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Herzklopfen in Virgin River

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Willkommen in Virgin River – Jetzt auf Netflix

Erin braucht nicht nur eine Pause von ihrem hektischen Alltag als Anwältin, sondern dringend einen Tapetenwechsel. Seit ihre jüngeren Geschwister, um die sie sich gekümmert hat, flügge geworden sind und das Nest verlassen haben, steht Erin vor der Frage, wie es weitergehen soll, welche Wünsche und Träume sie sich nun erfüllen möchte. Sie beschließt, den Sommer in dem beschaulichen Virgin River zu verbringen, um wieder zu sich selbst zu finden. Doch an Herzklopfen und Schmetterlinge im Bauch denkt sie dabei auf keinen Fall – bis sie Aiden kennenlernt. Auch er steht an einem Scheideweg in seinem Leben. Können sie den Weg gemeinsam gehen und die große Liebe erleben?

»Dieser Roman ist ein absolutes Lesevergnügen.«
Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 22.02.2022
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 10
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701968

Leseprobe

Für Tonie Crandall,
denn ohne dich und deine Liebe
wäre die Welt ein trostloser Ort.
Danke, dass du viel mehr als eine Freundin bist –
für mich bist du wie eine Schwester.

1. KAPITEL

Aiden Riordan war inzwischen seit zwei Wochen in Virgin River und schon über hundert Meilen gewandert. Außerdem hatte er sich einen ziemlich struppigen, dunkelroten Bart wachsen lassen. Mit seinem schwarzen Haar, den ebenso dunklen Brauen und seinen strahlend grünen Augen verlieh ihm dieses Erbe seiner Ahnen ein ziemlich verwegenes Aussehen. Seine vierjährige Nichte Rosie, ein rotes Lockenköpfchen mit grünen Augen, hatte gesagt: »Onkel Aid! Du bis’ auch eine wildische Rose!«

Für einen Mann, der zum ersten Mal, soweit er sich erinnern konnte, keine bestimmten Pflichten zu erfüllen hatte, fand er allmählich Gefallen an seiner neu gewonnenen Freiheit. Seit dem medizinischen Vorstudium hatte er nur noch genau festgelegte Ziele verfolgt. Jetzt, mit sechsunddreißig Jahren, wovon er vierzehn bei der Navy verbracht hatte, befand er sich in einer Art Zwischenstadium zwischen zwei Jobs. Er war sich zwar total unsicher, wo er als Nächstes landen würde, aber das gefiel ihm gut. Die kleine Auszeit hatte sich als durchaus Angenehmes entpuppt. Das Einzige, das er mit Sicherheit wusste, war, dass er Virgin River nicht vor Mitte des Sommers verlassen würde. Sein älterer Bruder Luke und seine Schwägerin Shelby erwarteten ihr erstes Kind, und Aiden wollte die Geburt um nichts in der Welt verpassen. Bald würde auch sein Bruder Sean aus dem Irak zurückkehren und mit seiner Frau Franci und seiner Tochter Rosie einen Zwischenstopp in Virgin River einlegen, bevor er zu einem neuen Einsatz aufbrechen würde. Aiden freute sich schon darauf, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen.

Die Junisonne brannte Aiden auf den Pelz. Er trug eine lockere Armeehose, Motorradstiefel und ein olivgrünes T-Shirt, auf dem sich, unter den Achseln, Schweißflecken abzeichneten. Aiden war nass geschwitzt bis auf die Haut, und inzwischen roch er ziemlich streng. In seinem Militärrucksack hatte er Eiweißriegel und Wasser, und an seinem Gürtel war eine Machete befestigt, um sich den Weg durchs Gestrüpp zu bahnen. Auf dem Kopf trug er eine Baseballkappe, doch sein Haar ringelte sich dennoch unter deren Rändern hervor. Mittlerweile gehörte auch ein eins zwanzig hoher Wanderstock zu seinen ständigen Begleitern, und nach einer zufälligen Begegnung mit einem etwas zu selbstbewussten Berglöwen schleppte Aiden auch noch einen Bogen und mehrere Pfeile mit sich herum. Allerdings wenn er einem übellaunigen Bären über den Weg gelaufen wäre, wäre er trotzdem geliefert gewesen.

Aiden folgte dem Pfad, der sich durch die Berge schlängelte. Er sah aus wie eine ehemalige Straße oder eine Zufahrt. Aiden hatte keine Ahnung, was von beidem zutraf. Sein Ziel war der Bergkamm, den er von unten erspäht hatte. Am Ende des Weges stand er plötzlich etwas gegenüber, das allem Anschein nach eine verlassene Blockhütte war. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, woran man das erkannte – wenn der Pfad dorthin überwuchert und einen ganz besonders ungepflegten Eindruck machte, war die Hütte wahrscheinlich leer. Dennoch gab es keine Garantie dafür, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Schon einmal hatte er sich in so einem Fall geirrt und seinen Fehler erst bemerkt, als eine alte Dame ein Gewehr auf ihn gerichtet und ihn aufgefordert hatte, vom Grundstück zu verschwinden. Diesmal machte Aiden lieber einen großen Bogen um die Blockhütte und ging durch den Wald zum Bergrücken hinauf.

Natürlich gab es dort keinen Pfad mehr; so musste er sich mithilfe seiner Machete den Weg durch das Gestrüpp bahnen. Auf der anderen Seite bot sich ihm ein atemberaubender Anblick. Eine Frau mit rotblonden Haaren in Kaki-Shorts reckte ihm, weil sie sich nach vorne über die Veranda beugte, ihren Po entgegen. Obwohl Aiden sich als Frauenexperte fühlte, schien es ihm unmöglich, ihr genaues Alter einzuschätzen, wohl aber, dass dieser Hintern am Ende dieser traumhaft langen und gebräunten Beine zu den wundervollsten gehörte, die er je gesehen hatte. Die Ansammlung von Blumentöpfen und die Gießkanne ließen ihn annehmen, dass die Frau gerade dabei war, Pflanzen einzutopfen. Einer dieser Blumentöpfe war auf dem Geländer neben ihr platziert. Sie grub in der Erde und schaufelte sie in einen großen Topf.

Aiden konnte drei und drei zusammenzählen. Das hieß, dieser Po und diese Beine gehörten zu jemandem unter fünfzig, und außerdem war nirgendwo ein Gewehr in Sicht. Also schlug er sich mit dem Plan, freundlich Hallo zu sagen, weiter den Weg unter den Bäumen frei.

Immer noch vornübergebeugt, schaute sie ihn zwischen ihren Oberschenkeln hindurch an. Eine ausgesprochen hinreißende Frau, die ihm ein Lächeln entlockte. Sie gab einen lauten, markerschütternden Schrei von sich, richtete sich abrupt auf und stieß sich den Kopf am Verandageländer. Dabei warf sie den Blumentopf um, der ihr prompt auf die Birne fiel. Und schon ging sie zu Boden. Wumms!

»Mist«, murmelte er und eilte so schnell er konnte zu ihr. Auf halber Strecke schmiss er die Machete ins Gras.

Die Frau lag, mit dem Gesicht nach unten, auf der Erde. Vorsichtig drehte Aiden sie um. Sie war atemberaubend attraktiv. Ihr Gesicht war genauso schön wie der Rest von ihr. Ihr Puls schlug schnell und regelmäßig, wie man an der Halsschlagader erkennen konnte, allerdings blutete sie an der Stirn. Aiden hatte beobachtet, dass der Blumentopf sie am Hinterkopf getroffen hatte. Doch offensichtlich hatte sie sich beim Sturz die Stirn an einer scharfen Kante gestoßen. In der Mitte ihrer wundervollen Stirn klaffte direkt unter dem Haaransatz eine Wunde, die stark blutete, wie es Kopfverletzungen eben so an sich hatten.

Aiden holte sein Taschentuch raus, das glücklicherweise sauber war. Er presste es gegen die Wunde, um die Blutung zu stillen. Die Frau stöhnte ein bisschen, ohne die Augen zu öffnen. Mit dem Daumen zog ihr Aiden die Lider hoch; die Pupillen waren gleich groß und reagierten auf Licht. Das war so weit erst einmal eine gute Nachricht.

Während er das Tuch auf die Verletzung drückte, legte Aiden auch noch Rucksack, Pfeil und Bogen ab. Dann hob er die Frau auf die Arme und trug sie über die Veranda durch die bodentiefen, französischen Türen in die Blockhütte hinein. »Ist jemand zu Hause?«, rief er, nachdem er das Haus betreten hatte. Da niemand reagierte, vermutete er, dass die Frau hier alleine lebte und der große Lincoln SUV draußen vor dem Gebäude ihr gehörte.

Das Ledersofa erschien ihm – im Gegensatz zu dem Bett oder dem, was aussah wie ein nagelneuer, teurer Designerteppich – geeigneter, um sie darauf abzusetzen. Es schien notfalls ein paar Blutstropfen verkraften zu können. Aiden ließ die Frau vorsichtig auf die Couch sinken und achtete darauf, dabei ihren Kopf hochzulegen.

Dann schaute er sich um. Von außen hatte die Blockhütte den Eindruck erweckt, als handle es sich um eine ganz normale, mit neuen Dachziegeln gedeckte Hütte, mit Veranda und Gartenmöbeln. Aber innen war sie erstklassig eingerichtet und wirkte edel und komfortabel.

Behutsam griff er nach dem Taschentuch; die Blutung hatte aufgehört. Trotzdem war etwas Blut auf ihrem T-Shirt gelandet. Zunächst musste sich Aiden um Eis und improvisiertes Verbandszeug kümmern. Er stand in dem großen kombinierten Küchen-, Ess- und Wohnbereich. Vor den geöffneten bodentiefen Fenstern nahm er zum ersten Mal den fantastischen Panoramablick wahr, weswegen er ursprünglich hierhergekommen war. Allerdings war er so in der Betrachtung des knackigen Pos dieser Frau vertieft gewesen, dass ihm nicht aufgefallen war, dass die einsam gelegene Blockhütte mitten auf dem Bergrücken stand.

Vergeblich suchte Aiden nach einem Telefon. Er wusch sich die Hände und holte aus dem Gefrierschrank etwas Eis, das er in zwei Geschirrtücher tat. An den Küchenhandtüchern hingen immer noch Preisschilder. Sanft schob er ihr eines der Eispäckchen unter den Kopf und platzierte das andere auf ihrer Stirn. Nicht mal die Kälte brachte sie dazu, sich zu rühren. Also fing Aiden an, das Haus nach Verbandszeug zu durchstöbern.

Die Küche befand sich auf der Westseite der Hütte, aber auf der ihr gegenüberliegenden Seite gab es noch zwei weitere Türen. Die linke führte in ein geräumiges Schlaf- und die rechte in ein großes Badezimmer. Das Bad, der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für einen Erste-Hilfe-Kasten, war durch eine weitere Tür mit dem Schlafzimmer verbunden.

Schließlich fand Aiden unter dem Waschbecken einen blauen Kulturbeutel, auf dem in weißer Schrift die Wörter »Erste Hilfe« prangte. Er schnappte sich den Beutel und lief zu der Frau zurück. Aufgrund seiner Ausbildung benötigte er nur Sekunden, um eine antibakterielle Salbe aufzutragen und die Wunde mit einem Klammerpflaster zu versorgen, bevor er sie anschließend mit einer Bandage umwickelte. Danach legte er der schönen Unbekannten wieder das Handtuch mit dem Eis auf den Kopf.

Das Nächste, das nun dringend anstand, war, die Frau für ein CT in eine Notfallklinik zu verfrachten; ihre Bewusstlosigkeit nach dem heftigen Schlag auf den Schädel konnte auf Komplikationen hinweisen. Je länger ihre Ohnmacht anhielt, desto mehr sorgte er sich um sie. Doch er hatte sich beeilt – sie war noch nicht lange bewusstlos. Auf dem Küchentisch entdeckte er eine Tasche, in der er nach einem Handy, Autoschlüssel, Personalausweis und dergleichen kramte. Völlig ungezwungen leerte Aiden nun den Inhalt der Tasche auf dem Tisch aus. Da gellte ein markerschütternder Schrei durch den Raum. Aiden hob den Kopf so abrupt, dass er erst einmal gegen ein Regalbrett knallte, das über dem Frühstückstresen hing. »Autsch!«, brüllte er und hielt sich den Hinterkopf. Er schloss die Augen und wartete ab, bis der stechende Schmerz nachließ.

Allerdings schrie die Frau weiter.

Schließlich drehte er sich zu ihr um. Sie rutschte vom Sofa, wollte mehr Abstand zwischen ihnen bringen und schrie sich die Lunge aus dem Hals. Die Eispäckchen lagen auf dem Boden.

»Seien Sie still!«, befahl er ihr. Sie verstummte sofort und hielt sich die Hand vor den Mund. »Wir werden beide einen Hirnschaden davontragen, wenn Sie nicht sofort aufhören zu schreien!«

»Verschwinden Sie!«, herrschte sie ihn an. »Ich rufe die Polizei!«

Aiden verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Gute Idee. Wo ist das Telefon?« Er fischte ein Handy aus dem Sammelsurium auf dem Tisch. »Das hier hat keinen Empfang.«

»Was machen Sie hier? Was haben Sie in meinem Haus zu suchen? Und an meiner Tasche?«

Er ging zu ihr, die Tasche immer noch in Händen haltend. »Ich habe beobachtet, wie Sie sich die Stirn angeschlagen haben. Ich habe Sie sofort nach drinnen gebracht und die Wunde mit einer Salbe versorgt und Ihnen einen Verband angelegt, doch jetzt müssen wir …«

»Sie haben mir auf den Kopf geschlagen?«, kreischte sie und vergrub ihre Absätze in der Couch, um sich so weit wie möglich von ihm wegzudrücken.

»Ich habe Sie nicht geschlagen – offenbar habe ich Sie erschreckt, als ich aus dem Wald kam. Sie haben sich aufgerichtet, sind zurückgewichen und haben sich den Hinterkopf am Verandageländer gestoßen. Dabei ist Ihnen einer der Blumentöpfe auf den Kopf gefallen. Und der Schnitt auf Ihrer Stirn stammt vermutlich ebenfalls von der Veranda, die Sie beim Fallen erwischt haben. Gibt es hier jetzt ein Telefon?«

»Oh Gott«, sagte sie und befühlte vorsichtig die Bandage an ihrer Stirn. »Das Telefon wird erst morgen angeschlossen. Zusammen mit meiner Satellitenschüssel. Dann habe ich endlich auch Internet und kann mir Filme anschauen.«

»Das nützt uns jetzt aber nicht viel. Hören Sie, es ist nur eine kleine Wunde. Kopfverletzungen bluten immer sehr stark. Ich bezweifle, dass eine Narbe zurückbleiben wird. Doch das Bewusstsein zu verlieren, ist …«

»Ich gebe Ihnen Geld, wenn Sie mir nichts tun.«

»Zum Donnerwetter! Ich habe Ihnen den Kopf verbunden! Ich werde Ihnen weder wehtun, noch will ich Ihr Geld!« Er hielt die Tasche hoch. »Ich habe nur nach Ihrem Autoschlüssel gesucht. Sie brauchen ein CT. Vielleicht muss Ihre Wunde auch mit ein paar Stichen genäht werden.«

»Warum?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

Er seufzte. »Weil Sie bewusstlos waren – und weil das kein gutes Zeichen ist. Also, wo sind nun die Schlüssel?«

»Warum?«, wiederholte sie.

»Ich werde Sie in die Notaufnahme fahren, damit man Ihren Kopf untersucht!«

»Mache ich«, antwortete sie. »Ich fahre selbst. Gehen Sie einfach. Sofort.«

Er trat ein paar Schritte auf sie zu und hockte sich vor ihr hin, damit er nicht auf sie runterschauen musste, aber er hielt einen gewissen Sicherheitsabstand, weil er ihr nicht traute. Sie wirkte unberechenbar. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst vor ihm. Er versuchte, sich in ihre Lage hineinzuversetzen – sie war mit einem blutverschmierten Shirt aufgewacht, während ein abenteuerlich aussehender Mann sich an ihrer Handtasche zu schaffen machte. »Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich vorsichtig.

Misstrauisch betrachtete sie ihn. »Erin«, antwortete sie schließlich.

»Na schön, Erin. Ich halte es für keine gute Idee, dass Sie sich hinters Steuer setzen. Falls Sie eine ernsthafte oder auch nur eine einfache Kopfverletzung haben, könnten Sie noch einmal das Bewusstsein oder die Orientierung verlieren, und es könnte Ihnen schwindelig werden. Vielleicht auch übel, oder alles könnte vor Ihren Augen verschwimmen und einiges mehr. Versuchen Sie, nicht nervös zu werden – ich bringe Sie jetzt in eine Notfallklinik. Sobald Sie dort sind, können Sie Ihre Familie oder einen Freund anrufen. Ich lasse mich dann von jemandem abholen.«

»Aber Sie halten es für eine gute Idee, dass ich einfach so mit einem obdachlosen Penner ins Auto steige?«

Er richtete sich auf. »Obdachlos? Ich bin doch nicht obdachlos, sondern lediglich durch den Wald gewandert.«

»Na schön, dann sind Sie aber schon ziemlich lange am Wandern. Sie sehen nämlich so aus, als hausten Sie schon eine ganze Weile im Wald!«

Er ging wieder in die Hocke, damit er mit ihr auf Augenhöhe war. »Erstens, Sie müssen sich die Eispäckchen, die ich Ihnen gegeben habe, hinten und vorne an den Kopf drücken. Wie wollen Sie denn da noch Auto fahren? Zweitens ist es zu gefährlich, wenn Sie selbst am Steuer sitzen, wie ich Ihnen bereits ziemlich ausführlich erläutert habe. Und drittens seien Sie nicht so zimperlich und lassen Sie sich von einem verschwitzten Wanderer chauffieren, denn während wir uns hier unterhalten, könnten Sie eine Hirnschwellung haben und für den Rest Ihres eigensinnigen Lebens unter den Folgen leiden! Also, wo sind nun die Scheißautoschlüssel?«

Sie musterte ihn skeptisch. Neben der Tür war ein Schlüsselbrett angebracht, an dem die Schlüssel hingen. »Woher wissen Sie über solche Dinge Bescheid? Hirnschwellungen und so?«

»Ich habe während des Studiums mal als Rettungssanitäter gearbeitet – vor langer Zeit«, beantwortete er ihre Frage wahrheitsgemäß. Er hatte selbst keine Ahnung, weshalb er ihr nicht gleich sagte, dass er Arzt war. Vielleicht, weil er momentan nicht unbedingt so aussah, denn, wie sie schon gesagt hatte, im Moment wirkte er eher wie ein Landstreicher. Außerdem lag sein Fachgebiet ziemlich weit vom Kopf entfernt – und er verspürte nicht die geringste Lust, das auch noch erklären zu müssen. Das hielt sie aber trotzdem nicht davon ab, sich rechthaberisch und zickig aufzuführen. Inzwischen schmerzte ihm auch sein Kopf. Und er verlor allmählich die Geduld mit dieser Patientin. »So, und jetzt nehmen wir noch ein bisschen Eis und kleine Tücher mit und machen uns endlich auf den Weg.«

»Falls Sie sich als Serienmörder entpuppen sollten, müssen Sie damit rechnen, bis in alle Ewigkeiten von einem stinkwütenden Geist verfolgt zu werden«, drohte sie ihm, während er die Eispäckchen vom Boden aufsammelte. Als sie sich erhob, schwankte sie ein wenig. »Uih.«

Er stand sofort neben ihr, um ihr den Arm um die Taille zu legen und sie zu stützen. »Sie haben einen üblen Schlag auf den Kopf abbekommen, Kleines. Deshalb dürfen Sie auch nicht ans Steuer.«

Er brachte sie nach draußen, schnappte sich die Wagenschlüssel und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Da bemerkte er zum ersten Mal, dass das Haus an einer Straße lag. Er musste die Frau auf den Vordersitz heben und ihr helfen, die Eisbeutel richtig zu platzieren, damit sie sie an die richtigen Stellen pressen konnte. Ihm fiel auch auf, dass sie die Nase rümpfte; gut, dann war es wohl offensichtlich – dass er einen starken Körpergeruch entwickelt hatte.

»Ich brauche meine Handtasche«, meinte sie. »Meine Versicherungskarten und den Personalausweis.«

»Hole ich Ihnen«, erwiderte er. »Ich muss sowieso noch die Verandatür zumachen.« Für alle Fälle und aus Sicherheitsgründen nahm er die Autoschlüssel mit. Er räumte die vorhin ausgeschütteten Sachen wieder in ihre Tasche, kehrte zum Wagen zurück und stellte ihr die Tasche auf den Schoß. Dann stieg er ein und ließ den Motor an.

»Sie müssen mich möglicherweise ein bisschen lotsen … Ich bin nämlich nicht von hier.«

Sie stöhnte leise auf und legte ihren Kopf zurück. »Ich bin auch nicht von hier.«

»Macht nichts, dann tue ich eben so als ob«, erwiderte er. »Ich bin durchaus imstande, den Highway 36 von Virgin River aus zu finden. Was machen Sie eigentlich hier, wenn Sie nicht von hier sind?«

»Ich gönne mir eine Auszeit von der Arbeit und versuche, die Einsamkeit zu genießen«, antwortete sie. Ihr Tonfall klang verzweifelt. »Und dann brach Charles Manson mit einem langen Messer durchs Unterholz und erschreckte mich. So viel zum Thema Ruhe und Frieden.«

»Jetzt machen Sie aber mal halblang. Ich lasse mir nur gerade einen Bart wachsen, mehr nicht. Ich habe nämlich Urlaub und keinen Bock, mich zu rasieren. Verklagen Sie mich doch.«

»Zufällig könnte ich das tatsächlich. Ich bin nämlich bekannt dafür, hin und wieder immer mal jemanden zu verklagen.«

Er lachte. »Das hätte ich mir denken können. Eine Anwältin. Und nur nebenbei, ich habe die Machete dabei, um mir den Weg durch den Wald freizuschlagen, falls ich in eine Gegend komme, wo es keine Wege gibt.«

»Weshalb sind Sie denn eigentlich hier?«, wollte sie wissen.

»Familienbesuch. Ich habe einen Bruder, der hier wohnt. Er und seine Frau erwarten gerade ihr erstes Kind und ich bin … ich bin …« Er räusperte sich. »Sagen wir mal so, ich befinde mich gerade zwischen zwei Jobs.«

Sie lachte. »Arbeitslos. Große Überraschung. Lassen Sie mich raten, Sie sind jetzt schon eine ganze Weile zwischen zwei Jobs.«

Die Frau ging ihm auf die Nerven. Er hätte sie aufklären können, dass er ihr ebenbürtig und Arzt war, der gerade seinen nächsten Karriereschritt plante. Aber sie war einfach zu hochnäsig und von oben herab, weshalb er keine Lust dazu hatte. »Jedenfalls lange genug, um mir einen Bart wachsen zu lassen.«

»Wenn Sie sich ein wenig pflegen würden, hätten Sie vermutlich auch bald wieder einen Job«, riet sie ihm altklug.

»Ich werde es mir überlegen.«

»Der Bart lässt Sie ein bisschen verrückt aussehen«, sagte sie. »Damit mindern Sie Ihre Chancen auf eine Anstellung«, und ergänzte mit angehaltenem Atem: »Ganz zu schweigen von Ihrem Körpergeruch …«

»Das werde ich mir merken, obwohl meine Nichte ihn mag.« Er drehte den Kopf zur Seite, damit er einen Blick auf sie werfen konnte. »Den Bart, meine ich.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Ihr Bruder sein erstes Kind erwartet.«

»Die Tochter meines anderen Bruders.«

»Dann haben Sie also mehrere Brüder. Nur mal so aus Neugier, was halten Ihre Brüder von Ihrem … Ihrem Lebenswandel zwischen zwei Jobs?«

»Ich glaube, Sie sollten jetzt einfach mal ruhig sein«, erwiderte er. »Um die Hirnzellen, die noch intakt sind, ein wenig zu schonen. Vor uns liegt eine vierzigminütige Fahrt zum Valley Hospital im Westen von Grace Valley. Schweigend

»Klar«, sagte sie. »In Ordnung.«

Was hielten seine Brüder von seiner Entscheidung? Sie hielten ihn für verrückt. Er hatte in der Navy Erfüllung gefunden, er liebte die Navy. Doch was das Militär mit einer Hand gab, nahm es mit der anderen wieder.

Als frischgebackener Arzt hatte Aiden, dank eines Stipendiums der Navy, einen ersten Job als Allgemeinmediziner auf einem Schiff bekommen. Sein Einsatz dauerte zwei Jahre. Damals war er nur alle sechs Monate für ein paar Monate an Land gewesen. Sie hatten regelmäßig Häfen angelaufen, was ihm die Möglichkeit geboten hatte, sich ein wenig die Welt anzusehen und ab und zu festen Boden unter seinen Füßen zu spüren. Dennoch hatte er in dieser Zeit den größten Teil seines Lebens an Bord des Schiffes verbracht und wurde einer Menge Stress ausgesetzt – weil er der einzige Mensch war, der vierundzwanzig Stunden lang, sieben Tage die Woche am Stück, für das medizinische Personal verantwortlich war und nur er den verantwortlichen Captain des Schiffes ablösen konnte. Aiden war erst so richtig bewusst geworden, unter welchem Druck er stand, als er sich dabei ertappt hatte, dass er mit dem Notfall-Handy in der Hand duschte. Außerdem hatte sich sein Schiff sehr lange im Persischen Golf aufgehalten, was bedeutete, dass sie die Zivilbevölkerung im Notfall medizinisch mit versorgen mussten. Meistens handelte es sich um Fischer oder Crewmitglieder anderer Schiffe, die in der Regel kein Englisch sprachen.

Die Belohnung für diese Strapazen war seine Facharztausbildung als Gynäkologe gewesen, wodurch allerdings seine Verpflichtung gegenüber der Navy wuchs. Doch es war die Mühe wert gewesen – er hatte sich um das weibliche Militärpersonal und die Frauen diensthabender Navy-Angehöriger gekümmert. Ein schönes Leben. Aiden war lange an einem Ort stationiert gewesen, in San Diego.

Aber dann wurde es Zeit für seine Promotion, und die Navy glaubte, ihn wieder auf See schicken zu müssen. Das hätte jedoch bedeutet, dass man ihn wieder als Allgemeinmediziner eingesetzt und sein Spezialgebiet außen vor gelassen hätte. Denn an Bord eines Flugzeugträgers waren Gynäkologen nicht besonders gefragt. Es machte Aiden eigentlich nichts aus, so lange auf See zu bleiben, aber inzwischen war er sechsunddreißig. Obwohl er nicht besonders häufig darüber sprach, hatte er dennoch das Gefühl, dass ihm etwas Entscheidendes fehlte. Eine Frau und eine Familie zum Beispiel. Die Chance, an Bord eines großen grauen Schiffs die eine zu treffen, schien ihm nicht besonders hoch. Er musste an Land bleiben.

Manchmal fragte er sich selbst, warum es ihm so wichtig gewesen war. Es sah nicht gerade so aus, als ob sein Plan, an Land zu bleiben, bisher gut funktioniert hätte. Gleich nach seinem Einsatz als Internist, mit achtundzwanzig, hatte er Annalee kennengelernt und diese Frau, die sich ziemlich schnell als total verrückt entpuppt hatte, überstürzt geheiratet. Ihre Ehe hatte drei Monate gehalten, was ausgereicht hatte, damit sie alles Zerbrechliche, was ihnen gehörte, mutwillig zerdeppern konnte. Diese Lady war unberechenbar, eifersüchtig und verrückt. Ihre Launen wechselten schneller, als Sand durch eine Sanduhr fließen konnte.

Diese Erfahrung hatte bewirkt, dass Aiden sich Frauen gegenüber ziemlich zurückhaltend benahm und ein langsames Tempo in Bezug auf das weibliche Geschlecht vorlegte. Doch nun, nachdem ein paar Jahre vergangen waren, wollte er wieder zurück aufs Spielfeld. Er fühlte sich reifer und erwachsener als damals. Dennoch schien es ihm unmöglich, eine Frau zu treffen, die sich dafür begeistern konnte, seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder zu werden.

Nur eins war sicher – auf hoher See würde er sie erst recht nicht finden.

In Wahrheit war er einfach nicht bereit, sich noch einmal bei der Navy zu verpflichten. Seine Brüder dachten, er sei verrückt, da er den Dienst nach vierzehn Jahren, nur sechs Jahre vor seinem Ruhestand und den damit verbundenen Annehmlichkeiten, quittiert hatte. Seiner Meinung nach allerdings befand er sich gerade in seinen besten Jahren. Er war immer noch jung genug, um sich als Ehemann und Vater einzubringen, sofern er der richtigen Frau endlich begegnete. Im Pensionierungsalter von zweiundvierzig Jahren würde ihn die Gründung einer Familie extrem unter Druck setzen.

Er schaute zu Erin hinüber. Sie hielt die Augen geschlossen und drückte sich die Eispäckchen gegen Stirn und Hinterkopf. Er hätte gerne eine Ehefrau gehabt, die so attraktiv wie Erin war – allerdings sollte sie liebenswerter und weit weniger arrogant sein. Aiden suchte eine zärtliche und fürsorgliche Frau. Man wählte schließlich keinen Kotzbrocken als Mutter für seine Kinder aus, und diese Frau war ein Kotzbrocken. Was hätte man von einer Anwältin auch schon anderes erwarten sollen?

Aiden grinste in sich hinein. Vielleicht war sie Anwältin für medizinische Kunstfehler.

Da sich Aiden zu einem kleinen Teil für Erins Unfall verantwortlich fühlte, blieb er noch etwas im Krankenhaus. Natürlich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe. Er hatte die Lady in die Notaufnahme gebracht und sich darum gekümmert, dass man sich angemessen um sie kümmerte. Er hatte dem Arzt ihre Verletzungen geschildert, von ihrer Bewusstlosigkeit berichtet und ihm ihre Autoschlüssel übergeben, damit Erin später, sobald sie wieder in Ordnung war, selbst nach Hause fahren konnte. Dann ging Aiden nach draußen an die frische Luft, um niemanden mit seinem alles andere als feinen Moschusgeruch zu belästigen. Und so saß er fast eine Stunde lang da.

Er war kurz davor, noch einmal zur Notaufnahme zurückzukehren, bevor er seinen Bruder anrufen und ihn bitten wollte, ihn abzuholen, als er zufällig Reverend Noah Kincaid aus der Klinik kommen sah.

»Hallo, Aiden«, sagte Noah und streckte ihm die Hand hin. »Was machen Sie denn hier? Sie hatten doch keinen Unfall, oder?«

Aiden schüttelte ihm die Hand. »Nein, ich glaube, ich habe ihn höchstens verursacht. Fahren Sie zufällig nach Virgin River zurück?«

»Das hatte ich vor. Was ist passiert?«

Aiden erklärte ihm rasch, dass er Erin in ihrem Wagen ins Krankenhaus gebracht hatte und eigentlich seinen Bruder fragen wollte, ob er kurz den Chauffeur für ihn spielen könnte. »Aber bevor ich mich auf den Weg mache, wollte ich noch mal mit dem Arzt sprechen. Ich hoffe, er sagt mir, ob ihr CT ohne Befund ist. Dann verschwinde ich, ehe sie mich entdeckt.«

»Ein Glück für die Dame, dass sie, wenn sie schon verunglücken musste, es wenigstens in Anwesenheit eines Arztes getan hat.«

»Na ja«, erwiderte Aiden und rieb sich den Nacken. »Sie weiß nicht, dass ich Arzt bin.«

»Warum haben Sie es ihr nicht einfach erzählt?«

»Die Wahrheit? Weil Sie so eine gewisse Haltung an den Tag legte. Sie nannte mich einen obdachlosen Penner und meinte, ich sähe aus wie Charles Manson – und sie gab mir deutlich zu verstehen, dass sie meinen Geruch nicht mag.«

Noah verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen. »Sie hat mit Ihnen geflirtet?«

»Wenn ich auch nur die leiseste Absicht gehabt hätte, ihr etwas zuleide zu tun, wären jetzt nur noch Einzelteile von ihr übrig. Eine sehr verstörende Frau. Trotzdem würde ich mich, bevor ich abhaue, gerne versichern, dass sie keinen Hirnschaden erlitten hat. Könnten Sie zehn Minuten warten? Und mich dann mitnehmen?«

»Klar«, versicherte ihm Noah. »Ich begleite Sie. Haben Sie dem Arzt in der Notaufnahme gesagt, wer Sie sind?«

»Mehr oder weniger. Ich habe ihm beschrieben, was passiert ist, ihm ihre Symptome und die Reaktion auf die Verletzungen geschildert. Dann hat sich die Krankenschwester erkundigt, ob ich medizinische Vorkenntnisse besitze. Ich erklärte ihr, dass die Dame mich, ohne danach gefragt zu haben, wer ich bin, für einen Schwachkopf hält und dass man sie, sofern es nach mir ginge, nicht unbedingt darüber aufklären müsse.«

»Ach so«, sagte Noah. »Damit Sie sich so richtig blöd fühlt, sobald sie es herausfindet.«

»Noah, ich schwöre Ihnen, Sie verstehen das nicht …«

Die beiden Männer schlenderten zum Krankenschwesternzimmer der Notaufnahme. »Wie geht es der Frau mit der Kopfverletzung?«, fragte Aiden. »Ich kann mit dem Pfarrer nach Hause fahren, aber vorher wüsste ich gerne, wie es ihr geht.«

»Es geht ihr gut«, erklärte die Krankenschwester. »Der Doktor möchte sie dennoch eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten. Reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Das ist vermutlich eine gute Idee«, stimmte Aiden ihr zu. »Ist ihr CT-Ergebnis schon da?«

»Alles in Ordnung«, sagte die Schwester. »Aber sie könnte eine kleine Gehirnerschütterung davongetragen haben.«

»Habe ich gerade richtig gehört, dass Sie diesem Penner erzählen, dass mein Haus heute Nacht leer steht?«, ertönte plötzlich eine laute und herrische Stimme hinter einem Vorhang.

Noah hielt sich den Bauch vor Lachen. Aiden und die Krankenschwester sahen sich an. »Der feste Schlag auf den Kopf hat ihr Hörvermögen nicht beeinträchtigt, stimmt’s?«, sagte Aiden so laut wie möglich.

»Ich gehe jetzt, aber sobald sie sich ein wenig beruhigt hat, richten Sie ihr bitte aus, dass ich unterwegs bin, um mich in ihre Badewanne zu legen und mich später in ihren Satinlaken zu wälzen«, wandte er sich an die Schwester.

Diese lachte. »Da mische ich mich lieber nicht ein, Dr. Riordan«, flüsterte sie. »Das ist eine Sache zwischen Ihnen und dieser Dame.«

Er hob den Finger an die Lippen. »Glauben Sie mir, zwischen ihr und mir ist überhaupt nichts. Und da wird auch nie etwas sein. Noah, fahren wir?«

Auf dem Weg zu Noahs altem blauen Ford fragte ihn Aiden: »Haben Sie es sehr eilig?«

»Ich habe zwar nicht den ganzen Tag Zeit, aber ich bin auch nicht in Eile. Müssen Sie unterwegs noch irgendwo anhalten?«

»Falls ich diese Hütte noch einmal wiederfinde, könnten wir dahin einen kleinen Abstecher machen? Ich habe meine Sachen dort gelassen. Mein Wanderzeugs.«

»Mit Vergnügen«, erwiderte Noah. »Wie ist denn das Wandern?«

»Der pure Genuss«, antwortete Aiden. »Ich habe zwar schon vorher einiges von der Gegend gesehen und erkundet, aber so viel Zeit hatte ich noch nie. Manchmal streife ich einfach so in den Bergen von Virgin River herum. Manchmal fahre ich auch zur Küste oder nach Grace Valley, um eine andere Umgebung zu entdecken. Nie im Leben habe ich mich besser gefühlt.«

»Das freut mich für Sie! Es klingt perfekt. Ich vermute, Sie müssen irgendwann auch wieder zur Arbeit zurückkehren.«

»Ich verbringe ziemlich viel Zeit damit, meinen Freunden zu mailen, halte nach Möglichkeiten Ausschau, versuche, alle Angebote zu ignorieren, die mich dazu zwingen könnten, sofort wieder zu arbeiten. Allerdings wird es Mitte des Sommers mit meinen Wandertouren vorbei sein.«

Aiden hatte keine Schwierigkeiten, Noah zur Blockhütte zu lotsen. Es war auch nicht schwer, die Sachen, die Aiden, als er versucht hatte, bei der Hochnäsigen Notarzt zu spielen, stehen und liegen gelassen hatte, wiederzufinden. Die Machete und der Rest lagen noch im Vorgarten zwischen Hütte und Bäumen. Beim Aufsammeln bemerkte er, dass jemand an den Rändern des Grundstücks entlang Erde umgegraben hatte. Innerhalb dieser Markierung wucherte immer noch das Gras zwischen den Steinen. Machte sich da etwa jemand Hoffnung auf einen Garten?

Aiden schnappte sich seinen Rucksack, und ihm fiel auf, dass sie versucht hatte, am hinteren Ende der Veranda ein Beet anzulegen. Vielleicht war die Größe des Vorgartens ihr plötzlich ein wenig zu ehrgeizig erschienen, und sie hatte erst einmal versucht, ein schmaleres, einfacher zu bearbeitendes Stückchen Land zu bepflanzen. Der Dreck war auf einem Haufen zusammengetragen worden. Es sah aus, als hätte sie ein paar halb komatöse Tomatenstauden, ein paar konfettigroße, vertrocknete Ringelblumen und ein paar andere undefinierbare Pflanzen in die Erde gesetzt.

Auf der Verandabrüstung stand immer noch eine Plastikgießkanne, und auf dem Boden davor ein paar Gartengeräte, die die richtige Größe für Balkonpflanzen zu haben schienen. Außerdem lag auf der Veranda aus einem ihm unerfindlichen Grund eine eiserne Bratpfanne.

Aiden lud seine Sachen in Noahs Wagen. »Noch eine Minute, Noah.«

»Was haben Sie vor?«, fragte Noah.

»Ich glaube, sie war gerade dabei, den erbärmlichsten Garten, der mir je in meinem Leben unter die Augen gekommen ist, wiederzubeleben. Ich will ihr Grünzeug noch schnell gießen. Dauert nicht lange. Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus?«

»Nein«, sagte Noah, »… aber ich sehe überhaupt keinen Garten.«

»Ja, weiß ich. Das ist das Problem. Ich bin gleich wieder da.«

Aiden schnappte sich die Gießkanne vom Geländer, sammelte die Gartengeräte auf der Veranda ein und goss die Pflanzen. Dann ging er mit der Gießkanne ins Haus, um sie am Wasserhahn vollzumachen, und entdeckte drinnen einen halb leeren Karton Wunder-Dünger. Da ist ein Wunder auch bitter nötig, dachte er ironisch. Er füllte die Gießkanne auf und bewässerte ihren kleinen Garten. Dann stellte er die leere Kanne auf das Geländer zurück und sprang zu Noah ins Auto.

Das war alles sehr mysteriös.

»Was war noch mal genau passiert?«, erkundigte sich Noah, der etwas beunruhigt wirkte.

»Ich bin durch den Wald gewandert, da habe ich sie plötzlich entdeckt. Ich wollte ihr bloß Hallo sagen, doch als ich durch das Gebüsch brach, richtete sie sich plötzlich panisch auf und stieß sich den Kopf. Ich hab gleich alles stehen und liegen lassen, damit ich mich um sie kümmern konnte – Machete, den Bogen, die Pfeile, meinen Rucksack und das ganze Zeug.«

Noah musterte ihn mit großen Augen. »Sie sind mit der Machete durch das Gebüsch gekommen? Und sind jetzt ernsthaft beleidigt, weil sie Sie so von oben herab behandelt hat?«

»Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen …«

Noah lachte. »Sie sollten vielleicht etwas nachsichtiger mit ihr sein, Aiden.« Und dann lachte er lauter.

2. KAPITEL

Für seinen Aufenthalt in Virgin River hatte sich Aiden eine von Lukes Ferienhütten gemietet. Er bezahlte ihm den üblichen Preis, obwohl Luke damit zu Anfang überhaupt nicht einverstanden war. Aber Aiden hatte nicht bloß sein eigenes Reich haben wollen, sondern er wollte Shelby und Luke auch nicht allzu sehr zur Last fallen, denn er beabsichtigte, den ganzen Sommer zu bleiben. Und da die kleine Hütte genauso schlicht war wie seine Kabine an Bord des Schiffes, gefiel sie ihm gut. Luke hatte sie mit einem Satellitenempfänger für das Internet ausgestattet, allerdings gab es in den Unterkünften noch keine Telefonleitung. Das störte Aiden jedoch nicht; er hatte seinen Freunden Lukes Festnetznummer gemailt, und in manchen Gegenden in den Bergen hatte er mit seinem Handy sogar Empfang. Die meisten Menschen, mit denen er es zu tun hatte, bevorzugten ohnehin das Internet. Jeden Morgen und Abend checkte er seine E-Mails.

Als Noah ihn vor dem Haus absetzte, fand er eine Nachricht an seiner Hüttentür. Komm bitte sofort zu uns rüber. L.

Sofort, entschied Aiden, ließ ihm aber wohl noch Zeit zum Duschen. Falls Shelby unter Schwangerschaftsbeschwerden litt, hätten sie sicherlich nicht gewartet, bis er von wo auch immer von seiner Wandertour zurückkehrte.

Fünfzehn Minuten später klopfte er mehrmals kurz an Lukes Haustür und ging dann hinein.

Shelby saß auf ihrem Hocker, die Füße auf der Ottomane, ein Buch auf dem dicken Bauch balancierend. Luke kniete am anderen Ende der Ottomane neben einer großen, geöffneten Kiste. Er schien sich ein paar Sachen anzusehen, die vor ihm ausgebreitet lagen. Er hob den Kopf, schaute Aiden an und sagte: »Wir haben Probleme.«

»Probleme? Was ist los?«

Luke stand auf und reichte Aiden einen kleinen Stapel Bilder, Papier und Briefumschläge. Aiden blätterte sie flüchtig durch – Fotos aus der zweiten und dritten Klasse, Zeugnisse, selbst gebastelte Muttertagskarten, Erinnerungen an seine Kindheit. »Ja und?«, meinte er zu Luke. »Wo ist das Problem?«

»Mom hat sie uns geschickt, einen ganzen Karton voll. Sogar das Buch, das ich in der vierten Klasse geschrieben habe – über meine Auffassung über den Sinn des Lebens, die damals hauptsächlich darin bestand, mir Möglichkeiten auszumalen, wie ich alle meine Brüder töten und es wie einen Unfall aussehen lassen könnte.«

Aiden lachte. Er erinnerte sich daran. Sie machten immer noch Witze darüber, wenn sie alle zusammen waren. Der zehnjährige Luke hatte immer das Gefühl, dass er zu viel Verantwortung für und zu viele Nachteile wegen seiner jüngeren Brüder hatte, von denen einer, der noch Windeln trug, ihn unbarmherzig überallhin verfolgte. »Ich vermute, wir sollten alle der heiligen Jungfrau Maria danken, dass dir nichts eingefallen ist. Was ist denn los?«

»Du hast auch so ein Paket bekommen. Colin hat seines schon gestern gekriegt und glaubte, dass er aus dem Testament gestrichen wurde, weil er nicht oft genug Mom besucht und zu selten anruft. Er dachte, das sei Moms Art, ihm das mitzuteilen. Patrick habe ich noch nicht gefragt. Und Franci, die mir hätte sagen können, ob Sean auch so eine Kiste erhalten hat, auch nicht. Mom räumt ihr Haus leer.«

Bevor er seinen Kommentar dazu abgab, öffnete Aiden erst einmal sein Paket. Er holte ein beinahe identisches Bündel von Fotos, Heften und Papieren heraus. Unter den Sachen befand sich unter anderem auch eine Schuhschachtel. Nachdem er sie geöffnet hatte, entdeckte er, dass sie Weihnachtsbaumschmuck enthielt – Schmuck, den er als Kind für den Christbaum der Familie gebastelt hatte, sowie gekaufter, der damals zu seinen Lieblingsstücken zählte. Er hielt einen alten Rentier-Rudolph-Anhänger hoch. »Den habe ich geliebt«, erklärte Aiden. »Woher weiß sie so genau, welche von diesen Anhängern ich besonders mochte?«

Seufzend strich sich Shelby mit der Hand über den Bauch. »Ich hoffe, dass ich mal eine ebenso gute Mutter werde«, sagte sie.

»Da geht irgendwas Ungutes vor«, vermutete Luke. »Entweder sie stirbt, oder sie will ihr Haus verkaufen, um in ein Pflegeheim zu ziehen.«

Aiden lachte. »Oder sie zieht ins Wohnmobil eines presbyterianischen Priesters im Ruhestand. Mit diesem Gedanken spielt sie schon seit Weihnachten.«

»Das war doch nicht ihr Ernst, Aiden«, erwiderte Luke. »Auf keinen Fall. Sie ist mir die ganzen Jahre ziemlich auf die Nerven gefallen, als ich keine Lust hatte, mich ernsthaft zu binden. Sie ist die heilige Maureen! Falls sie so etwas Ähnliches vorhätte, würde sie zuerst heiraten, aber dafür kennt sie George noch nicht gut genug. Seit sie sich letztes Weihnachten hier in Virgin River getroffen haben, lebte er in Seattle und sie in Phoenix. Sie kann ihn unmöglich heiraten. Ruf sie an.«

»Wieso soll ich sie anrufen?«

»Weil du, Aiden, der Einzige bist, der wirklich mit ihr reden kann.« Luke machte einen Schritt auf seinen Bruder zu. »Wenn sie diesen George heiratet, hat sie möglicherweise bald einen Alzheimerpflegefall oder so was Ähnliches an der Backe. Ruf sie an«, wiederholte Luke.

Shelby ließ ihr Buch mit einem irritierten Stöhnen sinken. »Luke dachte bis jetzt, dass eure Mom an einsamen Samstagabenden durch eure alten Schulbücher und Zeugnisse blättert. Vielleicht hat sie es inzwischen einfach satt, eure alten Sachen bei sich aufzubewahren. Ist euch das schon einmal in den Sinn gekommen?«

Aidens Blick fiel auf ein kleines goldenes Objekt: ein Pokal mit einem Schwimmer. Während Aidens Schulzeit zählte Schwimmen zu den Sportarten für Streber. Und er war ein Streber. »Oh, mein einziger erster Platz.«

Luke griff in sein Paket und brachte seine ganzen Trophäen zum Vorschein. Die Kiste war angefüllt mit Siegerpokalen und – medaillen. Luke war immer ein Athlet gewesen, und er hatte alles gewonnen, sobald er es nur versucht hatte. »Wenn ich mich recht erinnere, gehörtest du dafür immer zu den besten Schülern. Ich hatte den Sport.«

»Luke, Mom hat uns angekündigt, dass sie ausmisten will«, erinnerte ihn Aiden. »Sie hatte uns alle gefragt, ob wir ihr Geschirr, die alten Quilts, das Porzellan …«

»Ich bekomme das Geschirr«, warf Shelby lächelnd ein. »Was mich etwas in Panik versetzt, da es sehr alt ist. Ich habe ihr gesagt, dass ich es wahrscheinlich wegpacken und es mein Leben lang aufbewahren werde, weil es so wertvoll ist. Sie schenkt uns auch ein paar Gläser, keine Ahnung welche. Franci nimmt das Silber von Urgroßmutter Riordan. Sonst wollte niemand etwas, glaube ich«, meinte sie und zuckte die Achseln.

»Das war bestimmt nur ein Test«, vermutete Luke. »Ich denke nicht, dass es ihr ernst damit ist, ihre Sachen weggeben zu wollen.«

Aiden klopfte auf sein Päckchen. »Nicht ihre Sachen, Luke. Unsere Sachen. Oder Sachen, die unseren Großmüttern gehörten. Sachen, die sie offenbar nicht mehr länger bei sich haben will. Komm, sieh das alles mal nicht so düster.«

»Sprich mit ihr«, beharrte Luke. »Vielleicht verliert sie gerade den Verstand oder so.«

Aiden seufzte und nahm das tragbare Telefon in die Hand, wählte die Nummer ihrer Mutter und holte sich, während er darauf wartete, dass sie abhob, ein Bier aus dem Kühlschrank. Noch ehe er die Flasche öffnen konnte, meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung. »Kein Anschluss …« Aiden versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, und hörte noch einmal die komplette Ansage ab. Dann legte er auf und sagte: »Da geht niemand ran. Ich versuche es mal auf dem Handy …« Es dauerte nicht lange, da war Maureen dran. »Auch hallo«, erwiderte er amüsiert. »Bist du gerade auf der Flucht oder so etwas?«

»Oh Aiden«, entgegnete sie. »Ich wollte dich schon anrufen, aber ich hatte so viel zu tun.«

»Ja, die Schätze unserer Kindheit zusammenzusuchen, um sie uns zu schicken. Luke glaubt, du liegst im Sterben …«

»Luke wünscht sich vermutlich, dass ich sterbe«, sagte sie trocken. »Doch mal ehrlich. Niemand will meine Alte-Frauen-Möbel, also habe ich alle Erbstücke und alles, was ich aufgehoben habe, seit ihr Kinder klein wart, eingepackt und den Rest eingelagert. Und weil ich dieses Handy besitze, das du mir geschenkt hast, dachte ich, es ist okay, das Internet und das Festnetz abzumelden. Die kürzlich verwitwete Schwester einer meiner Freunde ist verzweifelt auf der Suche nach einer Mietwohnung, bis sie etwas zum Kaufen gefunden hat. Solange wird sie bei mir zur Untermiete wohnen. Wir haben einen Sechsmonatsvertrag.«

Aiden holte ein zweites Bier für seinen Bruder aus dem Kühlschrank und reichte es ihm. »Und nach den sechs Monaten?«

»Ich würde das vermutlich nicht machen, wenn ich nicht hoffen würde, dass ich mich in mein neues Leben verliebe: herumreisen, mir die Welt angucken, meine Familie besuchen. George wird morgen mit einem nagelneuen Wohnmobil hierherkommen. Ich habe mir schon Fotos davon angeschaut, kann es jedoch kaum erwarten, es endlich in echt zu sehen. George wird mir beim Packen und dem Umzug, der schon organisiert ist, helfen. Und dann sind wir weg. Natürlich fahren wir erst mal auf direktem Weg nach Virgin River, allerdings könnte es sein, dass es dennoch ein bisschen länger dauert. Wir nehmen die Route über Sedona, Oak Greek Canyon, Flagstaff, den Grand Canyon, Hoover Dam, und vielleicht halten wir auch für einen kurzen Zwischenstopp in Las Vegas. Kannst du dir vorstellen, dass ich weder Sedona noch den Grand Canyon je gesehen habe, obwohl ich schon jahrelang in diesem Staat lebe?«

»Dann freust du dich sicher darauf?«, meinte Aiden. »Luke möchte wissen, ob du heiraten willst.«

Luke verschluckte sich an seinem Bier und schüttelte vehement den Kopf.

»Das hatte ich eigentlich nicht vor. George ist sehr aufmerksam und entgegenkommend. Wenn mir die Ehe sehr wichtig sei, würde er das verstehen. Doch ich denke, wir mogeln uns so durch.«

Aiden lachte herzlich. »Hast du dich schon jemals in deinem Leben durchgemogelt

»Ich glaube nicht«, erwiderte sie. »Und wenn du mich vor einem Jahr gefragt hättest, ob ich so etwas jemals tun würde, wäre meine Antwort ein klares Nein gewesen. Aber jetzt ist alles anders. Aiden, wie geht es Shelby?«

»Dick wie eine Tonne«, antwortete er mit einem Augenzwinkern zu seiner Schwägerin. »Sie sagt, sie fühlt sich gut, und sie ist sehr gespannt auf das Geschirr. Oh, und Luke lässt ausrichten, dass er, falls aus der Sache mit George doch nichts würde, nicht eher wieder ein Auge zumachen könnte, bis du nach Virgin River kämst, um bei ihm zu wohnen.«

Luke sprang auf. Seine Augen waren so groß wie Teller. Seine Wangen röteten sich, und er schüttelte wieder energisch den Kopf.

»Sag ihm, dass ich eher in ein Pflegeheim ziehen würde. Diese Nervensäge reicht mir schon bei Besuchen, das brauch ich nicht jeden Tag!«

»Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, weißt du das?«, erwiderte Aiden mit einem Anflug von Zärtlichkeit, die er nur für seine Mutter reserviert hatte.

»Ich weiß. Ist das nicht toll?«

»Wenn du es dir gründlich überlegt hast, schon«, antwortete er.

»Natürlich habe ich das, Aiden. Ruf mich gerne wieder an, falls du noch weiter darüber sprechen möchtest.«

»Nein. Mache ich nicht. Soll Luke dich anrufen, wenn er sich Sorgen um dich macht und mit dir darüber reden will?«, fragte er und schaute seinen Bruder mit hochgezogenen Brauen an.

»Lieber nicht. Aber bedank dich bei ihm für das Angebot. Luke ist nicht unbedingt der Mensch, von dem ich Ratschläge in Beziehungsdingen annehmen würde, obwohl er definitiv noch die Kurve gekriegt hat. Findest du nicht?«

»Und du willst dennoch mit mir darüber reden?«, hakte Aiden nach. »Ich habe in letzter Zeit keinen Treffer gelandet.«

»Ich vermute, du hattest einfach nicht genügend Gelegenheiten, Liebling«, stieß sie kichernd hervor. »Nun muss ich mich aber beeilen. Grüße alle von mir. Wir sehen uns in einer Woche, zehn Tagen oder so.«

»Sei bitte vorsichtig, Mom.«

»Hast du mich schon jemals unvorsichtig erlebt? Also, amüsier dich gut, bis ich da bin und die Familie mit meinem wilden Leben durcheinanderwirbele.«

Lachend verabschiedete sich Aiden von ihr. Dann warf er einen Blick auf Luke, der vor Wut zu kochen schien.

»Ich kann nicht fassen, dass du ihr gesagt hast, ich wollte, sie würde mit uns zusammenleben«, brüllte Luke.

»Hör mal, wenn du dir erlaubst, ihr Vorschriften darüber zu machen, was sie tun soll, dann musst du auch bereit sein, die Verantwortung für sie zu übernehmen. Das ist ein großer Schritt, Luke. Zum Glück hat sie kein Interesse daran.«

»Das glaube ich einfach nicht«, erwiderte Luke. »Unsere Mutter, die fast das Leben einer Nonne geführt hat, will nun mit einem presbyterianischen Pastor im Ruhestand in Sünde leben?«

Aiden zuckte mit den Schultern. »Sie ist über sechzig und er siebzig. Da läuft vermutlich nicht mal annähernd so viel, wie sie es vielleicht wünschen würden.«

Neben ihren schrecklichen Kopfschmerzen gab es noch eine Menge anderer Dinge, die Erin die gute Laune vermiesten. Zum Beispiel, dass man ihr die Haare am Haaransatz mitten auf der Stirn ein wenig wegrasiert hatte, um sie mit drei Stichen zu nähen. Zwar hatte sie nicht vor, ihr Versteck in den Bergen zu verlassen, trotzdem! Wenn es um ihre Haare ging, verstand sie keinen Spaß. Und nun befand sich an ihrer Stelle eine kleine kahle Stelle – wirklich hässlich.

Außerdem hatte sie keine Lust, eine Nacht im Krankenhaus in diesem Nachthemd zu verbringen. Wobei der Begriff Nachthemd für diesen Stofflappen maßlos übertrieben war und eine Beleidigung für alle herkömmlichen Nachthemden darstellte. Selbst ihre schlimmsten Heimwerkerklamotten sahen schicker aus.

Und dann hatte sie auch noch eine Zimmergenossin. Bei dieser Zimmergenossin, die nach einer Hysterektomie zwei Tage im Valley Hospital verbringen musste, schauten ständig Leute vorbei. Dabei war sie nur für zwei Tage hier und wohnte auch nur zehn Kilometer von der Klinik entfernt. Doch ihre gesamte, bescheuerte Familie musste sie unbedingt besuchen. Offenbar gab es keine Vorschriften, die regelten, wie viele Besucher jemand empfangen durfte.

Falls Erin diesen Penner jemals wiedersähe, würde sie ihm den Blumentopf auf den Kopf hauen.

Sie hatte von einer sehr gereizten Krankenschwester erfahren, dass er nicht unbedingt obdachlos, sondern nur gerade bei der Navy ausgeschieden war und dass er Verwandte in Virgin River besuchte. Dann war er also ein wohl respektabler, schlecht riechender, grässlich aussehender, arbeitsloser Mann, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als sich wie ein personifizierter Serienmörder an sie heranzuschleichen und zu Tode zu erschrecken.

Möglich, dass Erin generell etwas zur Miesepetrigkeit neigte. Die Idee, einen Sommer lang ganz alleine in die Berge zu flüchten, gehörte wahrscheinlich nicht unbedingt zu einer ihrer besten. Doch damals war ihr der Plan nur sinnvoll erschienen. Erin war eine Frau, die nie gelernt hatte, den Herausforderungen, die das Universum für einen parat hielt, mit einer heiteren, zenartigen Gelassenheit entgegenzutreten. Und es gab gute Gründe anzunehmen, dass sie dies wohl schnellstens nachholen sollte. Ein Sommer auf einem herrlich einsamen Bergkamm, weit weg von der kalifornischen Hitze und von jeglichen Verpflichtungen ihres Privatlebens, hätte sie eigentlich entspannen und runterkommen lassen sollen. Erin wollte unbedingt lernen, wie man relaxte und das Nichtstun genoss. Es war höchste Zeit, sich daran zu erinnern, dass sie sich das Leben, das sie führte, selbst ausgesucht hatte. Und sie hatte es eilig, ihr inneres Gleichgewicht zu finden. Außerdem war es billiger, als nach Tibet zu fliegen.

Dass Erin permanent unter Druck stand, konnte man durchaus logisch erklären. Ihre Angewohnheit, bei allem einhundertfünfzig Prozent zu geben, forderte ihren Tribut. Erin war gerade elf gewesen, da starb ihre Mutter. Und plötzlich hatte Erin sich in die Rolle der Frau im Haus gedrängt gefühlt. Außer ihr waren da noch ein trauernder Vater, die vierjährige Schwester Marcie und der zweijährige Bruder Drew. Erin war nicht alleine für ihre Geschwister verantwortlich. Denn ihr Vater war immer noch ihr Vater, wenngleich er sich seiner Aufgabe nach dem Tod seiner Frau weniger widmete. Tagsüber, wenn Erin in der Schule war, hatte ein Babysitter auf die zwei Kleinen aufgepasst.

Dennoch war Erin nach dem Unterricht immer nach Hause geeilt, weil sie außer der Kinderbetreuung noch Berge weiterer häuslicher Pflichten zu erledigen hatte. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie ihren Geschwistern die Mutter ersetzen musste, egal ob es ihr nun gefiel oder nicht. Als Drew und Marcie älter wurden, hatte sie sich tatsächlich mehr um deren Bedürfnisse und deren Leben gekümmert als um sich selbst. Vom Fußballtraining bis zu Klavierstunden hatte sie alles organisiert und ein Auge auf ihre schulischen Leistungen gehabt sowie versucht, dafür zu sorgen, dass etwas Ordentliches zu essen auf den Tisch kam, damit sie sich nicht ausschließlich von Junkfood ernähren mussten. Nur selten ging Erin aus, nie schien sie einen Freund zu haben, und sie sagte alle Schulveranstaltungen ab, egal ob es sich um Football- oder Basketballturniere oder Tanzveranstaltungen handelte. Trotz allem schaffte sie es aber immer, zu den Klassenbesten zu gehören. Sie hatte schon ganz früh in ihrem Leben entschieden, dass sie, wenn sie schon keinen Spaß haben konnte, wenigstens immer klug sein würde.

Als ihr Vater bei einer Routineoperation am Knie starb, war sie zweiundzwanzig, frischgebackene Jurastudentin und wohnte immer noch zu Hause, damit sie für ihre Geschwister, die inzwischen dreizehn und fünfzehn waren, da sein konnte. Erin hatte wieder die Verantwortung. Es hatte sich nicht so viel verändert, außer dass sie ihren Dad schmerzlich vermisste. Doch im Prinzip hatte sie nun noch mehr Verantwortung als vorher. Denn weil sie volljährig war, hatte sie nun auch noch das Sorgerecht.

Freunde und Kollegen bewunderten sie dafür, was sie alles schaffte. Nachdem ihre jüngeren Geschwister die Pubertät überlebt hatten, half Erin ihrer Schwester, die mit einem Marine verheiratet gewesen war, sich um ihren bei einem Einsatz im Irak schwer verwundeten Ehemann zu kümmern. Erin hatte ihren jüngsten Bruder durch das College und das Medizinstudium begleitet. Und während dieser Zeit hatte sie sich selbst einen Namen als Anwältin in einer sehr erfolgreichen Kanzlei gemacht. Die Lokalzeitung hatte sie, in einem recht kitschigen Artikel, als eine der bewundernswertesten und begehrtesten Singlefrauen der Stadt beschrieben – als perfekte, hinreißende Traumfrau mit brillantem Fachwissen in Steuer- und Immobilienrecht, die auch einen Haushalt managt; kurz: als eine Frau, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Über diesen Bericht musste Erin immer noch lachen. Sie konnte die Verabredungen der letzten Jahre an einer Hand abzählen – alle schrecklich langweilig.

Erin hatte erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Ihre kleine Schwester hatte wieder geheiratet und war von ihrem Mann, dem besten Freund ihres verstorbenen Ehemannes, schwanger. Gemeinsam lebten sie nun in Chico. Ihr jüngerer Bruder hatte das Medizinstudium mit Auszeichnung abgeschlossen und arbeitete als Assistenzarzt in Südkalifornien. Die fünfjährige Zeit als Assistenzarzt war hart und ließ ihm kaum Zeit für andere Dinge. Mittlerweile war Drew siebenundzwanzig, wohnte mit seiner Verlobten zusammen und wollte in den nächsten Jahren eine Familie gründen.

Erin hatte im Alter von sechsunddreißig bereits eine Menge erreicht; für sich, ihren Bruder und ihre Schwester, also all das, wofür sie so hart gearbeitet hatte. Weshalb hatte sie dann aber immer noch das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas Wichtiges fehlte?

Sollte es sich so anfühlen, wenn das eigene Leben endlich begann? So ungewiss und wackelig auf den Beinen wie ein kleines Rehkitz? Oder war sie, wie sie schon manchmal gefürchtet hatte, bereits am Ende der Fahnenstange angekommen? Gab es nichts mehr, das sie anstreben konnte? Angesichts des Babys, das Marcie erwartete, fühlte sich Erin eher als Großmutter denn als Tante. Sie spürte eine leichte Panik, weil sie keine Ahnung hatte, wie es nun für sie weitergehen sollte. Natürlich ließ sie, das beste Pokerface ihrer Branche, sich nichts anmerken.

Marcies neuer Mann, Ian Buchanan, hatte die Hütte als Schutthaufen hinterlassen, als er aus den Bergen wegzog, um mit Marcie nach Chico zurückzukehren. Erin hatte die Hütte gesehen. Eine ekelhafte kleine Bruchbude mit nur einem Zimmer, ohne Zentralheizung oder Sanitäranlagen, und nur einem kleinen Gasgenerator, der für spärliches Licht sorgte. Aber die Blockhütte stand ganz oben auf einem Bergkamm, und das dazugehörige große Grundstück bot eine fantastische Aussicht. Marcie und Ian hatten sie geliebt. Obwohl auch sie zugaben, dass ihnen die Hütte mit Wasseranschluss und elektrischen Leitungen noch lieber gewesen wäre, was sie sich jedoch nicht leisten konnten. Doch der Panoramablick, den man von dort oben hatte, war unbezahlbar.

Erin besaß ein bisschen Geld, für das sie hart gearbeitet hatte. Außerdem hatte sie das, was ihr Vater ihr in Form einer Lebensversicherung und Ersparnissen hinterlassen hatte, angelegt und investiert. Die Kanzlei, in der sie angestellt war, zahlte ihr zusätzlich zu dem fürstlichen Gehalt – was ihr geholfen hatte, ihre Geschwister durch die harten Zeiten zu bringen und ihnen die Ausbildung zu finanzieren – noch Sondervergütungen. Erin war der Meinung gewesen, dass es sich gelohnt hätte, die alte Hütte abreißen zu lassen, um etwas schönes Neues dort zu bauen. Einen Ort, den die Familie in den nächsten Jahrzehnten als Sommerferienhaus nutzen konnte. Allerdings hatte Ian gesagt: »Ob du es glaubst oder nicht, Erin, diese Hütte ist sehr solide. Sie könnte wahrscheinlich ein neues Dach gebrauchen, ein Bad und Elektroleitungen, aber was den Rest anbelangt, ist sie in einem ziemlich guten Zustand.«

Deshalb hatte Erin ihn gefragt, ob sie einen Bauingenieur kommen lassen dürfe, der sich das Ganze einmal anschaute und vielleicht instand setzen konnte. Sie hatte es sich verkniffen, ihm zu verkünden: Ich würde nicht mal ein Wochenende in dieser Bruchbude aushalten. Ians Lächeln hatte jedoch Bände gesprochen, als er erwiderte: »Tu dir keinen Zwang an!« Es hatte ihr verraten, dass sie ihre Vorbehalte nicht laut aussprechen musste.

Wie sich später herausstellte, hatte Ian recht: Die Hütte war zwar hässlich, aber die Bausubstanz vollkommen in Ordnung. Erin hatte sich im Internet ein paar Ideen für einen möglichen Umbau besorgt und den Job unter den ansässigen Bauunternehmen ausschreiben lassen. Ein Mann namens Paul Haggerty hatte ihr ein ordentliches Angebot gemacht. Außerdem war er in der Lage gewesen, über E-Mail und Telefon mit ihr zu arbeiten, und bereit, einen Vertrag zu unterzeichnen, der ihr den ersten Juni als Fertigstellungstermin zusicherte. Das war der Tag, an dem Erin einziehen wollte. Paul war sogar eher fertig geworden!

Erin war während der gesamten Bauzeit nicht ein Mal auf den Berg gefahren, um die Arbeiten zu überwachen. Das alleine hätte ihr eigentlich schon sagen müssen, dass sie das alles aus den falschen Gründen tat und dass die Sache nicht klappen würde. Mr. Haggerty hatte sie mitgeteilt: »Ich bin eine sehr beschäftigte Anwältin mit einem vollen Terminkalender bis zum ersten Juni. Dann nehme ich mir den ganzen Sommer frei. Es ist mein erster Urlaub seit zehn Jahren. Deshalb hätte ich gerne, dass alles pünktlich fertig ist.«

Es war eine verrückte Idee. Erin schien ohne vollen Terminkalender nicht zu funktionieren. Sie wusste gar nicht, wie man Urlaub machte. Jedes Mal, wenn sie einen Tag nicht arbeitete, wurde sie spätestens am Nachmittag zappelig.

Doch Erin war fest entschlossen, ihr Vorhaben umzusetzen. Sie würde verdammt noch einmal lernen, wie man sich entspannte. Sie würde lernen, wie man mit dem Alleinsein klarkam, und sich von dem Gefühl, nichts wert zu sein, wenn man nicht viel zu viel um die Ohren hatte, befreien.

»Klopf, klopf«, hörte sie eine leise Stimme sagen. Erin hatte die Vorhänge rings um ihr Bett herum zugezogen, um die Hysterektomie und deren verzweigte Verwandtschaft auszublenden. Die Vorhänge öffneten sich einen Spaltbreit, und das lächelnde Gesicht ihrer rothaarigen Schwester erschien. »Hast du was an?«

Erin richtete sich in ihrem Krankenbett auf. »Was machst du denn hier?«

»Die Krankenschwester aus der Notaufnahme hat mich angerufen. Du hast mich als deine nächste Verwandte angegeben. Erinnerst du dich?« Marcie betrat den winzigen Raum. Sie beugte sich ganz nah zu Erin hinunter und musterte den Verband an ihrer Stirn. »Hmm. Gar nicht übel«, fuhr sie fort. »Wie fühlst du dich?«

»Hässlich«, erwiderte Erin und zupfte an ihrer Krankenhauskluft. »Und ich habe Kopfschmerzen.«

Marcie lachte. »Das ist keins von diesen Schicki-Micki-Klinik-Hemdchen, was? Ich habe eigentlich davon gesprochen, dass deine Kopfwunde nicht so schlimm aussieht. Es ist nur ein kleiner Verband.«

»Und sie haben mir den Kopf rasiert!«

»Weniger als zwei Zentimeter, Erin. Nimm’s locker. Das wächst bald wieder nach.« Marcie setzte sich ans Ende des Bettes und strich sich mit den Händen über den gewölbten, schwangeren Bauch. »Dein Doktor hat erlaubt, dass wir dich, wenn wir die Nacht bei dir verbringen und deinen Zustand genau beobachten, mit nach Hause nehmen können. Ich fand, das ist Grund genug, um hier aufzutauchen. Ich habe schon geahnt, dass du keine Lust hast, im Krankenhaus zu bleiben. Warst du eigentlich schon jemals in einer Klinik? Ich meine, irgendwann in deinem Leben?«

»Bei Bobby«, antwortete Erin, wobei sie an Marcies früheren Ehemann dachte. »Da war ich häufig im Krankenhaus.«

»Als Patientin, Erin!«

Erin verdrehte die Augen und überlegte. »Nein«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Nein, ich glaube nicht. Das ist auch gut so. Es ist sehr langweilig, und ich komme mir wie ein Häftling vor.« Sie zupfte wieder an dem Kittel. »Die Krankenschwestern haben was gegen mich. Und, stell dir vor, sie brauchen nicht mal einen Hochschulabschluss, um so mit den Patienten umzugehen. Lieber Himmel!«

Marcie gluckste in sich hinein.

»Geht es dir gut?«, fragte Erin ihre kleine Schwester.

»Fantastisch. Es tut mir leid, dass du verletzt bist, aber ich kann es kaum erwarten, die Hütte zu sehen. Ich hoffe, sie ist nicht zu überkandidelt. Ich mochte die alte Hütte sehr gerne.«

»Du findest sie garantiert zu überkandidelt«, entgegnete Erin. »Sie ist total bewohnbar, also ganz anders als vorher. Es gibt Licht und alles. Wo sind eigentlich meine Sachen?«

»Ich suche sie. Bleib liegen.«

»Wo ist Ian?«

»Er sitzt im Schwesternzimmer, kümmert sich um die Entlassungspapiere und lässt sich erklären, worauf wir achten müssen. Ich glaube, wir sollen während der Nacht alle sieben Minuten überprüfen, ob du noch atmest. Du bist doch eine total unkomplizierte Patientin, oder?«

»Holt mich bloß hier raus«, bat Erin. »Sie müssten mir sonst noch einmal auf den Kopf hauen, damit ich auch nur eine Stunde länger hierbleibe.«

»Ich denke, Ian hatte recht.« Marcie fand Erins Kleider zusammengefaltet im Nachtschränkchen neben dem Bett. Wie auch ihre Schuhe und die Handtasche. »Wir retten eher die Krankenschwestern vor dir als umgekehrt. Ich wette, es ist nicht besonders spaßig mit dir als Patientin.«

Marcie brachte Erin in ihrem großen SUV nach Hause in die Berghütte, während Ian ihnen mit seinem Truck folgte. Er war beeindruckt davon, wie Erin die Hütte verändert hatte. Sehr edel, sehr Erin. »Herr im Himmel«, flüsterte er. »Als ich mir überlegt habe, das Haus zu renovieren, hatte ich die Installation eines Abwassertanks für die Toilette und solche Sachen im Sinn. Und jetzt sieh dir diese Luxusherberge an!«

»Gefällt sie dir? Gefällt sie dir wirklich? Der Teppich ist ein echter Aubusson, die Ledermöbel von Robb & Stucky; es gibt sogar einen Whirlpool, und was hältst du vom Kamin?«

Ian hatte keine Ahnung, wer oder was Aubusson oder Robb und wer-auch-immer waren. Er starrte auf die neu eingebauten, bodentiefen französischen Fenster in der Küche. Gleich draußen, am Westende der Blockhütte, gab es eine Sonnenterrasse, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte und von dem fantastischen Panoramablick profitierte. »Unglaublich, Erin. Dürfen wir die Hütte auch mal nutzen?«

Erschrocken blinzelte Erin. Sie wollten doch nicht etwa zur selben Zeit hier sein wie sie? »Ich dachte …, dass wir alle das Haus ab und zu nutzen könnten«, erklärte sie vorsichtig. »Ich meine, ich wollte wegen meines Sommerurlaubs nicht länger mit der Renovierung warten, aber, Ian, die Blockhütte ist immer noch dein Eigentum. Ich schätze, ich muss eher dich um Erlaubnis bitten, hier sein zu dürfen, und nicht umgekehrt.«

»Okay«, erwiderte er lächelnd. »Als ich Marcie geheiratet habe, habe ich ihre Familie mitgeheiratet, Erin, und was uns gehört, gehört auch dir. Du musst mich nicht um Erlaubnis bitten.« Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schaute sich um. »Ich kann einfach nicht fassen, dass du diese Blockhütte nur per E-Mail dermaßen umgestaltet hast! Das ist wunderbar!«

»Ich werde in Zukunft wohl lieber vorher fragen, ob ihr hoch zur Hütte fahren wollt, bevor ich weitere Pläne schmiede«, sagte sie.

»Er hat nur rumgealbert«, ergriff Marcie das Wort. »Ian, du bist so ein Blödmann. Wir verbringen alle gemeinsam hier Zeit. Und wenn Drew kommt, kann er im Schuppen schlafen.« Sie grinste.

»Aber gefällt es euch auch?«, wiederholte Erin ihre Frage.

»Ich finde es super!«, antwortete Ian. »Du hast die Hütte wunderschön hinbekommen.«

Marcie stieß eine Menge Ohs und Ahs aus, und Erin schien mit jedem Ausruf merklich aufzublühen. »Ich weiß gar nicht, wie wir es so lange ohne eine richtige Küche aushalten konnten«, stellte Ian fest und öffnete die Kühlschranktür. Als er in der Hütte gewohnt hatte, war der Raum nur mit einer Pumpe und einem Pumpenschwengel ausgestattet gewesen. Gekocht hatte er auf einem kleinen Campinggaskocher. Damals hatte er keine großen Ansprüche an sich und seine Umgebung gestellt. Das hatte nichts mit Selbstbestrafung zu tun gehabt, sondern eher mit Genügsamkeit und dem Willen, sich von Überflüssigem zu befreien. Mit je weniger er auskam, umso kompetenter hatte er sich gefühlt. Das war für Ian so etwas wie ein Test gewesen, für den er wie besessen gebüffelt und den er mit fliegenden Fahnen bestanden hatte.

Mittlerweile war Erin seit fast einer Woche hier oben. In ihrem Kühlschrank fand Ian Joghurt, Hüttenkäse, Eiersatzpulver, fettarme Milch, einen in dünne Scheiben geschnittenen Laib kalorienarmen Brots, Salatmischungen, Sellerie- und Karottenstifte, Äpfel, Käsescheiben, Tofu und Hummus. Sein Magen begann zu knurren. Ob Erin sich gut fühlt, wenn sie sich zu Tode hungerte? schoss es Ian durch den Kopf.

Und er fragte sich außerdem zum hundertsten Mal, was wirklich mit Erin los war. Ihre selbst gewählte Isolation in den Bergen und die Geschichte von den wohl verdienten Ferien ergaben keinen Sinn. Nicht für Erin.

»Ich koche heute Abend, okay?«, schlug er vor. Die beiden Frauen waren sich einig, dass das eine wunderbare Idee sei. Deshalb fuhr er fort: »Heute Abend kredenze ich euch etwas, das Preacher gezaubert hat. Ich fahre schnell nach Virgin River hinunter und besorge uns dort etwas zum Dinner.«

»Hm, ich achte auf meine Figur«, erklärte Erin überflüssigerweise. »Gibt es bei ihm auch etwas aus der Rubrik für die schlanke Linie?«

Preacher war der Koch aus Jack’s Bar, und er bereitete jeden Tag nur ein Gericht zu. Also ein Gericht zum Frühstück, eins zum Mittag- und eins zum Abendessen. Er kochte, worauf er Lust hatte, und es schmeckte immer fantastisch, allerdings war nichts davon kalorienarm. »Er ist in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft«, flunkerte Ian, während seine Frau ihm durch ihren Gesichtsausdruck zu verstehen gab, dass er sich schämen sollte.

Ian starb vor Hunger. Er brauchte etwas zu essen. Richtiges Essen, kein Kaninchenfutter. Andererseits konnte er Erin natürlich keinen Vorwurf machen, sie hatte ja nicht mit Besuch gerechnet.

»Mädels, genießt euer Wiedersehen«, wünschte er ihnen. »Ich bleibe nicht lange weg.« Und damit verschwand er in Richtung Stadt.

Als er die Bar betrat, begrüßte Jack ihn hocherfreut. »Hallo, Fremder! Lang ist’s her. Bist du mit Marcie zu Besuch hier?«

»So kann man es nennen«, erklärte Ian. »Wir hatten gar nicht vor, so bald schon wieder hier zu sein, vor allem jetzt, wo Erin in der Hütte wohnt. Aber sie hatte einen kleinen Unfall.«

»Was du nicht sagst? Was ist passiert?«

»Ein bescheuertes Missgeschick, vermutlich. Sie hat sich so abrupt aufgerichtet, dass sie sich den Kopf am Geländer der Sonnenveranda gestoßen und sich selbst ausgeknockt hat.«

Jack pfiff durch die Zähne. »Und dann hat sie euch angerufen, damit ihr kommt?«

»Nö, das Krankenhaus hat sich bei uns gemeldet. Sie haben gesagt, dass es ihr gut geht und dass sie nicht mit Komplikationen rechnen. Sie wollten sie trotzdem über Nacht zur Beobachtung dabehalten. Es sei denn, jemand würde sie abholen, nach Hause bringen und heute bei ihr bleiben.«

»Also hast du, als netter Schwager, sie erlöst.«

Ian lachte aus vollem Herzen. »Nein, Jack. Wir haben das Valley Hospital erlöst. Erin ist manchmal ein bisschen schwierig im Umgang. Kann ich ein kaltes Bier kriegen?«

»Na klar.« Jack zapfte ein kühles Blondes und stellte es vor ihm auf den Tresen. »Weißt du, Ian, wenn so etwas passiert, kannst du dich an mich oder Preacher wenden. Wir hätten schon jemanden gefunden, der sich um sie kümmert.«

»Danke, Jack. Ich hatte mir schon so etwas Ähnliches gedacht, doch Marcie hätte sich aus Sorge um ihre Schwester die Nacht um die Ohren geschlagen. Verstehst du, ihre Hormone spielen im Moment manchmal ein bisschen verrückt.«

Jack grinste. »Oh, das kenne ich. Wie geht es ihr?«

»Großartig. Einfach fantastisch. Wir bekommen im August einen Jungen. Sie ist wunderschön, erinnert mich an einen Zahnstocher, der eine Erbse verschluckt hat. Ein niedlicher Zahnstocher mit wilden roten Haaren.«

»Und du?«, fragte Jack. »Wie gefällt dir die Blockhütte?«

»Ich finde, Paul hat sich selbst übertroffen. Ich kann es kaum fassen, dass es dieselbe Hütte sein soll. Hast du sie schon gesehen?«

Jacks Grinsen wurde noch breiter. Er wischte kurz mit einem Tuch über die Theke. »Mein lieber Freund, wir sind hier in Virgin River. Was meinst du, was wir sonntags nach der Kirche machen – wir fahren durch die Gegend und wandern auf Baustellen herum, um Neu- und Umbauten zu besichtigen. Natürlich brauchten wir einen Führer, der einen Haustürschlüssel für deine Hütte besaß … Paul hat uns ein paarmal mitgenommen. Ich hoffe, das stört dich nicht. Er ist wirklich stolz auf den Kamin und die Sonnenterrasse.« Jack stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Du solltest dich mal fragen, wie du ohne diese Sonnenterrasse leben konntest.«

Ian lachte. »Selbst wenn ich an solche Verbesserungen gedacht hätte, hätte es noch Jahre gedauert, bis ich sie mir hätte leisten können. Um all diese Dinge zu verwirklichen, war schon jemand mit Erins Möglichkeiten nötig.«

»Wie kommst du mit dieser Dame klar?«, erkundigte sich Jack.

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