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Honigduft und Meeresbrise

Als Buch hier erhältlich:

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»Anne Barns schenkt ihrer Lesergemeinde mit „Honigduft und Meeresbrise“ ein neues mitreißendes, spannungsgeladenes Buch.« Land & Meer

Geliebte Martha, von dir zu lesen, gibt mir unendlich viel Kraft! – So beginnt der Brief, den Anna in Händen hält. Die mit Tinte auf vergilbtem Papier geschriebenen Buchstaben sind noch immer gut sichtbar. Trotzdem fällt es Anna schwer, die geschwungene Schrift zu entziffern. Nur am Datum gibt es keine Zweifel: Dezember 1941. Vor fast achtzig Jahren wurde dieser Brief an ihre Urgroßmutter adressiert, und doch hat Anna ihn eben erst gemeinsam mit ihrer Oma geöffnet. Eigentlich will sie mit ihrem Besuch bei Oma den Verlust ihrer besten Freundin verarbeiten, die bei einem Unfall ums Leben kam. Aber dann führt der Brief Anna schließlich nach Ahrenshoop, wo sie hofft, Antworten zu finden …

  • »Anne Barns erzählt von Freundschaft, die Stürme überdauert, und von Geheimnissen, die gelüftet werden müssen, um zurück zu einem erfüllten Leben zu finden.« Nordsee-Zeitung zu »Apfelkuchen am Meer«
  • »Gefühlvoll und Mitreißend.« Cellesche Zeitung zu »Drei Schwestern am Meer«

  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001400

Leseprobe

Für meine Familie

1. Kapitel

Schon als Kind war ich fasziniert von Omas Bienen. Ich konnte mich stundenlang im Schneidersitz vor die Bienenstöcke setzen, um die Fluglöcher zu beobachten. Oder ich habe mich lang auf der Wiese ausgestreckt und einfach nur zugehört. Auch heute noch freue ich mich darauf, etwas Zeit in ihrer Nähe zu verbringen, wenn ich meine Oma besuche.

Ich drücke das Gartentor auf und gehe den Weg hinunter bis zur hohen schmalen Tanne. Ein paar Meter neben mir stehen vier Bienenvölker auf der Wiese. Das Summen der kleinen fleißigen Tierchen klingt höher als sonst. Ihre Flügel schlagen schneller, sie sind aufgeregt.

»Na, meine Schönen«, sage ich. »Sucht ihr euren Honig?«

Mein Blick schweift zum Schleuderhäuschen, das Opa für Oma aus der Garage gebaut hat, nachdem er seinen Führerschein abgegeben hatte.

»Endlich bekommt deine Großmutter ihren Platz nur für sich und ihre Immen«, hat Opa damals lächelnd zu mir gesagt. Die Honigernte und Omas seligen Blick beim Schleudern der Waben hat Opa nur ein einziges Mal miterleben dürfen. Denn kurz nach der Fertigstellung des schnuckeligen Backsteinbaus stellten sich Opas Magenschmerzen als Karzinom heraus. Er starb ein knappes Jahr später – drei Wochen nachdem auch Mona, meine beste Freundin, uns völlig überraschend für immer verlassen hatte.

Manchmal ist das Leben ein Arschloch, denke ich und gehe weiter.

Die Tür des Schleuderhäuschens steht einen Spaltbreit offen. Der süße und schwere Duft von Honig strömt mir entgegen, vermischt sich mit der warmen Frühlingsluft und lässt mich erneut einen Moment innehalten. Ich schließe die Augen und atme tief durch die Nase ein.

»Jetzt trödele nicht und komm rein!« Die immer etwas kratzig klingende Stimme meiner Oma holt mich zurück aus meiner kleinen Sinnesreise. Und schon im nächsten Moment fliegt die Tür auf. »Ich habe gerade angefangen. Drehst du die Schleuder?« Oma hält die Entdecklungsgabel hoch und fuchtelt ungeduldig damit in der Luft herum. »Das bekomme ich mit meiner lädierten Schulter nicht mehr hin.«

Omas Anblick zaubert ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Seit ich denken kann, trägt sie ihr nunmehr graues Haar zu einem kinnlangen Bob geschnitten. Heute hat sie sich den langen Pony aus dem Gesicht frisiert. Die zwei mit glitzernden Strasssteinchen besetzten Clips, die ihre Haare halten, passen allerdings rein gar nicht zu ihrem restlichen Outfit.

Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange.

»Scharf siehst du aus.« Oma trägt ein weißes Männer-Feinrippunterhemd. Die weit ausgeschnittenen Trägerärmel bieten einen tiefen Einblick auf den hautfarbenen BH, der ihren blassen vollen Busen stützt. Gesicht, Arme und Dekolleté sind von der Arbeit im Garten braun gebrannt. Die letzten Tage waren richtiggehend heiß. Oma nimmt, genau wie ich, schnell Farbe an. Das Rippenshirt hat sie in den Bund einer viel zu eng sitzenden blauen Jogginghose geschoben, die sie auf Knielänge gekürzt hat. Die Beinenden sind ausgefranst und unterschiedlich lang. So wie es aussieht, ist Oma der Hose kurzerhand mit einer Schere zu Leibe gerückt. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was Oma da anhat. Mein Opa war bestimmt zwanzig Zentimeter größer und wesentlich schlanker als meine Oma, die eher rundlich gebaut ist.

»Ich habe mich endlich dazu aufgerafft, Opas Schrank leer zu räumen«, erklärt Oma da prompt. »Die meisten Sachen habe ich in die Kleidersammlung gegeben.« Sie schaut an sich herunter. »Nur die Buxe und ein paar Hemden für den Garten habe ich behalten.«

»Steht dir«, flunkere ich. Bei dem Gedanken, dass Oma die Klamotten nur trägt, um Opa noch ein wenig bei sich zu behalten, wird mir warm ums Herz.

»Für dich habe ich auch zwei Oberhemden aufgehoben.« Omas Stimme klingt ganz weich. »Natürlich nur, wenn du magst. Du kannst ja später mal einen Blick darauf werfen.«

»Okay.« Ich straffe die Schultern. Es ist jetzt ein halbes Jahr her. Sterben gehöre zum Leben, hat Oma zu mir gesagt, nachdem die Ärzte uns mitgeteilt hatten, dass Opa es nicht schaffen würde – und dass wir ihn gehen lassen müssten. Aber ich war noch nie gut darin, mich für immer zu verabschieden. Und gleich zweimal hintereinander war einfach zu viel für mich.

»Na dann!« Oma geht zurück ins Häuschen. »Der Honig wartet.«

»Wie schmeckt er?«, frage ich. Meine Hand wandert in die flache Wanne, in der Oma das Wachs aufbewahrt, mit dem die Bienen die Waben verschlossen hatten.

Oma antwortet nicht. Sie schaut lächelnd zu, wie ich mir eine kleine Menge der klebrigen Masse in den Mund stecke. Ich kaue und sauge genussvoll den süßen Honig heraus, bis der Wachsklumpen stumpf wird.

»Die Bienen haben sich dieses Jahr ordentlich an den Salweiden bedient«, erklärt Oma.

»Weidenkätzchenhonig? Klingt gut. Und schmeckt lecker, schön mild …«

»Gemischt mit Obstblüten. Durch das außergewöhnlich warme Wetter hat dieses Jahr alles früher geblüht.« Oma greift nach einer Wabe. »Dann mal ran ans Werk.«

Ich drehe die Kurbel an der Schleuder, erst langsam, dann immer schneller. Ein paar Minuten später läuft blumig duftender Honig wie dickflüssiger Champagner aus der Öffnung der Schleuder, tropft durch ein Sieb in den darunter stehenden Topf. Honig schleudern ist anstrengend. Nach ein paar Durchläufen schüttele ich kurz meinen Arm und meine Hand aus, gehe in die Knie und stecke meinen Zeigefinger in den Strahl flüssigen Goldes.

So fein wie heute schmeckt der Honig nie wieder. Sobald er abgefüllt ist, beginnt er langsam zu kristallisieren und verändert seinen Geschmack.

»Sehr lecker«, betone ich noch einmal, nachdem ich genug genascht habe.

Oma lächelt still vor sich hin. Schade, dass Opa sie jetzt nicht sehen kann, denke ich, drehe die Waben um und setze die Schleuder wieder in Bewegung.

Oma hat aus jedem ihrer vier Bienenstöcke die jeweils zwanzig Waben aus den Honigräumen entnommen. Nach drei Stunden haben wir sechsundfünfzig geschafft. Knapp sechzig Kilo Honig stehen in Eimern und warten darauf, weiterverarbeitet zu werden. Vierundzwanzig Waben fehlen noch.

Ich schaue kurz auf meinem Handy nach der Uhrzeit. »Es ist schon nach zwei. Langsam bekomme ich Hunger.« Prompt gibt mein Magen einen lauten Brummton von sich. »Auf was Herzhaftes.«

»Es gibt Putengeschnetzeltes. Wir müssen es nur warm machen«, erklärt Oma. »Kartoffeln sind auch schon geschält. Sollen wir eine Pause einlegen?«

»Nein, lass uns erst zusehen, dass wir hier fertig werden. So viel ist es ja jetzt nicht mehr. Nach dem Essen fällt es mir bestimmt noch schwerer, mich wieder aufzuraffen«, überlege ich laut. »Und später belohnen wir uns mit einem fürstlichen Mahl.« Ich rolle mit den Schultern vor und zurück, um ein wenig zu entspannen. »Hast du auch Eis?« Omas hausgemachtes Vanilleeis mit Honig ist ein Gedicht.

»Natürlich!«, antwortet Oma. »Was denkst du denn? Und Kuchen gibt es auch.« Genau in dem Moment erfüllt ein lautes Schrillen den Raum.

Wir zucken beide zusammen. Opa hat die Hausklingel so geschaltet, dass sie auch im Schleuderhäuschen schellt, damit man nicht verpasst, wenn jemand zu Besuch kommt.

»Den Klingelton würde ich echt ändern, Oma, der geht gar nicht!«, erkläre ich kopfschüttelnd. »Außerdem ist er viel zu laut.«

»Da hast du recht, allerdings weiß ich nicht, wie das funktioniert. Ich habe deinen Vater schon ein paarmal gebeten, sich darum zu kümmern. Aber er hat ja nie Zeit.« Oma macht einen langen Hals und schaut aus dem Fenster. »Das ist Achim. Was macht der denn um diese Uhrzeit hier?« Sie dreht sich wieder zu mir. »Winkst du mal zur Tür raus, Anna, damit Achim sieht, wo wir sind? Ich mach eben die Wabe hier fertig.«

»Klar.« Ich gehe nach draußen und winke, wie Oma mir aufgetragen hat. Auf dem Gehweg vor dem Haus wartet tatsächlich Omas Postbote. Aber er ist nicht allein. Neben ihm steht ein elegant gekleideter Mann in dunklem Anzug. Eine Frau, die ein knielanges Etuikleid trägt, ist die Dritte im Bunde. Ich kneife die Augen zusammen, um sie besser erkennen zu können. Sie kommt mir bekannt vor.

»Dein Postbote ist in Begleitung hier, Oma«, rufe ich.

Oma seufzt. Sie mag es gar nicht, wenn sie bei der Honigernte gestört wird. Ich höre, wie sie irgendetwas vor sich hin brummelt. Kurz darauf steht sie neben mir und begutachtet die kleine Versammlung vor dem Gartentor.

»Das ist Peggy«, stellt sie sachlich fest. »Den Anzugträger kenne ich nicht.«

»Peggy?«, hake ich nach. »Bist du sicher?«

Oma nickt – und geht los. Bis zur zehnten Klasse waren Peggy und ich sehr gut befreundet und haben gemeinsam die Nachbarschaft unsicher gemacht. In der Oberstufe hatten wir allerdings kaum noch Kontakt. Und danach haben wir uns komplett aus den Augen verloren. Um ihr rotes, leicht gelocktes Haar habe ich Peggy immer ein wenig beneidet. Damals trug sie es allerdings lang.

»Warte mal«, sage ich und laufe Oma schnell hinterher. »Du hast kaum was an.«

Oma bleibt kurz stehen, zupft das Rippenshirt etwas zurecht, sagt: »Davon werden die drei schon nicht blind werden«, und geht weiter.

»Stimmt auch wieder.« Nicht nur einmal habe ich mir vorgenommen, mir vom Verhalten meiner Oma eine Scheibe abzuschneiden. Sie hat sich noch nie darum gekümmert, was andere Leute über sie denken oder von ihr halten. In vielerlei Hinsicht ist sie gelassener als ich, und es ärgert mich, dass es mir unangenehm ist, wie Oma gekleidet ist.

»Was hast du dir denn da für Verstärkung mitgebracht, Achim?«, ruft Oma.

»Hohen Besuch«, antwortet Achim, als wir vor der kleinen Besuchergruppe stehen. Er macht ein wichtiges Gesicht und zeigt auf den Herrn im Anzug. »Das ist Herr Drechsler, er ist Pressesprecher bei der Post. Außerdem habe ich Peggy Krüger mitgebracht, sie ist Journalistin und heute auch unsere Fotografin.«

»Soso.« Oma zieht eine Augenbraue hoch und schaut von einem zum anderen. Mein Blick bleibt an Peggy hängen, die einen Fotoapparat in der Hand hält und mich anlächelt.

Der Anzugträger streckt seine Hand über den Zaun aus. »Guten Tag, Frau Blumenthal. Es tut mir leid, dass wir Sie heute einfach so überfallen, aber Sie haben nicht auf meine Nachrichten geantwortet, und da dachten wir, wir versuchen einfach mal unser Glück. Wir haben Post für Sie, die wir Ihnen heute gerne höchstpersönlich überreichen möchten.«

»Hat meine Oma im Lotto gewonnen?«, flachse ich und halte dem grauhaarigen Mann, der mich bisher komplett ignoriert hat, meine Hand entgegen. »Anna Blumenthal, ich bin die Enkelin.«

Der Händedruck des Mannes ist fest. »Die übernächste Generation also, wie schön. Ich hatte Ihrer Großmutter gestern auf den Anrufbeantworter gesprochen und Sie darüber informiert, dass wir heute hier aufschlagen wollen.« Er schaut zu Oma. »Ich hoffe, es passt gerade.«

»Einen Anrufbeantworter besitze ich nicht. Da haben Sie sich anscheinend verwählt«, antwortet Oma. »Vielleicht sagen Sie einfach kurz, worum es geht. Wir sind gerade beschäftigt.«

Der Pressesprecher nickt. »Herr Klemm, würden Sie …«

»Natürlich.« Achim strahlt über das ganze Gesicht, als er einen Brief hochhält. »Ich habe Post für dich, Johanna. Der Brief wurde im Dezember 1941 auf Jersey an deine Mutter, Frau Martha Rotermund, damals wohnhaft in Ahrenshoop, geschrieben. Leider konnte er bis jetzt nicht zugestellt werden. Stell dir vor, der Postsack wurde kurz vor Weihnachten 1941 entwendet, um die Moral der deutschen Besatzung auf der Insel zu schwächen. Nun ist alles, fast achtzig Jahre später, wiederaufgetaucht. Die Mitarbeiter der Post haben recherchiert, damit die Briefe an die Empfänger oder aber die Angehörigen ausgeliefert werden können.« Achim lächelt breit. »Und hier sind wir also.«

Omas Mutter – meine Uroma, ist mit neunzig Jahren gestorben. Das ist jetzt auch schon fast 9 Jahre her, schießt es mir durch den Kopf. Wie die Zeit vergeht …

Meine Oma braucht einen Moment, bis sie das Gesagte verarbeitet, sich wieder gesammelt hat und wortlos ihre Hand ausstreckt. Da sie ihre Brille nicht trägt, hält sie den Brief auf Armeslänge von sich weg, während sie ihn eingehend mustert. Ich beuge mich etwas zur Seite, um den Absender entziffern zu können, aber da senkt Oma ihren Arm auch schon wieder.

»Danke, Achim.«

»Wäre es okay für Sie, wenn Frau Krüger ein Foto von Ihnen und dem Brief knipsen würde, Frau Blumenthal?«, mischt sich der Pressesprecher wieder ins Geschehen ein.

Peggy nestelt sofort an ihrer Kamera herum.

»Nein«, antwortet Oma schlicht.

Ich atme erleichtert auf. Für ein Pressefoto ist sie nun wirklich nicht passend gekleidet.

»Das ist aber sehr schade, Frau Blumenthal.« Auch Peggy schenkt Oma nun ein strahlendes Lächeln. »Ich würde nämlich wahnsinnig gerne einen Artikel über den damaligen Postraub schreiben.«

»Dann mach das, Kindchen«, antwortet Oma. »Aber ohne uns. Wie gesagt, wir sind beschäftigt.« Sie nickt Achim und dem Pressesprecher zu. »Guten Tag, die Herren. Peggy …«

Ich bleibe verdutzt stehen und sehe meiner Oma nach, wie sie den Weg entlang zurück zum Schleuderhäuschen geht. So unhöflich kenne ich sie nicht, auch wenn ich weiß, dass sie nicht gerne gestört wird, sobald es um ihren Honig geht.

»Meinst du, ich könnte mich morgen vielleicht noch mal wegen eines Fotos melden, Anna, wenn deine Oma nicht so beschäftigt ist?«, fragt Peggy. »Wir würden wirklich gerne einen Artikel über den Postraub schreiben. Immerhin kommt es nicht oft vor, dass Briefe dermaßen lange unterwegs sind und schließlich doch noch zugestellt werden können.«

»Na, ob das mal so gute Werbung für die Post ist?«, rutscht es mir heraus, aber schon im nächsten Moment bereue ich es. Schnippisch sein ist hier nicht angebracht. Schließlich kann niemand der hier Anwesenden etwas dafür, dass der Brief erst jetzt ausgeliefert wird.

»Kommst du, Anna?«, ruft Oma.

Ich zucke mit den Schultern und gebe einen kleinen Seufzer von mir. »Lass sie das erst mal verarbeiten. Ich spreche gleich noch mal mit ihr und melde mich dann. Wie kann ich dich denn erreichen?«

Peggy kramt in einer kleinen Umhängetasche und gibt mir eine Karte.

»Danke.« Ich lächle sie an. Eigentlich ist es schade, dass wir so komplett den Kontakt verloren haben. Ich mochte Peggy immer sehr gern. Aber in der Oberstufe habe ich damals Mona kennengelernt. Uns verband von Anfang an eine ganz besondere Freundschaft. Wir beide waren wie Zwillinge, nichts und niemand hat zwischen uns gepasst. Die erste Zeit haben wir uns hin und wieder auch zu dritt getroffen, doch Peggy hat sich verständlicherweise oft wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Trotzdem hat sie lange Zeit versucht, die Freundschaft mit mir aufrechtzuerhalten. Irgendwann hörten ihre Bemühungen auf. Das hat mir zwar leidgetan, weil ich Peggy eigentlich immer sehr nett fand, doch ich habe ihre Freundschaft nicht mehr aktiv erwidert, weil ich ja Mona hatte. Für Peggy ist es sicherlich nicht einfach gewesen, aber als Jugendliche habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht.

Vielleicht kann ich ihr wenigstens jetzt ein bisschen helfen. »Spätestens heute gegen Abend rufe ich dich auf jeden Fall an.«

»Das ist lieb von dir.«

Ich wende mich an die beiden Männer. »Danke, dass Sie meiner Oma den Brief gebracht haben.«

»Ach was«, sagt der Pressesprecher. »Das war doch selbstverständlich. Es freut uns, dass der Brief noch seinen Weg gefunden hat. Es war uns nicht bei allen Adressaten möglich, die Angehörigen zu finden und die Post zuzustellen.«

»Oh, das ist schade. Trotzdem schön, dass Sie uns gefunden haben.«

»Anna!«, ertönt ungeduldig Omas kratzige Stimme. »Mach hinne!«

»Ich komme!«, rufe ich laut.

Bevor ich gehe, werfe ich noch einen letzten Blick auf Peggy. Der freche Kurzhaarschnitt steht ihr gut. Vor mir steht eine sportliche, attraktive Frau, die sehr selbstbewusst wirkt. Das olivfarbene Etuikleid passt wunderbar zu ihren grünen Augen und dem kurzen rot gelockten Haar. »War schön, dich mal wiederzusehen«, sage ich.

»Ja, das finde ich auch, Anna. Bist du länger bei deiner Oma?«

»Ein paar Tage«, antworte ich ausweichend und hoffe, dass Peggy nicht wieder einen Annäherungsversuch unternimmt. Ich mag sie immer noch, aber ein Treffen mit ihr würde unweigerlich dazu führen, über Mona zu reden. Und danach steht mir überhaupt nicht der Sinn.

Peggy sieht das anscheinend ähnlich. »Das ist schön. Da freut sich deine Oma bestimmt. Ich hoffe, sie überlegt es sich noch wegen des Fotos. Wenn ja, weißt du ja jetzt, wie du mich erreichst.«

»Ja.« Ich halte ihre Visitenkarte hoch und wende mich ein letztes Mal an die Männer. »Also, danke noch mal. Ich muss jetzt wirklich los.« Ich zwinkere Achim zu. »Sonst bekomme ich Ärger mit meiner Oma.«

2. Kapitel

»Wie schmeckt der Honig?«, ruft Achim.

Ich bleibe auf halbem Weg stehen und kehre noch mal um. Peggy und der Pressesprecher steigen gerade in ein Auto auf der anderen Straßenseite. Omas Postbote steht allein hinter dem Zaun.

»Wie Lüdinghausen«, erkläre ich und lache. Oma sagt immer, Honig mache die Landschaft, in der er gesammelt wurde, schmeckbar.

Achim kratzt sich am Kopf. »Klingt interessant.«

»Nach Weidenkätzchen und Obstblüten, blumig, mild, sehr fein im Geschmack.« Ich weiß, dass Oma Achim immer mit ein paar Gläsern Honig versorgt. »Wir haben ihn noch nicht cremig gerührt. Das machen wir erst in ein paar Tagen. Morgen füllen wir aber ein paar Gläser für den sofortigen Verbrauch ab.« Honig aus Frühlingsblüten kristallisiert schnell. Deswegen wird er nach etwa fünf Tagen behutsam gerührt. Das bricht die Kristalle, der Honig bekommt eine cremige Konsistenz, verändert dabei seine Farbe und auch den Geschmack. Natürlich ist er immer noch sehr lecker, kommt aber meines Erachtens geschmacklich nicht an den frisch geschleuderten unverarbeiteten Honig heran.

»Dann hoffe ich, dass ich morgen wieder Post für deine Oma habe.« Achim hebt zum Abschied kurz die Hand zum Gruß. Als er losfährt, betätigt er zweimal die Fahrradklingel.

Ich schaue ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Wie alt Achim wohl mittlerweile ist? Bestimmt geht er strammen Schrittes auf die sechzig zu. Er bringt Oma die Post schon, seit ich denken kann. Erst vor Kurzem habe ich in Omas Fotokiste eine Aufnahme entdeckt, die mich auf Achims Fahrrad zeigt. Damals war ich fünf. Opa hat auf die Rückseite geschrieben: »Anna möchte Postbotin werden, wenn sie groß ist.« Meine Berufswünsche haben sich im Laufe der Jahre ein paarmal geändert. Letztendlich bin ich Webdesignerin geworden.

Unter der Tanne halte ich noch einmal kurz inne. »Es dauert nicht mehr lang, dann bekommt ihr eure Waben zurück«, sage ich leise. »Oma und ich mussten gerade nur eine kleine Pause einlegen.« Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, aber hin und wieder spreche ich auch mit den Bienen. Sie kennen meine geheimsten Wünsche und intimsten Gedanken. »Oma hat einen Brief bekommen, der vor knapp achtzig Jahren an ihre Mutter geschickt wurde. Ihr müsst wissen, dass es euch ohne meine Uroma wahrscheinlich nicht geben würde.«

Mein Vater hat mal zu mir gesagt, durch Uromas Adern sei kein Blut, sondern Honig geflossen. Sie war es, die uns die Liebe zu den Bienen in die Wiege gelegt hat.

Als ich das Schleuderhäuschen betrete, ist Oma gerade dabei, etwas von dem frisch geschleuderten Honig in ein kleines Glasschälchen zu füllen.

»Für den Nachtisch. Lass uns lieber doch erst mal essen«, schlägt sie vor. »Danach machen wir hier weiter.«

»Na gut.« Ich schiele auf den Brief, den Oma auf das kleine Ablagetischchen gelegt hat und nun wieder an sich nimmt. Geöffnet hat sie ihn noch nicht.

Schweigend gehen wir zum Haus, und ich nehme mir vor zu warten, bis Oma von sich aus erzählt. Doch als sie den Umschlag in der Küche auf die Fensterbank legt und sich kommentarlos am Herd zu schaffen macht, kann ich mich nicht mehr zurückhalten.

»Jetzt erzähl schon«, platzt es aus mir heraus. »Von wem ist die Post?«

Oma zögert kurz, bevor sie antwortet. »Von einem gewissen Johann Kranichberg oder – burg. Das kann man nicht so genau erkennen. Die Schrift ist etwas verwischt.«

Ich überlege einen Moment. »Der Name sagt mir nichts.« Anscheinend bin ich neugieriger als meine Oma. »Willst du den Brief nicht öffnen?«, hake ich nach.

»Weiß ich noch nicht«, antwortet Oma einsilbig.

»Echt jetzt?«

»Ist ja nicht an mich gerichtet«, erklärt Oma.

»Hat Uroma denn mal in Ahrenshoop gewohnt?«, frage ich. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«

»Von Ahrenshoop weiß ich nichts.« Oma zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es ein Irrtum. Und dann stünde es uns nicht zu, den Brief zu öffnen. Lass uns erst essen. Danach entscheiden wir. Machst du den Salat?«

Während ich die Gurke in dünne Scheiben schneide, beobachte ich Oma aus den Augenwinkeln. Wenn sie wirklich denken würde, dass der Brief gar nicht an ihre Mutter gerichtet gewesen ist, hätte sie ihn nicht angenommen. Oma wirkt angespannt. Irgendwas verschweigt sie, da bin ich mir sicher. Aber ich kenne sie. Jetzt nachzubohren wäre sinnlos, also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bis nach dem Essen zu gedulden und zu warten, bis sie von sich aus mit der Sprache rausrückt.

Gerade als ich frischen Dill und kleingeschnittene Frühlingszwiebeln in die Salatsoße gebe, bricht Oma ihr Schweigen. »Das Jahr in London hat Peggy gutgetan«, sagt sie.

Ich schaue von der Schüssel hoch zu Oma, die mit einem Kochlöffel in der Pfanne rührt.

»Peggy war in London? Das wusste ich gar nicht.«

Oma nickt. »Sie hat sich abgenabelt und ist erwachsen geworden.«

»Sie wird im August dreißig«, erwidere ich, »keine achtzehn.« Peggy ist so alt wie ich. Das weiß ich so genau, weil wir hin und wieder unsere Geburtstage gemeinsam gefeiert haben.

»Dann wirst du vielleicht auch bald erwachsen«, frotzelt Oma.

»Ich hoffe nicht«, kontere ich. »Bist du nicht diejenige, die mal gesagt hat, man solle so lange wie möglich Kind bleiben?«

»Das stimmt.« Plötzlich wird Oma ernst. Sie legt den Kochlöffel zur Seite und setzt sich zu mir an den Küchentisch. »Genau genommen ist man erst erwachsen, wenn die Eltern unter der Erde sind. Seit deine Urgroßmutter nicht mehr da ist, bin ich die Älteste in der Familie. Ich habe Kinder, Enkelkinder – und wenn ich Glück habe, darf ich auch meine Urenkel irgendwann erleben. Ich selbst bin jedoch niemandes Kind mehr.« Oma schüttelt den Kopf. »Aber ich will mich nicht beschweren. So ist eben der Lauf der Zeit. Wenn alles gut geht, steht man irgendwann ganz oben in der Alterspyramide. Schlimm ist es, wenn die eigenen Kinder vor einem gehen. Das sollte keine Mutter erleben.« Sie sieht mich nachdenklich an. »Wie geht es Monas Eltern? Hast du mal wieder was von ihnen gehört?«

Sofort habe ich einen Kloß im Hals. »Nein.« Ich räuspere mich. »Aber ich hatte vor, sie die Tage mal zu besuchen.« Ich deute auf das Schüsselchen mit Honig. »Hilla und Peter freuen sich bestimmt, wenn ich ihnen ein paar Gläser von der frischen Ernte vorbeibringe.«

»Das ist eine schöne Idee.« Omas Blick wandert zum Fenster. Von hier aus kann man die Tanne und die Bienen im Garten sehen. »Kurz bevor sie gestorben ist, hat meine Mutter mir erzählt, sie freue sich darauf, nun endlich meinen Vater wiederzutreffen, um für immer mit ihm vereint zu sein.« Oma schüttelt gedankenversunken den Kopf. »Darauf habe sie ihr Leben lang gewartet.«

Eine leichte Gänsehaut zieht sich meinen Rücken entlang bis zu meinem Nacken hinauf. Ich spüre instinktiv, dass hier etwas nicht stimmen kann. An meinen Urgroßvater kann ich mich kaum erinnern. Er starb, als ich acht Jahre alt war. Aber ich weiß, dass ich mich als Kind in seiner Nähe oft unwohl gefühlt habe. Meine Mutter hat mir mal erzählt, er sei nicht sehr nett zu Oma gewesen. Und auch meine Uroma habe sehr unter seiner herrischen Art gelitten.

»Ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, nicht schön klingt«, fährt Oma fort. »Aber meine Mutter blühte nach dem Tod meines Vaters richtiggehend auf. Ich bin mir sicher, das Letzte, was sie nach ihrem Tod gewollt hätte, war, ausgerechnet ihren immer stänkernden Ehemann im Himmel wiederzusehen.« Oma gibt einen kleinen Seufzer von sich. »Ich hoffe, er lässt sie wenigstens dort oben in Ruhe.«

»War mein Uropa so schlimm?«, frage ich.

»Mein Vater war ein sehr verbitterter Mann«, erklärt Oma. »Niemand konnte ihm etwas recht machen, und mit ihm auszukommen war nicht leicht. Deswegen habe ich mich auch so über die Worte meiner Mutter gewundert. Ich erinnere mich noch sehr genau daran: ›Jetzt sind wir bald für immer vereint. Schade, dass du ihn nie kennenlernen durftest.‹« Sie räuspert sich. »Und dann: ›Johann hätte dich sehr geliebt.‹«

Johann? Mein Uropa hieß Friedrich. »Das ist ja ein Ding«, entfährt es mir.

»Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt in vielen Momenten schon sehr verwirrt, das weißt du ja«, erklärt Oma. »Mein Bruder Johannes war erst drei, als er an Tuberkulose starb. Ich bin davon ausgegangen, dass sie von ihm gesprochen hat und sich darauf freute, ihn wiederzusehen.«

Ich brauche einen Moment, um mich zu sortieren. Hier schwirren eindeutig zu viele ähnliche Namen durch den Raum.

»Dein Bruder hieß Johannes, du heißt Johanna, Papa habt ihr Hans getauft – und mich Anna. Alle Namen in unserer Familie gehen sozusagen auf den gleichen zurück, auf Johann.« Ich stehe auf, hole den Brief von der Fensterbank und lege ihn vor Oma auf den Tisch. »Du solltest ihn öffnen. Wahrscheinlich ist das alles totaler Blödsinn und wir steigern uns hier nur in etwas hinein. Bestimmt ist es nur Zufall, dass der Absender den Namen Johann trägt. Aber das wissen wir nur, wenn du nachschaust.«

»Du hast recht«, sagt Oma. »Holst du mir meine Brille, Schatz? Sie müsste im Wohnzimmer auf dem Couchtisch liegen.«

Als ich mich wieder zu Oma an den Tisch setze, hat sie den Briefumschlag schon fein säuberlich mit einem Messer aufgeschlitzt. Sie verzieht keine Miene, während sie sich die Brille zurechtrückt, zwei Bögen Papier herauszieht, sie auseinanderfaltet, glatt streicht und zu lesen beginnt.

Ich sehe, dass die vergilbten Blätter beidseitig fein säuberlich in enger Handschrift beschrieben wurden. Die Farbe der Tinte wirkt etwas verblasst. Aber ansonsten scheint der Brief noch gut erhalten und leserlich zu sein. Ich sitze am Tisch, Oma gegenüber, und beobachte, wie sie einen Bogen nach dem anderen wendet und auch alle vier Seiten liest, ohne nur einmal aufzusehen. Als sie fertig ist, legt sie sie auf den Tisch, hält einen Moment inne und sagt: »Tja, so wie es aussieht, muss unsere Familiengeschichte neu geschrieben werden.«

Oma schiebt den Brief zu mir rüber und steht auf. »Hier, lies selbst. Ich gieße derweil die Kartoffeln ab.«

Hat Oma gerade wirklich gesagt, unsere Familiengeschichte müsse neu geschrieben werden und ist dann einfach aufgestanden und tut jetzt so, als wäre das das Normalste der Welt? Ich schaue völlig perplex auf den Brief, der nun vor mir liegt. Es fällt mir schwer, die engen und sehr geschwungenen Buchstaben zu entziffern und zu Worten zu verbinden. Ich brauche einen Moment, bis ich mich an das Schriftbild gewöhnt und mich eingelesen habe.

Jersey, 12. Dezember 1941

Geliebte Martha,

von Dir zu lesen gibt mir so unendlich viel Kraft. Ich sitze hier in meiner Baracke, glücklich wie schon seit Wochen nicht mehr, und komme endlich dazu, Dir zu antworten.

Deinen Brief habe ich zusammengefaltet in meine Brusttasche gesteckt. So trage ich Deine Zeilen immer in der Nähe meines Herzens. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie oft ich heute schon mit meiner Hand nachgefühlt habe, ob es auch wirklich wahr ist, ob tatsächlich ein Brief in meiner Brusttasche steckt, in dem Du mir mitteilst, dass wir Eltern werden.

Du und ich, wir beide!!!

Wenn mir dann bewusst wird, dass es tatsächlich wahr ist, breitet sich ein Gefühl der Wärme in mir aus. Dann wäre ich gern bei Dir, um Dir etwas Gutes zu tun. Möchte meine Hand sanft auf Deinen Bauch legen, Dir saure Gurken holen und danach ein Stückchen Schokolade, die ich Dir auf dem Schwarzmarkt ergattert habe. Wie gerne würde ich Deine Füße massieren, nachdem Du den langen Weg am Bodden entlang nach Hause gegangen bist (Du passt doch auf Dich auf?), Dir die Hände warmpusten und Dir danach ins Ohr flüstern, wie sehr ich Dich liebe.

Aber ich bin so schrecklich weit weg. Und so bleibt mir nichts, als an Dich zu denken und mich darauf zu freuen, Dich bald – endlich! – wiederzusehen. Jede Faser meines Körpers sehnt sich nach Dir.

Geht es Dir gut? Oder ist Dir übel, wie meiner Schwägerin, als sie schwanger war und ständig im Gebüsch verschwinden musste. Weiß sie schon, dass die kleine Helene einen Cousin oder eine Cousine bekommen wird?

Martha, meine Geliebte und nun auch die zukünftige Mutter meines Kindes – unseres Kindes –, Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich Du mich mit Deinen Zeilen gemacht hast. Ich werde Vater! Wir werden Eltern … Bei dem Gedanken wird mir fast schwindelig vor Freude. Nicht dass am Ende ich derjenige bin, dem übel wird. Aber das soll nur ein kleiner Scherz sein, der Dich hoffentlich zum Lächeln bringt. Du weißt, wie sehr ich Dein Lachen liebe!

Über meine Eltern musst Du Dir keine Gedanken machen. Wenn sie erst einmal ihr Enkelkind in den Armen halten, werden sie weich, da bin ich mir sicher. Und wenn nicht, liebste Martha, dann sollst Du wissen, dass ich immer und überall zu Dir stehen werde. Ich liebe Dich so sehr, dass mir fast schon wieder schwindelig wird. Und ich fiebere dem Tag entgegen, an dem wir uns endlich wiedersehen werden. Den genauen Zeitpunkt kann ich noch nicht benennen. Da kann sich täglich etwas ändern. Aber bald, ganz bald, werde ich bei Dir – bei Euch – sein.

Im Gepäck werde ich eine süße Überraschung für Dich haben. Stell Dir vor, ich habe hier auf der Insel die Bekanntschaft eines Imkers gemacht. Ihr würdet Euch gut verstehen. Er hat den gleichen Glanz in den Augen wie Du, wenn er über seine Bienchen spricht. Ich hoffe, Du bist nicht böse, denn ich habe ihm Dein Rezept für die Honig-Nuss-Bällchen verraten. Er hat sie sofort nachgebacken. Anstatt Haselnüsse hat er Mandeln verwendet, die hier auf der Insel wachsen. Die Mandelblüte muss wunderschön sein. Deine Bienen würden sie sicher lieben – und Du auch. Ich hoffe, das Glas mit dem Mandelblütenhonig übersteht die Reise nach Hause. Ach, Martha, jetzt habe ich Dir meine Überraschung schon verraten. Aber vielleicht fällt mir ja auch noch etwas anderes ein, wer weiß …

Jeremy hat Deinen Gebäck-Bällchen übrigens einen neuen Namen verpasst. »A sigh of honey« – Honigseufzer – hat er sie genannt. Ich finde den Namen sehr treffend. Denn immer, wenn ich davon nasche, entfährt auch mir ein Seufzer. Wenn der Honig auf meiner Zunge schmilzt und seinen süßen Geschmack entfaltet, muss ich unweigerlich an Dich denken – und daran, wie sehr ich Dich liebe, genau wie unser Kind, das Du unter Deinem Herzen trägst.

Meine liebe Martha, wie gerne würde ich Dir die Frage aller Fragen persönlich stellen, aber das ist ja leider nicht möglich. Aber ich möchte, dass Du jetzt schon weißt, dass ich immer zu Dir – uns – stehen werde, und deswegen frage ich Dich: Willst Du meine Frau werden, Martha? Wirst Du mich heiraten, sobald wir uns wiedersehen? Ich wünsche es mir sehr!

Jetzt bleibt mir nichts weiter, als Dir frohe Weihnachten zu wünschen, meine geliebte Martha. Du weißt, wie gerne ich das Fest mit Dir feiern würde. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass all das hier bald vorbei ist und wir im nächsten Jahr unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest als kleine Familie feiern können.

In Liebe

Dein Johann

PS: Dein Hummel-Honig schmeckt köstlich. Ich soll Dir von Jeremy ausrichten, er würde sehr gerne ein Volk seiner Inselbienen gegen eines Deiner Hummelvölker tauschen – natürlich nicht im Ernst, er hat sich fast kringelig gelacht!

Es dauert einen Moment, bis ich meine Sprache wiedergefunden habe. Meine Stimme klingt so kratzig wie Omas, als ich sage: »Das mit dem Hummelhonig hat Uroma auch mal Mona weisgemacht.« Das Bild von meiner Urgroßmutter und meiner Freundin erscheint vor meinem inneren Auge. Uroma steht in ihrem geblümten Kittel in der Küche und füllt cremig gerührten Honig aus einem großen Einweckkochtopf in Gläser. Meine Freundin schaut ihr dabei zu. »Mona wollte damals von Uroma wissen, warum der Honig so dick sei. Uroma hat ihr ein Glas geschenkt und ihr erzählt, es sei Hummelhonig von ganz besonders dicken Hummeln.«

Oma steht mit dem Hintern an die Arbeitsplatte gelehnt und schmunzelt in sich hinein. »Die gute alte Hummelgeschichte. Meine Mutter konnte es einfach nicht lassen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Leute ihr den Humbug geglaubt haben.«

»Na, Mona auf jeden Fall!« Ich lächle wehmütig. Natürlich habe ich meine Freundin damals über den kleinen Scherz aufgeklärt. Aber Mona fand meine Uroma so cool, dass sie cremig gerührten Honig seitdem nur noch Hummelhonig genannt hat. »Dann hat Uroma also tatsächlich mal in Ahrenshoop gewohnt«, überlege ich laut. Dass der Brief an sie gerichtet wurde, steht außer Frage. Nicht nur der Hummelhonig spricht dafür. Auch die Honig-Nuss-Bällchen sind ein eindeutiger Beweis. Das Rezept hat Uroma mit vielen anderen in eine Kladde mit dunkelbraunem Ledereinband geschrieben. Oma hat sie mir kurz nach Uromas Tod geschenkt, gemeinsam mit … »Uromas Muschelkette!«, rufe ich aus. »Das schmale Kettchen mit der hübschen einzelnen Muschel, die du mir zum Andenken geschenkt hast. Ich bin immer davon ausgegangen, Uroma hat sie bei einem ihrer vielen Nordseeurlaube gekauft. Aber vielleicht ist sie ja aus Ahrenshoop.«

3. Kapitel

Oma häuft eine große Portion Geschnetzeltes auf meinen Teller. Es riecht verdammt lecker, aber ich bin viel zu aufgewühlt, um jetzt zu essen. Ganz anders Oma, sie scheint die Ruhe selbst zu sein.

»Guten Appetit«, sagt sie, zerdrückt ihre Kartoffeln und schiebt sie etwas auseinander, sodass die Salatsoße dazwischenlaufen kann. »Was ist, Anna? Hast du keinen Hunger mehr?«

»Doch, schon, aber …« Ich lege mein Besteck neben den Teller. »Der Brief wurde im Dezember 1941 geschrieben. Du wurdest 1942, ein knappes halbes Jahr später geboren. Eben hast du selbst gesagt, unsere Familiengeschichte müsse neu geschrieben werden. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie du da so ruhig bleiben kannst.«

Oma sieht mich an. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen. »Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Mich haut so schnell nichts mehr um.« Sie greift nach meiner Hand und streicht liebevoll mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Davon mal ganz abgesehen, arbeitet mein Gehirn nicht mehr so schnell wie früher. Gib mir noch ein wenig Zeit, meine Gedanken zu sortieren. Ich muss das erst noch verstehen.«

Meine Oma war – und ist immer noch – eine verdammt clevere Frau. Sie wusste es, bevor sie den Brief geöffnet hat. Zumindest hat sie es geahnt, das wird mir jetzt klar. Aber sicher muss sie jetzt ihre Gefühle sortieren. »Brauchst du Zeit nur für dich?«, frage ich also.

»Nein. Die habe ich jeden Tag. Es ist schön, dass du ein paar Tage hier bei mir bist. Lass uns später darüber reden.« Oma zeigt auf meinen Teller. »Du solltest essen, bevor es kalt wird.« Sie mustert mich mit ihren hellen blauen Augen. »An dir ist ja kaum noch was dran.«

Ich häufe meine Gabel voll und schiebe sie mir in den Mund.

Oma nickt. »Gut! Wird Zeit, dass du wieder zu Kräften kommst. Ich habe dir ein kleines Döschen Gelée royale auf dein Nachttischchen gestellt. Du weißt ja, wie du es anwenden musst.«

»Bah!« Den leicht säuerlichen, ranzigen Geschmack mochte ich noch nie. Als ich klein war, ist Oma neben mir sitzen geblieben und hat aufgepasst, dass ich es vor dem Schlucken lange genug im Mund behalte, damit es über die Schleimhaut aufgenommen werden kann.

»Stell dich nicht so an«, sagt Oma streng. Aber schon im nächsten Moment lächelt sie. »Nougatschokolade für danach habe ich auch dazugelegt.«

»Danke, Oma. Du bist ein Schatz.« Ich häufe mir noch eine Gabel voll. »Dein Geschnetzeltes ist der Hammer. Ich habe noch nie Besseres gegessen.« Es schmeckt immer gleich – und nach Kindheit.

Ich lasse meinen Blick durch die Küche schweifen. Die Küchenmöbel und die Eckbank stehen hier schon seit Ewigkeiten. Lediglich die Sitzpolster hat Oma vor ein paar Wochen mal ersetzt. Die braunen Kissen sind neuen in einem dunklen Gelbton gewichen. Auf dem weißen Regal entdecke ich zwei Keramikgänse mit orangen Schnäbeln. Daneben stehen blau-weiß gepunktete Dosen in unterschiedlichen Größen und eine gelbe Vase mit einer einzelnen roten Tulpe darin.

Oma bringt wieder Farbe in ihr Leben, denke ich. Mein Blick verweilt kurz auf dem gerahmten Bild, das hier schon seit genau zweiundzwanzig Jahren hängt. Ich war acht, als ich die dicke Biene mit dem überdimensional großen Krönchen auf dem Kopf gemalt habe. Opa hatte mir Aquarellfarben zum Geburtstag geschenkt, die ich damals sofort ausprobieren musste.

Ich sollte endlich mal wieder meine Malutensilien auspacken, denke ich. Sie stehen seit zwei Jahren unberührt in der Umzugskiste im Keller.

»Das war lecker.« Ich schiebe den Teller etwas von mir weg und reibe mir über den Bauch. Wenn man erst einmal angefangen hat, kann man bei Omas Essen nicht wieder aufhören und merkt gar nicht, wie viel man eigentlich isst, bis der Teller leer ist.

»Schön.« Oma steht auf und beginnt, den Tisch abzuräumen.

»Ich mach das schon«, sage ich, »setz du dich wieder hin.«

»Ach was!« Oma geht kopfschüttelnd zur Spüle. »Die zwei Teller schaff ich gerade noch so allein. Kümmere du dich mal lieber um den Nachtisch und koch Kaffee.«

»Okay.« Oma hat das Eis vor dem Essen schon aus der Gefriertruhe geholt und in den Kühlschrank gestellt, damit es etwas antauen kann. Das Kuchenblech steht auf der Arbeitsplatte. Während Oma das Geschirr spült, setze ich den Kaffee auf, schneide den Kuchen in Quadrate und platziere jeweils eins davon in die Mitte eines Tellers. Darauf setze ich eine große Kugel Vanilleeis, träufele etwas von dem frisch geschleuderten Honig darüber und streue eine gute Prise Meersalz darauf. Ein paar Minuten später sitzen wir wieder gemeinsam am Küchentisch. Omas Kuchen ist ein Gedicht. Mein Opa mochte den Geschmack von Butter nicht sehr gerne. Deswegen hat Oma den Kuchen für ihn immer mit Olivenöl gebacken. Der sehr feine Geschmack passt hervorragend zu dem Eis, dem Honig und dem Meersalz.

Nachdem ich alles leer geputzt und auch den Kaffee getrunken habe, lehne ich mich im Stuhl zurück, breite die Arme aus und seufze genießerisch. »Das war so was von perfekt!«

Oma lächelt zufrieden und nickt. »Dann gehen wir mal wieder an die Arbeit.« Sie zupft an ihrem Feinripphemd. »Ich zieh mir nur mal eben was anderes an. Man weiß ja nie, wer sonst noch so unangemeldet hier aufschlägt.«

Ich schaue ihr nach, wie sie durch den Flur ins Schlafzimmer geht, und denke dabei an die kleine Abordnung, von der Oma heute Besuch bekommen hat. Den Brief hat Oma wieder in den Umschlag gesteckt und auf die Fensterbank gelegt. Wie war der Name des Absenders noch gleich? Ich zücke mein Handy und gebe den Namen Johann Kranichberg in die Suchmaschine ein und danach Johann Kranichburg. Aber alles, was ich finde, ist ein Johann Kranich von Kirchberg, der in Speyer gelebt hat und bereits 1534 gestorben ist. Und außerdem gibt es eine Burg Kranichberg. Aber die befindet sich in Niederösterreich. Unseren oder besser gesagt Uromas Johann entdecke ich nicht. »Hätte ja sein können«, murmele ich vor mich hin. Genau in dem Moment brummt mein Handy. Jens hat mir eine Nachricht geschickt.

Es tut mir leid, schreibt er. Viel Spaß bei deiner Oma. Und liebe Grüße an sie.

Ich schaue unschlüssig auf das Display. Jens ist noch online. Er sieht, dass ich die Nachricht gelesen habe, und wartet auf meine Antwort. Aber ich weiß im Moment nicht genau, was ich schreiben soll. Und eigentlich habe ich auch keine Lust dazu. Da kommt Oma wieder zurück. Sie trägt jetzt ein hellblaues Poloshirt.

»Liebe Grüße von Jens.«

»Zurück«, sagt Oma. »Wie geht es ihm denn? Kommt er voran mit seiner Arbeit?«

»Er ist fertig, er überarbeitet nur noch mal alles, dann gibt er ab.«

»Oh, dann herzlichen Glückwunsch!«

Liebe Grüße und herzlichen Glückwunsch zum Beenden deiner Doktorarbeit von meiner Oma, tippe ich und drücke auf Senden. Jens’ Entschuldigung ignoriere ich. Es wird letztendlich sowieso wieder auf das Gleiche hinauslaufen. Er sagt mir, dass es ihm leidtut, aber ändern wird er sich dadurch nicht.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragt Oma. Sie hat schon immer ein Gespür dafür gehabt, wenn etwas nicht stimmt.

»Geht so«, antworte ich ausweichend. Oma mag Jens. Er kann unheimlich charmant sein. Ich habe mich nicht ohne Grund sofort in ihn verliebt, als ich ihn vor zwei Jahren kennengelernt habe.

»Möchtest du darüber reden?«

»Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob Jens auf Dauer der Richtige für mich ist«, antworte ich.

Oma holt die Kaffeekanne, füllt unsere Tassen, die noch auf dem Tisch stehen, und setzt sich wieder zu mir.

»Es war einfach alles zu viel für uns im letzten Jahr«, erkläre ich. »Jens war mit seinen Prüfungen und seiner Doktorarbeit beschäftigt.« Ohne Vorwarnung schießen mir Tränen in die Augen und laufen meine Wangen hinunter. »Dann die Sache mit Mona – und mit Opa …«

»Ja, das war wirklich viel«, sagt Oma und reicht mir eine Serviette.

Ich schniefe und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. »Heute Morgen hat Jens zu mir gesagt, es wäre jetzt genug Zeit vergangen. Ich müsse endlich mit Monas Tod klarkommen, er wolle die alte Anna zurück, die, die Spaß am Leben hat.« Schon wieder laufen Tränen über mein Gesicht. Diesmal lasse ich ihnen freien Lauf. »Er versteht nicht, dass es einfach immer noch so verdammt wehtut. Und dass ich vielleicht nie wieder die alte Anna sein werde.«

»Komm her, Schatz.« Oma steht auf, beugt sich zu mir herunter und breitet ihre Arme aus. Das Poloshirt, das sie jetzt trägt, riecht leicht nach Lavendel. Oma legt immer kleine Säckchen mit getrockneten Blüten zwischen ihre Kleidungsstücke. Der Duft hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich, genau wie der von Honig. Ich schniefe noch ein paarmal, während Oma mir über das Haar streicht. »Du trauerst noch«, sagt sie. »Das ist völlig normal. Bei dem einen geht es schneller vorüber, bei anderen dauert es länger.«

»Ja, ich weiß, die Zeit heilt alle Wunden«, erwidere ich teilnahmslos. »Das habe ich schon oft gehört.«

Oma rückt ein Stück von mir weg. Sie legt ihren Finger unter mein Kinn und drückt meinen Kopf sanft nach oben, bis ich sie ansehe. »Deine Seele wird heilen. Da bin ich mir ganz sicher. Für dich war es eben einfach noch nicht genug Zeit. Es ist richtig, den Schmerz zuzulassen. Irgendwann wirst du merken, dass wieder Leichtigkeit in dein Leben Einzug hält. Und dann wirst du feststellen, dass du tatsächlich nicht mehr die alte Anna bist. Trauer ist in der Regel mit persönlichem Wachstum verbunden. Auch wenn du das jetzt noch nicht so sehen kannst. Der Verlust eines geliebten Menschen lässt die Fähigkeit zu Anteilnahme und Mitgefühl wachsen.«

»Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es besser wird. Im Gegenteil, ich vermisse Mona jeden Tag ein bisschen mehr. Und Opa auch«, erkläre ich. »Wie ist das bei dir?«

»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an deinen Opa denke«, sagt Oma. Meine Tränen hören jetzt gar nicht mehr auf zu laufen. Aber Oma schüttelt den Kopf. »Nein, das ist kein Grund, schon wieder zu weinen. Dein Opa hatte ein sehr erfülltes Leben. Dass er nun vermisst wird, spricht dafür, dass er geliebt wurde. Ich bin dankbar für die Zeit, die wir gemeinsam verbringen durften.« Sie lächelt verschmitzt. »Und ich meine es auch so und spreche nur von ihm, wenn ich sage, dass ich mich darauf freue, irgendwann wieder mit meinem Mann – mit meinem Edwin – vereint zu sein.«

»Der war gut.« Auch mir huscht ein kleines Lächeln über das Gesicht. Ich straffe meine Schultern, wische mir erneut die Wangen trocken und richte mich etwas auf. »Wenn wir mit dem Schleudern fertig sind, besuche ich Monas Eltern.« Es wird Zeit, dass ich mich meiner Angst vor diesem Besuch stelle.

»Mach das, Liebes. Aber bevor wir wieder zur Arbeit schreiten, trinken wir ein kleines Schnäpschen. Das belebt die Geister und regt die Verdauung an.«

Oma holt eine Flasche mit goldfarbener Flüssigkeit aus dem Kühlschrank. Sie setzt hochprozentigen Alkohol mit Kräutern und Honig an und lässt ihn ein paar Monate reifen, bevor er trinkfähig ist. Bei Erkältung erhitzt sie ihn und gibt den Saft einer ausgepressten Zitrone hinzu. Aber im Sommer schmeckt er auch gekühlt sehr gut.

Ihre Augen funkeln, als sie ihr Gläschen zum Trinkspruch anhebt und mit ernster Stimme sagt: »Auf die Männer, die wir lieben – und die Penner, die wir kriegen.«

Ich fange schallend an zu lachen. »Von wem hast du den denn?«

»Von Uschi«, erklärt Oma. »Wir haben uns gestern zu einem kleinen Plausch getroffen.«

»Das passt zu ihr.« Uschi ist Omas Freundin und Nachbarin. Sie wohnt drei Häuser weiter. Soweit ich weiß, hat sie ihren ersten Mann sehr früh verloren. Von ihrem zweiten hat sie sich scheiden lassen, nachdem sie ihn mit einer Jüngeren ertappt hat. Und über ihren dritten Ehemann schimpft sie ununterbrochen.

Oma lächelt verschmitzt. »Deinen Opa meinte ich natürlich damit nicht. Also, Prost, mein Schatz. Auf unsere Lieben.«

»Prost, Oma!« Das Lachen hat gutgetan. Und das Schnäpschen auch. Aber vor allem hat mir das Reden mit Oma geholfen.

Schade, dass ich solche Dinge nicht mit Jens besprechen kann, denke ich, als ich neben Oma zum Schleuderhäuschen gehe. Ganz unabhängig davon, dass er es vielleicht nicht nachempfinden kann, weil er selbst noch nie für immer Abschied von einem geliebten Menschen genommen hat, fehlt ihm einfach das nötige Feingefühl. Jens ist ein Mann für gute Zeiten, für schlechte ist er nicht geeignet. Dass er auf Dauer nicht der Richtige ist, ist mir schon länger klar. Aber bisher hatte ich nicht die Kraft, mich damit auch noch auseinanderzusetzen. Alles fiel mir schwer, angefangen bei den kleinsten Arbeiten, wie dem Ein- und Ausräumen der Spülmaschine, ganz zu schweigen von meinem Job. Ich hätte mich längst trennen müssen. Aber mir fehlt meine Freundin, die mich anschließend tröstet und wiederaufbaut.

4. Kapitel

Mein Herz überschlägt sich beinahe, als ich die Festnetznummer von Monas Eltern in mein Handy eintippe. Die Nummer habe ich nie gespeichert. Ich kenne sie auswendig, seit ich mich mit Mona angefreundet habe. Früher haben Mona und ich oft stundenlange Telefongespräche geführt, obwohl wir uns erst kurz vorher getroffen hatten. Wir konnten ununterbrochen quatschen, ohne dass uns die Gesprächsthemen ausgingen. Und wenn wir dann aufgelegt hatten, fiel einer von uns meistens doch noch etwas ein, was wir vergessen hatten, und es ging wieder von vorne los.

Nicht nur einmal haben wir deswegen Ärger mit unseren Eltern bekommen.

Das Freizeichen ertönt nur zweimal, dann nimmt jemand ab.

»Berger«, meldet sich eine Frauenstimme.

»Hallo, Hilla, hier ist Anna.« Seit der Beisetzung habe ich mich nicht mehr bei Monas Eltern gemeldet. Ich konnte meinen eigenen Schmerz kaum ertragen, und ehrlich gesagt wollte ich Hilla nicht leiden sehen. Ich habe meine beste Freundin verloren, und es kommt mir unendlich hart vor. Wie schwer muss es sein, die eigene Tochter zu verlieren. Mir fehlte die Kraft, mich auch noch damit auseinanderzusetzen. Deswegen habe ich Monas Familie darum gebeten, mir Zeit zu geben, bis ich mich von allein melden würde. Sie haben meinen Wunsch respektiert. Jetzt fühle ich mich schlecht deswegen.

»Anna!« Hillas Stimme klingt erfreut. »Das ist ja eine schöne Überraschung.«

»Ja«, sage ich. »Ich weiß, ich habe mich viel zu lange nicht gemeldet. Aber jetzt bin ich gerade bei meiner Oma, und da wollte ich nachfragen, ob ich euch vielleicht mal besuchen kann.«

»Natürlich kannst du das. Du weißt doch, dass unsere Tür für dich jederzeit offen steht.« Hilla legt eine kleine Pause ein. »Du musstest noch nie fragen, ob du vorbeikommen darfst, und das wird sich auch nicht ändern. Wenn du uns sehen willst, komm einfach.«

»Das ist lieb, Hilla. Würde dir in einer halben Stunde recht sein?«

»Ja, das passt gut.«

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