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Hund bei Fuß, Mann an der Hand

hier erhältlich:

Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Jochen her!

Sophie Uhlmann hat ihr Leben fest im Griff: Sie wohnt mit ihrem Freund in einer schicken Wohnung, hat einen gut bezahlten Job und dazu noch ihre beiden besten Freundinnen, die ein bisschen Schwung in ihren Alltag bringen. Doch als eines ihrer Projekte Sophie zum Hassobjekt einer Gruppe renitenter Rentnerinnen und Rentner macht, geht es plötzlich drunter und drüber, und ehe sie sichs versieht, steht sie job-, partner- und wohnungslos da. Stattdessen treten ein kleiner Straßenhund namens Jochen und ein gleichermaßen attraktiver wie unverschämter Schreiner in ihr Leben. Aber mit Jule und Lina an ihrer Seite – und ein paar Gläsern Weißwein – bekommt sie auch das gewuppt. Wäre ja gelacht.


  • Erscheinungstag: 27.12.2021
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951093
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

»IRGENDWAS ERGIBT SICH IMMER.«

Charlie Sheen, in irgendeiner Folge
von Two and a half men.
Und recht hat er.

1

»So, Herr Wertheim, dann wollen wir mal.« Sophie wandte sich ihrem Mandanten mit einem ebenso breiten wie gefakten Lächeln im Gesicht zu. Justus Maximilian Wertheim war ein 25-jähriger Mann, Typ beste Alsterlage und von Beruf nicht Sohn, sondern schlimmer: Erbe. Er war die Arroganz in Person und erinnerte Sophie wieder einmal daran, was genau sie an ihrem Job eigentlich nicht mochte – oder wen. Justus Maximilian Wertheim fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelblonde zurückgegelte Haar, das in sanften Wellen auf seinem Kopf ruhte, und antwortete Sophie nur mit einem Schnauben. Es schien, als kränkte allein ihre Existenz ihn in seinem Reichtum.

Junge, was für ein Start in den Tag.

Als Investmentmanagerin oder eben Vermögensverwalterin (das kam immer darauf an, wer ihr gegenüberstand) verkehrte sie täglich mit solchen Leuten. Oder: in diesem Paralleluniversum. Denn mit ihrer Realität hatte das Leben derjenigen, die sich eine Vermögensverwalterin leisten konnten oder sogar darauf angewiesen waren, herzlich wenig zu tun. Auf den ersten Blick konnten ihre kleine schlichte, aber wohlgewählte Designerhandtasche, der schmal geschnittene dunkelblaue Hosenanzug, die ordentlichen Pumps und die Perlenohrringe die Bewohner des Paralleluniversums täuschen. Auch ihre eloquente Ausdrucksweise, ihr Freund Jochen, ein Jurist und begeisterter, wenn auch wenig begnadeter Golfer, sowie die gemeinsame Wohnung in Winterhude stärkten den täuschenden Eindruck. Doch die Handtasche war secondhand, der Anzug von Zara und die Ohrringe geerbt. Und spätestens ihre zwei Freundinnen Jule und Lina sowie die gemeinsamen Abende in den Spelunken von St. Pauli sprengten die Illusion völlig. Doch ganz gleich, was Justus Maximilian Wertheim von ihr in diesem Moment denken mochte – er würde sicher nie in den Genuss kommen, mit Sophie und ihren Freundinnen Kümmelschnaps zu trinken.

Bei dem Gesicht, das er nun machte, konnte man tatsächlich auf den Gedanken kommen, er sei über diese Tatsache betrübt. Oder aber er wartete einfach darauf, dass Sophie endlich das kleine Gartentor öffnete, vor dem sie seit einer ganzen Weile standen. Dahinter befand sich die Immobilie, die es zu besichtigen galt, denn Justus Maximilian Wertheim war ja aus beruflichen Gründen hier. Der junge Mann war Teil einer Erbengemeinschaft, die dieses Fleckchen Erde vermacht bekommen, aber absolut kein Interesse daran hatte. Genauer: die nur an einem Aspekt Interesse hatte – seiner Wertigkeit.

Ein weiteres Indiz dafür, dass Justus Maximilian Wertheim nicht betrübt über die Tatsache, keinen Kümmelschnaps mit Sophie zu trinken, sondern schlichtweg in Eile war, konnte das ungeduldige Tippen seiner Segelschuhe sein. Oder das gepresste »Frau Uhlmann, Sie mögen ja vielleicht Zeit im Überfluss haben, meine aber ist kostbar. Wenn wir nun also endlich reingehen könnten?«, das sie nun hörte.

Natürlich. Du liebe Güte, man konnte nicht mal in Ruhe für ein paar Sekunden gedanklich abschweifen … Mit einem weiteren beherzten falschen Lächeln schaute sie Justus Maximilian Wertheim ins Gesicht und drückte die Klinke des Gartentors nach unten.

Sophies neuester Auftrag war eben diese Erbengemeinschaft: Da sich die sieben Parteien nicht einigen konnten, wie sie das Gebäude künftig nutzen wollten, musste ein kleinster gemeinsamer Nenner gefunden werden: Profit. Ein Entschluss, der sie zu Berglund & Söhne führte, dem Familyoffice, für das Sophie arbeitete, und sie und Justus Maximilian Wertheim an diesem sonnigen Freitagvormittag schlussendlich in den Hamburger Stadtteil Ottensen.

Ottensen, bekannt für seinen lebendigen Charakter, die vielen kleinen Läden, Restaurants und seine schmalen Gassen mit bunten Häusern, gehört mittlerweile zu den extrem begehrten Vierteln der Metropole. In einer der charakteristisch krummen Straßen lag auch das zu beurteilende Objekt: Hinter dem Gartentor führte ein schmaler Pfad, durch unzählige Schritte ganz kahl getrampelt, über eine kleine Wiese direkt bis zur Haustür. Das Gebäude war ein zweistöckiger Bau. Auf den ersten Blick konnte man meinen, es sei in Cremeweiß gestrichen. Auf den zweiten war es einfach alt und heruntergekommen.

»Wir könnten den Wert der Immobilie und damit die Angebotshöhe noch steigern, wenn Sie zuerst ein paar Schönheitsarbeiten vornehmen«, sagte Sophie, während sie das Erdgeschoss betraten.

»Lassen«, antwortete Justus Maximilian Wertheim.

»Bitte?«

»Lassen. Vornehmen lassen.«

»Natürlich«, murmelte Sophie und war froh, dass der junge Erbe ihr den Vortritt gelassen hatte. So sah er nur ihren Rücken und nicht, wie sie ihre grünen Augen verdrehte, die eigentlich einen freundlichen Ausdruck in sich trugen, aber dazu neigten, ein regelrechter Spiegel ihrer Stimmung zu sein. Wir haben es verstanden, du rührst nicht einen Finger. Hornhaut holt der sich sicher nur beim Segeln.

Das Erdgeschoss der Immobilie bestand nur aus einem Vorraum, einer Tür, die aber zugesperrt war, und einer Treppe, die in ein weiteres Stockwerk führte. Oben angekommen, empfing sie eine offene Galerie. Links gingen Türen zu den Toiletten ab. Rechts von ihnen stand eine Tür offen. Und dahinter ein großer – nein, eher riesiger Raum. Durch die ausladenden Dachfenster strahlte die Frühlingssonne direkt hinein, die Holzbalken in der Mitte des Raumes warfen lange Schatten auf den Parkettboden.

»Wissen Sie, für was diese Immobilie genutzt wurde?«, fragte Sophie ihren Mandanten.

»Nein«, antwortete er völlig desinteressiert.

Um klassischen Wohnraum handelte es sich offensichtlich nicht, aber nach einem richtigen Gewerbe sah es auch nicht aus. Sophie hatte leider keine Informationen diesbezüglich von ihren neuen Mandanten erhalten. Wobei es im Grunde auch egal war. Wichtig war nur, die Immobilie so schnell wie möglich wieder auf den Markt zu bringen. Und das sollte ja ein Kinderspiel werden. Denn auch wenn das Häuschen etwas marode war und seine besten Jahre wohl hinter sich hatte: Es war ein Häuschen mitten in Ottensen. Es hatte einen Garten, ja, es gab sogar ein kleines Gartentor!

»Also, Herr Wertheim, wenn Sie ein paar Arbeiten vornehmen lassen, könnten wir die angesetzte Miete sicher um einige Prozent weiter oben ansetzen«, griff Sophie das ursprüngliche Thema wieder auf, als sie das Haus schließlich wieder verließen. »Dafür müssten wir natürlich die Fassade erneuern. Für einen ersten Eindruck, der sitzt. Ein neuer Zaun und ein Gartentor, das nicht krumm ist und quietscht, wären natürlich auch von Vorteil. Und wenn wir im oberen Geschoss noch …«

»Nein.«

»Ja, genau, also wenn wir oben noch die Sanitäranlagen …«

»Frau Uhlmann, ich sagte doch schon Nein«, unterbrach Justus Maximilian sie erneut. »Wir werden hier gar nichts tun und niemanden mit irgendwas beauftragen. Wir werden diesen Kasten einfach so schnell wie möglich verkaufen. Ich habe weder die Zeit noch die Nerven, mich weiter damit auseinanderzusetzen. Oder mit Ihnen.«

»Aber, Herr Wertheim, denken Sie doch einen Moment darüber nach. Natürlich bringt Ihnen ein Verkauf auf einen Schlag einen stattlichen Ertrag. Aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass eine Kapitalanlage langfristig die klügere Strategie ist. Und auch die gewinnbringendere. Denn unattraktiv wird diese Lage in den nächsten hundert Jahren sicher nicht«, versuchte Sophie zu protestieren. Ein langfristig angesetztes Projekt würde natürlich auch für sie langfristige Provision bedeuten. Ein Umstand, der Justus Maximilian Wertheim aber nicht zu interessieren brauchte.

»Frau Uhlmann, jetzt mal ehrlich: Sehe ich aus, als würden mich ein paar Mieteinnahmen interessieren?«

»Wenn ich Ihnen eine Strategie ausarbeite, wie Sie diese Einnahmen direkt wieder investieren können, um einen noch größeren Profit zu erwirtschaften, vielleicht schon«, sagte Sophie kokett.

Doch ihr Mandant ließ nur ein weiteres Schnauben vernehmen. Er drehte sich zu ihr um und blickte ihr ins Gesicht. »Frau Uhlmann, meine Familie und ich, wir wollen dieses Haus nicht. Wir brauchen es nicht, ebenso wenig wie dieses Grundstück. Für Sie mag das nach einer großen Sache klingen, eine Immobilie in Ottensen. Für uns – und ich möchte jetzt auf keinen Fall arrogant klingen – ist es das nicht.«

Bei seinem letzten Satz unterdrückte Sophie ein weiteres Augenrollen und lächelte stattdessen weiter stoisch vor sich hin. Sie strich sich eine Strähne ihres blonden Haars hinters Ohr, das sie heute offen trug. Minimale Kompensation, eine Strategie, die sie von Jochen gelernt hat: Konnte sie in dem Augenblick ihrem Frust keine Luft machen, nutzte sie eine Art Methadon, eine bewusste Geste, die für einen kleinen Moment ihren Ärger katalysierte. In ihrem Fall war es das Zurückstreichen ihrer Haare.

Justus Maximilian Wertheim sprach weiter: »Sicher könnten wir eine solche Strategie erarbeiten, wie von Ihnen vorgeschlagen. Aber, offen gesprochen, sind das Peanuts für uns. Der Aufwand, dieses Anwesen zu vermieten, wäre erheblich höher, und eine so simple Kosten-Nutzen-Abwägung leuchtet sicherlich auch Ihnen ein. Ich wollte mir mit der heutigen Begehung lediglich ein grobes Bild verschaffen. Und es ist genau das, was ich erwartet habe: etwas, das sich nicht rechnet. Wir werden verkaufen. So wie es ist – der Kasten wird in jedem Fall abgerissen. Ich habe auch schon einen Interessenten an der Hand, seine Kontaktdaten leite ich Ihnen weiter. Sie kümmern sich dann bitte um alles Weitere. So, damit sind wir dann auch durch – ich muss jetzt einen Flug nach Sardinien erwischen.«

Sophie hatte kaum Zeit, darauf zu reagieren. Denn während seines letzten Satzes war er bereits an ihr vorbei durch den Vorgarten geschritten; er drehte sich um und öffnete gleichzeitig das Gartentor. Dass es in dem Moment auch von der anderen Seite aufgedrückt wurde, übersah Justus Maximilian Wertheim völlig.

Kein Wunder, denn die Frau auf der anderen Seite war a) zu alt und b) zu arm, um auf seinem Radar aufzutauchen. Sie hatte rote Locken, eine ziemlich wilde Mähne, die sicher seit geraumer Zeit weder Conditioner noch andere Pflegeprodukte gesehen hatte. Vermutlich mit Henna gefärbt. Zusammengehalten wurde das Ganze von einem grünen Haarband. Wobei zusammengehalten eigentlich zu viel gesagt war. Es schien, als hätte das Haarband in seiner Bewerbung gelogen und sei nun mit dem neuen Job völlig überfordert. Auch der Rest der Frau war … nun ja: grün. Im wahrsten Sinne des Wortes war sie von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet. Bei ihrem Anblick schoss Sophie ein altes Kinderlied durch den Kopf. Nur dass die Frau nicht aussah, als wäre ihr Vater Jäger. Wobei, das kann man natürlich wirklich nicht wissen, dachte Sophie, aber definitiv sieht sie nicht so aus, als wäre sie stolz darauf, wenn ihr Vater denn Jäger wäre. Außer seine Beute wären Seitanschnitzel.

»Hallo. Was wollen Sie hier?«, röhrte es plötzlich von der anderen Seite des Gartentors. Völlig verdutzt wurde Sophie aus ihren Gedanken gerissen, eine solche Stimme hatte sie wirklich nicht erwartet. Die Frau, die aussah wie die Bäume, die sie selber vermutlich regelmäßig zu umarmen pflegte, schaute Justus Maximilian durchdringend an – und rümpfte dabei die Nase. Obwohl Sophie, die immer noch hinter ihm stand, nur seinen Rücken sah, war sie sicher, dass sein Gesichtsausdruck nicht minder abgeneigt war. Energisch drückte die Frau das Gartentor auf und zwang den jungen Erben damit, einen Schritt zur Seite zu gehen und sie vorbeizulassen.

Ui, die traut sich was. Sophie konnte sehen, wie sich die Schultern ihres Mandanten anspannten, und eilte zum Tor. Es war ihr in diesem Moment völlig egal, wer diese Frau war und wen sie hier besuchen wollte. Aber einen Ausraster ihres Mandanten wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Sie rauschte an der Frau vorbei und hielt Justus Maximilian das Tor auf. »Wir sind schon fertig mit der Begehung, auf Wiedersehen«, flötete sie, während ihr Mandant das Grundstück verließ.

»Begehung? Aber welche Begehung denn?«

Gut, die Frau möchte es anscheinend nicht leicht haben. Sie hätte ohne Probleme aus der Situation gleiten können, ohne noch mehr von Justus Maximilian Wertheim erleben zu müssen. Doch anstatt dankbar zu sein über Sophies Mut, ja ihre Ritterlichkeit, trat sie die Lawine wieder los. Na gut. Sophie drehte sich um, ging die paar Schritte zu der grünen Frau zurück und zog mit einer routinierten Bewegung eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. »Ich arbeite für Berglund & Söhne und bin für Herrn Wertheim und seine Erbengemeinschaft hier. Sie haben kürzlich diese Immobilie geerbt, und ich kümmere mich um die weitere Abwicklung.«

»Die weitere Abwicklung?«

Die Frau war wirklich die langsamste Lawine der Welt.

»Ja, den Verkauf der Immobilie.« Sophie drückte ihr die Visitenkarte in die Hand. »Hier, bitte sehr. So, wir müssen dann auch weiter, denn wie Herr Wertheim vorhin schon so passend sagt: Zeit ist wertvoll.«

Dass er damit primär seine Zeit meinte, unterschlug Sophie in dem Moment. Der Einfachheit halber. Und weil sie wirklich endlich wegwollte. Weg von dieser grünen Frau. Weg von dieser Immobilie. Und allem voran ganz weit weg von Justus Maximilian Wertheim.

Eigentlich sollte sie sich darüber aufregen, dass sie und ihre Arbeit so übergangen wurden. Vielleicht lag es an ihrem bevorstehenden Urlaub oder an dieser komischen Begehung oder einfach an diesem Tag – aber Sophie konnte sich nicht dazu bringen, ernsthaft genervt zu sein. Ein wenig war sie erleichtert, dass sie direkt mit dem erwähnten Interessenten in die Verhandlungen gehen konnte. Denn vielleicht war Sophies Zeit nicht so wertvoll wie die von Justus Maximilian Wertheim. Ihre Nerven waren es allemal.

2

»K-A-F-F-E-E«. Zu mehr war Sophies Gehirn nicht mehr in der Lage. Der Vormittag in Ottensen mit gleich zwei skurrilen Figuren hätte ihr eigentlich für den ganzen Tag gereicht. Aber leider hatte ihr Aufgabenzettel andere Pläne, und so hatte sich Sophie nach einem kleinen Mittagssnack direkt wieder in die HafenCity an den Schreibtisch begeben.

Mittlerweile war es 15 Uhr geworden. Das wusste Sophie, ohne auf die Uhr sehen zu müssen. Denn ihr Nachmittagstief klopfte gerade an – und zwar sehr laut und sehr doll. Mit ihrer Kaffeetasse in der Hand wollte Sophie sich gerade auf den Weg in die Küche machen, als ihr Telefon klingelte. Einfach klingeln lassen, dachte sie sich. Ich bin ja gleich wieder zurück, die Nummer wird mir angezeigt, der Anrufer kann eine Nachricht hinterlassen, und sollten weder Nummer noch Nachricht bleiben, kann die Person auch noch mal anrufen, wenn es denn wirklich wichtig ist.

Den Katalog der Rationalitäten, wie Sophie ihn gerne nannte, ratterte sie immer in Momenten wie diesen runter. Und in genau diesen Momenten brachte er – nichts.

»Berglund & Söhne Vermögensverwaltung, Sie sprechen mit Sophie Uhlmann. Was kann ich für Sie tun?«

»Mensch, Sophie, sogar beim Sprechen kann man ganz deutlich raushören, dass das ›Sie‹ in deiner Begrüßung großgeschrieben wird. Oder großgesprochen in dem Fall? Wobei: ›großsprechen‹ ergibt keinen Sinn, das wäre dann vermutlich eher laut, und schreien willst du ja nicht. Tust du glücklicherweise auch nicht. Das mal nur so als Feedback, du hast eine sehr angenehme Telefonstimme. Ich bin mir sicher, dein Telefon steht selten still.«

»Eigentlich tut es das die meiste Zeit. Nur in den wirklich unpassenden Momenten klingelt es. Ist die Frage, ob man dafür das Telefon oder den Anrufer zur Verantwortung zieht? Und ob sich daraus – unabhängig von der ersten Beantwortung dieser philosophischen Auseinandersetzung – Rückschlüsse auf die Schuldfähigkeit des Störenden ziehen lassen.«

»Ahhhhhhhhhh, gute Antwort«, kam es zufrieden vom anderen Ende der Leitung. Besagtes befand sich zum Zeitpunkt des Anrufs vermutlich in der Schanze: Es handelte sich um Sophies Freundin Jule. Jule konnte man nun wirklich keine böse Absicht bei ihren Anrufen unterstellen. Sie hatte nur trotz Armbanduhr, Smartphone, großer Wanduhr in der Küche und sogar einer digitalen Zeitanzeige am Backofen absolut kein Gespür für Wann könnte ein guter Zeitpunkt für ein bisschen Plaudern sein? Und egal wie oft Sophie noch versuchen würde, Jule klarzumachen, dass nachmittags um 15 Uhr kein guter Zeitpunkt war, da sie sich da normalerweise im Büro befand und das Büro an sich kein richtig guter Ort für ein bisschen Plauderei war – es würde sich nicht ändern. Jule war selbstständig. Für sie zählten Bürozeiten und ein geregeltes Nine-to-five einfach nicht. Das wäre schlicht nicht möglich, denn Jule gehörte zu den Personen, die erst dann so richtig aufblühten, wenn der Rest der Nation schon wieder in den Schlafanzug stieg. Vermutlich saß sie gerade beim Frühstück.

»Jule, auch bei dir gilt: Was kann ich denn für dich tun? Und ob das Dich in diesem Fall groß- oder kleingeschrieben ist, das überlasse ich jetzt dir und deiner Interpretation.«

»Also bitte, so förmlich sind wir auch nicht. Und wenn wir es wären, würde ich klar fürs Hamburger Sie plädieren. Also Sophie, wie geht es Ihnen heute?«

»Danke, gut.« Eigentlich eine Lüge, immerhin schrie Sophies Kopf immer noch nach Kaffee. Auf ihre interne strenge Ansage, dass der Kaffee noch kurz warten muss, reagierte ihr Gemüt wie ein dreijähriges Kind: Warum?

»Mh, sehr gesprächig, ich sehe schon. Wieso ich eigentlich anrufe, ist, weil du morgen in den Urlaub fliegst und ich dich dann ja gar nicht mehr sehe. Deshalb wollte ich dich wenigstens kurz hören. Weil drei Wochen eine verdammt lange Zeit sind, egal was andere behaupten, für mich fühlt sich das richtig lang an. Quasi gen unendlich, weil du diese drei Wochen ja nicht hier bist.« Sie seufzte. »Du weißt, dass ich dir im Prinzip einfach einen schönen Urlaub wünschen möchte. Richtig?«

Sophie grinste. Natürlich wusste sie das. Sie freute sich zwar auf den Urlaub – drei Wochen Madeira mit ihrem Freund Jochen. Trauminsel mit Traumkerl. Ihre zwei Besten, Jule und Lina, würde sie trotzdem vermissen.

»Natürlich weiß ich das. Hör mal, eben weil ich morgen in den Urlaub fliege, habe ich hier heute noch einiges zu tun. Im Büro. Ich melde mich aber heute Abend noch mal oder allerspätestens morgen, bevor wir im Flieger sitzen, ja?«

»Ja, mach das. Ich bin heute Abend zu Hause mit nichts zu tun und einem Handy, das auf laut gestellt ist. Ich freu mich auf deinen Anruf. Und bis dahin noch frohes Arbeiten!«

Damit legten beide auf, und Sophie schnappte sich erneut die Kaffeetasse, um in die Küche zu gehen.

Das Telefon klingelte. Jule! Genervt nahm Sophie den Hörer ab. »Jule, was ist denn noch? Ich habe doch gesagt, ich melde mich heute Abend!«

»Guten Tag, Frau Uhlmann. Hier ist Müller vom Empfang.«

»Oh, entschuldigen Sie, Frau Müller. Ich war mir sicher, Sie seien jemand anderes.«

»Dachte ich mir ja fast«, kam es trocken aus der Leitung. »Hören Sie, Frau Uhlmann, hier ist jemand, der Sie unbedingt sprechen möchte.«

Jemand? Hatte Sophie einen Termin vergessen? Panisch öffnete sie ihren Kalender am Computer, doch für heute Nachmittag waren keine Termine eingetragen. Sie hatte sich den Nachmittag extra freigehalten, um alles abzuarbeiten, bevor sie sich für drei Wochen verabschieden würde.

»Tut mir leid, Frau Müller, aber ich habe keinen Termin eingetragen. Um wen handelt es sich denn?«

»Eine Frau Zimmermann, primär.«

»Primär?«

»Ja, aber sie ist nicht alleine da.«

»Aha.«

»Ja, aha.«

»Und was möchte sie?«

»Ihr Anliegen hat die Dame nicht vorgetragen, nur dass sie Sie sprechen möchte.«

»Haben Sie denn nachgefragt?«

»Frau Uhlmann, ich bitte Sie. Glauben Sie, ich wüsste nicht, wie ich meinen Job zu machen habe?«

»Verzeihung, so war das nicht gemeint. Der Name Zimmermann sagt mir aber gar nichts. Können Sie der Dame bitte ausrichten, dass sie einen Termin vereinbaren möchte? Ich habe gerade wirklich überhaupt keine Zeit.« Wäre diese Frau Zimmermann eine potenzielle Mandantin, würde sie nicht einfach so bei Berglund & Söhne im Foyer stehen. Millionäre machten so etwas nicht, Millionäre machten Termine.

»Frau Uhlmann«, kam es nun etwas genervter aus der Leitung, »was glauben Sie denn, was ich hier mache? Glauben Sie mir, ich hätte Sie nicht angerufen, wenn es sich hätte vermeiden lassen? Wohl oder übel muss ich Sie bitten, zu uns ins Foyer zu kommen. Es bedarf Ihrer Anwesenheit.«

Sophie seufzte. Die Sache mit dem Kaffee konnte sie getrost vergessen. Bis sie, was auch immer im Foyer auf sie wartete, erledigt hatte, war es sicher 16 Uhr. Und damit die heilige Kaffeegrenze erreicht. Nicht dass sie Probleme mit dem Schlafen hätte, wenn sie nach 16 Uhr noch Kaffee trank. »Probleme mit Schlaf« waren ein unbekanntes Konzept für Sophie, viel eher hatte sie manchmal Probleme damit, zu gut und zu viel schlafen zu können. Aber Jochen war der Überzeugung, dass Kaffee zu spät am Tag schlecht für den Körper sei. Jochen und die Apotheken Umschau, und ganz ehrlich: Gegen die Apotheken Umschau hatte man keine Chance. Sophie hängte also die Kaffeetasse an den sprichwörtlichen Haken und trottete Richtung Aufzug.

Noch bevor sich die Tür des Aufzugs im Erdgeschoss wieder öffnete, vernahm sie den Lärm. Hoppla, was ist da denn los? Das Stimmengewirr wurde mit dem Öffnen der Aufzugtür deutlich lauter. Als Erstes fiel Sophies Blick auf Frau Müller. Sie saß an ihrem Platz hinter dem Empfangstresen, und würde Sophie sie nicht kennen, wäre ihr nicht aufgefallen, dass die Empfangsdame so genervt war wie nie. Es waren nur feine Nuancen in ihrem Gesicht: feine Falten um die Augen, die wohl daher rührten, dass sie sie am liebsten zu kleinen Schlitzen zusammenkneifen würde. Leicht bebende Nasenflügel. Ein kaum wahrnehmbares Zucken in den Mundwinkeln. Für jemanden, der Frau Müller nicht kannte, musste sie allerdings völlig emotionslos aussehen. Denn mit den Jahren hinterm Empfangstresen hatte sie etwas gelernt: Ein Gesicht aus Stein, aus dem sich nichts ablesen lässt, ist Gold wert.

Ob sich Frau Müller zur Unterstützung dieses Talents der ein oder anderen Botoxbehandlung unterzogen hatte, wusste Sophie bis heute nicht. In Momenten, in denen sie sich unbeobachtet glaubte, studierte sie Frau Müllers Gesicht in all seinen Details, um zu sehen, ob sich da nicht doch die ein oder andere Regung auf der sehr glatten Stirn zeigte. Manchmal kam das tatsächlich vor. Vor allem dann, wenn Frau Müller die Augenbrauen hob und Sophie einen sehr fragenden Blick zuwarf. Verglichen mit Frau Müllers großem Talent, keine Regung zu zeigen, hatte Sophie ein verschwindend geringes Talent darin, andere unauffällig zu beobachten.

Der Blick, den sie nun von Frau Müller bekam, war weder fragend noch überrascht oder vorwurfsvoll. Er war einfach erleichtert. Mit einem leichten Kopfnicken wies sie Sophie in die Richtung, aus der das Stimmengewirr kam. Ihr Blick wanderte von Frau Müller zur anderen Seite des Empfangstresens. Und was sie sah, war … beige. Mit einem Klecks Grün. Im Eingangsbereich des Foyers stand eine Gruppe von sechs Personen mit einem Durchschnittsalter von vermutlich 130. Nur die Frau in Grün war jünger, Sophie schätzte sie auf 40. Eine Rentnergruppe beim Tagesausflug, vermutete Sophie. Was das Grüppchen hier – und vor allem von ihr – wollen könnte, war ihr ein Rätsel. Endlich schienen die Rentner und ihre Betreuerin Sophies Anwesenheit bemerkt zu haben, denn sie verstummten. Sophie hätte schwören können, dass mit der einkehrenden Ruhe Frau Müller ein Seufzer entfahren war.

»Guten Tag, ich bin Sophie Uhlmann, was kann ich für Sie tun?« Wie oft Sophie diesen Satz alleine in der letzten halben Stunde gesagt hatte. Und wie wenig sie ihn meinte. Denn eigentlich wollte sie für niemanden etwas tun. Eigentlich wollte sie nur für sich etwas tun: nämlich den Berg an Arbeit, der auf ihrem Schreibtisch wartete, wegarbeiten, Feierabend machen, nach Hause fahren, Koffer packen und morgen in den Urlaub fliegen. Das wollte Sophie tun und nicht der Betreuerin erklären, dass das hier kein historischer Bau war, wie in ihrem Marco-Polo-Reiseführer vielleicht angekündigt war. HafenCity, nicht Speicherstadt. Wenn ein Gebäude, das keine zehn Jahre alt ist, schon als historisch gilt, na dann gute Nacht.

»… jedenfalls ist das eine Unverschämtheit, und wir nehmen das nicht so einfach hin. Wir geben uns nicht kampflos geschlagen!«

Hä? Na gut, wenn es dem Frieden diente, konnte Sophie ihnen die Glas- und Stahlbauten in der HafenCity auch als historischen Klinker verkaufen.

»Sie können das nicht einfach verkaufen!«

Okay, jetzt wurde es wild. »Entschuldigen Sie«, unterbrach Sophie die Tiraden. »Aber was denn verkaufen?«

»Unser Zentrum natürlich!« Die Frau, zu der die Stimme gehörte, löste sich aus der beigen Masse. Sie hatte kurze weißgraue Haare, ein rundes Gesicht mit einer sehr stupsigen Nase, auf der eine große runde Brille ruhte. Und – man konnte es nicht anders sagen – sie war winzig. Sophie war sich sicher, dass die alte Dame keine 1,50 Meter maß. Der kurze stämmige Körper war in eine dünne Steppjacke gehüllt. Natürlich beige. Dazu trug die Frau Stoffhosen in hellem Grau und beige Schuhe mit Lochmuster und Klettverschluss. Wenn es die Essenz von Seniorenkleidung gab, dann war es das Outfit dieser Frau. Sie war bestimmt eine ganz fantastische Großmutter, und Sophie würde sehr gerne sonntags zu Kaffee und Kuchen in ihrer Küche sitzen. Gerade war sie aber eher böser Wolf als liebliches Großmütterchen, denn sie funkelte Sophie gereizt an.

»Welches Zentrum denn? Es ist wahr, wir kaufen und verkaufen hier auch Immobilien, das ist ein Teil unserer vielfältigen und wichtigen Aufgabenbereiche, die wir im Rahmen unserer Mandate tätigen. Aber ein Einkaufszentrum haben wir aktuell nicht im Portfolio.«

»Es geht ja auch gar nicht um ein Einkaufszentrum.«

»Das haben Sie doch eben gesagt?«

»Nein, haben wir nicht.«

»Aha.« Noch so ein Wort, das heute schon viel zu häufig über ihre Lippen ging. Hilfreich war es aber leider gar nicht. Aha war keine Lösung. Aha würde sie nicht aus dieser Situation befreien. Aha war eine Sackgasse. Was wollten diese Leute von ihr?

»Hören Sie, Sie können nicht einfach in unserem Zentrum auftauchen, mir an den Kopf werfen, dass Sie es verkaufen werden, und dann wieder abrauschen. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, schaltete sich nun die jüngere Frau dazwischen.

»Gute Frage«, antwortete Sophie zunehmend gereizt, »die möchte ich direkt zurückgeben. Mein Name ist Sophie Uhlmann, wie ich mich ja eingangs schon vorgestellt habe. Eine Vorstellung Ihrerseits ist mir aber anscheinend entgangen. Ich nehme aber an, dass Sie Frau Zimmermann sind? Oder sind das Sie?« Mit den letzten Worten wendete sich Sophie der Omi in Beigegrau zu. Die funkelte sie immer noch böse an, schüttelte dann aber den Kopf. Dann also doch die Jüngste der Runde. Sophie fixierte wieder die Frau in Grün, mit einem Blick, der nichts anderes zuließ als eine eindeutige Erklärung.

»Genau, Thekla Zimmermann bin ich. Gut, vorhin kannten Sie meinen Namen noch nicht. Aber erinnern Sie sich gar nicht?«

»Woran?« Sophie war nun ehrlich verwirrt. Ihre aufrichtige Konfusion verschaffte Sophie allerdings keine mildernden Umstände, denn anscheinend war irgendetwas an »Woran?« absolut falsch. Ein hörbares Raunen ging durch die Gruppe, und mit einem Mal explodierte alles.

Thekla war mehr als erbost über Sophies »arrogante Art, wirklich eine Unart« sei das. Die kleine alte Frau spuckte Gift und Galle und schimpfte darüber, was für ein Umgang das hier denn sei, und darüber, dass die jungen Leute absolut keinen Respekt mehr hätten. Was die restlichen vier Leute fauchten, konnte Sophie nicht verstehen, denn sie alle redeten durcheinander – und sehr, sehr laut.

»Können Sie sich bitte wieder beruhigen?«

»BERUHIGEN? Sie haben Nerven, Sie … Sie …« Die kleine alte Frau hatte zu ihrem stechenden Blick noch den drohenden Zeigefinger ausgepackt und fuchtelte nun wild damit vor Sophies Gesicht herum.

»Das führt doch zu nichts, ich verstehe kein Wort, wenn Sie alle durcheinanderreden.«

»Ach, Sie verstehen doch auch so nichts!«, kam es zurück. »Genau!« und »Nur Bahnhof!« kam es zur Bestärkung.

Es reicht. Sophie sammelte sich. Ich lasse mich doch nicht von einem Haufen Greise zur Sau machen. Die können nicht einfach so hier auftauchen und mir auf den Wecker gehen, nur weil sie nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Ich weiß das sehr gut, meine Zeit ist – sehr – wichtig. Dermaßen mental in Rage geredet baute Sophie sich auf und streckte die Arme zur Seite aus: »SCHLUSS JETZT

Und mit einem Mal wurde es still. Kein Mucks, kein Rascheln, kein Nichts. Sogar Frau Müller schien die Luft anzuhalten. »Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie hier eigentlich wollen. Aber Sie marschieren hier rein, Sie beschimpfen mich, und dann fällt Ihnen auch noch ein, mich als respektlos zu bezeichnen. Das ist wirklich die Höhe!« Sie atmete tief ein und aus und strich sich mit den Händen den dunkelblauen Blouson glatt. »Also frage ich Sie nun zum letzten Mal: Was wollen Sie hier? Und bitte antworten Sie nicht alle gleichzeitig. Es ist völlig ausreichend, wenn eine Person spricht.« Sophie schaute Thekla auffordernd an. Vielleicht weil sie die Einzige war, deren Namen sie kannte. Vielleicht auch, weil Sophie vor der kleinen alten Frau ehrlicherweise eine Heidenangst hatte. Thekla schnaubte verächtlich, was ihre Nasenflügel zum Tanzen brachte.

»Sie waren heute Vormittag auf einer Begehung in Ottensen. Erinnern Sie sich?«

»Ja, mein Mandant und ich haben uns die zu verkaufende Immobilie angeschaut.« Soweit nichts Auffälliges.

»Ich habe Sie am Gartentor getroffen. Sie und diesen geleckten Kerl.«

Immerhin in ihrer Meinung über Justus Maximilian schienen diese Thekla und Sophie auf derselben Seite zu stehen. Aber Moment, sie hatten sich heute Mittag schon einmal gesehen? Sophie nahm Thekla zum ersten Mal bewusst war. Und Tatsache: die grünen Schuhe, die grüne Ballonhose und das in hellerem Grün gehaltene Blusenkleid darüber. Dazu die wilden roten Haare und das immer noch maßlos überforderte Haarband, das inzwischen wohl gänzlich aufgegeben hatte. Bei diesem Gedanken lachte Sophie kurz auf.

»Natürlich lachen Sie, wenn Sie gerade dabei sind, die Existenz von anderen Leuten zu zerstören«, schaltete sich umgehend die garstige Omi ein. Thekla warf ihrer Mitstreiterin einen Blick zu, der besagte, dass es jetzt wirklich genug war, dass sie mit ihrem Anliegen auf diese Weise kein Stück weiterkommen würden. Die Omi zuckte nur mit den Schultern.

»Frau Uhlmann, das Gebäude, das Sie heute Vormittag besichtigt haben, ist unser Zentrum. Wir sind ein Rentner- und Nachbarschaftszentrum und eine wichtige Institution für diese Menschen hier«, ausladende Handbewegung in Richtung der kleinen Gruppe, »und viele weitere in Ottensen. Wenn Sie das Gebäude verkaufen, nehmen Sie nicht wenigen von ihnen die tägliche Lebensgrundlage.«

»Ein Zentrum? Das kann nicht sein.«

»Doch, wir sind dort schon seit über zehn Jahren.«

»Hören Sie, wenn dort ein Nachbarschaftszentrum«, Sophie zeichnete mit zwei Fingern Anführungszeichen in die Luft, »wäre, würde das in den Unterlagen stehen. Da steht aber rein gar nichts, kein aktueller Mieter verzeichnet.«

»Ja, aber wir sind doch da! Da können Sie alle fragen.« Theklas Ton wurde wieder aufgebrachter.

»Wenn Sie das Gebäude nutzen, aber nicht die offiziellen Mieter sind, sollten Sie sich um ganz andere Dinge Sorgen machen als um den Verkauf. Nämlich darum, ob das nicht vielleicht rechtliche Konsequenzen für Sie haben kann. Das Gebäude gehört gegenwärtig einer Erbengemeinschaft. Und die hat sich dazu entschieden, es zu verkaufen. Wir agieren hier auch nur als Exekutive, da wir von Herrn Wertheim engagiert wurden. Mir – und Ihnen – sind hier die Hände gebunden. Tut mir leid, aber der Auftrag ist abgezeichnet und der Verkauf schon im Gange.«

»Aber das können Sie doch nicht machen!« Nach Sophies Erklärung kam wieder Leben in die Rentner, und Entrüstung sprach aus ihren Gliedern. Fäuste wurden in die Luft gereckt, und einer von ihnen hatte soeben mit dem Fuß aufgestampft. Wie ein bockiges kleines Kind, dachte sich Sophie. Der seltsame Fall des Benjamin Button, er scheint kein Einzelfall zu sein.

»Doch, das kann ich. Und ich kann noch mehr: dieses Gespräch als beendet erklären beispielsweise. Sie hatten Fragen, und diese habe ich Ihnen beantwortet. Und nun bitte ich Sie zu gehen.«

»Auf keinen Fall, wir geben uns nicht kampflos geschlagen!«

»Dann kämpfen Sie gerne anderswo. Ich habe wirklich schon genug Zeit für Sie aufgebracht und nun richtige Arbeit zu erledigen. Also bitte.« Mit den letzten Worten wies Sophie die Gruppe Richtung Ausgang. Aber niemand bewegte sich. Die kleine garstige Omi verschränkte sogar die Arme vor der Brust. Fehlte nur noch, dass sie vorsorglich das Gebiss aus dem Mund nahm, bevor sie mit Sophie in den Ring stieg.

»Hören Sie«, setzte Sophie erneut an. »Wir haben genau zwei Möglichkeiten. Entweder akzeptieren Sie, was ich soeben gesagt habe. Falls es Sie beruhigt: Selbst wenn es mich persönlich kümmern würde, könnte ich den Verkauf nicht mehr stoppen. Es ist, wie es ist, akzeptieren Sie das und gehen Sie einfach.«

»Und die zweite Möglichkeit?«, fragte die Omi schnippisch. Vom bockigen Kleinkind zum schnippischen Teenager real quick. Würde sie ihr nicht so gehörig den Tag vermiesen, wäre Sophie fast beeindruckt.

»Oder ich rufe unser Sicherheitspersonal und lasse Sie persönlich hinausbegleiten.« Mit reglosem Gesicht wartete Sophie auf die Entscheidung der Gruppe. Dass die Omi sie gefährlich angeblitzt hatte, als Sophie mit der Security gedroht hatte, überraschte sie kaum. Die Frau schien wirklich nichts zu verlieren zu haben, nicht einmal wertvolle Lebenszeit. Thekla wirkte einsichtiger. Sie drehte sich zu den Rentnern um und sagte: »Okay, Leute, lasst uns gehen. Das hat hier keinen Sinn. Anscheinend wurden hier Emotionen und Zwischenmenschlichkeit durch Profit ausgetauscht.«

Nicht der schlechteste Deal.

»Wir werden einen anderen Weg finden, uns Gehör zu verschaffen«, wandte sich Thekla noch einmal an Sophie, während sie sich Richtung Ausgang bewegten. »Natürlich.« Es war 15.57 Uhr. Wenn der Aufzug schnell kam und sie sich ein oder zwei Minuten Toleranzbereich schenkte, könnte sie sich immer noch einen Kaffee holen.

Drei Stunden später schaltete Sophie endlich den Rechner aus. Es war schwer festzustellen, wem dabei ein lauteres Ächzen entfuhr. Endlich Feierabend. Und endlich Urlaub!

Als sie das Foyer durchquerte, war der Empfangstresen bereits nicht mehr besetzt. Frau Müller war schon längst im Feierabend und ließ sich nach der ganzen Aufregung heute vermutlich direkt wieder die Stirn glätten. Sophie verließ eilig das Gebäude. Rechts neben dem Ausgang befand sich der Fahrradständer, an dem um diese Uhrzeit nur noch wenige Räder festgemacht waren. Ehrlichweise musste man wohl sagen, dass dort immer eher wenige Fahrräder standen, da die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen nicht mit dem Fahrrad, sondern mit Statussymbolen zur Arbeit kamen. Aber Sophie liebte ihr Fahrrad, und selbst wenn sie ein Auto besäße, würde sie weiterhin mit dem Rad zur Arbeit fahren. Diese zwanzig Minuten morgens, die gehörten ihr ganz allein. Der frische Wind, der ihr dabei um die Nase wehte, und das kurze Stück, das sie direkt an der Außenalster entlangfahren konnte, bevor sie spätestens ab dem Rathaus das Gefühl von Großstadt wieder einholte – das waren morgens ihre absoluten Highlights. Manchmal, wenn ihre Zeit es zuließ, fuhr sie nicht rechts der Alster entlang durch Uhlenhorst, Hohenfelde und schließlich St. Georg – ein herrlich bunter Stadtteil mit wunderschönen Altbauten, der direkt hinter dem Hamburger Hauptbahnhof begann –, sondern links der Alster. Auch hier konnte sie dem Alsterufer folgen oder alternativ ein paar Straßen parallel dazu durch die Stadtteile Harvestehude und Rotherbaum rollen und dabei die eleganten Einfamilienhäuser anschauen. Diese beiden mochte sie neben Winterhude, wo sie und Jochen wohnten, auch sehr gerne. Im Kern waren sie sich ähnlich: epochale Bauten, schöne Vorgärten und glänzende Autos in der Auffahrt. Alles sah hier immer sehr aufgeräumt, gesetzt und angekommen aus. Ein Leben, das eingerichtet war und nun einfach genossen werden konnte. Genau auf dieses Ziel arbeitete auch Sophie hin: eingerichtet sein. Eingependelt sein und dann einfach genießen können.

Mit ihrem Job bei Berglund & Söhne hatte sie bereits einen großen Schritt auf dieses Ziel zugemacht. Und, wenn sie ehrlich war, ebenfalls mit ihrem Freund Jochen. Er war ein solider Mann, auf den man sich verlassen konnte. Sie hatten sich vor drei Jahren im Golfklub kennengelernt. Ihre Firma hatte das jährliche Sommerfest – Hauptziel: bessere Kundenbindung – dort ausgerichtet. Absoluter Höhepunkt des Tages war das Golfturnier, an dem sowohl Kundinnen und Kunden als auch Angestellte von Berglund & Söhne teilnahmen. Und eben auch Jochen. Er war Jurist und als Begleitung eines Mandanten mit von der Partie. Jochen hatte aber auch unabhängig von dem Sommerfest eine Premiummitgliedschaft im Golfklub und verbrachte seine Samstage so oder so auf dem Grün, das für ihn die Welt bedeutete. Seine Leidenschaft für den Sport in Ehren, schlug sich die Begeisterung leider nicht in Talent nieder. So viele Abschläge er auch machte, es sollte einfach kein guter Golfer aus ihm werden. Dass Sophie gegen ihn im Turnier spielte, war Zufall. Dass sie als absolute Anfängerin gewann, überraschte niemanden. Jochen nahm die Niederlage mit Humor und lud Sophie danach auf ein Glas Champagner ein. Und der Rest ist Geschichte. Und zwar eine, wie man sie schon Tausende Male gehört hat: Nach dem Tag auf dem Golfplatz ließ sich Jochen bis zum folgenden Mittwoch Zeit, um sie anzurufen und zum Essen einzuladen. Das erste Date beim schicken Italiener in Eppendorf, das zweite zum ausgiebigen Sonntagsspaziergang im Stadtpark und das dritte zum klassischen Konzert in der Elbphilharmonie, inklusive Nachhausebegleiten und Kuss vor der Haustür. Seit diesem Kuss hatten sie sich immer weiter eingependelt auf dem Weg zur perfekten Symbiose. Und das funktionierte erstaunlich gut, Sophie konnte sich an keinen wirklichen Streit erinnern, den sie in den vergangenen drei Jahren gehabt hätten. Gut, die Ausschläge nach oben waren ähnlich rar gesät, aber nun gut. Man konnte schließlich nicht alles haben, wieso sollte das bei Sophie anders sein? Sophie war Realistin, im Beruflichen wie im Privaten. Sie liebte Jochen, sie war zufrieden mit dem Leben, das sie hatten und das vor ihnen lag. Unaufgeregt und schön. Und jetzt stand erst mal ein Urlaub an. Drei Wochen auf der traumhaften Insel Madeira. Sophie hatte aus unerklärlichen Gründen eine absolute Schwäche für Inseln. Und eine Liste mit allen, die sie noch sehen wollte. Ab morgen könnte sie einen Haken hinter die Azoren setzen. Direkt auf dem zweiten Platz folgten die Liparischen Inseln vor Italien. Dieses Reiseziel hatten Jochen und Sophie für übernächstes Jahr angepeilt. Denn der Sommerurlaub im folgenden Jahr würde eine Fernreise sein. Jochen wollte unbedingt in die Arabischen Emirate und Dubai kennenlernen. Sophie hatte dafür relativ wenig Begeisterung übrig, aber noch hatte sie ja ein paar Monate Zeit, ihm vielleicht doch eher den Floh von Südostasien ins Ohr zu setzen.

Sophie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Wohnungstür. Als Erstes würde sie sich ein großes Glas Weißwein einschenken, dann ihren Koffer packen und Jochen nebenbei von ihrem schrägen Tag erzählen. Er würde zuhören und seine Aufmerksamkeit ab und an mit einem »Mhmh« belegen. Mehr würde er zu ihren Erzählungen nicht sagen, sie nur irgendwann fragen, wo ihr Reisepass sei. Sie würde antworten, dass sie ihren Personalausweis in ihrem Geldbeutel hatte und das ja völlig ausreichend wäre. Daraufhin würde Jochen zu einem Monolog ansetzen, warum es trotzdem wichtig war, ein zweites offizielles Ausweisdokument mit sich zu führen, auch wenn sie die EU nicht verlassen würden. Und ob all dieser Fürsorge um ihr Wohl würde sich Sophie geschlagen geben und ihren Reisepass suchen.

»Hallo, ich bin zu Hause!«, rief sie mit freudiger Stimme, kaum dass sie die Wohnung betreten hatte. »Entschuldige bitte, dass es so lange gedauert hat, aber heute war ein verrückter Tag. Aber jetzt bin ich ja da. Hast du denn deine Sachen schon gepackt? Na ja, ich brauche auch nicht lange. Eigentlich müsste ich ja nur ein paar Bikinis mitnehmen, nicht?« Sophie kicherte, streifte sich die Schuhe von den Füßen und ging schnurstracks zum Kühlschrank. Ein Glück, dass sie gestern noch daran gedacht hatte, den Wein kaltzustellen, ein solches Ärgernis konnte sie heute wirklich nicht gebrauchen. »Sollen wir jetzt schon ein Taxi bestellen für morgen früh? Damit sind wir auf der sicheren Seite, oder? Wenn wir schon so früh das Haus verlassen müssen, dann doch so stressfrei wie möglich.«

Ihr Flieger ging am Samstagmorgen um 9 Uhr. Und da Jochen gerne »etwas« zeitlichen Puffer hatte, wollte er um 6.30 Uhr das Haus verlassen. Noch so ein Umstand, in den Sophie sich bereitwillig fügte.

Das volle Weinglas in einer Hand balancierend, betrat Sophie das Wohnzimmer. Da Jochen immer noch nicht geantwortet hatte, vermutete sie, dass er sich in tiefer Konzentration über die Reisepläne und Buchungsbestätigungen gebeugt am Wohnzimmertisch befand und sie noch gar nicht wahrgenommen hatte. Aber im Wohnzimmer war niemand.

Mh, komisch.

Hatte sie ihn in der Küche etwa übersehen? Eigentlich unmöglich, aber nach diesem Tag traute sie sich auch das zu. Selektive Wahrnehmung und so. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln. Doch nein, die Küche war leer. Gut, blieb eigentlich nur noch das Schlafzimmer. Vermutlich war Jochen auch erst kurz vor ihr nach Hause gekommen. Als Jurist war auch er lange Tage im Büro gewohnt, und es war selten, dass die beiden vor halb acht zu Hause eintrafen. Tatsächlich brannte im Schlafzimmer Licht.

»Ah, hier bist du. Stell dir vor, ich habe mir gerade vorgestellt, wie ich dich in der Küche einfach übersehen habe, weil ich nur Augen für den Weißwein hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sophie grinste ihn an.

Jochen saß auf dem Bett, neben ihm die gepackten Koffer. »Oh, du bist doch schon fertig mit Packen? Prima, ich beeile mich! Wie gesagt, eigentlich brauche ich ja nur die Bikinis. Na gut, noch ein paar Dinge mehr. Aber auch das ist schnell zusammen …« Mitten im Satz hielt Sophie inne. Moment mal. Die Koffer? Jochen saß neben DEN gepackten Koffern. Und auch wenn man gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet war, brauchte man nicht vier Taschen, um drei Wochen Urlaub auf Madeira zu machen. Ein ungutes Gefühl machte sich in Sophies Bauch breit. »Mensch«, sagte sie, wobei sie ihn schief anlächelte, »du hast aber einiges vor im Urlaub. Was ist da denn alles drin?«

»Sophie, ich …«

»Hast du etwa Wandersachen eingepackt? Ich meine, bei der Landschaft auf Madeira wäre es sicherlich nicht verkehrt, wenn wir ein paar gute Wanderschuhe und vielleicht sogar outdoortaugliche Kleidung mitnehmen. Ich glaube, es gibt auch den ein oder anderen Berg, den man sich vornehmen kann. Daran hatte ich jetzt gar nicht gedacht, aber wir hatten ja auch noch nicht besprochen, was wir eigentlich machen wollen.«

»Sophie, kannst du nicht mal kurz …?«

»Wo sind denn nur meine Schuhe?« Sophie riss wahllos alle Schubladen an der Kommode im Schlafzimmer auf. Warum ihre Wanderschuhe ausgerechnet in der Schublade mit den Handtüchern liegen sollten, wusste sie selbst nicht. Aber eigentlich wusste sie gerade gar nichts mehr, denn das ungute Gefühl in ihrem Bauch breitete sich auf ihren ganzen Körper aus. Auch auf ihr Gehirn.

»Wenn ich aber so darüber nachdenke, ist Wandern eigentlich die perfekte Beschäftigung für diesen Urlaub. Klar werden wir auch am Strand liegen. Aber ich kenne uns, das wird schnell langweilig. Und dank der moderaten Temperaturen und dem ständigen Wind bekommen auch wir Nordlichter keinen Hitzschlag …« Sophie hielt inne, denn ihr wurde bewusst, dass sie plapperte, ohne etwas zu sagen. Sie drehte sich zu Jochen um. Ein gequälter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und er rieb sich nervös die Hände.

O Mann, was um Himmels willen ist hier nur los? Sophie versuchte ihn so aufmunternd wie möglich anzuschauen. Vielleicht war ja auch etwas im Büro vorgefallen? Vielleicht war ihm gekündigt worden? Vielleicht wurde der ganze Laden vom Finanzamt hochgenommen, und alle hatten heute ihre Jobs verloren? Gut, da hätte ich auch keine Lust auf Urlaub, dachte Sophie. Oder sein Vorgesetzter war plötzlich verstorben, und Jochen wurde ebenso plötzlich befördert. Dann konnte er natürlich nicht in den Urlaub. Klar, wenn dafür jemand Verständnis hatte, dann ja wohl sie. Sophie seufzte.

»Wir müssen den Urlaub absagen, richtig? Das ist es doch?« Sie ließ sich neben ihn auf das Bett sinken. »Das ist okay für mich. Also natürlich – versteh mich nicht falsch – finde ich es sehr schade. Ich wäre gerne mit dir nach Madeira geflogen. Und nach den letzten Wochen hätte ich einen Urlaub auch mehr als vertragen können. Aber was auch immer der Grund dafür sein mag, dass wir nicht in den Urlaub können: Ich verstehe es. Dein Beruf ist wichtiger. Und so ein Urlaub lässt sich ja auch nachholen. Wenn wir eher im Herbst fliegen, dann ist auch weniger los. Dann sind die meisten Touristen zu Hause, und das ist doch eigentlich noch viel toller.« Sie tätschelte ihm beruhigend das Knie und lächelte ihn an. Jochen nickte schwach, sah dabei aber immer noch am Boden zerstört aus.

»Hey, schau nicht so traurig. Wie gesagt, es ist nur ein Urlaub, und wir können ihn nachholen. Madeira läuft uns ja nicht weg. Oder geht in der Zwischenzeit unter. So, dann schaue ich mal, was der Lieferservice so für uns in petto hat, und du kannst so lange deine Koffer wieder auspacken.« Mit einem Satz sprang sie vom Bett auf und verließ das Schlafzimmer. Erst in der Tür blieb sie stehen. Drehte sich um, blickte zu Jochen, blickte zu den Koffern und wieder zu ihm. Ein Kloß machte sich in ihrem Hals breit. »Wieso hast du die Koffer überhaupt gepackt, wenn du wusstest, dass wir nicht fliegen werden?«

»Sophie, das versuche ich schon die ganze Zeit …«

»Was versucht du die ganze Zeit?«

»Na, dir zu sagen.«

»Jochen, was zu sagen?« Ihr Ton wurde lauter.

»Na ja, dass …« Er schaute, plötzlich verlegen, auf seine Hände, die er weiterhin aneinanderrieb. »Dass …«

»Sag es doch bitte einfach.«

»Das versuche ich ja. Aber das ist nun mal nicht so leicht, okay, Sophie?« Jetzt wurde sein Ton lauter.

»Ah, aber verlassen zu werden ist leicht?«, war alles, was Sophie sarkastisch zurückgeben konnte. Das quittierte Jochen nur mit einem weiteren Seufzen und schwieg.

Sie musste hier raus. Am liebsten würde sie aus der Wohnung fliehen und nach einem ausgedehnten Spaziergang zu dem Freitagabend zurückkommen, den sie noch vor einer halben Stunde vor Augen hatte. Aber das war auch keine Lösung. Denn natürlich würde sich auch nach einem Spaziergang nichts an der Situation geändert haben. Jochen würde vermutlich immer noch genauso auf dem Bett sitzen und sich die Hände reiben. Vermutlich runter bis auf die Knochen.

Stattdessen entschied sie sich also für einen kleinen Spaziergang. Zum Kühlschrank. Wenn ich schon verlassen werde, dann wenigstens stilvoll, dachte sie, als sie sich ein zweites Glas Wein einschenkte, oder wenigstens mit Stielglas. Mit einem vollen Glas – und nach einem großen Schluck – trat sie hinaus in den Flur, wo Jochen gerade seine Koffer abstellte. Neben die Wohnungstür. »Was wird das?«, fragt sie.

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