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Hier können Sie im Kreis gehen

Als Buch hier erhältlich:

Im Alter von 91 Jahren kommt der demente Witwer Johannes Kehr ins Pflegeheim. Nur: Seine Demenz ist vorgetäuscht. Im Heim hofft Kehr, seine Ruhe zu finden. Aber so einfach ist es nicht. Er beobachtet die schrulligen, nicht selten aggressiven Mitbewohner und die Nachlässigkeit der Pfleger. Seine vorgetäuschte Demenz nutzt er, um Desserts zu stehlen und Gehhilfen unliebsamer Nachbarn zu verstecken. Bald aber wird seine Schauspielerei anspruchsvoller; je vertrauter ihm das Heim wird, desto größer ist die Gefahr einer Enttarnung. Als zufällig seine Jugendliebe Annemarie auftaucht, flackert die alte Zuneigung erneut auf. Ein literarisch feinfühliges Debüt, beobachtungsstark und intensiv.


  • Erscheinungstag: 22.08.2016
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312009992

Leseprobe

 

 

 

1

 

Komm nur herein, mein Kätzchen, komm herein. Die Tür war wohl offen? Ich habe das Hörgerät nicht eingesetzt. Aber du gehst ohnehin auf leisen Pfoten. Das mag ich an dir. Hunde sind mir zu menschlich mit ihrem Gepolter, Gehechel und Gebell.

Erlaube, dass ich die Tür schließe. Wenn du rauswillst, melde dich. Ich lege mich hin. Heute bin ich müde, weiß der Kuckuck, warum. Ja, komm nur her. Leg dich zu mir. Wie schön du schnurrst, wenn ich dir den Nacken kraule. Lass dich von mir nicht stören. Ich denke und rede vor mich hin. Mein Schlaf kommt nicht so rasch wie deiner, und Denken ist eine gute Beschäftigung. Wo war ich? Selbst wenn der Kopf noch taugt, früher taugte er einfach mehr.

Was man von mir sagen würde. Das hatte ich mir gerade überlegt. Für viele die entscheidende Frage. «Verrückt», würde das Urteil lauten, wenn ich sie unter den Schleier blicken ließe. Einundneunzig Jahre alt, herzlos und verrückt. Aber so weit kommt es nicht. Der Vorhang bleibt unten. Bleibt sitzen, ihr Richter und Henker. Ihr sitzt so bequem. Ich habe das Gericht inzwischen durch die Hintertür verlassen. Aber an Nachschub für die Anklagebank mangelt es euch ja nie.

Ich habe lange zugeschaut. Als ich jung war, sah ich die Leute alt werden und verblassen. Sie entfernten sich scheinbar von mir, es war die Vergänglichkeit, die ich den Menschen ansah. Ich hatte alles vor mir. Mein Leben hatte noch gar nicht angefangen. Später sah ich die Menschen dann zu mir heranwachsen. Ich hatte sie überholt, und sie waren mir auf den Fersen. Und bald fühlte ich mich in die Enge getrieben. Den Weg nach vorn versperrte mir der Tod, der immer unverhohlener auf mich schielte, während er erst sporadisch, bald regelmäßig an die Türen meiner Bekannten klopfte. Er war mir ein altbekannter und doch nicht minder unsympathischer Begleiter.

Die meisten sehen es falsch. Sie glauben, die Alten würden abgehängt. Sie glauben, die Alten verlören den Anschluss, weil der Zahn der Zeit ihre Geister und Körper daran hindert, mit dem rasenden Fortschritt mitzuhalten. Das stimmt aber nicht. Der Fortschritt gestaltet nur die Kulisse. Und in diesem ewigen Trauerspiel liegen die Alten immer vorn.

Letzter Akt: die letzte Sünde. Anstatt ihre verbleibende Zeit in die Hand zu nehmen, anstatt nach vorne zu schauen, wie sie es früher immer wollten, drehen sie sich um. Sie schauen ihren Kindern und Kindeskindern beim Wettlauf zu und kommentieren jeden Atemzug. Viele sind so bösartig, ihre Verfolger anzufeuern, obwohl sie deutlich sehen, dass hinter der Ziellinie nur Ödland liegt.

Entschuldige, Kätzchen, du hast es dir bequem gemacht. Aber ich muss mich bewegen. Mein Rücken zwickt. Und die Schulter. Bleib du auf dem Bett, ich setz mich in den Sessel. Ein Hochzeitsgeschenk von meinen Schwiegereltern. Seit fünfundfünfzig Jahren habe ich ihn schon. Man sieht es ihm an. «Runter von Vaters Sessel!», schimpfte Ursula immer, wenn die Kinder darauf herumtollten. So ist es besser. Der Sessel ist meinen Körper gewohnt. Das Bett hätte da noch viel zu lernen. Aber es wäre wohl vergebene Müh.

Die Erinnerung bleibt. Die Erinnerung und, in meinem Fall, ein Sessel. Manchmal würde ich auch gern die Erinnerung verlieren. Obwohl, das ist dummes Geschwätz.

Genug geruht? Du bist jung. Was wären meine einundneunzig Jahre wohl in Katzenjahren? Ich mache dir die Tür auf. Auf Wiedersehen, Kätzchen. Danke fürs Gespräch. Ein besseres hatte ich lange nicht.

 

 

2

 

Sophie, diese Geschichte ist für dich. Ich erzähle sie dir, weil du sie nicht hören kannst. Du bist nur eine Fotografie über meinem Bett. Und dennoch stockt mir die Stimme.

Ich habe die Kamera aus dem Büro geholt und dich damit überrascht, wie ich dich jetzt mit meiner Geschichte überrasche. Du hast meine alte Fuji-Kamera geliebt. Ich habe sie dir vermacht. Du sitzt am Esstisch in meiner alten Wohnung. Dein Oberkörper ist gerade, du blickst mich an und lächelst. Vielleicht hast du im Flur meine Schritte gehört und dich gefreut, dass ich zurückkomme. Deine schulterlangen hellbraunen Haare sind locker zusammengebunden. Zwei Strähnen haben sich gelöst. Das warme Braun deiner Augen lässt sich auf dem Schwarzweißfoto nur erahnen. Einer deiner kleinen Silberohrringe ist zu sehen. Mir hat es immer gefallen, dass du so natürlich aussiehst, so ungekünstelt.

Du hast mich an dem Abend auch fotografiert. Erinnerst du dich? Es war der 2. September, Mitternacht und damit mein Geburtstag vorüber. Das war vor über einem Jahr. Mir kommt es vor wie ein Leben aus dem Geschichtsbuch. Die Biographie eines Toten. Franziska und Hans waren da gewesen. Hans hatte sich wie immer unwohl gefühlt und sich beim ersten günstigen Moment ins Wohnzimmer verdrückt und gelesen. Dort hatte er ausgeharrt, bis er mit Franziska nach Hause fahren durfte. Wir fühlten beide ähnlich bei solchen Zusammenkünften, dein Vater und ich, und doch kamen wir uns nie näher. Adrian wohnte neuerdings mit Freunden, und auch er sehnte den Abschied herbei, weil wahrscheinlich Aufregenderes als ein neunzigster Geburtstag des Großvaters wartete. Sebastian, das Küken, war im Austauschjahr in Amerika. Natürlich erinnere ich mich an die Namen.

Du bist noch geblieben, als die anderen gingen. Wie so oft. Und da wurde mein Geburtstag auch für mich ein Fest. Wir saßen am Tisch und tranken Kaffee und Slibowitz, den du mitgebracht hattest. Deine Nachbarin hatte dir die Flasche geschenkt. Sie war erst vor kurzem mit der Familie in die Schweiz gekommen. «‹Schliwowitza› nennen sie ihn dort», hast du mir erklärt. Ein Heilmittel gegen jegliche Schmerzen.

An meiner Kamera hat dir so gefallen, dass du dich auf die Fotos freuen konntest, weil sie erst entwickelt werden mussten. «Die Menschen haben keine Geduld mehr», hast du gesagt. Aber so geduldig warst du dann auch nicht, als du noch siebenmal auf mich gezielt und abgedrückt hast, um den Film zu füllen. Eine Porträtstudie hast du es genannt und mir erklärt, welche Effekte du mit der Blende und der Belichtungszeit erzielen wolltest. Obwohl wir beide mit ernsten Mienen unsere Rollen spielen wollten – du die professionelle Fotografin, ich das launische Model –, konnten wir unser Grinsen nicht immer unterdrücken. «Ich liebe dieses Geräusch», hast du vom Klicken gesagt. «Nicht so grimmig, Großvater. Lächeln!», und gleich darauf wolltest du mein grimmigstes Gesicht sehen. Nach dem letzten Bild hast du zurückgespult, versonnen und mit vorsichtigen Handgriffen. Und dann hast du den Film aus der Kamera geklaubt, mit mir geschimpft, weil die Plastikdose, in der man ihn aufbewahren sollte, verschwunden war, und ihn in deine Tasche gesteckt. Du hast mich angesehen, mit deinen guten Augen, die so tröstlich schauen können, mit der Hand dreimal auf deine Tasche geklopft und gesagt: «Vorfreude.» Ich habe gelacht und war stolz, weil du so klug und gut und schön bist. Und dann wurde ich traurig, weil ich an Paul denken musste. Und deshalb schenkte ich mir noch einen Schliwowitza ein.

Ich muss immer an Paul denken, wenn ich dich sehe. Du hast so viel von Paul. Was mich erstaunt, weil du Franziskas Tochter bist. Aber du hast eben auch, was Paul gefehlt hat. Und deswegen mache ich mir um dich keine Sorgen.

 

 

3

 

Am liebsten ist mir der Gedanke, dass ich es aus Liebe tue. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber das Leben hat mich gelehrt, dass die Liebe fast immer bloß die halbe Wahrheit ist. In meinem Fall ist auch eine gehörige Prise Eigennutz dabei, das gebe ich zu.

In unserer Gesellschaft werden ich und meinesgleichen als Gnadenbrotempfänger angesehen. Ich will das nicht verurteilen. Ich stelle nur fest, wie ich es empfinde. Für die Jungen ist es selbstverständlich, dass sie unsere Zügel in den Händen halten. Ich habe mir erlaubt, meine Zügel ein letztes Mal zu greifen. Und um sicherzugehen, dass mir niemand meinen Gaul lahm- oder meinen Hintern weichreden konnte, habe ich gesattelt, ohne jemandem davon zu erzählen, und bin in eine Richtung geritten, in die mir niemand folgen kann.

 

 

4

 

«Guten Morgen, Herr Kehr, haben Sie gut geschlafen?»

Er schaut sie an, sein Blick zuckt in alle Richtungen durchs Zimmer, ruht kurz auf dem verlassenen Bett, das hinter dem Vorhang hervorlugt. Dann richtet er ihn wieder auf sie.

«Ja, ich habe gut geschlafen», sagt er zögerlich. «Wer sind Sie? … Ich habe Sie schon einmal gesehen … ja … aber ich habe Ihren Namen … im Schrank, ja.»

«Ich bin Frau Feller, Herr Kehr. Ich bin hier, um Ihnen aus dem Bett zu helfen.»

«Aus dem Bett? … das Bett … das Bett, das Bett. Haben Sie meine Brille gesehen? Das ist nicht mein Bett. Das werde ich melden.»

«Schauen Sie, hier auf dem Nachttisch ist Ihre Brille. Hier. Ich gebe sie Ihnen.»

Herr Kehr setzt seine Brille auf, schaut sich wieder im Zimmer um und fährt mit kreisenden Bewegungen der rechten Hand durch seine weißen, noch dichten struppigen Haare.

«Kommen Sie», sagt Frau Feller, «ich helfe Ihnen auf.»

 

 

5

 

Wie wenig es doch braucht, um aus einem kahlen Zimmer sein eigenes Zimmer zu machen. Oder aus einem kahlen halben Zimmer mein etwas weniger kahles halbes Zimmer. Ein paar Fotos, einen Sessel, einen geknüpften kleinen Teppich auf dem Tisch und eine Brille auf dem Nachtschränkchen. Ein Foto meiner Familie an einer kahlen Wand macht sie zu meiner Wand. So schnell ein Zimmer aber zu einem persönlichen Zimmer wird, so schnell wird es auch wieder irgendein leeres Zimmer sein. Das Foto hängt, um mir zu sagen: Du sollst dich hier zu Hause fühlen. Ich antworte: Ich bin nirgends zu Hause. Ich bin nicht mehr von dieser Welt.

Es gibt Gebäude, die nach Geschichte riechen. Davon verstehe ich etwas. Ich habe gebaut und mich immer für Gebäude interessiert. Manchmal verschlägt einem die Geschichte fast den Atem, weil sie wie Weihrauch in die Nase steigt. Die Geschichte dieses Zimmers ist nur für feine und unerschrockene Nasen wahrnehmbar. Nasen, die den Geruch des Todes erkennen. Weiße Wände, marmorgrauer Linoleumboden, doppelverglaste Fenster mit weißen Rahmen. Das ist alles ziemlich geschichtsgeruchsneutral.

Hier sitze ich also und denke zurück. Es kommt mir vor wie ein Film. Wer mich kennt, hält das hier für den Epilog. Doch was sie für den Epilog halten, der mit dem Tod enden müsste, ist in Tat und Wahrheit ein neuer Film. Quasi eine optische Täuschung.

Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen ihr Ende dem Zufall überlassen. Dabei ist ein gutes Ende nicht zu unterschätzen. Und wenn es dafür zu spät ist, scheint es mir immer noch besser, den besten Zeitpunkt für ein schlechtes Ende selber zu wählen. Deshalb bin ich hier. Ich bin in guter Gesellschaft. Die Geschichten, die hier enden, enden alle schlecht.

 

 

6

 

Demenzstation, früher Nachmittag. Die meisten Pflegerinnen sind im Büro bei einer Besprechung. Vom offenen Esszimmer her, das auch zum Aufenthalt dient, ist die Stimme einer Pflegerin zu hören. Die Dementen, die auf Sesseln und Sofas sitzen oder herumgehen, sind unbeaufsichtigt. Die Tür des Aufzugs öffnet sich. Herr Kehr streckt langsam den Kopf heraus, schaut nach links und nach rechts. Ein alter, großgewachsener Mann, der eben am Lift vorbeischlurft, bleibt stehen. Eine dürre, kleine, runzlige Frau erhebt sich vom Sofa. Herr Kehr bittet den alten Mann mit einer einladenden Geste in den Lift. Die alte Frau folgt ihm. Jetzt winkt Herr Kehr einem Paar, das in der Nähe Hand in Hand auf einem Sofa sitzt. Die Frau steht, ohne zu zögern, auf. Der Mann bleibt sitzen und wirft der Frau einen verständnislosen Blick zu. «Komm, wir gehen», sagt sie. «In Ordnung, gehen wir», sagt er. Sie gibt ihm die Hand, und er erhebt sich mühsam. Dann erreichen sie mit erstaunlich schnellen Schritten den Lift. Die Tür schließt sich. Herr Kehr drückt die Null. Der Lift fährt ins Erdgeschoss. Der Gang ist menschenleer. Das Paar steigt zuerst aus und bleibt vor dem Lift stehen. Die dürre Frau wendet sich nach rechts und trippelt in Richtung Toiletten und Küche. Der große alte Mann schlurft nach links in die Cafeteria. Die Frau nimmt ihren Mann an der Hand und geht mit ihm geradeaus, durch die automatische Tür aus dem Gebäude hinaus. Herr Kehr geht die Treppe hinauf in den ersten Stock. Er blickt durch die Glastür. Als er sicher ist, dass ihn niemand sehen kann, betritt er seine Etage und verschwindet in seinem Zimmer.

 

 

7

 

Den Leuten ist alles suspekt, was ihnen nicht auf Anhieb bekannt vorkommt. Sagt Kunz das, was Hinz schon gestern gesagt hat, wird Hinz zufrieden gackern. Sagt Kunz etwas anderes, aber er sagt es im Tonfall, in dem auch Hinz redet, werden sie sich immerhin zuprosten. Hinz wird aber die Ohren anlegen und bedrohlich knurren, sollte Kunz ein paar Wörter gebrauchen, die er nicht kennt. Es heißt nicht umsonst: Was der Hinz nicht kennt, das hasst er.

Kätzchen, du bist zurück? Ich freue mich. Doch das heißt auch, dass Zimp die Tür offen gelassen hat, obwohl ich ihn gebeten habe, sie zu schließen. Er ist mir unerträglich. «Frische Luft», hat er beim letzten Mal gesagt. «Frische Luft», hörst du, Kätzchen? Was durch diese Tür kommt, ist fast immer faul. Dich nehme ich natürlich aus! Frische Luft kommt nur durchs Fenster herein, gemischt mit dem ewigen Gebimmel der Ziegenglöckchen. Und schon bist du wieder weg. Ein Kurzbesuch. Bin ich dir zu launisch?

Mich würden sie verrückt nennen. Und wer mich verrückt nennen würde, dem bliebe die Absurdität wahrscheinlich verborgen. Denn wenn einer einen für verrückt erklärt, weil dieser einen Verrückten spielt, dann liegt darin doch eine gewisse Absurdität, und erkennen würde er sie deshalb nicht, weil er sehr wahrscheinlich ein Idiot ist, so wie fast alle Idioten sind.

 

 

8

 

Dir fiel es wohl von allen am leichtesten, mich zu lieben, weil ich dich vergöttere, immer vergöttert habe, schon als ich dich nach deiner Geburt im Arm halten durfte. Weißt du noch, als wir einmal schätzten, wie oft ich dir die Geschichte unserer ersten Begegnung schon erzählen musste? Ich glaube, es war an Heiligabend vor drei oder vier Jahren. Nach langem Rechnen kamen wir auf hundertvierzig Mal. Am häufigsten, als du Kind warst. Aber auch, als du mit fünfundzwanzig deinen Freund verlassen hast. Wie hieß er gleich? Ich habe ihn gemocht. Du hast dich getrennt, weil er dich betrogen hat. Schade war es trotzdem. Ihr wart ein fröhliches Paar.

Ich will dir deine Geschichte noch einmal erzählen, Sophie. Sie verbindet uns. Sie hat uns von Anfang an verbunden. Bei deiner Geburt hast du zuerst nicht geschrien. Man machte sich schon Sorgen. Aber dann hast du deine Lungen gefüllt und in einer Verzweiflung losgebrüllt und nicht mehr aufgehört, bis allen angst und bange wurde. Der Arzt untersuchte dich, die Hebamme versuchte dich zu beruhigen. Aber du warst nicht zu beruhigen, du hast geschrien und geschrien.

Als deine Großmutter und ich ins Zimmer durften, hielt dich Franziska im Arm und redete mit dir. Ich schaute dich an und musste lachen. Die Hebamme warf mir einen entrüsteten Blick zu. Ich lachte weiter. Ich sah dich, ein winziges Wesen, ein kleines Häuflein Protest. Du schriest, so laut du konntest, und ich konnte dich verstehen. Und vielleicht hörtest du meinem Lachen an, dass du verstanden wurdest. Plötzlich hast du in deinem Geschrei eine kurze Pause gemacht. Franziska glaubte, meine Stimme könnte dich vielleicht beruhigen. Deshalb bat sie mich, dich in den Arm zu nehmen. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett und nahm dich, mein erstes Enkelkind. Und als ich dann mit dir geredet habe, wie Großväter mit ihren neugeborenen Enkelkindern reden, so gar nicht ihrem verwelkenden Äußeren entsprechend, da wurdest du ruhiger und ruhiger und bist schließlich eingeschlafen. So war das, Sophie. Wir haben von Anfang an zusammengehört. Wir haben uns von Anfang an zugehört. Wir haben einander von Anfang an verstanden und uns aufeinander verlassen.

 

 

9

 

Auf vieles kann man sich vorbereiten, auf manche Dinge nicht. Nicht auf die Empfindlichkeit bei Licht und Durchzug, nicht auf das laute Atmen, das feuchte Husten, den Auswurf, der geräuschvoll ins Becken gespuckt wird, nicht auf den üblen Geruch, bei dem man erschrocken den Atem anhält, den man sich nur flach einzuatmen traut, diesen unnatürlich schweren und fauligen Geruch nach Salben und Medikamenten, mit dem Zimp das Zimmer verpestet.

Ich war fahrlässig. Ich habe betont, dass ich ein Einzelzimmer möchte, als ich meinen Plan schmiedete und anfing, vom Pflegeheim zu reden. Das war ein entscheidender Bestandteil meiner Rechnung. Franziska hat die Heimleitung auch entsprechend informiert, als ich beschloss, es mit mir bergab gehen zu lassen. Aber dann zeigte sich, dass ich ein Detail übersehen hatte. Das Pflegeheim im Nachbardorf wurde saniert, das hatte ich nicht gewusst. Und dann war kein Einzelzimmer frei, als sich mein Zustand so stark verschlechterte, dass ich nicht mehr allein zu Hause leben konnte. Ich wurde «vorübergehend» in ein Zweierzimmer einquartiert. Franziska hat das akzeptiert. Sie hat nie gelernt, sich zu wehren. Und sie dachte wohl, so lange könne es nicht dauern, bis ein Einzelzimmer frei wird. Aber manchmal dauert es eben doch länger als erwartet, bis auf einer Etage einer stirbt. Ich stehe auf der Warteliste. Die Pflegeheimwartelisten ähneln den Organempfängerwartelisten. Manch einer stirbt, bevor er an die Reihe kommt. Muss man sich damit abfinden? Wir werden sehen.

 

 

10

 

«Maria, hast du Herrn Kehr gesehen?»

«Nein. Ist er wieder verschwunden?»

«Sieht so aus. Vor einigen Minuten saß er noch am Tisch und hat gegessen.»

«Vielleicht ist er wieder nach draußen», meinte Maria.

«Das kann nicht sein, er trägt doch jetzt den Sender.»

Maria zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Frau Matic schaute sich um. An einem der Tische saß Frau Cagliari, die sie neugierig anschaute.

«Haben Sie gut gegessen, Frau Cagliari?»

Frau Cagliari gab keine Antwort, schaute aber unverändert interessiert.

Etwas in Frau Matics Augenwinkel erregte ihre Aufmerksamkeit. Tatsächlich, der Vorhang bewegte sich. Als sie sich näherte, sah sie ein Paar Schuhe. Sie zog den Vorhang zurück. Dahinter stand Herr Kehr und blickte aus dem Fenster.

«Herr Kehr, was machen Sie hier, wir haben Sie überall gesucht.»

«Und was wünschen Sie von mir? … Was wünschen Sie?»

«Sie können nicht immer davonlaufen. Wir müssen doch wissen, wo Sie sind.»

«Ja. Ich bin da … Aber ich muss jetzt gehen. Ich muss weg. Sie warten. Sie warten auf mich … Und dann weiß ich nicht, ob das was bringt.»

«Kommen Sie, ich bringe Sie ins Gedächtnistraining.»

«Ich bleibe lieber hier. Ich habe noch einiges zu tun. Haha … Immer viel zu tun.»

 

 

11

 

Früher oder später wäre es ja sowieso passiert. Gerade mir. Mein Körper ist in Form, er wird es vermutlich noch sein, wenn im Oberstübchen der Mieter wechselt. Ich kann nicht sagen, dass ich mich nicht fürchte. Ich erwarte es, ja, blicke dem Unheil geradeaus ins Schreckgesicht und denke trotzdem, dass ich mein Leben lang gern gedacht und phantasiert habe. Damit ist es dann aus. Nun ja, mit dem Phantasieren nicht. Doch es wird ein anderes Phantasieren sein.

Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist. Mir war es wichtig, mich bei klarem Verstand zu verabschieden. Ich wollte mir die Welt nicht mehr antun. Und den Menschen, die mir noch geblieben waren, die mir etwas bedeuteten und denen ich etwas galt, wollte ich mich nicht mehr antun. Ich wollte sie von mir befreien, von meiner Negativität.

Einen reinen Tisch gibt es nicht, weil manche Flecken zu hartnäckig sind für die Lappen, die zur Verfügung stehen. Ich habe mich bemüht, beim Essen nicht zu viel Dreck zu machen. Dass es mal spritzt, kann aber doch keiner verhindern.

Immer wenn dem Schulwesen ein neuer Wind eingeblasen wird, dann erklingen Fanfaren und Warnpfiffe, und mir wird schlecht. Autorität und Antiautorität geben sich die Klinke in die Hand und merken nicht, dass unter beider Fittiche die einen Pflänzchen erblühen und lieblich duften, die anderen eingehen oder zu Krüppeln verwachsen.

Ich habe Fehler gemacht. Bei meinem Sohn Paul hatten sie schlimme Folgen. Er, der zeitlebens nur Auto gefahren ist, hat am frühen Abend des 18. Dezember 1985 zum Abschied den Zug genommen.

Die Pflänzchen sind ganz unterschiedlich. Wenn das eine gedeiht, kann das Klima für das andere gleichwohl ungünstig sein. Und einige von ihnen lassen auch bei optimalen Bedingungen das Köpfchen hängen.

 

 

12

 

Die Cafeteria ist leer. Nur an einem Tisch sitzt ein Mann im Rollstuhl. Er hat kein Getränk vor sich und schaut aus dem Fenster. Hinter der Theke räumt eine Frau den Geschirrspüler aus. Das Klirren von Geschirr und Besteck mischt sich mit Werbung und Musik aus dem Radio. Jetzt löst der Mann die Bremsen an seinen Rollstuhlrädern und rollt langsam auf den Tresen zu. «Wie immer?», fragt die Frau. «Ja», antwortet er. Sie versorgt ein paar Teller im Schrank und reißt fünf Lose von der Rolle bei der Kasse. Der Mann klaubt mit seinen großen, widerspenstigen Fingern Münzen aus dem Portemonnaie, das auf seinem Schoß liegt, bezahlt, nimmt seine Lose und rollt zum Tisch zurück. «Viel Glück», sagt die Frau. «Danke», sagt er. Er blockiert die Räder und legt die Lose auf den Tisch. Jetzt sucht er einen Zweifränkler heraus. Mit der zitternden linken Hand hält er das Los fest, mit der zitternden rechten Hand, die Münze krampfhaft zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, rubbelt er die Zahlen frei. Er rubbelt so lange, bis das ganze Feld bis in die Ränder freigelegt ist. Zuerst streicht er mit der Hand über das Los. Dann hebt er es mit beiden Händen vor den Mund, bläst letzte Krümel weg und hält es sich vor die Augen. Er schaut die Zahlen an. Dann legt er das Los zur Seite und nimmt sich das zweite.

 

 

13

 

Frühstück. Morgen für Morgen. Alles fein säuberlich vorbereitet und geplant. Bei Frau Fasser zwei Scheiben Schwarzbrot, die Rinde abgeschnitten. Aprikosenkonfitüre im Glasschälchen. Weichkäse würde sie zwar fürs Leben gern wieder einmal essen, sie betont es drei- bis viermal in der Woche. Aber es geht nicht. Sie hat eine Laktoseintoleranz. Das weiß sie auch. Frau Fassers Kopf ist noch beisammen. Daniels auch? Der Zivildienstler ist sich nicht sicher, ob er ihr Kaffeerahm oder Sojamilch in den Kaffee getan hat. Sie weiß es auch nicht. Sie sagt: «Es wird mich sicher nicht umbringen.» Aber dieses Risiko geht Daniel nicht ein. Der Kaffee wird vorsichtshalber ersetzt.

Frau Fasser will mit dem Käse übrigens nicht jammern. Sie will bloß ein bisschen in ihrer geliebten Weichkäsegenusserinnerung schwelgen. Sie ist überhaupt eine, die gern schwelgt und die dabei fröhlich wird. Da gibt es auch die anderen, die traurig werden, wenn ihnen eine Erinnerung kommt. Aber bei Frau Fasser kann von der Hummel über einen alten BMW auf dem Parkplatz bis hin zum Orange eines Pullovers alles ein «Oooh!» oder «Aaaah!» und die dazugehörige Erinnerung an ein Enkelkind oder an einen Hund entlocken, den sie einmal gehabt hat und der ein besonders lieber war.

Bei mir verhält es sich mit den Erinnerungen ein wenig anders als bei den anderen. Bei mir ist die Sache etwas komplizierter, um nicht zu sagen: paradox.

Das Frühstück ist die Zeit zwischen dem Nichts und dem Nichts. Auf dieses zweite Nichts folgt das Mittagessen, gefolgt von nichts bis zum Abendessen. Und danach das mächtigste Nichts, das bis zum Frühstück dauert.

O ja, die Nichts werden vom Gitarristen, der mit uns singt, oder dem fetten, schlechtrasierten Keyboard-Alleinunterhalter unterbrochen, der wahrscheinlich weder realisiert, dass sein Hemd seinen Bauch nur bis zum Bauchnabel bedeckt, noch, dass seine anzüglichen Zwischenwitze am größten Teil des Publikums vorbeizielen. Der Widmer ist meist der Einzige, der lacht. Dafür wiehert er wie ein geiler Gaul.

Mal macht man einen Ausflug und dreht seine Schlurf-, Hink- und Rollstuhlrunden am See statt im Garten. Man isst vielleicht sogar frittierten Fisch im Restaurant, wo sich manche Gäste an den Nachbartischen dann furchtbar anstrengen, nicht hinzuschauen, wenn der brabbelnden Frau Cagliari das Fisch-Kartoffel-Speichel-Püree zum Kinn hinunterrinnt und sich von dort in einem langen Faden den Weg auf die Bluse sucht. Das kann auch Daniel nicht verhindern, obwohl er sich bemüht, ihr nur kleine Bissen zu geben, und ihr immer wieder den Mund abwischt. Entweder verbirgt er seinen Ekel so gekonnt, wie ich verberge, was ich verberge, oder er ist wirklich ein Prachtjunge.

Wer bei Trost ist, und damit meine ich nicht, wer nicht dement oder irrsinnig ist, sondern wer unter den für geistig gesund Befundenen klar denken kann, und das sind wenige, der erkennt in all diesen Unterhaltungsbemühungen umso deutlicher das Nichts, das ihn umgibt. Es ist alles nichts, wenn die Zeit stillsteht. Und das muss man wissen: Nirgendwo steht die Zeit stiller als hier. Am Ende gehören deshalb auch die Mahlzeiten zum Nichts. Aber dabei gibt es wenigstens etwas zu essen.

 

 

14

 

Die Tür wird aufgerissen, das Geschrei hält an und ist nun auf dem Flur noch lauter zu hören. Einige Zimmertüren werden geöffnet, und verschreckte, zittrige Altmenschenköpfe lugen heraus. Herr Zimp sitzt aufrecht im Bett und brüllt Unverständliches. Tropfen kullern über seinen Glatzkopf, fallen von Ohrläppchen, Nasenspitze und Kinn, sein Pyjama und das Bett zeigen dunkle Flecken. Vor ihm, vor Zimps Bett, steht Herr Kehr, brüllt ebenso laut und unverständlich und schwenkt in der einen Hand einen Gehstock, in der anderen eine leere, noch tropfende Urinflasche.

 

 

15

 

Mein Weg führt über einen schmalen Grat. Es gilt, die Balance zu halten. Die Pflegerinnen sind zerbrechliche, unberechenbare Wesen. Meine Eskapaden bereiten mir Lust und ein schlechtes Gewissen. Es würde sich die Waage halten, wäre da nicht meine Lust am schlechten Gewissen. Und nicht zuletzt habe ich gegen die Langeweile anzukämpfen. Ich habe mein Einzelzimmer endlich erhalten. Das ist ein großes Glück, ein großer Erfolg. Ich brauche ein eigenes Zimmer, um mich ausruhen zu können, um in Ruhe Zeitung oder ein Buch zu lesen. Ich lese lieber Bücher. Aber die tägliche Zeitungslektüre, so aufwühlend sie ist, kann ich mir nicht abgewöhnen.

Es war nicht einfach. Erstens sind die Einzelzimmer begehrt und nur für Leute mit Ersparnissen erschwinglich, zweitens werden Demenzkranke normalerweise in Zweierzimmern untergebracht. Wenn sie nachts erwachen und nicht wissen, wo sie sich befinden, fürchten sie sich weniger, wenn sie nicht allein sind. Zumindest denkt oder hofft man das. Ich frage mich, ob ich mich, wenn ich schon nicht wüsste, wo ich bin, nicht noch mehr fürchten würde, wenn ich erwachte und einen Fremden in meinem Zimmer vorfände. Jedenfalls war mir der arme Zimp unerträglich.

Bei mir hat man eine Ausnahme gemacht. Jetzt gilt es, ein wenig leiser zu treten, meinen Ruf als harmloser Störenfried zu dämpfen. Absterben lassen darf ich ihn nicht. Sonst drohen Kontrolle und Bevormundung.

Das Angenehmste an Pflegeheimen ist, dass nur die wenigsten Insassen nachtragend sind. Dazu fehlt ihnen das Erinnerungsvermögen.

Heute spricht man von Pensionären. Ich verzichte auf diesen Euphemismus. Die wenigen Leute, die freiwillig in Pflegeheimen landen, werden spätestens nach ein paar Tagen zu Insassen. Und sollte es die eine oder der andere einmal schaffen, ein wenig länger Pensionär zu bleiben, wird die unweigerliche Degradierung zum Insassen nur umso demütigender sein. Und wenn die Insassen so dement sind, dass sie ihren Status nicht wahrnehmen, gibt es erst recht keinen Grund, sie Pensionäre zu nennen.

Es gibt ein Paar hier, die Fischers. Wunderbare Menschen. Sie bewohnen ein Doppelzimmer auf der Demenzstation. Wenn jemand mit ihnen spricht, sagt sie: «Es geht uns gut hier, nicht wahr?» Und er nickt munter und sagt: «Jaja, es geht uns gut.» Fünfzigmal pro Tag sagen sie ihr Sprüchlein auf. Und doch finden sie die Toilette in ihrem Zimmer nur, weil es eben bloß eine einzige weitere Tür im Zimmer gibt und die Toilette dahinter liegen muss. Und wenn sie die andere Tür öffnen, die zum Flur, dann treten sie ein in das Labyrinth, in dem sie Tag für Tag herumirren und doch nie heimisch werden. «Es geht uns gut hier, nicht wahr?» Man hört es hier und dort, auf der ganzen Etage. Wenn sie aus Zufall und Versehen in den Lift geraten, hört man es auch auf den anderen Etagen. «Jaja, es geht uns gut.» Und am Abend werden sie in ihrem Zimmer versorgt.

 

 

16

 

«Schauen Sie, Herr Kehr, hier können Sie sich setzen.»

«Wieso?»

«Es gibt Frühstück.»

«Ach was, Frühstück. Das glauben Sie ja selber nicht. Ich habe schon gegessen … Ich habe gegessen … Im Pfauen. Nein, ich habe keinen Hunger.»

«Der Appetit kommt mit dem Essen, Herr Kehr.»

«Wer sind Sie?»

«Ich bin Frau Feller.»

«Was für ein Teller?»

«Ich heiße Frau Feller.»

«Gut … Mein Name ist … ja, mein Name ist Kehr.»

«Wir kennen uns doch, Herr Kehr. Setzen Sie sich doch.»

«Wieso?»

 

 

17

 

Meine größte Angst war, dass ich dich zu sehr vereinnahmen, dass dein Pflichtgefühl sich als hässlicher Schleier um unsere Beziehung legen könnte. Ich habe dir nie gesagt, dass du mein Ein und Alles warst, meine Menschheit, meine Menschlichkeit. Solange ich Ferdinand, Ursula und dich noch hatte, war alles recht leicht.

Ursula war mein täglich Brot, das nie austrocknete. Kein warmes, duftendes Brötchen, das die Sinne verwirrt, kein französisches Croissant, nach dem man sich verzehrt. Ursula war keine Annemarie. Aber sie war nahrhaft und verlässlich. Ursula war gesund und lebenserhaltend. Besonders nach Pauls, aber auch nach Ferdinands Tod.

Ferdinand war mein letzter Freund. Wir waren ein ungleiches Paar. Die letzten Überlebenden aus einem ehemals stattlichen Freundeskreis. Ich lang und dürr, mit störrischem weißen Haar, er klein und rundlich mit seinen weichen, tiefschwarzen Locken, die die Kellnerinnen zu neckischen Sprüchen und zum Streicheln verleiteten. Wenn wir zusammen Wein tranken, goss dieselbe Flasche in sein Glas fröhliche Geselligkeit und in meines tröstliche Ablenkung.

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