welt müsste sich die Finger nach ihm lecken. Und was meinst du mit ‚diese neue Stimme‘? Hast du einen Kurs mit ihm oder was?“

Jetzt wurde Michelle rot. „Nein. An A-Tagen schaut er manchmal vor der ersten Stunde im Schülerbüro vorbei und unterhält sich mit mir und den anderen Aushilfen.“

„Und du quatschst dann mit ihm.“ Anne funkelte sie an.

„Na ja, das … das ist doch das wenigste, nachdem er mich gerettet hat.“

„Äh, gleich muss ich mich übergeben“, sagte Anne und nahm ihre Bücher.

„Ich mich auch. Ich fasse es nicht, dass du mit einem Typen vom Clann redest.“ Carrie packte ihre Sachen ebenfalls, obwohl ihre Salatschüssel noch halb voll war. „Besonders nicht, wenn er denkt, ihm würde ganz Osttexas gehören.“

Ich starrte auf meine Chili-Cheese-Pommes. Mein Trostessen tröstete mich heute überhaupt nicht. „Ich glaube, ich bin auch fertig.“

„Kommt, Leute, seid nicht sauer.“ Michelle sprang auf und schnappte sich ihre Sachen. „Ihr seid viel zu streng mit ihm. Er ist echt nett, wenn man ihn erst mal kennt.“

„Ach, bitte.“ Auf dem Weg zu den Mülleimern und weiter zum Hinterausgang erklärte Anne ihr den Unterschied zwischen einem netten Typen und einem Aufreißer. Ich lief mit, hörte aber nicht zu. Über Tristan Colemans berüchtigten Erfolg bei Mädchen hatte ich schon genug gehört. Trotzdem huschte mein Blick unbewusst zum Tisch der Clann-Leute. Lang genug, um zu sehen, dass der Prinz von Jacksonville mal wieder zum Friseur gehen sollte. Tristans goldene Locken streiften schon wieder über den Kragen seines Polohemds.

Später an diesem Nachmittag, vor der vierten Stunde, strömten die Schüler auf dem großen Flur wie ein menschlicher Fluss an mir vorbei. Müde, zerschlagen und schlecht gelaunt versuchte ich, mich von den vielen Leuten nicht zu bedrängt zu fühlen. Ich hockte mich mit einem Seufzen vor meinen Spind in der unteren Reihe. Es war immer noch ungewohnt, wie viele Schüler jeden Tag auf das Schulgelände drängten. An der Junior Highschool gab es nur drei Jahrgänge und viel breitere Flure. Wenn mich dort im letzten Jahr jemand angerempelt hatte, wollte er mir damit etwas sagen. Hier stieß alle paar Sekunden jemand gegen mich, während ich meinen chaotischen Spind nach einem Bleistift für die letzte Stunde durchwühlte. Blödes Algebra. Für mich war es das schwerste Fach, und außerdem das einzige, für das ich einen Bleistift brauchte.

Es war auch der einzige Kurs, in dem ich zusammen mit jemandem aus dem Clann saß. Und zwar mit dem Schlimmsten.

Gott sei Dank war wenigstens Anne im selben Kurs. Was Zahlen anging, war sie ein Genie.

Auf mich zu warten war allerdings weniger ihr Ding.

„Na los, du Schnecke, du kommst noch zu spät. Wie immer.“ Anne hatte sich gegen den Spind neben meinem gelehnt. Als sie mich freundschaftlich gegen die Schulter boxte, kippte ich fast um. Ich richtete mich wieder auf und verzog das Gesicht. An der Schulter würde ich bestimmt ein, zwei Tage lang einen blauen Fleck haben.

„Seit wann interessiert es eine Sportlerin, ob sie zu spät zum Unterricht kommt?“, flachste ich, während ich erschöpft zwischen meinen Büchern und Schreibsachen herumkramte. Wo zum Teufel steckte das Päckchen Bleistifte? Wenn ich mir einen Stift von Anne leihen musste, würde ich mir das ewig anhören können. Das wäre für sie die perfekte Gelegenheit, mir mal wieder einen Vortrag darüber zu halten, dass ich mehr Ordnung halten sollte.

Sie schnaubte und hockte sich neben mich. „Ist doch klar. Wenn ich über Volleyball kein Stipendium bekomme, muss ich es über die Noten schaffen. Hast du noch nie gehört, dass Harvard schweineteuer ist?“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du nach Harvard gehen musst, um Rechnungsprüferin zu werden. Reicht da nicht jedes andere College?“

„Und ich verstehe immer noch nicht, warum du in deinem Spind keine Ordnung halten kannst.“ Sie streckte die Hand aus, als wollte sie das Chaos aufräumen. Lächelnd schlug ich ihre Hand zur Seite.

Plötzlich prallte jemand von hinten gegen mich. Ich hielt mich mit einer Hand am Spind und mit der anderen am Boden fest, während mir der Rucksack von der Schulter rutschte und auf den Boden knallte. Mein ganzer Körper vibrierte von dem Schlag, als wären meine Knochen hohl und würden wie Metallrohre widerhallen. Dann purzelte alles wie eine winzige Lawine aus meinem Spind und fiel gegen meine Schulter. Das würde auf jeden Fall einen Bluterguss geben.

Als ich aufblickte, sah ich gerade noch Dylan Williams, ein weiteres Clann-Mitglied und einer meiner treuesten Quälgeister. Er zog mit dem schrillen Lachen weiter, das typisch für ihn war. Von diesem Lachen hatte ich schon einige Albträume bekommen. Mir schauderte.

„Das hat er doch wohl nicht ernsthaft gemacht! Dem trete ich in die …“ Anne sprang auf, packte ihren Pferdeschwanz und zerrte ihn auseinander, um das Gummiband straffer zu ziehen. Genauso wie beim Volleyball, bevor sie ihren mörderischen Aufschlag hinlegte. Wollte sie Dylan einen Mörderschlag gegen den Kopf knallen?

Die Vorstellung war zwar verlockend, aber die Konsequenzen wollte ich mir nicht mal vorstellen. Ich hielt sie am Knöchel fest, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.

„Lass es, Anne, das ist er nicht wert. Manche Leute ändern sich nie. Dylan schlägt mir schon seit Jahren Bücher aus dem Arm und lässt meinen BH schnacken.“ Ich sammelte schon Sachen vom Boden auf und stopfte sie in meinen Spind.

Grummelnd bückte sie sich, um mir zu helfen. „Warum knallst du ihm nicht eine?“

„Keine Sorge, wenn er übertreibt, kümmere ich mich darum.“ Irgendwie. Und bestimmt an einem Tag, an dem ich mich nicht so mies fühle. „Er ist auch nichts weiter als ein verwöhnter Clann-Typ. Wenn ich reagiere, gebe ich ihm nur, was er will.“ Zumindest redeten mir das meine Mutter und meine Großmutter ständig ein. Bisher war ihre Methode, die Clann-Typen einfach zu ignorieren, nicht gerade von Erfolg gekrönt.

Anne machte ein finsteres Gesicht, aber zumindest ging sie dem Spinner nicht nach.

Nachdem wir den kleinen Berg aus Schreibsachen und Büchern in den zu kleinen Spind gepackt hatten, fiel mir darin etwas Knallgelbes auf. Ich griff in das Durcheinander und zog das Päckchen Bleistifte heraus. „Da sind sie ja.“

„Na endlich. Wenn du deinen Spind nicht aufräumst, mache ich das.“

„Ha! Tu dir keinen Zwang an.“ Ich stand auf und schloss die Tür. Ich musste mit beiden Händen drücken, damit das Schloss einrastete. „Aber beschwer dich nicht, wenn dich irgendwas da drin beißt.“

Als Anne einen verstohlenen Blick auf die Spindtür warf, musste ich lachen. Sie würde sich ohne zu zögern mit dem Clann anlegen, aber vor einem unordentlichen Schrank hatte sie Angst?

Genauso plötzlich verging mir das Lachen wieder, als mir ein vertrauter Schmerz in Bauch und Brust stieg. Fast hätte ich laut gestöhnt. Nicht schon wieder.

Obwohl ich wusste, was diese seltsamen Schmerzen auslöste, musste ich mich umdrehen und den Gang entlangsehen. Ich fand auf Anhieb ihren Verursacher, der die meisten anderen Schüler überragte, und unsere Blicke trafen sich.

Tristan

Sogar in der Masse von lärmenden Schülern fiel mir das Lachen eines Mädchens auf.

Ich verstand nicht, wie sie das schaffte. Im Flur war es laut, mindestens hundert Schüler redeten und schrien in einem Gang, der nur ein paar Meter breit und dreißig Mal so lang war. Aber jedes Mal, wenn Savannah Colbert lachte, packte mich der kehlige Laut und brachte mich völlig durcheinander.

Einerseits wünschte ich, ich müsste sie nie wieder sehen oder hören. Das würde mir das Leben deutlich erleichtern. Wenn es um Savannah ging, waren meine Gefühle ein einziges Chaos. Früher war sie meine beste Freundin gewesen. Und das erste Mädchen, das ich geküsst hatte.

Dann hatte ich den Fehler begangen, meiner großen Schwester Emily zu erzählen, dass ich in der vierten Klasse während der Pause mit Savannah Hochzeit gespielt hatte. Emily hatte mich bei unseren Eltern verpetzt. Mom war ausgerastet und hatte in der Schule angerufen, damit ich aus Savannahs Klasse genommen wurde. Dad war dunkelrot angelaufen, hatte finster dreingeblickt und kein Wort gesagt. Und mir war klar gewesen, dass ich Ärger bekommen würde.

Seitdem war mir und allen anderen Nachfahren des Clanns jeder Kontakt mit Savannah verboten. Angeblich hatte sie einen gefährlichen Einfluss oder so was. Auf jeden Fall stand sie für den Clann auf der Liste der gesellschaftlichen Außenseiter. Und Mom sorgte dafür, dass mir das bewusst war. Seit fünf Jahren hämmerte sie mir ein, ich solle mich „von diesem Colbert-Mädchen fernhalten“.

Und trotzdem musste ich mich jetzt einfach umdrehen und sie anschauen.

Aus dieser Entfernung konnte ich Savannahs Augen nicht genau sehen. Aber ich konnte mich noch bestens an sie erinnern. Ihre Farbe wechselte, je nach Stimmungslage, von Grau zu Graublau zu Blaugrün. Welche Farbe haben sie wohl jetzt? überlegte ich. Dass ich meine Bücher fester packte, bekam ich nur am Rande mit.

Ein schwerer Arm legte sich mir um die Schultern. „Hi, Tristan. Alles bereit fürs Gewichtheben nach dem Unterricht?“

Mein bester Freund, Dylan Williams, schüttelte mich. Ich wandte den Blick ab und erwiderte sein angeberisches Grinsen mit einem Stirnrunzeln. „Ja, klar. Aber komm heute lieber pünktlich, sonst wird Coach Parker sauer.“

Er lachte. „Wir sind Nachfahren. Was will er uns schon anhaben?“

Ich sah mich schnell um, ob niemand zuhörte, dann warf ich ihm einen bösen Blick zu. „Du weißt doch, dass wir nicht in der Öffentlichkeit darüber reden sollen. Und Coach Parker ist kein Nachfahre, also wird er wirklich sauer, wenn du wieder zu spät kommst. Oder läufst du etwa gern ein paar Strafrunden?“

Während Dylan das Kinn reckte, erstarrte sein Lächeln. „Wir werden ja sehen, wer Runden läuft. Niemand legt sich mit einem Nachfahren an. Nicht mal ein Footballtrainer.“

„Auch Nachfahren müssen sich an die Regeln halten, Dylan. Das haben wir immer getan, und das werden wir immer tun.“

Er warf seinen Kopf zurück, um ein paar Haarsträhnen aus den Augen zu schütteln. „Vielleicht bis jetzt. Aber vielleicht sind wir auch die ersten Nachfahren, die was ändern.“

„Was ändern? Was denn?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben diese Stadt gegründet. Findest du nicht, wir sollten sie längst im Griff haben, so wie es von Anfang an gedacht war?“

Ich war verdutzt. „Ach ja? Und wie würden wir sie in den Griff bekommen?“

„Keine Ahnung … wir könnten offener damit umgehen.“

Ich sah ihn finster an und hoffte, dass er nur Witze machte. Aber sein düsterer Blick und seine Art, entschlossen das Kinn zu recken, sagten etwas anderes. „Du willst doch nicht etwa, dass wir die Fähigkeiten des Clanns publik machen.“

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Warum nicht? Die Welt hat sich verändert. In Büchern und Filmen sind wir immer die Coolen. Warum sollten wir nicht dazu stehen und allen zeigen, was wir tun können …“

Plötzlich wurde ich vollkommen panisch. Ich packte ihn an der Schulter, zog ihn näher und knurrte: „Bist du irregeworden? Wenn dich irgendein anderer Nachfahre so reden hört und es den Ältesten erzählt, machen sie dich kalt.“

Er verkrampfte sich und reckte wieder sein Kinn nach oben, um genauso böse zurückzustarren. Er öffnete sogar den Mund, als wollte er widersprechen.

Aber nach einem Moment der Anspannung holte er tief Luft und kicherte. „Entspann dich, Alter. Das war nur ein Scherz. Vergiss es.“

„Dylan …“

„Ich sag doch, das war nicht ernst gemeint. Mein Gott, verstehst du keinen Spaß?“

Ich starrte ihn weiter an und versuchte herauszufinden, was mit ihm in letzter Zeit los war. Sogar Scherze über dieses Thema waren gefährlich, und das wusste er. Warum also sagte er solche Sachen?

Als es zum ersten Mal klingelte, fluchte ich leise. In weniger als fünf Minuten musste ich am anderen Ende des Schulgeländes im Gebäude für Mathe und Hauswirtschaft sein. „Na schön. Alles in Ordnung zwischen uns?“

„Ja, klar.“ Er hob den Kopf und lächelte, aber sein Lächeln erreichte nicht die Augen. „Du willst nur mein Bestes, stimmt’s?“ Er wandte sich ab, rief mir „Bis später“ zu und lief in die entgegengesetzte Richtung.

Ich sah ihm nach, wie er davonmarschierte, als würde ihm die ganze Welt gehören. Dann machte ich mich auf den Weg zum Algebrakurs. Vielleicht hatte Dylan es sogar ernst gemeint, aber er war trotzdem nur ein Hitzkopf mit einem großen Mundwerk. Dass er in der Schulmannschaft als Quarterback mitspielte, obwohl es erst sein erstes Jahr auf der Highschool war, hatte ihm auch nicht unbedingt gutgetan. Hoffentlich kam er bald wieder zur Vernunft … bevor die Ältesten eingreifen mussten. Die Bücher und Filme, von denen er geredet hatte, gehörten nach Hollywood. In ihrer Fantasie waren die Menschen von Magie begeistert. Aber in der echten Welt würden magische Fähigkeiten nicht gut ankommen, besonders nicht in Jacksonville in Texas. Der ganze Landstrich war stark religiös geprägt, in der Stadt herrschten altmodische, konservative Ansichten über Religion und Zauberei. Zwar besetzten die Nachfahren der Gründerfamilien in der Regierung und der Wirtschaft wichtige Positionen, aber wenn bekannt wurde, wie viel Macht die meisten von ihnen besaßen, würde man uns für Teufelsanbeter oder Kinderfresser halten und uns aus der Stadt jagen, die wir gegründet hatten. Dylan durfte nicht vergessen, dass die Macht des Clanns auf unseren Geheimnissen beruhte.

Eins war jedenfalls sicher … wenn Dylan weiter Mist baute und ständig zu spät zum Training kam, würde zumindest Coach Parker seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Der Cheftrainer duldete keine Unpünktlichkeit bei seinen Spielern, egal ob sie zum Clann gehörten oder nicht. Wahrscheinlich würde er Dylan nach dem Training zur Strafe ein paar Runden um den Sportplatz laufen lassen. Das würde ihm helfen, ein bisschen runterzukommen, und geschähe dem Idioten ganz recht.

Manchmal wusste ich wirklich nicht mehr, warum ich ihn immer noch als meinen besten Freund betrachtete.

Ich lief den Gang entlang, um zur letzten Stunde an dem Tag zu kommen. Und zu Savannah. Ihre feuerroten Haare und die blasse Haut waren in dem faden Meer aus sonnengebräunten Brünetten und Blondinen leicht auszumachen. Ein paar Mädchen riefen meinen Namen, eine der Cheerleaderinnen aus dem zweiten Jahr berührte mich sogar am Arm und grinste mich an. Aber ich hatte keine Zeit, um stehen zu bleiben und mich zu unterhalten. Viel lieber wollte ich den Rotschopf beobachten. Irgendwie beruhigte es mich heute, Savannah anzusehen.

Ich verließ das klimatisierte Hauptgebäude und überquerte an diesem schwülen Frühlingsnachmittag die überdachte Verbindungsbrücke zum Mathegebäude gegenüber. Savannah und ihre Freundin gingen mehrere Meter vor mir her. Keine von beiden drehte sich um. Aber wie Savannah die Schultern hochzog, als ich sie sah … ich hätte fast schwören können, dass sie wusste, dass ich sie beobachte. Nicht zum ersten Mal überlegte ich, ob sie meinen Blick irgendwie spüren konnte. Aber das war unmöglich. Sie gehörte nicht zu den Nachfahren, und der Clann hätte gewusst, wenn es eine Außenseiterin mit solchen Fähigkeiten gegeben hätte.

Andererseits spukten mir normale Mädchen nicht so im Kopf herum.

Aber es hatte mich auch noch nie ein normales Mädchen so durcheinandergebracht wie Savannah. Vielleicht suchte ich nur deshalb nach einem anderen Grund als meiner eigenen Schwäche, warum sie mich so in ihren Bann geschlagen hatte.

Wenigstens wurde durch sie der Unterricht interessant.

Savannah

„Du siehst beschissen aus“, flüsterte Anne, als die Stunde zur Hälfte überstanden war. Meine Gedanken hatten sich die ganze Zeit benommen im Kreis gedreht.

Ich konnte mir nicht einmal ein Lächeln abringen, um sie zu beruhigen. Nannas Spezialtee hatte dieses Mal rein gar nichts gebracht. Es fehlte nicht viel, dass ich losflennte wie ein Baby, so stark waren meine Schmerzen. Das war mehr als nur ein Muskelkater vom Tanzen. Ich war noch nie krank gewesen, aber ich war ziemlich sicher, dass ich mir eine Grippe oder etwas Ähnliches eingefangen hatte. Ich hatte alle Symptome aus den Werbespots für Grippemittel: Wenn ich nicht fror, war mir heiß. Ich zitterte die ganze Zeit. Wo mich meine Kleidung berührte, fühlte sich meine Haut an, als hätte ich meinen jährlichen Sonnenbrand. Und in meinem Schädel hämmerte es so laut, dass ich kaum etwas von Mr Chandlers Unterricht hörte. Eigentlich sollten wir jetzt unsere Hausaufgaben machen. Als könnte ich das schaffen. Mein Arm schmerzte schon, wenn ich nur daran dachte, mein Buch unter dem Schreibtisch hervorzuholen. Und selbst an guten Tagen war ich in Mathe eine Niete.

Ich setzte mich hinter meinem Schreibtisch zurecht und stieß dabei gegen Tristans Füße. Mist. Das hatte ich vergessen. Der verzogene Prinz von Jacksonville brauchte wie üblich mehr Platz und hatte seine langen Beine links und rechts neben meinen Schreibtisch gestreckt. Damit war ich auf meinem Stuhl gefangen, wenn ich ihn nicht bei jeder Bewegung berühren wollte. Und das wollte ich wirklich nicht.

Wer ist eigentlich auf diese blöde Idee mit der alphabetischen Sitzordnung gekommen? Ich könnte ihn echt erschießen. Durch diese Platzverteilung hatten Tristan und ich zuerst in der vierten Klasse nebeneinandersitzen müssen. Und dieses Jahr saß er in Algebra direkt hinter mir.

Ich wäre gern auf dem Stuhl nach vorn gerutscht und hätte den Kopf gegen die Rückenlehne gestützt. Aber dadurch wäre mein Pferdeschwanz auf Tristans Schreibtisch gelandet. Vielleicht hätte er wieder mit meinen Haarspitzen rumgespielt. Anne hatte ihn vor ein paar Wochen dabei erwischt. Wahrscheinlich wollte er mir Kaugummi in die Haare kleben. Sein bester Freund aus dem Clann, Dylan Williams, machte das gern bei Mädchen mit langen Haaren.

Mühsam blieb ich aufrecht sitzen und unterdrückte ein Stöhnen. Alles drehte sich. Den Kopf in die Hände gestützt, sah ich wieder auf die Wanduhr. Wenn ich nur noch diese letzte Stunde überstand …

„Alles in Ordnung?“, flüsterte Anne. Sie hatte sich an Tristan vorbeigebeugt. „Im Ernst, Sav. Du siehst echt …“

„Anne, konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit“, sagte Mr Chandler von seinem Schreibtisch aus. „Savannah, kommen Sie bitte zu mir.“

Fast hätte ich gewimmert. Ich sollte mich bewegen?

Ich biss die Zähne zusammen, wuchtete mich hoch und schob mich vorn an meinem Schreibtisch vorbei, um Tristans Beinen auszuweichen. Als ich zum Lehrerpult schlurfte, betete ich nur noch, dass ich den kleinen, rundlichen Mann nicht vollspucken würde.

„Anne hat recht, Sie sehen wirklich krank aus“, sagte Mr Chandler leise. „Wollen Sie zur Schulschwester gehen?“

Na toll. Also fanden alle, dass ich beschissen aussah. „Äh, nein, danke.“ Ich bemühte mich, nicht in seine Richtung zu atmen. War Grippe nicht hochgradig ansteckend? „Das ist die letzte Stunde für heute. Ein bisschen halte ich es noch aus. Aber kann ich vielleicht den Kopf auf den Tisch legen?“

„Klar, machen Sie das ruhig. Aber wenn es Ihnen besser geht, kümmern Sie sich bitte um Ihre Hausaufgaben.“

Auf dem Weg zurück zu meinem Tisch schlang ich die Arme um mich, als es mich plötzlich eiskalt überlief und ich zitterte. Dann machte ich den Fehler, noch einmal auf die Wanduhr zu sehen. So-dass ich Tristans ausgestrecktes Bein nicht bemerkte.

Ich stolperte über seinen Fuß. Meine Arme ließen sich nicht bewegen. Ich würde mich auf keinen Fall rechtzeitig fangen. Ich konnte nur noch die Augen schließen und mich darauf einstellen, dass ich gleich mit dem Gesicht auf meinen Tisch knallen würde. Darüber konnte er mit seinen tollen Clann-Freunden nachher schön ablachen.

Stattdessen fingen mich starke Hände auf.

Ich öffnete die Augen, aber ich wusste schon vorher, wer mich gefangen hatte.

Tristan war halb aufgestanden und hatte mich an den Schultern gepackt. Müde und schlecht beieinander, wie ich war, verlor ich mich in diesen smaragdgrünen Augen, die mir einmal so vertraut gewesen waren wie meine eigenen. Von seinen Händen drang Hitze in meinen Körper und ließ meine Knochen schmelzen.

„Alles in Ordnung, Sav?“, flüsterte er mit gerunzelter Stirn.

Der Kosename warf mich aus der Bahn. Er hatte den alten Namen für mich so leichthin benutzt, als wären wir noch in der vierten Klasse und die besten Freunde. Als hätte er nicht in den letzten fünf Jahren so getan, als würde er mich nicht kennen.

Seine Lippen, die sonst voll waren, hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er sah … wütend aus. Weil er mich hatte auffangen müssen? Oder weil ich die Dreistigkeit besessen hatte, über seinen Fuß zu stolpern?

„T-tut mir leid“, murmelte ich. Ein leichter Anflug von Wut gab mir genug Kraft, um das Gleichgewicht wiederzufinden.

Sobald ich sicher auf meinem Platz saß, legte ich zitternd den Kopf auf die kühle Holzplatte des Tisches und wünschte mir, ich könnte einfach sterben. Als wäre es nicht schlimm genug, zum ersten Mal eine Monstergrippe zu haben, war Tristan jetzt auch noch sauer auf mich, weil ich über ihn gestolpert war. Als könnte ich was dafür, dass er Ähnlichkeit mit Bigfoot hatte, dem Riesenschneemensch, der angeblich immer mal wieder in den Bergen gesichtet wurde.

Aber im Moment war ich zu müde, um mich darüber richtig aufzuregen. Ich wollte einfach nur noch nach Hause.

Tristan

Savannah Colbert war garantiert das dickköpfigste Mädchen, das ich kannte. Ich hatte seit über einer Stunde zugesehen, wie sie zitterte, wie ihr Atem schneller und unregelmäßig ging. Jede andere wäre nach Hause gegangen. Aber nicht Savannah.

Ihre Wangen waren gerötet, sie runzelte ständig die Stirn und krümmte sich.

Wenn wir noch befreundet gewesen wären, hätte ich diesen Dickschädel zum Auto meiner Schwester geschleift und sie persönlich nach Hause gefahren. Obwohl ich meinen Führerschein erst im nächsten Jahr bekommen würde. Und niemand aus dem Clann mit ihr Kontakt haben durfte und Jacksonville voller Klatschtanten war, die jede meiner Bewegungen beobachteten und den Ältesten innerhalb von Minuten weitertratschten.

Innerlich fluchte ich wild über den Clann. Er war eine Bande kontrollwütiger Zauberer. Nur weil meine Familie diese Machtjunkies über vier Generationen angeführt hatte, wollte ich noch lange nichts mit ihrer Magie oder ihren blöden Regeln zu tun haben. In jeder wachen Minute musste ich mich auf mein Energielevel konzentrieren, damit ich nicht aus Versehen irgendwas in Brand steckte. Manchmal war es echt anstrengend, diese Kraft ständig unter Kontrolle zu halten. Dabei wollte ich einfach normal sein und Football spielen, mit ein bisschen Glück irgendwann in der NFL. Aber selbst dabei half die Magie und behinderte mich gleichzeitig. Sie half mir, schneller zu laufen und andere Spieler stärker zu rammen. Aber ich musste auch aufpassen, dass ich niemandem das Genick brach oder ihn zu weit wegschleuderte, wenn ich ihn umrannte. Wenn man nicht zum Clann gehörte, konnte man sich einfach entspannen und das Spiel genießen.

Leider hatten meine Eltern für mich andere Pläne, die nichts mit Football zu tun hatten. Ich sollte als Nachfolger meines Vaters der nächste Anführer des Clanns werden. Deshalb musste ich regelrecht darum betteln, dass ich überhaupt spielen durfte. Dabei hätten alle anderen Eltern in Osttexas sonst was dafür gegeben, damit ihre Söhne an der Highschool Football spielen konnten.

Ganz zu schweigen davon, dass ich wegen dem Clann nicht mehr mit Savannah befreundet sein durfte. Ich hatte immer noch Albträume von Savannahs Blick, als ich ihr sagen musste, dass ich mich nicht mehr mit ihr treffen konnte. An dem tiefen Schmerz in ihren Augen, damals und seitdem jedes Mal, wenn sie mich ansah, war nur der Clann schuld.

Irgendwann und irgendwie würde ich meinem Dad klarmachen, dass ich auf keinen Fall in seine Fußstapfen treten würde. Dass ich mir meine Freunde selbst aussuchen würde. Und auch meine Freundin.

Zähneknirschend starrte ich auf Savannahs Rücken. Sie war eindeutig krank. Sie sollte zu einem Arzt gehen, statt sich durch den Unterricht zu quälen. Wenn ich sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie glatt ohnmächtig geworden.

Jemand trat gegen mein Bein. Was zum …? Ich drehte mich nach links und sah, dass Anne Albright mich anfunkelte.

„Hör auf, sie anzustarren“, zischte sie.

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, damit sie mich hoffentlich in Ruhe ließ. Ich konnte nicht noch jemanden brauchen, der mir sagte, was ich zu tun hatte. Besonders heute nicht.

Ich blickte wieder Savannah an. Anne, die kleine Zicke, trat mich noch einmal. Der Schmerz zuckte meine Wade hinauf. Wieder verkniff ich mir zu fluchen. Hoffentlich war das Bein bis zum Training wieder in Ordnung.

„Anne, behalten Sie Ihre Füße bitte bei sich“, warnte Mr Chandler hinter seinem Schreibtisch. „Oder brauchen Sie mal eine Auszeit?“

Sehr schön. Ich grinste.

„Nein, Sir“, murmelte Anne. Sie klang, als könnte sie töten, aber wenigstens trat sie mich nicht mehr.

Als es zum Ende der Stunde klingelte, zuckte ich zusammen. Meine Nerven waren so angespannt wie auf dem Spielfeld. Endlich konnte Savannah nach Hause gehen. Oder noch besser zu einem Arzt.

Anne stand auf, schlug einen Bogen zu Savannahs Schreibtisch und schüttelte sie wach. „He, Sav, wir können gehen.“

„Uah“, stöhnte Savannah. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine trugen sie nicht.

Ohne nachzudenken, sprang ich auf. „Brauchst du Hilfe?“

„Von dir nicht.“ Anne legte sich einen blassen Arm von Savannah um die Schulter, um sie hochzuhieven.

„Hör auf, das sieht albern aus“, krächzte Savannah.

„Na und, Prinzessin, wen interessiert das?“, sagte Anne schroff.

„Lass uns gehen. Wir müssen dich zum Auto deiner Großmutter bringen, und der Weg ist weit.“

Es war wirklich lächerlich. Bis zum Parkplatz würden sie ewig brauchen, und ich könnte Savannah in fünf Sekunden hintragen. Sie wog wahrscheinlich gerade mal fünfzig Kilo. Das einzige Problem wären die vielen Zeugen gewesen. Den Ältesten des Clanns – vor allem meinen Eltern – würde es die Gerüchteküche schneller zutragen, als ich es vom Training nach Hause schaffen würde.

Also stand ich nur da, knirschte mit den Zähnen und kam mir wie ein mieser Arsch vor, weil ich zuließ, dass Anne Savannah allein aus dem Klassenzimmer half. Dann fielen mir Savannahs Rucksack und ihre Bücher unter ihrem Schreibtisch auf. Wenigstens konnte ich dabei helfen, ohne dass es dem Clann auffiel.

Die Mädchen kamen schneller voran, als ich erwartet hätte. Bis ich sie einholte, hatten sie schon fast den Parkplatz erreicht. Anne hätte mir den Kopf abgerissen, wenn ich Savannahs anderen Arm genommen und geholfen hätte, also blieb ich ein paar Schritte zurück.

Ohne ein Wort zu mir verfrachtete Anne ihre Freundin auf den Beifahrersitz eines Autos, das am Gehweg wartete. „Sie ist richtig krank, Mrs Evans“, erklärte Anne der Fahrerin durch die offene Tür. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie Fieber hat. Es ging ihr schon heute Mittag nicht gut. Sie hat gesagt, sie wäre müde, und hat nichts gegessen.“

„Hm. Ist gut. Danke, Anne. Ich bringe sie nach Hause und sorge dafür, dass sie gesund wird“, versprach Savannahs Großmutter. Verstohlen warf ich einen Blick auf sie. Sie sah aus wie eine freundliche, kleine alte Dame mit runden, rosigen Wangen. Sie lächelte Anne an. Dann sah sie zu mir herüber, und ich richtete mich ruckartig auf. Die Frau hatte Adleraugen. Zu Hause konnte Savannah bestimmt nicht unbemerkt irgendwas anstellen. Ihrer Großmutter würde nichts entgehen, auch nicht in ihrem Alter.

„Hier sind ihre Sachen“, sagte ich zu Anne und streckte ihr Savannahs Rucksack und die Bücher entgegen.

Anne kniff die Augen zusammen, riss mir die Sachen aus den Händen und legte sie Savannah auf den Schoß.

Savannah hob nicht einmal den Kopf von der Kopfstütze an.

Ich wartete, bis das Auto den Parkplatz verlassen hatte. Dann wollte ich mich auf den Weg zur Sporthalle machen.

„He!“ Als ich Anne rufen hörte, blieb ich stehen. Aber ich drehte mich nicht um, als sie mir nachkam. „Warum hast du das gemacht?“

Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, zuckte ich nur mit den Schultern.

„Den Leuten vorzumachen, dass du nett bist, funktioniert nur, wenn du Publikum hast. Falls das der Plan war.“

„Ist ja auch egal.“

Sie murmelte etwas, das wie „Egomane“ klang.

Oh Mann, wenn es um Freunde ging, hatte Savannah in letzter Zeit wirklich einen miesen Geschmack. Ich verdrehte die Augen und ging.

KAPITEL 2

Tristan

m nächsten Tag hielt ich in der Mittagspause Ausschau nach Savannah. Ich tauschte sogar die Plätze mit Dylan, damit ich den Tisch mit ihren Freundinnen besser im Auge behalten konnte. Aber sie ließ sich nicht blicken. Mittwoch tauschte ich wieder mit Dylan die Plätze, weil ich dachte, jetzt müsste sie zurück sein. Aber sie war nirgends zu sehen, und ihr Platz blieb leer. Auch nachmittags bei Algebra tauchte sie nicht auf.

Algebra war noch nie so langweilig gewesen oder hatte sich so ewig hingezogen.

Freitagmittag fehlte Savannah immer noch. Das brachte mich nicht gerade in die richtige Stimmung, um mich mit Dylans Launen herumzuschlagen.

„Komm, tausch noch mal mit mir den Platz“, bat ich ihn. Ich behielt die Türen der Cafeteria im Auge, falls Savannah hereinkam.

Dylan hing weiter auf seinem Stuhl, ohne sich zu rühren. „Warum sollte ich?“

„Weil man von deinem Platz aus besser sehen kann und ich … was suche.“

Dylan grinste. „Willst dir wohl Mädchen ansehen, was?“

Das war als Ausrede nicht schlecht und stimmte im Grunde sogar. „Genau. Also tauschst du jetzt mit mir oder nicht?“ Ich versuchte, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Sonst würde er doppelt so lange brauchen, nur um mich zu ärgern.

„Und wenn nicht? Rufst du Daddy an, damit er und die anderen Ältesten mir beim nächsten Clann-Treffen den Hintern versohlen?“

Ich sah ihn wütend an. Manchmal konnte er wirklich nerven. Es ging doch nur um einen Stuhl!

Er kicherte. „Okay, okay, keine Panik. Ich mache ja schon.“ Er schälte sich so langsam aus dem Stuhl, als wäre er ein Altenheimbewohner, und verbeugte sich mit weit ausholender Geste davor. „Euer Thron, Prinz Tristan.“

Ich seufzte lange und tief. Dann setzte ich mich.

Er ging im Schneckentempo die vier Schritte um den Tisch herum zu meinem alten Platz. Als er saß, starrte er mich die restliche Pause über dermaßen an, dass ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte.

Was war in letzter Zeit nur mit ihm los? Wir waren schon als Kinder beste Freunde gewesen. Aber seit wir auf der Highschool waren, war bei ihm anscheinend irgendwas schiefgelaufen. Jedenfalls war er schon das ganze Jahr auf Krawall gebürstet. Als wäre er sauer auf mich, weil mein Vater den Clann anführte oder so. Oder vielleicht, weil meine Familie aus mir den nächsten Clann-Anführer machen wollte? Aber das ergab auch keinen Sinn. Dylan wusste besser als jeder andere, wie sehr ich mir wünschte, einfach normal zu sein und mein eigenes Leben zu führen anstatt dem, was meine Eltern für mich wollten.

Also warum war er plötzlich ständig so zickig?

Egal. Es war nicht mein Job, mich um Dylans Probleme mit dem Clann und seinen Machtstrukturen zu kümmern. Mein Problem war momentan, herauszufinden, was mit Savannah los war.

Es war für sie absolut untypisch, eine ganze Woche in der Schule zu fehlen.

Ich konnte mich an keinen einzigen Tag davor erinnern, an dem ich sie nicht zumindest mal kurz auf dem Flur gesehen hatte. Sie war immer irgendwo in der Nähe und wartete nur darauf, mir die Luft zu rauben und diesen Schmerz in Bauch und Brust auszulösen, wenn ich sie sah.

Ich musste wissen, was los war, und zwar bald.

Nach der Algebrastunde folgte ich Anne auf die Verbindungsbrücke. „He, Anne. Warte mal.“

Sie sah sich kurz um, schnaubte und ging schneller weiter.

Ich unterdrückte ein Knurren und lief ihr nach. Als ich sie eingeholt hatte, blieb sie nicht einmal stehen. Andererseits war es bei ihren kurzen Beinen auch nicht besonders schwer, mit ihr Schritt zu halten.

„Hör mal, ich …“ Wie sollte ich sie nach Neuigkeiten fragen, ohne den falschen Eindruck zu erwecken?

Seufzend blieb Anne stehen. „Dein Anspruchsdenken kennt wirklich keine Grenzen, oder?“

Was?

Sie funkelte mich an. „Ja, richtig. Keine lange Rede. Nächstes Thema. Ich nehme an, du bist neugierig und willst nach einer gewissen kranken Person fragen, stimmt’s?“

Überrascht, dass sie schon erraten hatte, was ich wollte, nickte ich stumm.

Sie zögerte, als müsste sie erst überlegen, was sie sagen wollte. „Ich sag’s dir, aber vorher musst du mir was sagen.“

„Was denn?“

„Wieso interessiert dich das?“

„Äh …“ Was sollte ich denn darauf antworten?

„Coleman, wir wollen mal eins klarstellen: Savannah ist ein wirklich nettes Mädchen.“

„Ich weiß.“ Muss sie auch sein, wenn sie dich als Freundin ausgesucht hat, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Deshalb verdient sie auch einen netten Jungen. Und keinen Aufreißer, für den sie nur eine Herausforderung ist.“

Sah mich Savannah auch so? Als Aufreißer? Vorerst schob ich die Frage beiseite. „Du trägst ganz schön dick auf. Ich möchte nur wissen, ob es ihr gut geht. Mehr nicht. Keine große Sache.“ Ich versuchte es mit meinem charmantesten Lächeln, mit dem ich sogar die Drachen im Schülerbüro herumkriegte.

„Na schön. Wenn das so ist …“

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

„Sie ist nicht tot.“ Damit ließ sie mich stehen.

Plötzlich brach die heiße Wut hervor, die sich schon die ganze Woche in mir angestaut hatte. Ich schrie ihr nach: „Mehr sagst du mir nicht?“

„Nein. Das war’s, Coleman“, rief sie zurück, ohne stehen zu bleiben oder den Kopf zu wenden. „Wenn du mehr Informationen haben willst, kauf sie dir von irgendwem.“

Unglaublich.

Es dauerte einen Moment, bis ich wieder klar denken konnte. Als ich mich beruhigt hatte, stapfte ich ins Hauptgebäude und zu meinem Spind. Wie ätzend, dass jetzt keine Saison war und wir uns auf Gewichte und Ausdauertraining konzentrierten. Sonst hätte ich wenigstens beim Footballtraining irgendwen umhauen können.

Im Hauptflur entdeckte ich Savannahs andere Freundin. Michelle Soundso. Sie half jeden Tag in der ersten Stunde im Schülerbüro aus und war um einiges netter als die zickige Anne.

Ich wagte einen Versuch und lehnte mich gegen den Spind neben Michelles. Ich lächelte. Hoffentlich würde es dieses Mal besser laufen! „Hallo, Michelle. Wie geht’s dir?“

Sie errötete, was immer ein gutes Zeichen war, und kicherte. „Gut, und dir?“

„Auch gut.“ Dieses Mal wollte ich es mit einer anderen Strategie versuchen und mich nicht besonders interessiert zeigen. „Hör mal, beim Essen haben ein paar Mädchen über deine Freundin Savannah Colbert geredet. Sie meinten, sie hätte diese Woche ziemlich viel Unterricht verpasst, und sie machen sich Sorgen um sie. Sie haben wohl überlegt, ihr eine Genesungskarte oder so was zu schicken. Ich habe gesagt, dass ich dich kenne und mal fragen will, wie es ihr geht. Du hast nicht zufällig was gehört, das ich weitergeben könnte, oder?“

„Ach, das ist aber nett von ihnen! Ich habe gehört, dass es ihr ganz gut geht. Aber wann sie wieder in die Schule kommt, weiß ich nicht.“

Das hörte ich gar nicht gern. „Hm. Klingt, als hätte sie sich was Ernstes eingefangen. Hast du mit ihr gesprochen?“

„Nein, nur mit ihrer Großmutter. Wenn ich so darüber nachdenke, hat Mrs Evans gar nicht genau gesagt, was Savannah hat.“ Sie lächelte zögerlich. „Wenn du willst, könnte ich heute Abend anrufen und genauer nachfragen.“

Sie legte den Kopf schief wie ein Vogel und musterte mich aufmerksam. Sie wurde zu neugierig. Nicht gut. „Ach, ist nicht so wichtig. Die Mädchen haben sich nur ein bisschen Sorgen gemacht. Ich sage ihnen, dass es Savannah gut geht.“ Ich stieß mich vom Spind ab. „Aber sagst du mir Bescheid, wenn du was Neues hörst?“

Lächelnd wartete ich, bis sie nickte. Dann winkte ich betont beiläufig und ging.

Warum nur machte ich mir jetzt noch größere Sorgen?

Savannah

Feuer und Eis. Daraus bestand tagelang meine ganze Welt. Daraus und aus seltsamen Gesprächen zwischen meiner Mutter und Nanna, die ich mithörte. Aber vielleicht hatte ich sie auch nur geträumt.

„So krank war Sav noch nie. Noch nie“, flüsterte meine Mutter irgendwann in der ersten Nacht. „Sollen wir mit ihr …“

„Wohin, Joan? Wenn sie eine Blutprobe nehmen …“, tuschelte Nanna.

„Mein Gott, du hast recht. Man weiß gar nicht, was sie finden würden. Und zu dem Clann-Arzt kannst du auch nicht gehen. Er würde es dem Clann erzählen, und den Ärger, den das bringen würde, können wir nicht brauchen. Also … was sollen wir machen?“

„Ich weiß es nicht. Egal, was ich versuche, ihr Fieber steigt immer weiter. Das dürfte nicht passieren. Ich bin alle Bücher durchgegangen und habe alles zwei Mal gelesen. Aber ihr Fall ist so einzigartig, dass nirgendwo etwas über sie steht. Es gab noch nie etwas über sie. Wir hatten immer ein Riesenglück mit ihr. Bisher konnte ich alles selbst behandeln.“

„Willst du etwa aufgeben?“ Die Stimme meiner Mutter wurde immer lauter, fast schrie sie.

„Pst, nein, natürlich nicht! Aber vielleicht solltest du ihren Vater anrufen. Vielleicht weiß seine Art, was man tun kann.“

Seine Art? Offenbar konnte Nanna Dad wirklich nicht ausstehen.

Sie schwiegen so lange, dass ich mich schon fragte, ob ich eingeschlafen war. Dann antwortete Mom endlich mit einem seltsamen Unterton, durch den sie noch besorgter klang. „Bist du sicher, dass wir sie nicht lieber raushalten sollten? Wenn wir sie um Rat bitten, meinen sie nachher, wir hätten die Kontrolle verloren. Womöglich wollen sie sich dann richtig einmischen.“

„Dieses Risiko müssen wir eingehen, Joan. Wir müssen sie um Hilfe bitten. Das ist die einzige Möglichkeit.“

Die einzige Möglichkeit? Was bedeutete das? Warum klangen diese wenigen Worte von Nanna so bedrohlich?

Ich dachte, ich hätte Mom mit jemandem leise reden hören, aber Nanna antwortete nicht. Telefonierte Mom gerade mit Dad?

„Gut, das versuchen wir.“ Als Mom das Gespräch beendete, piepte das schnurlose Telefon. „Mom, er sagt, wir sollten jeden Einfluss von ihr nehmen.“

„Jeden? Sogar den Schutz …“

„Ja. Er meint, es klänge, als würden ihre beiden Hälften miteinander kämpfen.“

„Aber …“

„Wir müssen es versuchen. Ihm ist sonst nichts eingefallen. Und … er kommt, um mit ihr zu reden.“

„Nein. Nein, du hast gesagt, sie wird es nie erfahren müssen. Er hat versprochen, dass sie ein normales Leben führen kann!“

„Sie verändert sich, Mutter. Und wir können es nicht mehr aufhalten. Sie muss es erfahren. Allerdings nur … wenn es funktioniert.“

„Du meinst … wir müssen es ihr nicht sagen, wenn …“

Stille.

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