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Hochzeit in Glenrae

Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Auf der Fahrt zu ihrem Sommerjob in den Highlands hat Jenna Wilde einen Unfall auf einer abgelegenen Straße. Zum Glück steht ihr Duncan Fergusson nicht nur als Zeuge, sondern auch als Helfer zur Seite. Und diesen Platz möchte er auch bald schon nicht mehr aufgeben.


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955760724
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Shírley Kemp

Líebesreíse nach Schottland

Hochzeít ín Glenrae

 

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Road to Paradise

Copyright © 1992 by Shirley Kemp

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Pecher & Soiron, Köln

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-072-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Jenna riss das Lenkrad herum, um dem Felsblock auszuweichen, der plötzlich in der letzten Biegung der Doppelkurve auf der Straße vor ihr auftauchte. Zu spät. Der Wagen traf mit der Fahrerseite krachend auf den Steinbrocken, schlitterte an den Straßenrand und blieb stehen.

Der Lärm, den der Zusammenstoß verursacht hatte, hallte im Tal wider.

Suzie war nach vorn geschleudert und durch den Aufprall wach geworden. Mit ihren großen blauen Augen blickte sie ihre Schwester entsetzt an.

“Oh Gott, Jenna! Was ist passiert?”

“Es lag nur ein Stein auf der Fahrbahn, Liebes”, sprach Jenna beruhigend auf das kleine Mädchen ein. “Kein Grund zur Aufregung. Bist du verletzt?”

“Das weiß ich nicht. Mein Kopf tut weh.”

“Wo?” Die Ruhe bewahren, ermahnte Jenna sich, als sie die Schwellung an Suzies Schläfe sah. “Tut es sehr weh?” Vorsichtig legte Jenna den Finger auf die Beule, die sich vor ihren Augen zu vergrößern schien.

Suzie zuckte zusammen. “Ein bisschen. Mein Kopf fühlt sich so komisch an.”

“Komisch? Fühlst du dich schläfrig?”

“Ja.” Prompt begannen Suzie die Augen zuzufallen.

“Nicht einschlafen.” Jenna versuchte, sich das Wenige in Erinnerung zu rufen, das sie über Erste Hilfe wusste. Musste man bei Gehirnerschütterung nicht darauf achten, den Verletzten wach zu halten? “Bist du sonst noch irgendwo verletzt?”

“Weiß nicht.”

Jenna beugte sich über das Kind, um es zu untersuchen, und verspürte einen stechenden Schmerz im linken Handgelenk. Ihre Finger waren taub und ließen sich nicht bewegen. Entsetzt stöhnte sie auf. Ein gebrochenes Handgelenk fehlte ihr gerade noch!

Im Moment galt ihre Hauptsorge jedoch der kleinen Schwester.

“Tut dir sonst noch etwas weh?” Mit der gesunden Hand tastete Jenna die schmale Gestalt des Mädchens ab. Als Suzie schläfrig sagte: “Nein, nur mein Kopf”, atmete Jenna auf.

“Gib dir Mühe, wach zu bleiben, Liebes. Jetzt müssen wir überlegen, was als Nächstes zu tun ist.”

Vorsichtig bewegte sie ihre Gliedmaßen. Bis auf das schmerzende Handgelenk schien alles in Ordnung zu sein. Sie versuchte, die Wagentür zu öffnen, doch die ging nur einen Spaltbreit auf, und neben der Tür auf der Beifahrerseite gähnte ein Abgrund.

Jenna ließ sich niedergeschlagen auf dem Sitz zurücksinken.

Suzie und sie saßen ganz schön in der Patsche. Die letzte Stunde Fahrt über die Landstraßen war ein Albtraum gewesen. Sie waren schmal, steinig und von tiefen Schlaglöchern durchzogen. Letztere stammten vermutlich von den Wassermassen, die als Folge der starken Regenfälle der letzten Tage von den steil aufragenden Felshängen heruntergebraust sein mussten. Vermutlich ist der Felsbrocken, der uns zum Schicksal geworden ist, durch den letzten schweren Regenguss losgeschwemmt worden, dachte Jenna. Schaudernd wurde ihr bewusst, dass sie in das unter ihnen liegende Tal gestürzt wären, wenn der Wagen noch etwas weiter nach rechts geschlittert wäre.

Sie schaute sich genauer um. Die Gegend wirkte trostlos, besonders jetzt, im Nieselregen. Das leicht überhängende Felsmassiv linker Hand verdunkelte die Fahrbahn, deren Außensenkung zwangsläufig den Wagen in Richtung Abgrund hatte rutschen lassen. Die Landschaft unterhalb zog sich kilometerweit öde und einförmig dahin, und die Aussicht, dass ein anderer Wagen über diese abgelegene Straße kam, schien äußerst gering zu sein.

Jenna seufzte schwer und versuchte, das Seitenfenster herunterzukurbeln. Sie musste sich unbedingt den Schaden ansehen. Vielleicht gelang es ihr, durch das offene Fenster ins Freie zu kommen, dann irgendwo im Tal ein Haus zu entdecken …

“Alles in Ordnung?”

Der Klang der tiefen Stimme und der Anblick der dunklen Gestalt, die unvermittelt neben der Fahrerseite des Autos aufgetaucht war, ließen Jenna zusammenzucken.

“Wie … wo …” Sie räusperte sich. “Was hat Sie denn hergetrieben?”

“Ich hörte es krachen.” Der Mann keuchte, als sei er eine ziemlich lange Strecke gerannt. “Ist jemand verletzt?”

“Meine Schwester Suzie hat eine Beule am Kopf, aber ich hoffe, es ist nichts Ernstes.” Schwach vor Erleichterung über die unerwartete Hilfe, fuhr Jenna fort: “Und mein Handgelenk hat etwas abbekommen. Sonst scheint uns nichts passiert zu sein.”

“Gott sei Dank.”

Sie blickte den Fremden forschend an. Sein Gesicht war zum Teil durch den hochgeschlagenen Jackenkragen verdeckt, dennoch sah sie, dass der Mann bleich war. Zudem wirkten seine Züge angespannt. In den dunklen Augen lag ein besorgter Ausdruck.

“Sehen wir uns erst mal das Kind an, danach kommt Ihre Hand an die Reihe.” Der Fremde ging um den Wagen herum zur Beifahrertür; das Auto stand gar nicht so nah am Abgrund, wie Jenna geglaubt hatte.

Suzie öffnete die Augen und blickte zu dem Mann auf, als er sich über sie beugte und die Beule an ihrem Kopf mit seinen kräftigen Händen abtastete.

Nachdem er keine weiteren Verletzungen feststellen konnte, erklärte er: “Ansonsten scheint alles in Ordnung zu sein. Aber mit der Beule am Kopf muss sie unbedingt zu einem Arzt.”

“Meinen Sie, sie hat eine Gehirnerschütterung?”, fragte Jenna. “Sie ist so teilnahmslos.”

“Auszuschließen ist das nicht. Hat sie Brechreiz?”

“Nein”, antwortete Suzie matt.

“Gut. Hoffen wir, dass sie Glück im Unglück gehabt hat.” Der Mann kam wieder zu Jenna herüber. “Lassen Sie mich einen Blick auf Ihr Handgelenk werfen.”

Sie überließ ihm zögernd ihre Hand. Er untersuchte sie geschickt, wobei seine kräftigen Finger erstaunlich sanft vorgingen.

Schließlich legte er Jenna die Hand in den Schoß. “Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist, aber ich bin kein Fachmann. Auch hier hat der Arzt das letzte Wort.”

Der Fremde musterte ihr Gesicht, und erneut bemerkte Jenna, wie angespannt die markanten Züge des Unbekannten waren. Sie hätte nicht sagen können, warum sie seinem Blick nicht standzuhalten vermochte und den Kopf senkte.

Nachdem der Mann die Tür weiter aufgezwängt hatte, stellte Jenna fest, dass er groß und kräftig war. Obwohl er gebückt dastand, füllte seine Gestalt die schmale Türöffnung. Die Abenddämmerung brach herein, und die glitzernden Tropfen in seinem dunklen Haar, das unter der Kopfbedeckung hervorlugte, ließen darauf schließen, dass es jetzt richtig regnete.

“Das Halstuch, das Sie tragen, eignet sich gut als provisorische Schlinge für Ihren Arm, bis der Arzt entscheidet, was zu tun ist.”

“Ich bin froh, dass Sie da sind”, gestand Jenna. “Und überrascht. Ich dachte schon, ich säße hier mitten in der Wildnis fest.”

“Das ist tatsächlich der Fall.” Der Fremde lachte rau auf. “Sie können von Glück sagen, dass ich in Hörweite war, sonst hätten Sie hier möglicherweise bis zum Morgen ausharren müssen. Glenrae liegt noch ein ganzes Stück von hier entfernt, und nachts fährt niemand auf dieser abgelegenen Bergstraße.”

Seine Finger fühlten sich kalt an Jennas Hals an, als er die Brosche öffnete, mit der sie das Halstuch zusammengehalten hatte. Sie erschauerte, und ihr Atem beschleunigte sich. Die Nähe des Mannes hatte eine seltsame Wirkung auf sie.

Er schien ihre Reaktion nicht zu bemerken. Fachmännisch knotete er das Halstuch zu einer Schlinge und legte sie Jenna an.

“So, das müsste reichen.” Er richtete sich auf und stemmte die Hände ins Kreuz, das nach der gebückten Haltung steif zu sein schien.

“Vielen Dank. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.”

Er machte eine abwehrende Handbewegung. “Keinen Dank.” Sein Lächeln wirkt gereizt, dachte Jenna und begutachtete das kantige Profil des Mannes. Wieder fiel ihr auf, dass sein Gesicht blass war.

“Ich werde Sie jetzt ein Weilchen sich selbst überlassen”, erklärte er. “Aber ich komme wieder. Bleiben Sie brav sitzen, und entspannen Sie sich.” Damit marschierte er davon.

Sie fragte sich, wer ihr Retter sein mochte und wieso er genau im richtigen Moment zur Stelle gewesen war.

Dann wandte Jenna ihre Aufmerksamkeit wieder Suzie zu, die sich in den Sitz gekuschelt hatte und schlief. Jenna überlegte, ob sie ihre Schwester wecken sollte. Die Beule schien sich jetzt zu ihrer vollen Größe entwickelt zu haben, war stark verfärbt, doch Suzies Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und die Kleine atmete ruhig. Jenna bettete sie bequem an sich, lehnte sich zurück und wartete auf die Rückkehr des Fremden. Der Himmel wurde immer dunkler, und ein scharfer, kalter Wind blies durch die Tür herein. Bald zitterte Jenna vor Kälte, vermutlich auch, weil die Schockreaktion verspätet eingesetzt hatte. Mit der gesunden Hand zog Jenna die Jacke fester um sich. Endlich durchbrachen Autoscheinwerfer die Dämmerung, und ein Wagen näherte sich. Jenna war von dem hellen Licht geblendet, doch sie erkannte die Silhouette ihres Retters, der aus einem Land Rover stieg.

Der Mann kam zu Jenna herüber und zwängte die Tür noch etwas weiter auf. “Tut mir leid, dass Sie warten mussten”, sagte er, während Jenna Suzie wieder auf ihren Platz bettete. “Mein Wagen stand weiter entfernt, als ich geglaubt hatte. Als ich den Aufprall hörte, war ich nur von dem Gedanken beherrscht, herzukommen. Da bin ich den Steilhang heraufgekraxelt, statt um ihn herumzufahren.”

“Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.” Jenna begann, den Arm mit der Schlinge durch die Türöffnung zu manövrieren, und verzog das Gesicht.

“Seien Sie vorsichtig.” Der Mann legte ihr seinen rechten Arm um die Taille, mit der linken Hand stützte er Jennas Ellenbogen, um das Handgelenk ruhig zu halten.

Bei der Berührung überlief Jenna ein elektrisierendes Prickeln. Sie biss sich auf die Lippe und konzentrierte sich ganz auf das Aussteigen. Sobald sie draußen war, gaben ihre Beine nach. Sofort verstärkte der Fremde den Griff und drückte Jenna an sich.

“Sie scheinen stark geschwächt zu sein.” Die Stimme des Mannes klang sanft.

“Das ist vermutlich der Schock”, erklärte sie verlegen. “Normalerweise bin ich nicht so zimperlich.”

Er lachte auf. “Das glaube ich Ihnen.”

Jenna war nicht sicher, wie sie das verstehen sollte, dachte aber nicht darüber nach. Selbst sein Lachen ging ihr unter die Haut, und sie fragte sich, warum sie auf diesen Unbekannten so stark reagierte.

Besser, sie hielt ihn auf Abstand. “Ich … glaube, ich komme schon allein zurecht.”

Als der Fremde sie losließ, begann sie zu schwanken.

“Das werden wir gleich haben!” Er hob sie auf, und sie kämpfte gegen das Bedürfnis an, den Kopf an seine Wange zu legen. Sie fühlte sich verletzlich und trostbedürftig. Der plötzlich finstere Gesichtsausdruck des Mannes vertrieb diese Empfindungen jedoch.

“Sie können mich absetzen”, sagte sie kühl. “Es geht mir wieder gut.”

Er überhörte ihre Worte und trug sie mühelos zu seinem Fahrzeug, wo er sie auf den Beifahrersitz hob. Dann ließ er sie allein und kam gleich darauf mit Suzie auf den Armen zurück, die immer noch schlief. Er legte das Mädchen behutsam auf den Rücksitz.

Jenna drehte sich besorgt zu ihrer Schwester um und betete stumm, dass ihr nichts weiter passiert sein möge. Das letzte Jahr war für sie beide traurig genug verlaufen.

Energisch schob Jenna den düsteren Gedanken beiseite und versuchte, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Sie schienen beide mit einem blauen Auge davongekommen zu sein und konnten von Glück sagen, dass der Fremde sie gefunden hatte.

Er glitt neben Jenna hinter das Lenkrad. “Ihr Wagen kann über Nacht hier ruhig stehen bleiben”, erklärte er und machte sich daran, den Land Rover auf der schmalen Straße zurückzusetzen. “Morgen kümmere ich mich darum, dass er geholt und der Felsbrocken aus dem Weg geräumt wird.”

Er klang energisch und sachverständig, und Jenna kam zu dem Schluss, dass er es gewöhnt war, die Dinge in die Hand zu nehmen.

“Danke”, erwiderte sie etwas kleinlaut.

Die Fahrbahn wurde breiter, sodass er wenden konnte. Mit angehaltenem Atem verfolgte Jenna, wie sie einen Moment am Rande des Abgrunds zu schweben schienen. Doch der Fremde schlug das Lenkrad geschickt ein, und bald ließen sie die Unglücksstelle hinter sich. Jenna hätte sich gern mit dem Unbekannten unterhalten, aber er machte ein finsteres Gesicht und widmete seine Aufmerksamkeit ganz der Straße. Er scheint kein Mann überflüssiger Worte zu sein, dachte sie. Also saß sie still neben ihm und überließ sich den gleichförmigen Bewegungen des Geländewagens, dabei war sie sich der Nähe des Mannes überstark bewusst.

Er war groß und breit gebaut und beanspruchte so viel Platz, dass seine Schulter Jenna fast berührte. Selbst durch den dicken feuchten Stoff seiner Jacke meinte sie die Schwingungen zu spüren, die von dem Fremden ausgingen, und war versucht sich an ihn zu lehnen.

Das schockierte sie. Sie war doch sonst nicht der Typ, der nach einer männlichen Schulter Ausschau hielt, wenn etwas schiefging!

“Was führte Sie eigentlich auf diese abgelegenen Nebenstraßen?”, hörte Jenna ihren Retter plötzlich missbilligend fragen.

“Ich werde in Glenrae erwartet”, erwiderte sie. “Meine Tante und mein Vetter besitzen dort eine Reitschule. Meine Schwester und ich wollen dort während der Sommermonate aushelfen.”

Ihr entging nicht, dass die Haltung des Fremden plötzlich steif wurde. “Heißt das, dass Ihre Tante Louise Anderson ist?”, erkundigte er sich und presste die Lippen zusammen.

Er scheint nicht gut auf Tante Louise zu sprechen zu sein, dachte Jenna. “Ja”, bestätigte sie vorsichtig. “Kennen Sie sie?”

Der Mann lachte zynisch. “Oh ja, das kann man wohl sagen.” Der Ton, in dem er das äußerte, sprach Bände.

Jenna überlegte. “Sind Sie … ein Nachbar?”

Er warf ihr einen forschenden Blick zu, der sie noch mehr verunsicherte.

“Ich bin Duncan Fergusson. Und man könnte mich wohl als Nachbarn bezeichnen, wenn auch nur als entfernten.”

Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Straße, und Jenna stellte weitere Überlegungen an.

“Wohnen Sie in Glenrae?”, versuchte sie dann, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

“Ja. Aber einige Kilometer außerhalb des Ortes. Gott sei Dank, kann ich nur sagen.” Wieder blickte Duncan Fergusson Jenna von der Seite an. “Sie waren noch nie hier?”

“Nein. Ich habe meine Tante seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht, seit sie wieder geheiratet hat. Damals war ich noch ein Kind.”

“So viele Jahre können es dann auch wieder nicht sein”, stellte Duncan Fergusson, nun fast amüsiert, fest. “Sie sind ja auch jetzt noch ein halbes Kind.”

Jenna richtete sich kerzengerade auf. “Ich werde demnächst vierundzwanzig. Von halbem Kind kann also keine Rede sein.”

Er lachte. “Natürlich, da haben Sie recht. Vierundzwanzig ist uralt. Aber Sie wirken nicht so.”

“Danke.” Jenna hatte da ihre Zweifel. Wenn man ihr ihr Alter nicht ansah, war das ein Wunder nach all dem Kummer, den sie in der letzten Zeit durchgemacht hatte.

Duncan Fergussons Lachen ermutigte Jenna zu der Frage: “Was für ein Ort ist Glenrae?”

Er dachte einige Augenblicke nach, ehe er antwortete: “Nun, ich würde sagen, ein Dorf wie andere auch. Ein Nest, in dem jeder jeden kennt.” Er gab einen verächtlichen Laut von sich. “Und jeder alles über jeden weiß, wie Sie zweifellos bald herausfinden werden.”

Jenna schwieg, und er wandte sich ihr erneut zu und betrachtete sie kurz. “Wie heißen Sie?”

“Jenna Wilde.” Sie deutete auf das schlafende Kind. “Und das ist meine Schwester Suzie.”

“Sehr leichtsinnig von Ihnen, bei hereinbrechender Dunkelheit auf diesen tückischen Nebenstraßen zu fahren. Kein vernünftiger Mensch hätte sich das getraut. Aber nun, Vernunft scheint ja auch nicht gerade zu den Stärken Ihrer Familie zu gehören.”

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie Duncan Fergusson geohrfeigt. Langsam zählte sie bis zehn, dann erwiderte sie mühsam beherrscht: “Ich habe seit dem frühen Morgen am Steuer gesessen. Bis Glenrae war es meiner Rechnung nach nur noch eine Stunde, und wenn ich nicht das Pech gehabt hätte, den Felsbrocken zu erwischen, wäre ich vor Einbruch der Dunkelheit dort gewesen.”

Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme leicht zu zittern begonnen. Eine Pechsträhne verfolgte Jenna nun schon seit geraumer Zeit. Durch eine ebenso unglückliche Fügung hatte sie ihren Posten als Lehrerin verloren. Um das Maß voll zu machen, kam ihr barmherziger Samariter ihr in dieser unerfreulichen Situation nun auch noch mit Vorhaltungen.

“Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe dankbar, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich oder Mitglieder meiner Familie zu kritisieren.” Jenna sah ihn kampflustig an.

Duncan Fergusson wandte sich ihr zu. Der grimmige Ausdruck in seinen Augen war verschwunden, und in ihnen lag jetzt fast so etwas wie Anerkennung. “Sie scheinen mehr Rückgrat zu haben als die meisten von ihnen.”

Damit widmete er sich wieder der Straße und schwieg.

Jenna wusste nicht, wie sie das verstehen sollte, aber sie hütete sich, Duncan Fergusson um eine Erklärung zu bitten. Außerdem musste er sich jetzt voll auf das Fahren konzentrieren, weil die Fahrbahn erneut schmal und felsig wurde.

Erst nach einer ganzen Weile erkundigte Jenna sich: “Ist es noch weit bis zum Haus meiner Tante?”

“Ja. Aber es dauert nicht mehr lange, bis wir bei meinem sind, wo Sie übernachten werden. Ich werde Dr. McRae kommen lassen, damit er Ihre Schwester untersucht. Bei der Gelegenheit kann er sich auch Ihr Handgelenk ansehen.”

“Ich möchte Ihnen keine Mühe machen”, wehrte Jenna ab.

“Das ist keine Mühe.”

Sie waren an einer Gabelung angekommen. Duncan Fergusson verlangsamte das Tempo und hielt sich links. Es schien jetzt leicht bergauf zu gehen, und sie näherten sich erneut dem Felsmassiv. Jenna überkam plötzlich das beunruhigende Gefühl, einen unsichtbaren Punkt zu überschreiten, nach dem es keine Umkehr mehr gab.

“Ich möchte aber lieber zu meiner Tante nach Glenrae.” Jenna versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen, und setzte rasch hinzu: “Wenn es Ihnen nichts ausmacht.”

“Es macht mir etwas aus.” In dem schwachen Licht sah sie, dass Duncan Fergussons Züge hart wurden. “Ich bestimme, wohin wir fahren, es sei denn, Sie wollen aussteigen und laufen.”

Einen Moment war Jenna versucht, genau das zu tun, doch dann erkannte sie, dass ihr wegen Suzie nichts anderes übrig blieb, als im Wagen zu bleiben. Die Grobheit ihres Retters ärgerte Jenna zwar, aber sie war nun einmal auf ihn angewiesen.

Unauffällig betrachtete sie ihn von der Seite. Er hatte eine kräftige, kühn geschwungene Nase, ein kantiges Kinn und einen vollen, breiten Mund, der Jenna einfühlsam und sanft erschienen war, als Duncan Fergusson ihr Handgelenk untersuchte, doch jetzt bildeten seine Lippen eine harte Linie.

Er blickte geradeaus und sprach nicht mehr. Offenbar glaubte er, alles Notwendige gesagt zu haben. Jenna wäre es lieber gewesen, sie hätte sich mit ihm irgendwie auseinandersetzen können, um nicht kampflos klein beigeben zu müssen. Jetzt konnte sie nur hoffen, irgendwann Gelegenheit zu haben, ihm zu zeigen, dass sie sich sonst nicht so schnell geschlagen gab.

Sie behielt ihre Rachegedanken für sich und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Wenig später nickte sie ein.

Jenna erwachte, als der Wagen zum Stehen kam. Entsetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Kopf an Duncan Fergussons Schulter lag. Hastig richtete sie sich auf.

Duncan Fergusson schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spähte Jenna aus dem Wagenfenster und konnte ein mächtiges Gebäude ausmachen. Sie hatte irgendwie eine Hütte oder ein Farmhaus erwartet und war auf einen so herrschaftlichen Bau nicht vorbereitet.

Ihr Retter half ihr beim Aussteigen. “Soll ich Sie wieder tragen?”, erbot er sich ironisch.

“Nein, danke.” Jenna gab sich würdevoll. “Ich komme allein zurecht.”

“Gut.” Damit schien die Sache für Duncan Fergusson abgetan zu sein.

Er wandte sich Suzie zu, die auf dem Rücksitz immer noch schlief, und berührte sie sanft. Das kleine Mädchen begann sich zu rühren und öffnete verschlafen die Augen. Jenna beobachtete, wie Duncan Fergusson zögerte, als widerstrebe es ihm, die zarte, kleine Gestalt aufzuheben. Doch dann nahm er sie auf die Arme, und Jenna fragte sich, ob sie sich das Zögern nicht nur eingebildet hatte.

Er trug Suzie auf das Haus zu. Jenna folgte ihm halbherzig und hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Der Aufenthalt in Schottland, von dem sie sich eine erfreuliche Abwechslung versprochen hatte, schien sich plötzlich zu einem fragwürdigen Abenteuer zu entwickeln.

Duncan Fergusson führte Jenna in eine große warme Küche, in der eine mollige Frau an einem mächtigen schwarzen Herd stand.

“Ah! Master Duncan! Wir haben uns schon gefragt, wann Sie zum Abendessen kommen …”, setzte sie an und verstummte, als sie Suzie auf den Armen ihres Arbeitgebers entdeckte. “Du meine Güte, wen haben wir denn hier?”

“Zwei junge Damen, die auf der Gebirgsstraße einen Unfall hatten, Annie”, erklärte er und reichte ihr das Kind. “Ich gehe Dr. McRae anrufen. Lassen Sie Mary die Kleine ins Bett bringen, und sehen Sie zu, dass Sie für Miss Wilde eine Schale Suppe oder sonst etwas auftreiben.”

Jenna hörte sich die Anweisungen in stillem Zorn an. Duncan Fergusson verfügte über ihre Schwester und sie wie über zwei Obdachlose, die er unterwegs aufgelesen hatte.

“Ein Unfall, sagen Sie?” Die Frau namens Annie drückte Suzie an sich und betrachtete sie mitfühlend. “Ist das Kind schwer verletzt?”

“Keine Angst, Annie.” Duncan Fergusson legte ihr erstaunlich sanft die Hand auf die Schulter. “Soweit ich feststellen konnte, ist nichts weiter passiert. Aber ich bestelle Dr. McRae trotzdem her, um ganz sicherzugehen.” Damit verließ er die Küche, ohne Jenna eines Blickes zu würdigen.

Sie unterdrückte ihre Verärgerung und sah sich um.

“Setzen Sie sich doch, meine Liebe”, forderte Annie Jenna auf. “Ich bringe die Kleine zu Mary, dann komme ich wieder und kümmere mich um Sie.”

Die Frau verließ mit Suzie auf den Armen die Küche. Von einer seltsamen Mattigkeit überwältigt, sank Jenna auf einen Stuhl am warmen Herd. Annies Versprechen, sich um sie zu kümmern, hatte eine Saite in ihr zum Klingen gebracht. Es war so lange her, dass jemand sich ihrer angenommen hatte.

Sie lehnte sich zurück und ließ sich von der Müdigkeit übermannen. Nach einer Weile hörte sie ihren Retter sprechen, aber ihre Lider waren so schwer, dass es ihr nicht gelang, sie zu öffnen.

“Es sieht so aus, als kämen Sie mit der Suppe zu spät, Annie. Sie schläft.”

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