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Hope's Crossing - Zurück zum Glück

Der dritte Band der berührenden Hope's-Crossing-Serie von RaeAnne Thayne: Soll Maura einen Neuanfang mit ihrer Jugendliebe wagen?

Nach einem tragischen Verlust will Maura nur noch nach vorn blicken. Stattdessen wird sie schlagartig von der Vergangenheit eingeholt: Jackson Lange, ihre erste große Liebe, kehrt nach Hope`s Crossing zurück. Zwanzig Jahre zuvor war Jackson plötzlich ohne ein Wort des Abschieds verschwunden - ohne dass sie ihm sagen konnte, dass sie bereits schwanger mit ihrer gemeinsamen Tochter war. Jetzt scheint er fest entschlossen, seine Familie zurückzugewinnen. Aber Maura könnte es nicht verkraften, dass Jackson ihr noch einmal das Herz bricht! Verzweifelt versucht sie ihm aus dem Weg zu gehen. Bis ein schockierendes Geständnis ihrer Tochter sie zwingt, wieder näher mit ihm zusammenzurücken ...


  • Erscheinungstag: 10.10.2014
  • Aus der Serie: Hope's Crossing
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956493638
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

RaeAnne Thayne

Hope’s Crossing: Zurück zum Glück

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Deutsche Erstveröffentlichung

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

ISBN eBook 978-3-95649-363-8

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www.readbox.net

1. KAPITEL

V on wegen Weihnachtsurlaub. Maura hätte dieses Jahr viel eher Urlaub von Weihnachten gebrauchen können. Am liebsten hätte sie sich in einer warmen Höhle verkrochen und die gesamten Feiertage verschlafen.

Seufzend blickte sie sich um. Alles war für das Books-and-Bites-Weihnachtswichteln heute Abend vorbereitet. Sie hatte einige der großen Sofas und Sessel, die sonst in der Nähe der Kaffeebar standen, in einer hinteren Ecke der Buchhandlung zusammengeschoben.

Knabberzeug? Erledigt. M&M’s, Nüsse und Popcorn in Schüsseln mit Weihnachtsmotiven – sie hatte sogar ihr eigenes Weihnachtsgeschirr für die kleinen Knabbereien angeschleppt.

Deko? Ebenfalls erledigt. In dieser Hinsicht war nicht viel zu tun gewesen. Schon eine Woche vor Thanksgiving hatte sie in den Räumen von Dog-Eared Books & Brew mehrere Plastikweihnachtsbäume aufgestellt, elegant in Blau, Weiß und Silber geschmückt. Schneeflocken-Deko und mit Ornamenten verzierte Anhänger hingen von der Decke und begannen sanft zu schaukeln, wenn jemand die Eingangstür öffnete.

Geschenke? Ja. Sie hatte für jedes Buchclub-Mitglied einen Mini-Weihnachtsbaum mit mundgeblasenen Glaskugeln, angefertigt von einem lokalen Künstler, besorgt.

Zudem hatte sie die Regale und Schachteln in ihrem Büro durchforstet und für jeden eine kleine Präsenttüte mit Kaffee-und Teeproben, Lesezeichen, Notizblöcken und anderen Kleinigkeiten, die Autoren und Verlage ihr ständig zuschickten, zusammengestellt.

Obwohl sie insgeheim sehnlichst wünschte, sich über Weihnachten in ihrem Haus zu verkriechen wie ein Fuchs in seinem behaglichen Bau, hatte sie diese kleine Feier tagelang unermüdlich vorbereitet. Unter Trickbetrügern nannte man so etwas, den Köder auslegen: Sie wollte ihre besten Freundinnen und ihre Familie davon überzeugen, dass sie trotz der Hölle des vergangenen Jahres in der Lage war, weiterzuleben. Dafür musste sie eben möglichst überzeugend Theater spielen.

Vielleicht würde sie dann endlich in Ruhe gelassen, damit sie in ihrem eigenen Tempo einen Weg finden konnte, über den Verlust ihrer Tochter hinwegzukommen.

„Wie findest du es?“, fragte sie April Herrera, die gerade eine Ladung Dog-Eared Books & Brew-Kaffeebecher aus der Spülmaschine hinter der Theke räumte.

April, verantwortlich für das Café der Buchhandlung, blickte sich mit einem Entzücken in den Augen um, das nicht so recht zu ihren hennagefärbten Haaren, den bleistiftdünnen Augenbrauen und den vielen Ohrsteckern passen wollte. Das langärmlige Seidenhemd, das sie unter ihrer Barista-Schürze trug, bedeckte die vielen Tätowierungen auf ihren Armen.

Ihrem Aussehen nach zu urteilen, hätte April wild und zynisch sein müssen. Stattdessen aber war sie der netteste Mensch, den Maura kannte. Und viel wichtiger, sie war klug und fleißig und konnte hervorragend mit Kunden umgehen.

„Das sieht super aus. Einfach perfekt. Die Feier wird bestimmt sehr schön.“

Maura hatte schon immer eine Schwäche für rebellische Mädchen gehabt, wahrscheinlich, weil sie in einem anderen Leben selbst einmal eines gewesen war. „Kannst du wirklich nicht bleiben?“

„Leider nicht. Deine Buchclub-Treffen sind immer der Brüller, ich könnte mich jedes Mal kaputtlachen, wenn deine Mom in den Laden kommt. Und Ruth und Claire zusammen zu beobachten ist auch total witzig. Finden die beiden jemals dasselbe Buch gut?“

„Selten.“ Und das galt nicht nur für Bücher. Ruth Tatum arbeitete auch in der Buchhandlung, und man konnte die Beziehung zu ihrer Tochter Claire im besten Fall als kompliziert beschreiben. „Alle würden sich freuen, wenn du heute dabei wärst. Deine Anmerkungen zu unserem letzten Buch waren wirklich sehr hilfreich.“

„Ich kann nicht, tut mir leid. Sobald Josh hier ist, muss ich los. Heute werde ich zum ersten Mal mit dem Team beim Flutlicht-Skifahren mitmachen.“

„Wie läuft es denn?“, fragte Maura.

„Großartig.“ Das Gesicht der jungen Frau leuchtete auf. „Ich glaube, sie wollen mich künftig regelmäßig einplanen.“

April trainierte für die Ski-Patrouille und absolvierte außerdem eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin. Maura hatte keine Ahnung, wie sie das als alleinerziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes neben der Arbeit noch hinbekam. Vielleicht war das ein weiterer Grund, warum sie April unter die Fittiche genommen hatte – sie wusste schließlich selbst, wie schwer das Leben als junge, alleinstehende Mutter sein konnte.

„Das ist fantastisch. Falls wir deinen Dienstplan entsprechend einrichten sollen, sag es einfach. Ich bin da flexibel. Außerdem passe ich jederzeit gern auf Trek auf.“

„Danke, Maura.“

„Vielleicht kannst du dir ja für unser nächstes Buchclub-Treffen im Januar etwas Zeit freischaufeln.“

„Auf jeden Fall!“ April wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Moment betätigte ein Kunde die kleine Klingel an der Kaffeebar. April winkte Maura kurz zu und eilte davon, um sich um die Bestellung zu kümmern.

Maura selbst konnte den Januar kaum erwarten, sie wollte nichts anderes, als endlich die Seite ihres Kalenders aufs neue Jahr umzublättern. Sobald der ganze Weihnachtsrummel vorbei war, konnte sie eventuell aufhören, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, obwohl sie innerlich wie erstarrt war.

Sie schnappte sich noch eine Dose gesalzene Nüsse und stellte sie auf einen Nebentisch, dann schob sie eine Schüssel mit Pfefferminz etwas zur Seite. Es war Fluch und Segen zugleich, dass sie in Hope’s Crossing von ihren Freunden und Verwandten umringt war. Sie liebten Maura und machten sich natürlich Sorgen um sie, das konnte sie gut verstehen. Sie versuchte auch, dankbar dafür zu sein, doch die meiste Zeit über fühlte sie sich einfach nur überfordert und erdrückt. Angesichts dieser ständigen Besorgnis der anderen hatte sie das Gefühl, lebendig unter einer Lawine begraben zu sein, die sie so schwer niederdrückte, dass sie hektisch nach einem Luftloch suchen musste.

Selbst in ihrem kleinen Bungalow in der Mountain Laurel Road würde sie bald keine Ruhe mehr haben. In wenigen Tagen kam ihre Tochter Sage für die Weihnachtsferien nach Hause – ein weiteres Paar wachsame Augen.

Aber sie würde das schon hinkriegen. Sie musste nur noch ein paar Wochen allen etwas vorspielen, danach hatte sie die kalten Januarnächte endlich für sich allein.

Nach einem letzten prüfenden Blick fiel ihr ein, dass sie noch ein paar Exemplare des ausgewählten Buches herauslegen wollte, falls jemand sein eigenes vergessen hatte und eines für Zitate brauchte. Sie ging zum Schaufenster.

Es schneite, dicke Schneeflocken funkelten in der bunten Weihnachtsbeleuchtung der Main Street. Hope’s Crossing war ein echtes Winterwunderland, die Geschäftsinhaber im Ort gaben sich viel Mühe, damit die Stadt in altmodischem, verlockendem Glanz erstrahlte. Fast jedes Schaufenster war weihnachtlich beleuchtet. Maura selbst hatte sich für LED-Eiszapfen entschieden, die aussahen, als ob sie tropften.

Der Aufwand hatte sich gelohnt, ihr Laden florierte. Den vielen Fußgängern und Autos auf den Straßen an einem normalerweise eher ruhigen Donnerstagabend nach zu urteilen, erging es den anderen Geschäften auf der Main Street nicht anders.

Vor dem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite schnappte sich der Fahrer eines Geländewagens gerade den letzten Parkplatz. Ein Mann in Lederjacke und Levi’s-Jeans stieg aus, und sofort bedeckten Schneeflocken sein dunkel gewelltes Haar und die Schultern seiner schokobraunen Jacke. Er wirkte elegant und selbstsicher.

Jeden Moment würden ihre Gäste auftauchen, und sie sollte eigentlich noch einmal letzte Hand an ihre Dekoration legen. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie den Blick nicht von diesem Mann lösen, obwohl sie ihn kaum richtig sehen konnte.

Irgendetwas an ihm, vielleicht die Kopfform oder die Art, wie er sich bewegte, erinnerte sie an ihre erste große Liebe. Jackson Lange, sexy und wild gefährlich, jung, wütend und ungeheuer klug.

Nur selten dachte sie noch an Jack; eigentlich nur, wenn sein unangenehmer Vater ihren Laden betrat. Warum er ihr ausgerechnet jetzt in den Sinn kam, wo sie überhaupt keine Zeit hatte, war ihr ein Rätsel.

Der Mann schritt zur anderen Seite des Wagens und öffnete jemandem die Tür; eine Geste, die man heutzutage für Mauras Geschmack viel zu selten erlebte. Sie war neugierig, wer aussteigen würde, aber bevor sie einen Blick auf die Frau erhaschen konnte, wurde die Eingangstür aufgestoßen und Claire und Evie stürmten herein. Sie brachten den Duft von Schnee und Weihnachten mit sich, und ihr leises Lachen klang in Mauras Ohren süßer als Weihnachtslieder.

„Ich weiß“, erklärte Claire gerade. „Das habe ich ihm auch erzählt. Doch das ist sein erstes Weihnachten als Stiefvater, und er ist aufgeregter als Owen und Macy zusammen, ich schwöre es. Ich musste die Geschenke ständig woanders verstecken, und er hat sie trotzdem immer wieder gefunden!“

„Was erwartest du denn, Süße?“ Evie wickelte sich aus ihrem Schal, den sie aus violetter Wolle selbst gestrickt und mit Perlen statt Fransen verziert hatte. „Er ist immerhin ein Cop. So was machen Polizisten eben.“

Die beiden kamen höchstwahrscheinlich gerade aus Claires Perlenladen, dem String Fever, ein paar Häuser weiter. Evie hatte die Wohnung darüber gemietet, fürs Erste zumindest. Denn inzwischen war sie mit Brodie Thorne liiert, dem Sohn ihrer Freundin Katherine, und Maura hatte den Eindruck, dass diese Beziehung immer ernster wurde.

Claires sanftes, hübsches Gesicht leuchtete auf, als sie Maura entdeckte. „Maura, Schätzchen, dein Laden sieht wunderschön aus. Das wollte ich dir eigentlich jedes Mal sagen, wenn ich zum Kaffeetrinken hier war, aber du hast ja nie genug Zeit.“

„Deine Mom hat viel Arbeit in die Deko gesteckt. Die Schneeflocken und die mit Ornamenten verzierten Anhänger beispielsweise waren ihre Idee. Grandios, oder?“, erwiderte Maura.

Ruth arbeitete nun schon seit ein paar Monaten in ihrer Buchhandlung, was deren Tochter Claire noch immer zu verblüffen schien. Allerdings war niemand überraschter als Maura selbst. Ruth hatte ihr in den dunkelsten Tagen und Wochen im Frühjahr ihre Hilfe angeboten, doch längst war daraus etwas Dauerhaftes geworden, was für alle Beteiligten bestens funktionierte.

„Ruth ist eine tolle Mitarbeiterin“, versicherte sie Claire erneut. „Fleißig und zuverlässig, und dann hat sie immer wieder so tolle Ideen wie mit den Schneeflocken.“

„Und hier ist sie auch schon“, verkündete Evie.

Tatsächlich betrat Ruth gerade gemeinsam mit Mauras Mutter Mary Ella und Katherine Thorne den Laden. Hinter ihnen folgte Janie Hamilton, die relativ neu in der Stadt und ein weiteres verlorenes Schäfchen war, um das Maura sich kümmerte, außerdem Charley Caine, die den Süßwarenladen der Stadt führte.

Maura atmete tief durch, setzte ihr Pokerface auf und zwang sich zu einem Lächeln, das zu ihrer zweiten Natur geworden war, seit sich ihr Leben vor acht Monaten für immer verändert hatte. „Herzlich willkommen. Ich bin so froh, dass ihr alle da seid.“

Sie trat einen Schritt vor, damit sie die beiden Frauen umarmen konnte, die dabei waren, ihre Mäntel und Schals und Mützen abzulegen. Jede von ihnen schien sich extra schick gemacht zu haben; feine Blusen, hübsch gemusterte Tücher, lange Ohrringe und Perlenketten kamen zum Vorschein.

Maura fühlte sich etwas farblos in ihrer Wildlederjacke, der maßgeschneiderten cremeweißen Bluse und den Jeans, doch zumindest trug sie ihre Lieblingskette aus dicken Holzperlen, die sie vergangenes Jahr im String Fever gebastelt hatte.

„Was ist mit Alex?“, fragte sie. „Kommt sie nicht?“

„Angie holt sie ab“, erklärte ihre Mutter. „Ich habe vor ein paar Minuten eine SMS erhalten, dass sie sich etwas verspäten wird. Wie immer.“

„Uff, da bin ich aber erleichtert. Sie bringt nämlich ihre köstlichen Kürbis-Gewürz-Cupcakes mit.“

„Die mit der Zimt-Buttermilch-Glasur? Oh ja!“, entgegnete Claire. „Nachdem ich jetzt in kein Hochzeitskleid mehr passen muss, darf ich mir endlich wieder so was gönnen.“

Maura hätte sich locker fünf oder sechs gönnen können, da ihre Kleidung inzwischen mindestens eine Nummer zu groß für sie war. Erstaunlich, wie wenig Appetit sie verspürte. „Nehmt euch alle Kaffee oder Tee oder was immer ihr trinken wollt. Ich habe uns eine Sitzecke eingerichtet.“

Sie dirigierte ihre Gäste zur Kaffeetheke, wo April gerade ihre Schürze an den Haken hängte. Josh Kimball, der die Abendschicht übernehmen sollte, war bereits eingetroffen. Er winkte und schenkte ihr sein charmantes Grinsen. Mit der gebräunten Haut und dem weißen Bereich um die Augen wegen der Sonnenbrille, die er beim Snowboardfahren aufsetzte, wirkte sein Gesicht wie das eines Waschbären. Es gelang ihr, sich ebenfalls ein kleines Lächeln abzuringen.

„Ich bin dann weg“, rief April, die gerade in ihren Mantel schlüpfte.

„Danke für alles. Und viel Glück bei der Nachtpatrouille. Bis morgen.“

„Bis morgen.“ April riss die Tür genau in dem Moment auf, in dem ein Pärchen hereinkam, und mit einem Mal blieb Maura die Luft weg.

Es war der Mann, den sie eine halbe Stunde zuvor vor dem Café auf der gegenüberliegenden Seite hatte parken sehen. Dieselbe Lederjacke, dasselbe wellige Haar, derselbe karierte Schal.

Und dieser Mann erinnerte sie nicht nur entfernt an Jackson Lange.

Er war Jack Lange.

Einen verrückten Moment lang stürmten tief in ihrem Innern verschlossene Erinnerungen auf sie ein, Erinnerungen an eine Zeit, in der sie jung und impulsiv und bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen war. Wie er im Kino ihre Hand gehalten hatte, wie sie auf einem sonnenwarmen Felsen hoch oben im Canyon Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, die Körper ineinander verschlungen. Der Frieden, den sie nur mit ihm zusammen empfunden hatte … und der schreckliche Liebeskummer, die scharfe, nagende Angst, nachdem er gegangen war.

Jemand sprach mit ihr. Evie, dachte sie unbestimmt, doch in ihrem bestürzten Zustand begriff sie kein einziges Wort.

Jack hatte geschworen, Hope’s Crossing nie wieder zu betreten. Dies hatte er mit der heftigen, unerschütterlichen Entschlossenheit, die nur ein achtzehnjähriger junger Mann aufbringen konnte, verkündet.

Und dennoch war er jetzt hier.

Klar. Als ob Weihnachten nicht sowieso schon schlimm genug wäre. Ihn zu sehen war nur noch das i-Tüpfelchen. Jack Lange, der mit seiner höchstwahrscheinlich entzückenden Ehefrau in ihren Laden kam, um einen Cappuccino zu trinken oder die Sachbücher zu durchstöbern. Er würde sich vielleicht für Reiseliteratur interessieren oder für ihre kleine, aber feine Auswahl an Architekturbildbänden.

Und das ausgerechnet während eines Bücherclub-Treffens, Himmel noch mal!

Natürlich konnte sie ihn einfach ignorieren. Wenn sie sich hinter einem Bücherregal versteckte, würde er sie mit etwas Glück vielleicht gar nicht bemerken. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, dass ihr das Dog-Eared Books & Brew gehörte; woher sollte er das auch wissen? Sie könnte also einen Mitarbeiter zu ihm schicken, der ihn in den entferntesten Winkel weit von der Bücherclub-Sitzecke führte, oder besser noch: Sie könnte Josh mit seinen ganzen Snowboarder-Muskeln bitten, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Zwar hatte sie noch nie von einer Buchhandlung mit Türsteher gehört, doch es gab immer ein erstes Mal.

Zu spät. Er drehte sich genau in diesem Moment um, und ihre Blicke trafen sich. Zweifellos erkannte er sie, schien merkwürdigerweise allerdings überhaupt nicht überrascht zu sein. Es schien, als hätte er extra ihretwegen den Laden betreten. Was natürlich vollkommen unmöglich war. In den letzten zwanzig Jahren hatte er nichts unternommen, sie zu finden. Was nebenbei bemerkt nicht besonders schwierig gewesen wäre, schließlich war sie immer in Hope’s Crossing geblieben.

Die Jahre hatten es ungewöhnlich gut mit ihm gemeint, wie sie feststellte. Aus dem grüblerischen, aufbrausenden und unbestreitbar umwerfenden Teenager war ein gut aussehender Mann mit intensiven blauen Augen, festem Mund und einem ausgeprägten Kinn geworden – höchstwahrscheinlich das Einzige, was er mit seinem Vater gemeinsam hatte.

„Alles in Ordnung?“

Als es ihr gelungen war, sich von seinem Anblick loszureißen, fiel ihr auf, dass ihre Mutter sie besorgt musterte. „Wie bitte?“

„Du bist ganz blass geworden, Liebling. Ich habe dich schon drei Mal gefragt, ob du diese köstlichen Trüffel gemacht hast. Was ist denn los?“

„Ich …“ Sie wusste einfach nicht, was sie antworten sollte, denn jede einzelne Hirnzelle schien beschlossen zu haben, in diesem Moment zu streiken.

Jetzt schritt er auf sie zu. Sie beobachtete, wie er einen Schritt nach dem anderen machte. Ihre Handflächen wurden feucht, sie spürte, dass ihr jegliches Blut aus dem Gesicht wich, wodurch es auch nicht gerade leichter wurde, einen klaren Gedanken zu fassen.

Panisch drehte sie sich weg, als ob sie auf diese Weise die letzten beiden Minuten ungeschehen machen könnte. Vielleicht war das ja nur ein Traum gewesen … ein Albtraum.

„Ja. Ja, ich habe die Trüffel selbst hergestellt. Das war überhaupt nicht schwer. Das Geheimnis ist, die Sahne langsam einzurühren und wirklich gute Gewürze zu verwenden.“

Sie stürzte sich in eine lange Erklärung über die selbst gefertigten Schokoladenbällchen, doch nachdem ihr schließlich klar wurde, dass niemand ihr zuhörte, verstummte sie. Alle starrten auf einen Punkt über Mauras Schulter.

„Da bist du ja!“, rief Mary Ella auf einmal aus. „Ach, Schatz. Ich bin so froh, dass du da bist. Ich dachte, du kommst erst am Wochenende!“

Ihre Mutter drückte sich mit ausgebreiteten Armen an ihr vorbei. Okay, das musste wirklich ein Albtraum sein. Soweit sie wusste, hatte Mary Ella überhaupt keine Ahnung von Jack, schließlich hatten sie ihre Beziehung in jenem Sommer vor ihren Eltern geheim gehalten.

Während sie sich noch immer fragte, in welches Paralleluniversum sie plötzlich geschleudert worden war, drehte sie sich schließlich widerwillig halb um. Maura umarmte nicht etwa Jack, sondern jemanden hinter ihm. Als sie etwas zur Seite trat, sah Maura auch, um wen es sich handelte. Sie erstarrte.

Ihre neunzehnjährige Tochter Sage stand nur einen halben Schritt hinter Jack Lange, verdeckt von seinen breiten Schultern.

Mauras eben noch völlig benommen wirkendes Gehirn begann plötzlich, in maschinengewehrartiger Geschwindigkeit Botschaften auszusenden, und keine einzige davon war positiv.

Sage. Zusammen mit Jack Lange.

Die beiden im selben Raum. Nicht nur im selben Raum, sondern sogar innerhalb des verdammt kleinen Radius von höchstens einem Meter.

Sie hatte noch nie eine Panikattacke gehabt, nicht einmal in den höllischen letzten acht Monaten, aber jetzt merkte sie, wie sie direkt auf eine zusteuerte. Ihr Herz hämmerte, sie konnte jeden Pulsschlag in ihrer Brust fühlen, an ihrem Hals, in ihrem Gesicht. „S…Sage.“

Ihre Tochter warf ihr einen langen Blick zu, und ihre ausdrucksvollen Augen wirkten zum ersten Mal in ihrem Leben kühl.

Sie kannte also die Wahrheit.

Maura verstand selbst nicht, wieso sie sich so sicher war, doch aus irgendeinem Grund wusste sie es einfach. Sage hatte die Wahrheit erfahren. Nach fast zwei Jahrzehnten.

„Wer ist denn dein Freund, Schätzchen?“, fragte Mary Ella, die einen Schritt von ihrem ältesten Enkelkind zurücktrat und Jack einen fragenden Blick zuwarf, als ob sie ihn zu erkennen glaubte, sich allerdings nicht ganz sicher war.

„Das ist Jack Lange. Du hast bestimmt schon von ihm gehört. Er ist ein ziemlich bekannter Architekt.“

Maura bemerkte die leichte Aufgeregtheit unter ihren Freundinnen. So ziemlich jedem hier war bekannt, dass der Mann, den viele schon mit dem Stararchitekten Frank Gehry verglichen hatten, aus Hope’s Crossing stammte.

Mary Ellas Gesichtsausdruck veränderte sich. Ihre Miene wurde verschlossen, und sie wich etwas zurück. „Aber natürlich. Harrys Sohn.“

„Das habe ich schon lange nicht mehr gehört.“ Zum ersten Mal hatte er gesprochen, und wahrscheinlich hätte es Maura nicht überraschen sollen, dass seine Stimme dunkler und erotischer klang als früher.

„Ja. Harry Langes Sohn.“ Sage warf ihrer Mutter erneut diesen kalten Blick zu. „Und er ist nicht mein Freund. Eher nicht. Er ist mein Vater.“

Scharf sog Maura die Luft ein. Nun gut. Das war’s.

Dieses Weihnachten hatte es bereits jetzt an die Spitze auf der Skala der schlimmsten Feiertage geschafft.

2. KAPITEL

O kay, das Ganze war ein Riesenfehler gewesen.

Jack stand neben seiner Tochter. Seiner Tochter. Zum Teufel. Wie war er nur in diese Situation geraten? Er betrachtete die Frauen, die ihn anstarrten, als wäre er gerade hereingekommen und hätte ihnen allen den nackten Hintern gezeigt.

Sage hatte vorgeschlagen, erst in der Buchhandlung vorbeizuschauen, um mit ihrer Mutter zu sprechen, bevor er sie nach Hause brachte und sich dann für ein paar Tage ein Hotel suchte. Als er zugestimmt hatte, hätte er nie damit gerechnet, dass Maura gerade eine verflixte Weihnachtsfeier veranstalten könnte. Er musterte die Geschenktüten und die mit Namen verzierten Glaskugeln an den Bäumen. Da hatte sich jemand eine Menge Mühe gemacht, um dieses Fest vorzubereiten, und jetzt platzte er herein und ruinierte alles.

„Dein Vater?“, wiederholte eine ältere Frau zaghaft.

Obwohl zwanzig Jahre vergangen waren, erkannte er Mary Ella McKnight sofort wieder, diese grünen Augen, die all ihre Kinder von ihr geerbt hatten und mit denen sie ihn jetzt durch eine modische kleine Hornbrille anstarrte. Sie war seine Englischlehrerin in der Highschool gewesen, mit großer Zuneigung konnte er sich an ihre Diskussionen über Schriftsteller wie John Milton und Wilkie Collins erinnern.

Sie war noch immer sehr attraktiv, von einer zarten, alterslosen Schönheit.

„Du wusstest das auch nicht?“ Angesichts der Überraschung ihrer Großmutter hob Sage eine Augenbraue. „Dann schätze ich mal, dass es wirklich ein ziemlich großes Geheimnis war. Und ich dachte schon, ich wäre die Letzte, die davon erfährt.“

Der bissige Ton passte so gar nicht zu der freundlichen, ernsthaften jungen Frau, die Jack in den letzten Tagen kennengelernt hatte. Dass sie einfach so mit ihrem Vater in den Laden hereinschneite und Maura ohne jegliche Vorwarnung überraschte, war entweder gedankenlos oder grausam. Er sollte schnell etwas sagen, um die Spannung zu lösen, doch ihm fiel beim besten Willen nichts ein außer: „Wie zum Teufel konntest du mir das verheimlichen?“

Eine Frau mit nussbraunem Haar, die ihm irgendwie bekannt vorkam, trat vor und legte eine Hand auf Mauras Arm. „Geht es dir gut, Liebes?“

Jack sah, wie Maura, weiß wie die Wand, ruckhaft den Kopf schüttelte und schluckte. Nach allem, was Sage ihm erzählt hatte, betrauerte sie den Verlust ihrer anderen Tochter. Und bei dem Gedanken fühlte er sich noch miserabler, dass er sie einfach so überrumpelt hatte.

„Vielleicht solltet ihr drei ins Büro gehen und erst mal allein miteinander sprechen“, schlug die andere Frau sanft vor.

Maura sah sie einen Moment lang ausdruckslos an, dann schien sie sich wieder etwas zu fangen. „Ich … es tut mir leid. Das war nicht … Das ist jetzt ein ziemlicher Schock. Ja. Wir sollten in mein Büro gehen. Danke, Claire. Könntest du meine Mutter dabei unterstützen, die Diskussion zu leiten? Und Alex kommt bestimmt gleich mit den, äh, Erfrischungsgetränken.“

Er hätte wirklich vorher fragen sollen, ob Sage ihn überhaupt angekündigt hatte, aber genau genommen hatte er wohl schon seit drei Tagen keinen klaren Gedanken mehr gefasst. Weil da die Welt, die er sich so sorgfältig aufgebaut hatte, auf einmal um ihn herum eingestürzt war.

Vor drei Tagen noch hatte er sein ganz normales Leben geführt, hatte daran gearbeitet, Lange & Associates weiter aufzubauen, und sich auf eine Vorlesung am College of Architecture and Planning der University of Colorado vorbereitet. Es war das erste Mal, dass er den Staat Colorado betrat, seit er vor zwanzig Jahren als wütender junger Mann abgehauen war.

Die Vorlesung war gut gelaufen, vor allem, als er sich auf eine seiner Leidenschaften – ökologisches Design – konzentriert hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht den großspurigen Eindruck hinterlassen hatte, das Rad neu erfinden zu wollen. Jedenfalls war unter den Studenten, die hinterher zu seinem Pult strömten, um noch mit ihm zu sprechen, diese junge Frau mit dem dunkel gewellten Haar und den grünen Augen gewesen.

Sie sagte, sie habe seine Arbeit studiert und immer eine gewisse Verbindung zu ihm verspürt, weil sie aus Hope’s Crossing komme, wo er ja ebenfalls aufgewachsen sei. Und auch wenn sie ihn selbst nicht kenne, so würde sie doch oft seinen Vater in der Stadt sehen.

Er studierte ihr Gesicht, während sie ihm von ihren Träumen und ihrer Leidenschaft für Architektur erzählte, und die ganze Zeit hatte er das merkwürdige Gefühl, sie zu kennen. Ihre Gesichtszüge weckten eine seltsam vage Erinnerung in ihm, als betrachtete er jemanden durch einen gewölbten Spiegel.

Als sie ihren Namen nannte – Sage McKnight –, starrte er sie eine halbe Minute lang an, bevor er fragte: „Wer sind Ihre Eltern?“

„Meinen Vater kenne ich nicht. Er ist vor meiner Geburt abgehauen. Aber meine Mutter heißt Maura McKnight. Ich glaube, sie ist ungefähr in Ihrem Alter oder etwas jünger.“

Jünger, dachte er, während alles in ihm gefror. Ein Jahr jünger.

„Sie ist jetzt siebenunddreißig, falls Ihnen das hilft. Sie hat vor neunzehn Jahren die Highschool abgeschlossen. Das weiß ich, weil ich einen Monat später zur Welt kam.“

Und als sei es das Selbstverständlichste der Welt, hatte er die Daten und Zahlen zusammengefügt und es kapiert. Dafür war kein DNS-Test nötig. Man musste doch nur nachrechnen. Und jeder mit etwas Grips im Kopf konnte sofort sehen, dass diese junge Frau sein Kind war. Sie hatten die gleiche Nase, das gleiche dunkle, wellige Haar, das gleiche Grübchen im Kinn.

Seine Tochter. Auch nach drei Tagen konnte er es immer noch nicht glauben.

Und all die gaffenden Frauen da hinten offensichtlich auch nicht. Hatte sie denn wirklich niemandem erzählt, wer der Vater ihres Kindes war?

Als er jetzt Maura durch die Buchhandlung folgte, fielen ihm unwillkürlich bestimmte architektonische Besonderheiten des historischen Gebäudes auf, die bloßen Backsteinmauern etwa und die Fenster mit ihren gotisch anmutenden Bögen. Mit den in Rubinrot gehaltenen Lampen an den Decken und dem üppigen Mobiliar hatte Maura eine gemütliche, warme Atmosphäre geschaffen, die dazu einlud, zu bleiben, einen Kaffee zu trinken und vielleicht beiläufig ein Buch aus dem Regal zu ziehen und auf diese Weise etwas Neues für sich zu entdecken.

Unter normalen Umständen hätte ihm dieser Laden gefallen, doch er konnte sich nicht richtig konzentrieren, als er Maura durch ein lang gezogenes, karges Lager und dann weiter in ein chaotisches Büro mit einem großen Eichentisch und einem kleinen Fenster zur Main Street folgte.

Dort angekommen, drehte sich Maura zu ihnen beiden um. „Zunächst einmal, Sage, wieso bist du heute hier? Was ist mit deiner Biologie-Prüfung morgen?“

Ihre Tochter – ihre gemeinsame Tochter – zuckte mit den Schultern. „Ich habe Professor Johnson gebeten, mich schon heute Morgen dranzunehmen. Sie war einverstanden, vor allem, nachdem ich ihr sagte, dass es dafür wichtige persönliche Gründe gebe.“

Maura warf Jack einen Blick zu, dann sah sie schnell wieder weg. „Und wie ist es gelaufen? Hattest du nach der Chemie-Prüfung überhaupt genug Zeit zum Lernen? Du brauchst in der Abschlussprüfung ein A, um insgesamt eine bessere Note als C zu bekommen.“

„Im Ernst jetzt, Mom? Darüber möchtest du in diesem Moment sprechen? Über meine Noten?“

Ein Hauch Farbe tönte Mauras Wangen rot, und sie kniff die Lippen zusammen, als ob sie auf diese Weise weitere schulische Fragen zurückhalten wollte. Trotz dieser säuerlichen Miene war sie noch immer schön. Wenn er sie so ansah, war es kaum vorstellbar, dass sie eine Tochter hatte, die bereits aufs College ging. Andererseits musste sie bei Sages Geburt erst knapp achtzehn gewesen sein. Er jedenfalls war ungefähr ein halbes Jahr vor ihrem achtzehnten Geburtstag abgehauen.

Maura stieß geräuschvoll den Atem aus, dann setzte sie sich auf die Schreibtischplatte, womit sie ihn und Sage leicht überragte, die auf den Stühlen Platz genommen hatten.

„Du hast recht“, räumte sie freundlicher ein. „Über das College können wir später sprechen. Ich bin nur … das alles kommt ziemlich unerwartet. Ich habe erst morgen mit dir gerechnet, und natürlich wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass du deinen …“

„Meinen Vater?“

Maura krallte die Finger in ihre Schenkel, gab aber einen verächtlichen Laut aus. „Ich habe keine Ahnung, wie du auf diese verrückte Idee kommst“, begann sie, doch Sage winkte ab.

„Bitte lüg mich nicht an. Das hast du schon zwanzig Jahre lang getan. Könnten wir jetzt einfach damit aufhören?“ Trotz der harten Worte klang ihre Stimme beinahe zärtlich. „Du wusstest die ganze Zeit, wer mein Vater ist, richtig? Warum hast du es mir nie gesagt?“

Maura warf Jack einen kurzen Blick zu. Bisher hatte sie ihn noch nicht länger als wenige Sekunden am Stück angesehen, als wollte sie leugnen, dass er wirklich da war. „Spielt das eine Rolle?“

„Ja. Natürlich spielt das eine Rolle! Ich hätte all diese Jahre einen Vater haben können.“

„Du hattest einen Stiefvater. Chris war immer ein toller Vater für dich.“

„Das stimmt. Und das ist er noch immer. Sogar nach der Scheidung hat er mich nie anders behandelt als L-Layla.“ Sages Stimme bebte leicht, als sie den Namen aussprach. Layla musste ihre Schwester sein, die vor einigen Monaten ums Leben gekommen war, vermutete Jack. Und schon wieder hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er ohne Vorwarnung hier aufgekreuzt war. Ob er einfach zurück in sein echtes Leben in der Bay Area gehen und so tun konnte, als ob all das hier nie geschehen wäre?

Natürlich nicht, so verlockend er die Vorstellung auf einmal auch fand. Für einen Mann, der Jahre damit zugebracht hatte, seinen ganzen privaten und beruflichen Kram auf die Reihe zu bekommen, war das hier eine ganz schön komplizierte Sache. Aber ob es ihm passte oder nicht, Sage war nun einmal seine Tochter. Und er war jetzt hier und hatte die einmalige Gelegenheit, diese junge Frau kennenzulernen, die ihn beinahe schmerzhaft an einen unschuldigen Teil seiner selbst erinnerte, den er vor vielen Jahren hinter sich gelassen hatte.

„Ein Kind kann nie genug Menschen um sich haben, die es lieben, Mom. Das hast du immer gesagt. Warum hast du all die Jahre meinen Vater aus unserem Leben herausgehalten? Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass es mich gibt. Wenn er nicht zufällig eine Vorlesung an meinem College gehalten hätte, wüssten wir beide noch immer nichts voneinander.“

„Eine Vorlesung?“

„Genau. Über Ecodesign, eines meiner Lieblingsthemen. Fantastisch, wirklich inspirierend. Und danach bin ich nach vorn gegangen, um mit ihm zu sprechen. Als ich erwähnte, dass ich aus Hope’s Crossing bin, brauchten wir nur noch wenige Minuten, um dahinterzukommen.“

Maura runzelte die Stirn. „Wohinter zu kommen? Dass wir beide vor vielen Jahren zusammen waren? Und wieso glaubt ihr jetzt, dass er dein … dein Samenspender ist?“

Der Ausdruck machte Jack wütend. „Weil wir nicht blöd sind. Sage hat mir erzählt, wer ihre Mutter ist. Als sie mir dann ihr Alter sagte, brauchte ich nur noch nachzurechnen. Ich weiß schließlich ganz genau, mit wem du neun Monate vor ihrer Geburt zusammen warst.“

Und zehn Monate davor und elf und jede freie Minute in jenem Sommer, in dem sie nicht die Finger voneinander lassen konnten.

„Das beweist doch überhaupt nichts. Du bist abgehauen. Du warst nicht hier, Jack. Woher willst du wissen, dass ich danach nicht das komplette Basketballteam vernascht habe?“ Trotz blitzte in ihren Augen auf und etwas, das verdächtig nach Furcht aussah.

Es war für beide damals das erste Mal gewesen, eine peinliche, unbeholfene Angelegenheit, aber sie waren wirklich verliebt gewesen. Selbst wenn der lebendige Beweis nicht gerade neben ihm säße, hätte er niemals geglaubt, dass das nette, liebenswerte Mädchen von damals sich nach ihrer Freundschaft wild durch die Gegend geschlafen hatte.

„Sieh sie dir an“, sagte er mit etwas sanfterer Stimme. „Sie hat die Nase meiner Mutter und meinen Mund und mein Kinn. Wir können einen Vaterschaftstest machen, aber den brauche ich nicht. Sage ist meine Tochter. Seit drei Tagen frage ich mich, warum zum Teufel du mir nichts davon gesagt hast.“

Zum ersten Mal sah sie ihn etwas länger an. „Denk doch mal nach“, entgegnete sie schließlich. „Was hätte das geändert? Wärst du vielleicht zurückgekommen?“

Er konnte sie nicht anlügen – und sich selbst auch nicht. „Nein. Aber du hättest mit mir kommen können.“

„Um in irgendeinem Rattenloch zu hausen, während du das College abgebrochen und drei Jobs gleichzeitig gemacht hättest, um uns durchzubringen? Du hättest mich gehasst. Genau das Happy End, von dem ein junges Mädchen träumt.“

„Trotzdem hatte ich das Recht, davon zu erfahren.“

Auf einmal wirkte sie müde und niedergeschlagen, und er bemerkte die tiefen Schatten unter ihren Augen, die höchstwahrscheinlich nichts mit ihm zu tun hatten.

„Nun, dann weißt du es eben jetzt. Ja. Sie ist deine Tochter. Es gab keinen anderen. Da hast du es. Du weißt Bescheid, und jetzt können wir über Weihnachten auf große, glückliche Familie machen.“

„Mom.“ Sage beugte sich etwas vor, um Mauras Hand zu berühren, überlegte es sich dann aber anders und lehnte sich wieder zurück.

Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über Mauras Gesicht. „Okay. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber jetzt mach mal halblang. Ich war einfach nur ein verängstigtes Mädchen, das nicht wusste, was es tun sollte. Du bist verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen, Jack, und danach hast du dich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet, trotz deiner ganzen Versprechungen. Was hätte ich denn tun sollen? Ungefähr vier Monate später habe ich irgendwie deine Nummer in Berkeley herausgefunden und versucht, dich anzurufen. Dreimal in einer Woche. Einmal warst du in der Bibliothek, zweimal bei einem Date, zumindest sagte das dein Zimmernachbar. Ich habe meine Nummer hinterlassen, aber du hast nie zurückgerufen, was ja wohl nichts anderes bedeutete, als dass du nichts mehr von mir wissen wolltest. Was hätte ich denn noch tun sollen?“

Er konnte sich an diese ersten Monate auf dem College erinnern, als er nach dem letzten fürchterlichen Streit mit seinem Vater beschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen – selbst das einzig Schöne und Wundervolle, das er in Hope’s Crossing seit dem Tod seiner Mutter erlebt hatte.

Er erinnerte sich an die Nachrichten von Maura, die sein Mitbewohner ihm weitergegeben hatte, und die schlampig hingekritzelte Telefonnummer. Er hatte sie stundenlang angestarrt und sogar ein paarmal gewählt, doch jedes Mal sofort wieder aufgelegt.

Sie war die letzte Verbindung zu einer Vergangenheit, von der er nichts mehr wissen wollte, und irgendwann hatte er entschieden, dass es für sie beide das Beste wäre, wenn jeder von ihnen allein weitermachte.

Er wäre nie darauf gekommen, dass sie schwanger war. Gott, er war so ein Idiot gewesen.

Jetzt war alles so verdammt kompliziert, er wusste nicht, was er tun sollte. Und genau aus diesem Grund hatte er sich bereit erklärt, mit Sage nach Hope’s Crossing zu kommen, bevor er zurück nach San Francisco flog.

„Hör mal, wir sind wohl alle gerade etwas überfordert. Ich dachte, du wüsstest, dass ich Sage hierher bringe.“

Doch selbst das schien Maura neu zu sein. „Du bist mit ihm gefahren?“, fragte sie ihre Tochter. „Ist der Honda kaputt?“

„Er springt seit einer Woche oder so nicht mehr an. Wahrscheinlich braucht er einfach eine neue Batterie. Aber ich dachte, ich könnte den Pick-up nehmen, solange ich hier bin, und nach den Semesterferien mit Freunden zurückfahren. Um den Honda kümmere ich mich, wenn ich wieder dort bin.“

„Du hättest mich anrufen sollen. Ich hätte nach Boulder kommen und dich abholen können.“

„Tut mir leid, Mom. Das Problem mit meinem Auto kam mir nicht so wichtig vor … verglichen mit allem anderen.“

„Gut, das ist verständlich.“ Maura zwang sich zu einem Lächeln, doch Jack sah genau, dass sie in Wahrheit bis auf die Knochen erschöpft war. Was war nur aus dem unternehmungslustigen, lebhaften Mädchen geworden, das ihn immer zum Lachen gebracht hatte, obwohl sie beide mit schwierigen familiären Verhältnissen zu kämpfen gehabt hatten?

„Und jetzt?“, fragte sie. Obwohl sie dabei ihre Tochter ansah, spürte er, dass die Frage eigentlich an ihn gerichtet war. Noch weitere Pläne, wie du mein Leben ruinieren könntest?

„Ich denke, du solltest jetzt erst mal zu deiner Buchclub-Feier gehen. Es tut mir wirklich leid, dass wir euch gestört haben.“

„Deine Großmutter, Ruth und Claire haben sicherlich alles im Griff“, sagte sie zu ihrer Tochter.

Zu seinem Erstaunen traten auf einmal Tränen in Sages Augen. „Aber ich weiß doch, wie sehr du dich immer darauf freust und wie viel Spaß es dir macht, mit deinen Freundinnen zusammen zu feiern. Das war für dich immer der Höhepunkt vor Weihnachten. Das brauchst du vor allem dieses Jahr mehr als alles andere. Und jetzt habe ich es dir ruiniert.“

Maura warf Jack einen bösen Blick zu, als ob er an diesem plötzlichen Tränenausbruch schuld wäre, dann stand sie auf, um Sage in die Arme zu nehmen.

„Das ist doch bloß eine kleine Feier“, versicherte sie. „Nichts Besonderes. Und die kommen alle auch wunderbar ohne mich zurecht. Wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich hätte das Fest beinahe sowieso ausfallen lassen. Ich bin nicht so recht in Weihnachtsstimmung.“

Bei diesen Worten begann Sage, noch lauter zu schluchzen, und hilflos sah er zu, wie Maura sie tröstete. Über Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüche einer Neunzehnjährigen hatte er offenbar noch viel zu lernen.

„Du bist erschöpft, Liebling. Sicher hast du hart für die Prüfungen gebüffelt.“

„Seit der Vorlesung habe ich nicht wirklich viel geschlafen“, gestand Sage und legte den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter. Jack hatte den Eindruck, dass nichts ihre Beziehung zerstören konnte, auch nicht das Geheimnis, das Maura so lange für sich behalten hatte. Als er die beiden zusammen sah, durchbohrte ein scharfer Schmerz sein Herz.

Er hatte eine fast erwachsene Tochter, für die er sich mit einem Mal verantwortlich fühlte, und wusste überhaupt nicht, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte.

„Fahr doch mit meinem Wagen nach Hause und ruh dich etwas aus“, schlug Maura vor. „Deine Großmutter oder Claire können mich nachher mitnehmen. Und morgen früh, wenn wir beide ausgeruht und ruhiger sind, unterhalten wir uns.“

„Ich bringe sie nach Hause“, bot Jack leise an.

„Danke, aber mach dir bloß keine weiteren Umstände. Du hast sie schon von Boulder hierher gebracht. Und bestimmt musst du zurück nach … woher auch immer du gekommen bist.“

Sie konnte ihn wohl nicht schnell genug loswerden. „Ehrlich gesagt habe ich vor, ein paar Tage in der Stadt zu bleiben.“

„Wozu?“, fragte sie, die grünen Augen überrascht aufgerissen. „Du hasst Hope’s Crossing.“

„Ich weiß erst seit ein paar Tagen, dass ich eine Tochter habe, und möchte nicht sofort wieder aus ihrem Leben verschwinden.“

Aus Mauras Überraschung wurde so etwas wie Entsetzen, als wäre sie bis jetzt noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass er im Leben seiner Tochter eine Rolle spielen könnte. Sage jedoch hob den Kopf von ihrer Schulter und lächelte ihn unter Tränen an. „Das ist toll. Wirklich toll.“

„Wie wäre es, wenn wir uns morgen zum Frühstück treffen? Es sei denn, du musst gleich in die Buchhandlung.“

Ihnen allen würde es guttun, eine Nacht darüber zu schlafen, bevor sie ausführlicher über gewisse Entscheidungen in der Vergangenheit sprachen und darüber, wie es jetzt weitergehen sollte.

„Mir gehört der Laden. Ich bin nicht an Arbeitszeiten gebunden.“

„Was meistens bedeutet, dass du von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends arbeitest.“ Sage warf ihrer Mutter einen neckenden Blick zu.

„Wir können uns zum Frühstück treffen“, entgegnete Maura. „Ich muss morgen erst um zwölf hier sein.“

„Perfekt. Wie wäre es, wenn wir uns gegen halb neun im Café Center of Hope treffen? Wir haben dort vorhin kurz gehalten, um was zu essen, und ich kann nur sagen, dass es dort noch genauso gut schmeckt wie früher“, schlug Jack vor.

„Im Café? Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Vielleicht möchtest du lieber nicht …“ Sie brach ab.

„Was möchte ich nicht?“, hakte er nach.

Sie überlegte einen Moment. „Ach, wenn ich genauer darüber nachdenke, warum nicht. Halb neun im Café passt.“

„Okay. Bis morgen dann. Sollen wir los, Sage?“

„Ja.“ Sie drückte ihre Wange an die ihrer Mutter. „Ich bin noch immer sauer, dass du mir nichts von meinem Vater erzählt hast. Und das wird wahrscheinlich noch eine Weile so bleiben. Aber ich hab dich trotzdem lieb, und daran wird sich nie, nie etwas ändern.“

„Geht mir genauso“, sagte Maura leicht stockend, dann räusperte sie sich.

„Glaubst du, sie ist okay?“, fragte Sage ihren Vater, als sie nach draußen gingen. Es schneite noch immer leicht, und der Mietwagen, den er vor einer gefühlten Ewigkeit am Flughafen in Denver ausgeliehen hatte, war mit einer weißen Schicht bedeckt.

„Das weißt du sicher besser als ich.“

„Ich dachte, dass ich meine Mutter kenne. Wir sind beste Freundinnen. Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie so ein Riesengeheimnis vor mir hatte.“

Er fragte sich nach Mauras Gründen. Warum hatte sie Sage nie etwas gesagt? Und warum ihm nicht? In all den Jahren hätte sie doch mit Sicherheit einen Weg finden können, ihm von seinem Kind zu erzählen.

Allein die Vorstellung war noch immer überwältigend.

„Du musst mir sagen, wie ich fahren soll“, bat er, nachdem sie sich angeschnallt hatte.

„Ach so, natürlich. Wir wohnen in der Mountain Laurel Road. Weißt du noch, wo die ist?“

„Ich denke schon.“ Wenn er sich richtig erinnerte, befand sich die Straße gleich hinter den Sweet Laurel Falls, einem seiner Lieblingsplätze der Stadt. Dort bei den Wasserfällen hatten sie sich oft heimlich getroffen. Wobei er nicht verstand, warum er ausgerechnet jetzt daran denken musste. „Zumindest weiß ich ungefähr die Richtung. Sag mir aber rechtzeitig Bescheid, wenn ich falsch fahre.“

Auf den Straßen von Hope’s Crossing war mehr los, als er erwartet hatte. Die Innenstadt erkannte er kaum wieder. Zu seiner Zeit hatten viele Läden leer gestanden, und die wenigen Geschäfte hatten um ihre Existenz gekämpft. Jetzt sah er jede Menge schicke Restaurants, volle Bars und Boutiquen mit elegant geschmückten Schaufenstern.

Einige der alten Gebäude standen noch, aber es gab auch ein paar Neubauten. Zu seiner Überraschung hatte die Stadt sich bemüht, den historischen Kern zu erhalten. Hier war kein hässlicher Mischmasch aus verschiedenen architektonischen Baustilen entstanden wie in anderen Orten. Nichts zerstörte den prachtvollen Anblick der Berge, die den Ort umgaben. Anscheinend gab es strenge Bauvorschriften. Selbst als sie an der Einkaufsmeile mit den Pizzerien, Eisdielen und Fast-Food-Restaurants für Touristen vorbeikamen, entdeckte er nur Gebäude mit Holzdächern und kein einziges Neonschild.

Als er weiter Richtung Mountain Laurel Road fuhr, kam ihm die Gegend schon bekannter vor, selbst nach zwanzig Jahren. Damals nannte man diesen kleinen Stadtteil mit Fachwerkhäusern, die teilweise noch aus der rauen Zeit der Goldgräber stammten, Old Hope. Ein paar Gebäude waren abgerissen und durch kleine Apartmenthäuser ersetzt worden, doch die meisten hatte man offensichtlich saniert.

Jack erkannte auf den ersten Blick, bei welchen es sich um Ferienhäuser handelte. Sie wiesen ausnahmslos irgendwelche kitschigen Dekorationen auf wie beispielsweise ein Paar gekreuzte Holzski oder Schneeschuhe oder etwas in dieser Art. Er entdeckte einige Holzskulpturen, die Bären darstellten, und sogar den aus Holz geschnitzten Kopf einer Maus an einer Garage.

„Hier abbiegen“, sagte Sage. „Wir wohnen in dem kleinen Backsteinhaus auf der rechten Seite.“

Nach allem, was er gerade gesehen hatte, führte Maura in Hope’s Crossing einen erfolgreichen Laden. Und wie er in den letzten Tagen von Sage erfahren hatte, war sie fünf Jahre mit Chris Parker, dem Frontmann von Pendragon, verheiratet gewesen, einer Band, die sogar Jack kannte.

Bestimmt hatte sie von dem Typen nach der Scheidung anständige Unterhaltszahlungen bekommen. Warum also lebte sie in so einem winzigen Bungalow, der sicher nicht größer als neunzig Quadratmeter war?

Davon abgesehen sah das Haus allerdings sehr gemütlich aus, so wie es sich an die Berge schmiegte. Schnee lag auf der großen Veranda, und ein strahlend erleuchteter Weihnachtsbaum war hinter dem großen Doppelfenster zu erkennen. Das Grundstück war ziemlich groß und bot problemlos Platz für eine Garage, die offensichtlich im Nachhinein angebaut worden war.

Seitlich vom Haus bemerkte er eine Bewegung und entdeckte zwei Maultierhirsche, die hungrig die Büsche durchstöberten. Sie blickten in das Licht der Scheinwerfer, drehten sich dann um und sprangen über einen kleinen Holzzaun zum Nachbargrundstück hinüber.

Dieser Anblick weckte eine Menge Erinnerungen in ihm. Als Kind hatte er oben am Silver Strike Canyon gewohnt, und bei den Spaziergängen mit seiner Mutter hatten sie immer nach Rotwild Ausschau gehalten. Manchmal hatte seine Mutter ihn sogar aufgeweckt, wenn ein großer Hirsch durch ihren Garten spazierte.

„Danke fürs Fahren. Wir sehen uns dann morgen früh.“

„Ich helfe dir noch mit dem Gepäck.“

„Das musst du nicht.“

Doch er hatte beinahe zwanzig Jahre lang nicht die Chance bekommen, seiner Tochter zu helfen. Ihr Gepäck zu tragen war zwar nur eine kleine Geste, aber besser als nichts. Ohne ein weiteres Wort stieg er aus, hob den Wäschekorb vom Rücksitz, klemmte ihn sich unter den Arm und nahm ihren Koffer in die andere Hand.

Sage gab ein unwilliges Geräusch von sich, folgte ihm aber die vier Stufen zur Veranda hinauf und schloss die Haustür auf. Wärme umhüllte ihn, als sie die Tür aufgestoßen hatte; es duftete nach Zimt und Gewürznelken und Tannenzweigen.

Jack merkte, dass ihn Mauras Haus mehr interessierte, als er zugegeben hätte. Er betrachtete die Bücherregale, die freigelegten Dachbalken, die prächtigen Holzarbeiten, alles wunderschön ergänzt von bunten Kissen, Vorhängen und Lampen. „Sieht aus, als ob Mom sich mal wieder selbst übertroffen hat, was die Weihnachtsdeko betrifft. Mit Christbaum und allem.“

Er sah seine Tochter an. Seine Tochter. Ob er sich an diese beiden Worte jemals gewöhnen würde? „Du klingst überrascht.“

„Ich dachte, sie wäre dieses Jahr bestimmt nicht in Weihnachtsstimmung. Früher war es für sie immer die schönste Zeit des Jahres, weißt du. Aber jetzt ist alles anders.“

Er wollte nicht, dass sie ihm leidtat. Seit drei Tagen brodelte diese Wut in ihm, weil Maura all die Jahre nichts gesagt hatte. Doch hier in Hope’s Crossing, wo er mit ihrem Leben und ihrem Schmerz und den schweren Entscheidungen konfrontiert wurde, die sie als Siebzehnjährige getroffen hatte, war mit einem Mal alles anders.

Er fühlte sich irgendwie leer und wusste nicht, wie er mit seiner Wut umgehen sollte.

Sage trat auf den Christbaum zu und berührte etwas, das wirkte wie aus hölzernen Eisstielen gebastelt. Überall am Baum fand sich ähnlich aussehender Schmuck, und er fragte sich, welchen davon Sage und welchen ihre jüngere Schwester gebastelt hatte.

„Ich hoffe, dass Grandma und meine Tanten ihr geholfen haben und sie den Baum nicht allein schmücken musste“, sagte Sage besorgt. „Es muss hart gewesen sein, diesen Schmuck aufzuhängen.“

Es berührte ihn zutiefst, dass Sage trotz der Enttäuschung über den Vertrauensbruch so viel Mitgefühl für ihre Mutter zeigte. Die beiden hatten eine enge Verbindung zueinander. War das schon immer so gewesen, oder hatte ihr gemeinsamer Verlust sie noch fester zusammengeschweißt?

An der Wand entdeckte Jack verschiedene Fotos. Auf dem größten waren Sage und Maura auf einem Berg zu sehen, perfekt beleuchtet vom milden Abendlicht zwischen geisterhaft wirkenden Espenstämmen. Zwischen ihnen stand ein etwas jüngeres Mädchen mit rosa Strähnchen im Haar und vielen Ohrringen.

„Das ist Layla, oder?“

Sage stellte sich neben ihn und streckte eine Hand aus, um das Foto zu berühren. „Ja. Sie war sehr hübsch, nicht wahr?“

„Wunderschön“, murmelte er. Das waren sie alle drei. Sie wirkten wie eine feste Einheit, man sah sofort, dass sie sich heiß und innig liebten.

Maura war seit zehn Jahren geschieden und hatte danach die beiden Mädchen allein großgezogen. Wie hat sie das geschafft? fragte er sich, ermahnte sich dann aber stumm, dass es ihn nichts angehe. Er war nur hier, um eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, und nicht, um in alten Erinnerungen mit Maura McKnight zu schwelgen, dem Mädchen, das einmal die Welt für ihn bedeutet hatte.

„Oh, sieh nur. Geschenke.“ Mit großen Augen betrachtete Sage die hübsch verpackten Päckchen unter dem Baum. Hatte sie als Kind so ausgesehen, wenn sie auf den Weihnachtsmann gewartet hatte? Das würde er nie erfahren. Nie hatte er Teller mit Süßigkeiten für Santa Claus rausgestellt und sein kleines Mädchen ins Bett gebracht.

„Ich sollte mir jetzt mal besser ein Hotelzimmer suchen. Bist du sicher, dass ich dich allein lassen kann?“ Zwar war keine Spur von ihren Tränen mehr zu sehen, aber andererseits konnte man ja nie wissen.

„Ja. Mir geht’s gut. Ich werde nur schnell die Waschmaschine anwerfen, kurz Facebook checken und dann ins Bett gehen.“

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