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Im Land der wilden Pfoten

Als Buch hier erhältlich:

Abenteuer in Down Under

Eine Auszeit in Australien – das ist genau das, was Mieke nach der Trennung von ihrem Freund braucht. Doch als schon wenige Tage nach ihrer Ankunft verheerende Buschbrände ausbrechen, gerät sie in Gefahr – und wird gleichzeitig zur Retterin. Ihr wird klar, wie zerbrechlich die Schönheit dieses sagenumwobenen Kontinents ist und wie sehr jede Hilfe gebraucht wird. Ohne lange zu überlegen, beginnt sie, sich in der Wildtierrettung zu engagieren. Gemeinsam mit anderen Helfern vollbringt sie das scheinbar Unmögliche: Sie bringt Hoffnung dorthin, wo alle anderen aufgegeben haben.

»Eine interessante Geschichte, nicht nur für Australien-Fans.« Freizeit ILLUstrierte


  • Erscheinungstag: 25.01.2022
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951123
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Vorwort

Australiens Buschfeuer im Dezember 2019 und Januar 2020 haben unsagbare Zerstörung verursacht, zu Tränen gerührt und Menschen an den Rand ihrer Vorstellungskraft gebracht. Viele starben, Häuser und Heimaten wurden zerstört, eine halbe Milliarde Tiere fiel den Flammen zum Opfer, darunter allein achttausend Koalas. Die ganze Welt litt mit Australien.

Die Buschfeuer sind gleichzeitig der Ursprung unglaublicher Geschichten. Viele sprengen sämtliche Superlative. Einige erzählen von Hoffnung, andere von unsagbaren Schrecken, Schmerzen und Verlust. Manche rühren zum Weinen, andere zum Lachen.

Als studierte Naturschutzbiologin aus Deutschland setze ich mich seit fünfzehn Jahren in meiner Wahlheimat Australien für die Wildtiere ein. In meiner Tätigkeit als ehrenamtliche Wildtierretterin habe ich vielen Tieren zu einer zweiten Chance verholfen und andere Wildtierpfleger unterstützt. Hautnah habe ich während des »Black Summer« Geschichten miterlebt, die mich zum Schreiben dieses Romans bewegt haben. Ortsnamen habe ich geändert, und viele Bestandteile der Geschichte entstammen meiner Fantasie. Übereinstimmungen mit echten Menschen sind Zufall. Dennoch liegt diesem Buch ein wahrer Kern zugrunde, und viele der Ereignisse haben sich ähnlich zugetragen. Die Buschfeuer haben neben all ihrem Elend noch etwas geschaffen: Menschen, die zu Helden wurden. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, ihre Taten in Schriftform festhalten zu können.

Naturkatastrophen und der vom Menschen verursachte Klimawandel lassen einen an der Zukunft unseres Planeten und unserer Zivilisation zweifeln. Dennoch dürfen wir nie aufgeben, für unsere Natur zu kämpfen, denn jeder Einzelne kann einen Unterschied machen.

Lea Lobrecht

Kapitel 1

Der Wald brannte. Staub wirbelte auf und vermischte sich mit dem immer dichter werdenden Rauch, der die Sicht auf das Bergpanorama des Regenwaldes nahm. Mieke fuhr so schnell es die holprige Straße erlaubte, ohne zu riskieren, dass ihr Mietwagen ins Schleudern geriet. Das Unterholz rechts von ihr, das zwischen den massiven Stämmen der Eukalyptusbäume die Straße säumte, hatte bereits Feuer gefangen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Funken übersprangen, die auch die Vegetation links von ihr in Flammen versetzen würden.

Ein Wanderparkplatz tauchte vor Mieke auf. Gestern noch war sie hier spazieren gewesen, hatte Fotos gemacht, von den Feigenbäumen mit ihrem weit ausschweifenden Wurzelwerk, von den Regenbogenloris, die sich in den Wipfeln tummelten, und den Filandern, die durchs Dickicht huschten.

Der legendäre Lamington Nationalpark sollte das erste Ziel ihrer dreimonatigen Urlaubsreise nach Australien sein. Doch ihre Pläne, sich hier von der Trennung von Alexander zu erholen, waren von dem Buschfeuer durchkreuzt worden.

Ein Schatten huschte über die Straße, und Mieke trat hart auf die Bremse. Sie verfehlte den Koala um Haaresbreite. Er hielt kurz inne, schaute den Wagen an und tapste dann hastig weiter, um im Gebüsch zu verschwinden. Gerade als Mieke aufs Gaspedal drücken wollte, kam Wind auf. Mieke biss sich auf die Lippen. Die Wipfel wogten hin und her, Funken flogen. Die Überlebenschancen des Koalas waren gleich null, aber sie selbst musste sich auch beeilen. Wie viel Zeit blieb ihr?

Ein Ast auf der bisher verschonten Straßenseite fing Feuer. Bald würden die Flammen die schmale Gebirgsstraße wie einen Tunnel umfangen.

Ein Blick in den Rückspiegel – niemand zu sehen. Sie war die letzte Besucherin der Kurrawong Lodge gewesen. Alle Gäste waren evakuiert worden. Irgendwo hinter ihr befanden sich nur noch Liam und Jenny, die Besitzer der Lodge, die in aller Eile ihr Hab und Gut zusammentrugen.

Als die Warnung ausgesprochen worden war, hatte Mieke sich nichts ahnend den Coomera- und den Yarrabilgong-Wasserfall angesehen, die gemeinsam in ein Becken stürzten, wie zwei Liebende, die sich auf ewig im schaumigen Nass vereinen wollten. Die kühle Luft nahe am Wasser war befreiend gewesen und hatte ihr geholfen, über die letzten Monate in Deutschland zu sinnieren, die ihr Leben so auf den Kopf gestellt hatten. Die Wasserfälle boten den Besuchern normalerweise ein beeindruckendes Spektakel, doch in dieser Zeit der Dürre waren sie auf ein dünnes Rinnsal reduziert. Das Land war zu trocken und ausgelaugt.

Erst als Mieke wieder in der Lodge angekommen war, hatte sie von der Evakuierung und dem drohenden Feuer erfahren, in Windeseile all ihre Sachen zusammengepackt und in den Mietwagen geworfen.

Mieke gab sich einen Ruck, schaltete den Motor ab und sprang aus dem Auto. Die heiße, mit Rauch geschwängerte Luft biss in den Augen, und sie hustete. Instinktiv hielt sie sich den Arm vor den Mund und rannte hinter dem Koala her. Vorbei an Pinien und Eukalyptusbäumen, die von unzähligen Ranken bewachsen waren, ein grün-braunes Durcheinander, das sich immer wieder in sich selbst verschlang. Der Berghang war steil, es kostete sie alle Konzentration, nicht abzurutschen. Binnen weniger Sekunden war sie schweißgebadet. Ihr Blutdruck stieg an und ließ ihr Herz rasen, gleichzeitig wurde ihr Mund trocken, als Adrenalin ausgeschüttet wurde. Sie kletterte über eine besonders widerspenstige Wurzel, und ihre Hände zitterten so stark, dass sie den Halt verlor. Fluchend rutschte sie ab und entdeckte endlich den Koala, der gerade dabei war, eine junge Akazie hinaufzuklettern. Der Baum war eine Todesfalle, denn dies war kein träges Feuer, das die Wipfel verschonte und somit den Tieren die Möglichkeit eines Rückzugs bot.

Vom Frühstücksraum der Lodge hatte Mieke vor ihrer Abfahrt noch einen Blick auf die Flammenwand an der gegenüberliegenden Bergwand erhaschen können. Es war mehr als deutlich gewesen, mit welch übermenschlichen Kräften sie sich vorwärtsschob, alles auffressend, was ihr in den Weg kam. Selbst die turmhohen Tallowwood-Bäume, deren Kronen bis zu sechzig Meter in die Höhe ragten, verschwanden binnen weniger Sekunden unter den leckenden Flammen. Schwärme von Kakadus waren krächzend aufgestiegen und gegen die Windrichtung davongeflohen.

Hier, wo Mieke jetzt war, brannte nur das Unterholz, aber das konnte sich jederzeit und schnell ändern. Der Koala war nur noch wenige Schritte entfernt. Sein angesengtes Fell rauchte, und er kam nur langsam den Baum hoch. Bei jeder Bewegung grunzte er gequält. Mieke sprang vor, griff ihn von hinten und hob ihn vom Stamm. Er war erstaunlich schwer, aber die Angst gab ihr Kraft. Mit einer Hand zog sie sich ihr T-Shirt aus, mit der anderen versuchte sie, den vor Schmerzen schreienden Koala auf den Boden zu drücken, um ihn daran zu hindern, weiter in sein Unglück zu rennen. Doch nicht der Druck, den sie ausübte, löste die Schmerzen aus, sondern die Wunden an seinen verbrannten Pfoten. Seine Klage erinnerte Mieke an das Weinen eines verzweifelten Kleinkindes, das nicht verstand, warum es leiden musste. Dieses Heulen war kaum auszuhalten, doch Mieke schluckte die Tränen hinunter, die aufzusteigen drohten. Sie durfte keine Zeit verlieren.

Schnell wickelte sie das Tier in ihr Shirt und sprintete mit der schweren Last zum Auto zurück. Wieder musste sie husten, ihre Augen tränten und ließen sie die Dinge nur unscharf erkennen. Endlich hatte sie den Wagen erreicht, warf sich mit dem verwundeten Tier auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ein Handtuch aus einer ihrer Taschen gekramt, den Koala zusätzlich darin eingewickelt und dieses mit einer Jacke verknotet hatte, sodass nur noch sein Kopf herausguckte.

»Es tut mir so leid, es wird alles gut«, raunte Mieke dem Tier zu, das entsetzlich zappelte und versuchte, sich aus seinem Kleidergefängnis zu befreien. Sie streichelte dem Kleinen sanft über die Ohren. Das schien ihn zu beruhigen.

Entschlossen blickte Mieke auf. Sie musste den Motor starten und so schnell wie möglich von hier verschwinden. Der graue Schleier um sie herum war jetzt so dicht, dass sie die Straße kaum noch erkennen konnte. Es war laut, das Feuer brüllte, und überall knackte und krachte es, wenn Äste auf dem Boden aufschlugen. Panik erfüllte Mieke. Hoffentlich kam sie hier lebend heraus. Ihre Hand zitterte, als sie den Startknopf des Autos drückte. Der Motor blieb stumm. Wieder versuchte sie es, dieses Mal hektischer, aber nichts passierte.

Es waren noch etwa zwanzig Kilometer bis ins Tal, wo der Lamington Nationalpark endete und gerodeten Kuhwiesen Platz machte, durch die sich der Nerang River wand. Der Fluss versprach Rettung, aber der Weg war zu Fuß nicht schnell genug zu schaffen.

Ein Blick auf ihr Handy zeigte Mieke, dass sie keinen Empfang hatte. Entsetzt hob sie beide Hände vor den Mund.

»Verdammter Mist«, presste sie zwischen ihren Fingern hervor. Alexander hätte bestimmt gewusst, was mit dem Auto nicht stimmte, er war gut in technischen Dingen. »Hätte, hätte, Lichterkette«, dachte sie und suchte das Armaturenbrett nach Hinweisen ab.

Als ein Motorengeräusch ertönte, schaute Mieke hoffnungsvoll auf. Ein Feuerwehrauto raste um die Ecke und legte nur wenige Meter vor ihr eine Vollbremsung hin. Heraus sprang ein Mann Mitte dreißig in orangefarbener Uniform, der ohne Umschweife auf sie zukam und die Autotür aufriss.

»Kommen Sie mit, schnell«, rief er ihr auf Englisch zu.

Ohne den Koala loszulassen, schnappte Mieke sich ihre Bauchtasche mit dem Reisepass, warf sich ihren noch immer mit dem Nötigsten gepackten Wanderrucksack über eine Schulter, kletterte umständlich aus dem Auto und folgte ihrem Retter.

Gerade hatte sie es sich mit dem Koala auf dem Beifahrersitz des Feuerwehrautos bequem gemacht, da sah sie, wie sich ein weiteres Fahrzeug aus dem Rauch schälte. Liam und Jenny.

Ach du Schande, ging es Mieke durch den Kopf, ich blockiere die Straße. Und tatsächlich schaffte Liam es nicht, an ihrem Hyundai SUV vorbeizukommen.

Die Türen gingen auf, und die beiden Lodgebesitzer stiegen aus, stolperten auf sie zu und kletterten ebenfalls zu ihnen in den Wagen. Mieke rutschte näher an den Fahrersitz, während Liam eng zu ihr aufschloss, damit auch Jenny noch Platz fand. Beide waren außer Atem, und die Angst und Verzweiflung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Keiner sagte ein Wort.

Zwei bange Minuten fuhr das Feuerwehrauto rückwärts die gewundene Straße hinab. Mieke vermied den Blick zur Steilkante, an der es mehrere Hundert Meter bergab ging.

Der Feuerwehrmann bemerkte ihre Unruhe. »Alles gut, ich habe das schon öfter gemacht«, beruhigte er sie und warf hinterher: »Ich bin übrigens Rob, und ich bringe euch hier heil heraus. Versprochen.«

Dankbar schaute Mieke ihn an, und die Erleichterung rieselte beinahe physisch spürbar ihren Rücken hinunter. Robs erdige Stimme hatte einen beruhigenden Klang, souverän und vertrauenswürdig.

Kurz darauf fand er einen Aussichtspunkt, breit genug, um das Fahrzeug zu wenden. Trotzdem kam er dem Hang dabei so nah, dass Mieke zu fühlen glaubte, wie die Kante unter ihnen bröselte. Ihre Zuversicht fiel in sich zusammen, und für einen Moment durchflutete sie Panik, bis die Reifen wieder auf festem Boden griffen. Rob schien ihr lautes Aufatmen nicht zu bemerken, er war vollkommen auf sein gewagtes Manöver konzentriert. Jenny neben ihr weinte, und Liam beruhigte sie mit leisen Worten. Mieke konnte nur erahnen, wie es den beiden gehen mochte. Sie verloren gerade ihr Lebenswerk, ihre Existenzgrundlage. Die beiden waren bereits Anfang sechzig. Da fing man nicht mal eben von vorne an. Selbst die Dinge, die sie auf die Schnelle ins Auto hatten packen können, waren nur ein Bruchteil ihrer Habseligkeiten, doch nun hatten sie dank ihr kaum eine Handvoll Akten mitnehmen können. Das war alles, was ihnen blieb.

Mieke suchte nach den richtigen Worten, um sich zu entschuldigen, dass sie die Straße blockiert hatte. Doch was sagte man in einer solchen Situation?

»Alles in Ordnung mit euch?«, fragte sie stattdessen irgendwann. »Nein«, antwortete Liam und fügte hinzu: »Aber wir sind unverletzt, und das ist vorerst das Wichtigste.« Es klang weniger zuversichtlich, als er vermutlich beabsichtigt hatte, und Mieke war nicht sicher, ob er an seine eigenen Worte glaubte. Er hatte seinen Arm um Jenny gelegt, sein Kopf war knallrot wie der Schein des Feuers, der langsam schwächer wurde.

Miekes Gedanken rasten. In Deutschland war es noch Nacht, was bedeutete, dass ihre Schwester Lina gerade schlief. Mieke musste also nicht befürchten, dass sie aus den Medien erfuhr, dass die Kurrawong Lodge abgebrannt war, und sich unnötige Sorgen machte. Lina war bezüglich Miekes Reise beinahe aufgeregter gewesen als Mieke selbst. Sie hatte ihre ältere Schwester in den letzten Wochen immer wieder über verschiedene Risiken aufgeklärt: Bullenhaie in den Küstengewässern und Flüssen wurden auch in knietiefem Wasser gefährlich, wenn auch nicht so sehr, wie man es sich häufig ausmalte. Die beeindruckenden Tiere waren scheue Wesen, denen ihr beängstigendes Revolvergebiss mit den lebenslang nachwachsenden Zähnen und die Darstellung in Filmen zum Verhängnis wurde. Sie schürten eine Angst in den Menschen, die sie zu ihren Feinden machte.

Seewespen waren vor allem im Norden Australiens ein Problem, und auch blau geringelte Kraken, die als die giftigsten Tiere der Welt galten, kamen an der Ostküste nur selten vor.

Schlangen hingegen waren ein Problem in Queensland, vor allem die tödlich giftigen Braunschlangen.

Spinnenbisse wiederum ließen sich gut behandeln und vermeiden, wenn man nicht unbedacht an einen Außenwasserhahn oder unter ein Stück Rinde fasste. Vor Zecken musste man sich um diese Jahreszeit allerdings auch in Acht nehmen. Es gab hier eine Art, deren Biss Lähmungen verursachte, die tödlich enden konnten.

Nach jeder erschreckenden Neuigkeit hatte Mieke ihr versichert, aufzupassen. Sie war auf alles vorbereitet – nur nicht auf Feuer.

Sie würde Lina eine Nachricht schreiben, bevor diese aufwachte. Leider hatte sie immer noch kein Netz. Das musste also warten.

Der Koala in Miekes Arm wimmerte unablässig. Mieke hatte bisher nicht gewusst, dass diese Tiere zu solchen Geräuschen fähig waren. Sein Hinterkopf fühlte sich heiß und versengt an, sein Blick war trübe. Sie vermied es, dem Drang nachzugeben, ihn hin- und herzuwiegen, denn das würde dem Kleinen sicherlich noch mehr Schmerzen zufügen. »Alles gut«, murmelte sie ihm stattdessen zu und hoffte, dass er ihre guten Absichten verstand.

»Hier, reib ihn damit ab. Und gib ihm etwas zu trinken«, sagte Rob und deutete auf den Fußraum, in dem einige Wasserflaschen herumkullerten. »Aber nicht direkt aus der Flasche, Koalas müssen trinken, ohne den Kopf in den Nacken zu legen, sonst kann Wasser in die Atemwege geraten und sie können eine Lungenentzündung bekommen.«

Dankbar ließ Mieke ein paar Tropfen auf ihre Hand laufen, und der Kleine schleckte gierig daran. Vorsichtig tupfte sie ihm den Ruß aus dem Gesicht.

»Ihr seid mit Sicherheit die Letzten, die noch auf dem Berg waren?«, fragte Rob, und Liam antwortete mit leiser Stimme: »Ja. Wir haben genau Liste geführt. Mieke war die letzte Besucherin.« Er wischte sich über die Stirn und schob hinterher: »Wir haben schon viel erlebt, aber damit haben wir nicht gerechnet. Es ging so schnell. Gestern hieß es noch, der Wind habe sich gedreht.«

»Ja, ihr könnt von Glück reden, dass ich in der Nähe war. Eigentlich sollte ich weiter südlich einen Kollegen einsammeln, um ein Grasfeuer zu begutachten, als ich über Funk hörte, dass sich in Kurrawong noch Menschen befinden. Ein paar eurer gestrigen Besucher hatten Bescheid gegeben. Ich hätte hier gar nicht hochgedurft, aber unter diesen Umständen hätte der Rettungshubschrauber es nicht rechtzeitig geschafft, geschweige denn landen können.«

Er sagte das ohne einen Vorwurf in der Stimme, und dafür war Mieke dankbar. Hätte sie früher von dem Buschfeuer erfahren, sie wäre die Erste gewesen, die ihr Zimmer geräumt hätte. Die Lodge lag abgelegen auf der Bergkuppe des Mount Echo, und es gab nur diese eine Zufahrtsstraße, die sich vierzig Kilometer durchs Buschland schlängelte, vorbei an legendären Wasserfällen und großartigen Aussichtspunkten. Mieke hatte hier eine ganze Woche verbringen wollen. Dieser Plan war jetzt gescheitert.

Jenny schniefte laut, und Mieke fand eine Packung mit Taschentüchern in der Mittelablage, die sie ihr reichte. »Hier«, sagte sie, und Jenny nahm die Box dankbar entgegen. Ihr Gesicht war von der Hitze und den Tränen aufgedunsen.

Mieke schluckte. »Es tut mir alles so leid. Das ist unfassbar.« Verlegen schob sie hinterher: »Waren im Auto noch wertvolle Sachen?«

Jenny nickte. »Ja und Nein. Es sind alles nur Sachen.« Die ältere Frau versuchte zu lächeln, aber Mieke spürte, dass sie es nur tat, um ihr Entsetzen zu verbergen. »Mach dir keine Vorwürfe, Kind«, sagte sie und schaute Mieke fest an. »Es war sehr mutig von dir, einen Koala zu retten. Die Wenigsten hätten sich das getraut, und noch weniger hätten es auch geschafft. Immerhin ist das ein Wildtier, das bereit ist, sich zu wehren.«

»Trotzdem fühle ich mich schrecklich, dass ihr durch mich noch mehr verloren habt.«

»Ein Leben ist wichtiger. Wirklich.« Ihr selbstsicherer Ausdruck brach zusammen, ein Schütteln ging durch ihren Körper, und sie verfiel in hemmungsloses Schluchzen. Liam strich ihr hilflos durchs Haar und flüsterte: »Alles gut, ich bin bei dir, mein Schatz.«

Die Temperaturanzeige auf dem Armaturenbrett veränderte sich nicht, obwohl es steil bergab ging. Als sie den Berg vor zwei Tagen hochgefahren war, hatte es einen starken Unterschied zwischen der Hitze im Tal und dem kühleren Bergklima gegeben, heute hatte das Feuer dieses Gefälle vernichtet – wie so vieles andere. Immerhin hatten sie die Flammen hinter sich gelassen, und die Sicht war wieder besser. Die direkte Gefahr war gebannt.

Mieke schaute auf die dichte Vegetation, die den Stress durch die Dürre verriet, die Australien seit Jahren plagte. Es waren nur subtile Hinweise, aber jetzt, wo sie darauf achtete, entgingen sie ihrem geschulten Auge als Naturschützerin nicht. Welke Blätter, absterbende Äste im Wipfelbereich, von Insekten und Krankheit befallene Stämme.

Zu Hause in Deutschland engagierte sie sich seit Jahren für den Wald und die wilden Tiere, die in ihm wohnten. Auch dort litt die Natur, doch es war kein Vergleich zu dem, was Mieke hier erlebte. Es tat ihr im Herzen weh, das angeschlagene Ökosystem zu betrachten. Und nun dieses überraschende Feuer, das sich in dem ausgedörrten Buschland ungehemmt ausbreiten konnte.

Gerade kamen sie an einem Straßenschild vorbei, das Mieke auf der Hinfahrt fotografiert hatte. Jetzt sahen sie nur die Rückseite, doch Mieke wusste auch so, dass es die Flagge der Aborigines zeigte und die Besucher des Lamington Nationalparks mit den Worten Nyah-nyah ngalingah kurul kurulbu begrüßte. Darunter stand auf Englisch Take care of our wilderness. Mieke hatte das Foto von dem Schild an Lina geschickt.

Rob räusperte sich: »Ich bringe euch direkt zur nächsten Krankenstation. Ihr habt viel Rauch eingeatmet und solltet euch unbedingt untersuchen lassen.«

»Und was machen wir mit dem hier?«, fragte Mieke und hob den Beutel mit dem Koala leicht an. Langsam kehrte ihr Geruchssinn zurück, und sie rümpfte die Nase, als der starke, mit Asche und Rauch vermischte Eigengeruch des Koala-Männchen zum ersten Mal ihr olfaktorisches System erreichte.

»Erst seid ihr dran. Um deinen Schützling kümmern wir uns später. Ich weiß genau, wo wir ihn hinbringen müssen.«

Trotz seines ländlichen Akzents konnte Mieke Rob gut verstehen. Sie betrachtete den Mann, der etwa in ihrem Alter sein musste, vielleicht ein paar Jahre älter. Er hatte kurzes braunes Haar und hellgrüne Augen, die trotz der angespannten Situation eine tiefe Ruhe ausstrahlten. Würde die Erinnerung an Alexander nicht so bitter schmecken, hätte sie ihn durchaus interessant gefunden. Jetzt war sie einfach nur dankbar, dass er sie vor dem sicheren Tod gerettet hatte.

Die Untersuchung im winzigen Buschkrankenhaus von Tallebudgera dauerte lange.

»Wirklich, mir geht es gut«, beteuerte Mieke der Krankenschwester, die sich ihrer Meinung nach viel zu viel Zeit damit ließ, ihren Zustand zu bewerten. Ihre langsamen, fast gedehnten Bewegungen machten sie noch verrückt.

Liam und Jenny waren direkt mit Sauerstoff versorgt worden und würden mindestens die Nacht über im Krankenhaus bleiben. Mieke, der es deutlich besser ging als dem älteren Ehepaar, durfte erst einen Fragebogen ausfüllen.

Endlich erschien ein Arzt im Türrahmen, um sie zu untersuchen. Lunge, Augen, Ohren. Sie hatte Glück gehabt. Doch der Arzt gab keine Entwarnung.

»Mit Rauchgasvergiftungen ist nicht zu spaßen«, sagte er ernst und folgte ihrem unruhigen Blick zur Tür. »Viele Komplikationen und auch Todesfälle treten mit einer Zeitverzögerung von bis zu sechsunddreißig Stunden auf.«

Mieke dachte über den Kommentar nach und beschloss, sich sofort bei einem Arzt zu melden, falls sie verspätete Probleme bekommen würde. Doch im Moment war das Risiko überschaubar, und so bedankte sie sich, füllte noch einige weitere Formulare aus und zahlte die Rechnung. Ihre Auslandskrankenversicherung würde das sicher übernehmen. Sie war froh, die weißgrauen Betonwände des Gebäudes hinter sich zu lassen und zu Rob in den Wagen zu springen, der in Seelenruhe auf einem Sandwich kaute. Der Koala saß in einem Jutebeutel, den Rob im Krankenhaus ergattert hatte, und schaute Mieke aus seinen trüben Augen vorwurfsvoll an.

»Es kann losgehen«, sagte Mieke und schnallte sich an.

Rob schob ihr ein Sandwich in einer dreieckigen Plastikverpackung zu, es war mit Thunfisch und Mayonnaise bestrichen. Ihr Magen knurrte laut, als sie hineinbiss.

In der Dämmerung ging es nur langsam voran. Dies war die Zeit, in der viele Kängurus aktiv wurden und am Straßenrand grasten. Sobald sich der Wagen näherte, wurden die Tiere aufgescheucht. Immer wieder bremste Rob, wenn ein Känguru die Fahrbahn kreuzte.

Jetzt, wo sie mit ihm allein war, fiel die innere Anspannung, die Mieke die letzten Stunden gefesselt hatte, etwas von ihr ab. Ihre Gedanken kehrten zu Liams und Jennys Zuhause zurück. Bei der Geschwindigkeit, mit der das Feuer sich durch den Wald fraß, war von der Kurrawong Lodge mittlerweile bestimmt nichts mehr übrig. Fast achtzig Jahre lang hatte das Bergresort den Naturgewalten getrotzt. Jenny hatte ihr erzählt, dass die ersten Besucher, die ihre Eltern damals aufgenommen hatten, noch in Zelten übernachtet hatten und mit Maultieren den Berg hinaufgeritten waren. Die Lodge hatte Zyklonen, Hagelstürmen und Gewittern getrotzt, war eine sichere Festung inmitten der Gondwana-Regenwälder gewesen, die Teil des Weltkulturerbes waren. Durfte sie auf ein Wunder hoffen?

Mieke hatte einen Kloß im Hals, aber weinen konnte sie nicht. Dafür war das Ganze einfach zu überwältigend.

Als es völlig dunkel geworden war und ihre Begegnungen mit Kängurus wieder abnahmen, drehte Rob das Radio leiser und fragte: »So, und jetzt erzähl mal. Was treibt dich in unser schönes Land, Mieke?«

Sie war dankbar für die Ablenkung. »Ich wollte mir die Ostküste anschauen. Erst den Lamington, dann runter nach Port Macquarie, Sydney bis nach Melbourne und schließlich nach Adelaide. Am Ende hatte ich geplant, den Urlaub auf Kangaroo Island ausklingen zu lassen.«

»Hui«, kommentierte Rob und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist eine anständige Strecke. Wie viel Zeit hattest du dafür geplant?«

»Drei Monate.«

Rob lachte. »Ach so. Ich hatte jetzt so etwas wie zwei Wochen erwartet. Das höre ich nämlich häufiger von Touristen. Die Entfernungen in Australien werden einfach unterschätzt. Auf einer Landkarte wirkt es viel zu übersichtlich. Bis man dann ein paar Tage unterwegs ist und merkt, wie langsam man hier vorankommt.«

»Ne, keine Angst. Ich habe das alles gut recherchiert.« Es war der 12. November 2019, und ihr Rückflug war für den 8. Februar 2020 gebucht. Genug Zeit, um das Land, seine Menschen und Tiere kennenzulernen. Zumindest theoretisch. Sie seufzte. »Leider bin ich jetzt wohl bei Teil eins meines Plans schon stecken geblieben.«

Sie hatte sich so auf ihren Urlaub gefreut. Darüber, im kristallklaren Korallenmeer direkt vor der Ostküste schnorcheln zu gehen und die regenbogenbunten Riffe zu erkunden, mit all seinen Bewohnern, die mehr oder weniger Zähne besaßen. Auch wenn ihr die Vorstellung, einem Hai zu begegnen, gehörigen Respekt einflößte. Als Kind war sie mit ihrer Familie häufig nach Spanien gefahren. Eines Tages hatte es einen Hai-Alarm gegeben, während sie mit Lina im Wasser geplanscht hatte. Die Panik, die danach ausgebrochen war, hatte sich tief in Miekes Gedächtnis gebrannt.

Sie hatte geplant, in den Wellen vor Byron Bay zu versinken, um anschließend an den sagenhaften, mit Palmen bewachsenen Sandstränden Koala Islands jeden Gedanken an Alexander zu verdrängen.

Vier Jahre lang hatte sie in die Beziehung investiert und alles darangesetzt, ein gemütliches Nest vorzubereiten, um eine Familie zu gründen. Bis zu dem verdammten Tag Anfang Juni, als ihre Schwester sie angerufen hatte.

Lina arbeitete als Arzthelferin, und als Alex in ihre Praxis gewechselt war, hatte sie Einblick in seine Akten bekommen. Natürlich hatte sie Mieke keine Einzelheiten verraten dürfen, doch sie hatte ihrer Schwester eindringlich ans Herz gelegt, mit Alex ernsthaft über seine Zukunftspläne zu sprechen.

So hatte Mieke herausgefunden, dass ihr Freund sich bereits mit Ende zwanzig hatte sterilisieren lassen. Mieke war wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Sie gestand jedem Mann zu, für sich zu entscheiden, ob er eine Familie gründen und Kinder haben wollte, auch wenn diese Entscheidung endgültig war. Doch Alex hatte Mieke nie von diesem Eingriff erzählt, obwohl er von ihrem Kinderwunsch wusste. Und das war definitiv ein Problem.

Er hatte die Situation heruntergespielt und angemerkt, dass ihre Beziehung noch längst nicht in dem Stadium sei, in dem man über eine ernste Familiengründung nachdenke. Außerdem sei das ja wohl eine Kleinigkeit, die man leicht vergessen könne, hatte Alex hinzugefügt. Und auch wenn er das nicht ernst gemeint haben konnte, war es doch typisch für ihn – er ging Diskussionen gerne aus dem Weg.

Gerade war Mieke vierunddreißig geworden, und zum Kinderkriegen lief ihr die Zeit weg. Es war nicht einfach gewesen, Alex zu verlassen, aber die richtige Entscheidung. Jemand, der keine Rücksicht auf ihre Wünsche und ihre Gefühle nahm und es nicht einmal schaffte, ein offenes Gespräch zu suchen, auf den konnte man nicht bauen. Trotzdem tat die Erinnerung weh.

Hier im Land der Traumzeit und der Beuteltiere, mit seinen landschaftlichen Gegensätzen, wo sich tropischer Regenwald mit dem roten Sand des Outbacks abwechselte, hatte sie jeden Gedanken an Alexander löschen wollen. Doch wie konnte sie unter diesen Umständen noch einen Strandurlaub genießen und die Schönheit der Küsten bewundern, wenn hinter ihr das Land in Staub und Asche lag? Sie musste ihre Pläne ändern. Und zuallererst musste sie sicherstellen, dass ihrem Koala geholfen wurde.

»War alles ein bisschen viel heute, oder?«, kommentierte Rob ihr Schweigen. Seine tiefe, melodische Stimme jagte einen Schauer über Miekes Rücken, denn es war genau die Art von Stimme, von der man sich wünschte, dass sie einem abends zuprostete, während man sich gemeinsam vor dem Kamin einkuschelte, um den Herbststurm zu vergessen, der vor den Fenstern tobte.

»Nein, es ist alles okay«, log Mieke. »Ich habe nur nachgedacht.« Vor ihnen tauchte die Einfahrt zu einem Wildtierkrankenhaus auf. Angespannt betrachtete sie Rob von der Seite. Seine Miene war verschlossen. »Ich mache mir mehr Sorgen um den Kleinen hier.«

Der Koala in ihren Armen hatte aufgehört zu zappeln, seine Augen waren geschlossen, und während der letzten Minuten war sein Atem immer flacher geworden. Als jetzt sein Kopf nach vorne kippte, wusste Mieke, dass es zu spät war.

Während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, hatte der Koala seinen Kampf aufgegeben. Er hatte es nicht geschafft.

Kapitel 2

Die Blockhütte lag versteckt zwischen blühenden Lilly Pillys und mächtigen Ironbarks, auf deren zerfurchter Rinde prächtige Geweihfarne wuchsen. Es war bereits spät in der Nacht, und das Mondlicht brach sich in einem silberfarben lackierten Windspiel, das auf Robs Veranda leise vor sich hin klimperte. Mieke sah sich im Garten um, über dem das Kreuz des Südens funkelte und sie daran erinnerte, wie weit weg sie von zu Hause war. Vierzehn Länder lagen auf der Flugroute zwischen hier und Norderwald in der Lüneburger Heide.

Ein kleines Beuteltier kletterte im Gebälk der Veranda. Aber anstatt vor ihnen zu flüchten, kam es auf sie zu.

»Das ist Cuddles«, kommentierte Rob und schnalzte mehrfach mit der Zunge, bis ihm das Tier auf den Arm sprang. »Er ist ein Fuchskusu.«

Als Rob ihr die Tür zur Blockhütte aufhielt, strömte Mieke der Geruch von Holz und kaltem Kamin entgegen. Das kleine Gebäude bestand nur aus zwei Zimmern – einer Wohnküche und einem Schlafzimmer mit Bad. Trotz der Enge war es gemütlich. Und sehr ordentlich, alles hatte seinen Platz. Es fehlte nur der Glasfaseranschluss zu Miekes perfektem Wohntraum.

»Darf ich kurz dein Badezimmer benutzen?«, fragte Mieke.

»Natürlich«, antwortete Rob und deutete darauf. Mieke verschwand in dem kleinen Raum und schloss die Tür hinter sich. Der Geruch des Koalas hing immer noch an ihr, und sie nahm das Stück Seife aus der Schale, um ihn loszuwerden. Doch egal, wie lange sie schrubbte, es wurde nicht besser. Selbst als sie ein kleines Handtuch nutzte und ihre Haut sich vom Rubbeln rot verfärbte, roch sie das Tier, als würde sie es in den Armen halten. Auch sein Gewicht schien auf ihrer Haut zu liegen. Eine Phantompräsenz.

Die Fahrt nach Tallebudgera hatte vielleicht eine Dreiviertelstunde gedauert, die Untersuchung etwa siebzig Minuten. Danach waren sie für weitere anderthalb Stunden unterwegs gewesen. Insgesamt hatte sie den Koala keine vier Stunden gekannt, und trotzdem fühlte sie sich ihm gegenüber verantwortlich – und nicht nur das, sie fühlte sich schuldig. Sie hatte ihr Bestes gegeben, versuchte sie sich selbst zuzureden. Aber es war nicht gut genug gewesen.

Es hatte viele kleine Entscheidungen gegeben, in denen das Schicksal eine andere Wendung hätte nehmen können. Sie hätte den Koala schneller fangen können, damit er weniger Rauch einatmete. Sie hätte ihn besser ruhigstellen können, um Stress zu vermeiden, und ihn direkt ins Wildtierkrankenhaus bringen lassen, statt sich vorher in Tallebudgera untersuchen zu lassen. Wenn sich zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Entscheidung die Möglichkeiten teilten, dann hatte der Koala vielleicht in irgendeinem Paralleluniversum überlebt. Und sie hatte den falschen Weg gewählt. Das war verzeihlich. Oder nicht?

Es klopfte an der Tür. »Alles okay da drin?«, hörte sie Robs besorgte Stimme.

»Ja. Bin gleich da.« Die Seife war ein deutliches Stück geschrumpft, als Mieke sie zurücklegte. Der resistente Schmutz unter ihren Fingernägeln war verschwunden, aber ihre Arme brannten. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ihr ein rot geflecktes Gesicht mit gestresstem Blick. Sie atmete tief aus, um sich zu sammeln.

Rob schaute hoch, als sie durch die schmale Badezimmertür zu ihm trat, und musterte sie fragend. Mieke zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Das reichte ihm als Bestätigung, dass alles in Ordnung war.

Er holte eine Schale mit Apfelstücken aus dem Kühlschrank und stellte sie vor Cuddles, der sie gierig verschlang. Dabei hielt er die Stücke mit beiden Händen fest wie ein Eichhörnchen, das eine Nuss verspeist, und betrachtete Mieke mit großen Augen. Auch wenn ihr Magen vor Trauer um den Koala verkrampft war, schmolz sie bei dem Anblick dahin. Der Fuchskusu wusste nichts von dem Schrecken, den Mieke eben erlebt hatte. Es war einfach nur es selbst. Ein unschuldiges Tier, das einen gesunden Appetit besaß.

»Ist das deins?«

Rob schüttelte den Kopf. »Er gehört sich selbst, aber er ist gerne hier. Ich habe ihn bei einem Grasfeuereinsatz im Beutel seiner toten Mutter gefunden, da wog er gerade mal neunzig Gramm. Er war winzig, hatte noch kein Fell. Aber er war ein Kämpfer und wollte die Zitze nicht loslassen. Ich musste sie abschneiden, um ihn zu retten. Eigentlich sucht er sich sein Futter mittlerweile selbst, aber wenn er schon mal hier ist, kann er einen Snack haben.« Während er redete, setzte er einen Kessel mit Wasser auf. Mieke ging ihm zur Hand, als Rob anfing, Gemüse zu schnippeln, und schaute sich um.

An den Wänden der Hütte hingen gerahmte Naturfotografien. Einige zeigten die regenbogenbunte Rinde von Eukalyptusbäumen, andere blühende Wüstenerbsen oder Goannas, die in der Sonne badeten. Zwischendurch ein Kunstdruck, der drei Kinder in einem Billabong zeigte. Miekes Wohnzimmer zu Hause schmückten Bilder einer Heidschnuckenherde und Nahaufnahmen von Wollgras im Pietzmoor. Zwei Welten für sich – und sich doch nicht unähnlich. Trotzdem schien der Boden unter ihren Füßen zu schwanken, die ganze Situation war surreal, als stecke sie selbst in einem Bild fest.

»Das ist von Jane Sutherland«, unterbrach Rob ihre Gedanken und zeigte auf den Druck. »Eine begnadete Künstlerin und eine außerordentliche Frau. Sie wurde zu einer Zeit geboren, als ein Wahlrecht für Frauen noch nicht zur Debatte stand. Dennoch hat sie sich gegen alle Widerstände durchgesetzt.«

Mieke schaute ihn nachdenklich an. Letztes Jahr in der Adventszeit hatte sie mit Alexander eine Ausstellung mit Werken der feministischen Künstlerin Miriam Schapiro in Berlin besucht. Die Bilder hatten sie berührt, Schapiros Lebensgeschichte sie inspiriert, während Alexander sich abfällig geäußert und die Werke als »Hausfrauenkunst« bezeichnet hatte. Sein Geschmack traf Picasso, vielleicht, weil der Kubist ebenso misogyn gewesen war wie er selbst.

»Du kannst mein Bett haben, ich schlafe auf der Couch«, sagte Rob im nächsten Satz. Wie der einen Meter neunzig große Mann auf der winzigen Chaiselongue Platz finden wollte, war Mieke unklar. Doch bevor sie widersprechen konnte, kam Rob ihr zuvor.

»Keine Widerworte!«, lachte er. »Ich nutze die häufig, sie ist geräumiger, als sie aussieht.«

Eine pelzige Hand legte sich auf Miekes Arm und lenkte sie ab. Cuddles’ Hals streckte sich gierig vor, bis sie ihm ein Stück Möhre gab. Mit seiner rosafarbenen Nase schnüffelte er daran, dass die Barthaare zitterten, bevor er anfing zu futtern. Auf seiner Brust glänzte das Fell rostrot.

»Daran erkennst du, dass Cuddles ein Männchen ist«, erklärte Rob. »Hier liegt die Duftdrüse, mit der Fuchskusus ihr Revier markieren.«

Mieke gab Cuddles ein weiteres Stück Möhre, und als der Eintopf auf dem Gasherd köchelte, winkte Rob sie zum Wohnzimmer herüber, um es sich gemütlich zu machen.

»Meine Mutter kümmert sich um verletzte und verwaiste Wildtiere«, erzählte Rob. »Ich bin damit aufgewachsen, dass Tiere ein Bestandteil des Alltags sind.«

»Bei mir war es das genaue Gegenteil. Meine Schwester und ich, wir haben uns ein Haustier gewünscht, aber unsere Eltern waren dagegen. Das hat uns allerdings nicht abgehalten, uns um Tiere zu kümmern. An den Wochenenden haben wir im Tierheim ausgeholfen, die Sommerferien beim Landschaftsschutz verbracht, und später sind wir der Eichhörnchenhilfe Norderwald beigetreten.«

Miekes Eltern lebten mittlerweile getrennt. Kurz nach Linas achtzehntem Geburtstag hatten sie die Neuigkeiten verkündet, bald darauf war ihr Vater ausgezogen. Beide Elternteile hatten es seit Langem und in gegenseitigem Einvernehmen geplant, es gab keinen Rechtsstreit und keinen Hass. Der Vater bekam den Mercedes, die Mutter den A6. Für Lina war es eine Überraschung gewesen, Mieke hatte es geahnt. Ihre Eltern hatten sich am Ende zwar geduldet, aber nicht mehr geliebt. Den Kindern zuliebe hatten sie die Ehe aufrechterhalten, aber die Gleichgültigkeit zwischen ihnen war omnipräsent gewesen. Zärtliche Blicke hatten gefehlt, Berührungen waren auf ein Mindestmaß reduziert gewesen.

»Was ist ein Eichhörnchen?«, fragte Rob interessiert und unterbrach damit ihre Erinnerungen. Mieke musste lachen. Eichhörnchen waren für sie eine Selbstverständlichkeit. Sie googelte nach einem Foto und zeigte es ihm. »Ich habe auch schon Igel, Fledermäuse, alle Arten von Vögeln und einen Fuchswelpen in Pflege gehabt.«

Rob lächelte. »Du musst unbedingt meine Mum kennenlernen! Neben Fuchskusus und anderen Kleinbeutlern zieht sie Kängurus und Vögel auf, und sie hat auch ein paar Koalas rehabilitiert.«

Ein Stich fuhr durch Miekes Herz. Sie musste wieder an den Koala denken, dessen leblosen Körper sie im Wildtierkrankenhaus abgegeben hatte. Die ganze Rückfahrt über war sie stark geblieben, hatte sich mit Rob über das Feuer unterhalten, ihren Beruf und ihre Familie – alles, nur um nicht dieses Gefühl des Verlusts zuzulassen. Nun kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen – und verlor. Verlegen drehte sie sich weg, als sich ihre Augen füllten.

Rob rückte vorsichtig ein Stück näher. »Es holt dich gerade ein, richtig?« Samt lag in seiner Stimme, als er ihr zaghaft und etwas unbeholfen auf den Rücken klopfte. »Lass es ruhig zu. Du musst dich vor mir nicht zurückhalten.«

Mieke schniefte. »Es tut mir leid.« Das schmerzerfüllte Wimmern des Koalas würde sie noch lange im Schlaf verfolgen.

Wieder fuhr seine warme Hand mitfühlend über ihren Rücken, und tatsächlich lenkte es sie von ihren düsteren Gedanken ab. Es fühlte sich viel zu gut an, seine Nähe verwirrte sie.

Ohne es zu wollen, hatte sie vorhin registriert, dass nur eine Zahnbürste in dem Glas im Badezimmer stand. Auch sonst gab es keinerlei Hinweis auf eine Partnerin. Er schien also nicht verheiratet zu sein. Mieke schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. Natürlich war er attraktiv, aber so umwerfend nun auch wieder nicht. Und es war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt.

»Mach dir bloß keine Vorwürfe«, versuchte er sie zu beruhigen. »Du hast dein Bestes gegeben. Ein Wildtierretter hätte auch nicht viel mehr tun können.«

»Da bin ich mir eben nicht sicher. Und selbst wenn, mein Bestes war nicht gut genug. Nicht, solange es ein Besser gab.« Mieke schluckte die nächsten Tränen hinunter und wischte sich über die Augen. »Was ist ein Wildtierretter?«

»Mit denen kooperieren wir. Jetzt im Moment ganz besonders eng. Die Priorität der Feuerwehr ist die Feuerbekämpfung und die Rettung von Menschen. Aber wenn die Lage einigermaßen sicher ist, geben wir den Wildtierrettern Bescheid, und die fangen dann die verletzten Tiere ein und kümmern sich um sie. Natürlich müssen wir wegen der Astbruchgefahr offiziell immer davor warnen, die verbrannten Waldgebiete zu betreten, schließlich sind die Retter meist Privatpersonen. Aber realistisch gesehen könnten wir die Menschen ohnehin nicht aufhalten, wenn sie den Tieren wirklich helfen wollen. Deshalb unterstützen wir sie so gut es geht. In regelmäßigen Abständen gibt es Fortbildungen, die die Helfer darauf vorbereiten, in die Gefahrengebiete vorzudringen und mit den Tieren umzugehen, ohne dabei ihr eigenes Leben zu gefährden.«

»In Deutschland ist die Tierrettung viel einfacher«, stellte Mieke fest, dankbar für den Themenwechsel. »Manchmal fallen junge Eichhörnchen aus dem Nest oder tauchen plötzlich verlassen auf einem Wanderweg auf. Manchmal wird auch in solchen Fällen die Feuerwehr gerufen, aber die ist oft dankbar, wenn wir ihr die Arbeit abnehmen.«

»Das ist interessant. Hier kümmert sich die Feuerwehr nicht selbst um Tiere. Wir kommen nur bei größeren Vorfällen mit Tieren, wie wenn zum Beispiel eine Pferdeherde über den Highway läuft oder es eine neue Seuche gibt – meistens dann, wenn eine hohe Mannstärke oder schweres Gerät zur Absicherung benötigt wird.«

Er lehnte sich nach vorne, um ihr Wasser nachzuschenken. »Du hast großes Glück gehabt, dein Anhalten am Berg hätte auch endgültige Konsequenzen für dich haben können.«

Mieke nickte, wusste aber, dass sie jederzeit wieder genauso reagieren würde.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war Rob verschwunden. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem er ihr mitteilte, dass er zu einem Einsatz im Lamington Nationalpark gerufen worden war, und ihr vorschlug, seine Mutter Sandy zum High Tea zu besuchen. Prüfend hob Mieke das Papier, um seine sorgfältig, fast penible Handschrift zu begutachten. Er hatte die Nachricht auf die Rückseite eines Kassenbons gekritzelt. Neugierig überflog sie seine Einkäufe. Milch. Brot. Lauch. Hackfleisch. Butter. Käse. Nagellack. Sie stutzte und prüfte den Posten. Cherries Nail Polish (colour 43: pink). Stirnrunzelnd faltete sie den Bon und steckte ihn ein.

Da sie ihren Urlaub ohnehin umplanen musste, nahm sie Robs Idee gerne an. Nach einer ausgiebigen Dusche kramte sie ihren Bikini aus dem Rucksack, den sie bei jeder Wanderung dabeihatte, denn hier konnte einem nach jeder Kurve ein vorher versteckter See begegnen, in dem man sich erfrischen konnte. Wenigstens die Unterwäsche konnte sie damit heute wechseln. Dann schlüpfte sie in ihre alten Klamotten, die noch immer stark nach Rauch rochen. In den nächsten Tagen würde sie sich neue besorgen, denn bedauerlicherweise hatte sie ihr restliches Gepäck im Auto zurücklassen müssen. Die wichtigsten Unterlagen waren zum Glück in der Bauchtasche gewesen, die sie im letzten Moment noch vom Sitz geschnappt hatte.

Zunächst rief sie ihre Schwester Lina an und berichtete von ihrem Abenteuer, aber auch, dass es ihr gut ging und sie alles heil überstanden hatte. Wie zu erwarten, war Lina schockiert und stellte Dutzende von Fragen, viele davon mehrfach. Als Mieke ihr von dem Koala und seinem vergeblichen Kampf erzählte, hakte Lina besonders oft nach. Gemeinsam weinten sie um das Tier und die verbrannte Lodge.

»Möchtest du nach Hause kommen?«, fragte Lina.

Mieke dachte nach: Wollte sie zurück nach Deutschland? Ja, das Feuer hatte ihre Pläne vernichtet. Doch dieser Zwischenfall hatte eine Seite in ihr berührt, die ihr zuvor verschlossen gewesen war. Eine Art sturer Kampfgeist, der sich dem Unaussprechlichen stellte. Nein, sie war sich sicher. Ihre Entscheidung war bereits gefällt. »Es kommt der Tag, da werde ich mehr über die Dinge enttäuscht sein, die ich nicht gemacht habe, als die, die ich gewagt habe und die schiefgegangen sind. Hier und jetzt kann ich helfen – ich bleibe.«

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Mieke durch das Tor zum Nachbargrundstück spazierte, vorbei an den dichten Papageienpflanzen, die in voller Blüte standen. Ein gluckerndes, fast grunzendes Geräusch ließ sie den Kopf drehen. Hinter ihr stand ein Emu und glotzte sie an.

»Keine Angst, der ist nur neugierig«, rief ihr eine Frau von der Veranda aus zu und warf dem erwartungsvoll dreinblickenden Vogel eine Handvoll Getreide hin. Sofort lief der Emu zu ihr und fing an, die Körner aufzupicken. Die Frau hatte die gleichen hellgrünen Augen wie Rob, und auch ihre schlanken Gesichtszüge erinnerten Mieke an ihn. Es war unverkennbar, dass es sich um seine Mutter Sandy handelte.

»Du musst Mieke sein«, grüßte Sandy und bat sie ohne Zögern ins Haus. Die hellgraue Fassade im Hampton-Stil war mit mehreren Giebeln ausgestattet und um einiges geräumiger als Robs Blockhütte. Als Mieke das Innere betrat, fielen ihr sofort mehrere Baumwollbeutel auf, die in einer Ecke hingen und in denen Kängurubabys schliefen. Auf der Anrichte stand ein Kasten, in dem weitere, säuberlich aufgereihte Beutel in verschiedenen Größen hingen. Manche waren aus Baumwolle, andere aus weichem Polarfleece oder Flanell. Aus einem lugte der winzige Fellkopf eines Beutelsäugers heraus, wahrscheinlich ein junges Possum, vermutete Mieke. Sofort fühlte sie sich wie zu Hause. Auch bei ihr war alles funktional für die Tiere umgebaut worden, neben Fotorahmen und Erinnerungen standen Pipetten, Baumwolltupfer und Pulverdosen in den Regalen.

»Trinkst du deinen Kaffee mit Milch?«, fragte Sandy, und Mieke, der der Schlafmangel Kopfschmerzen bereitete, nahm dankend an. Sandy winkte ab und schob ihr den Teller mit den Kürbis-Scones hin, einem krümeligen Brötchen, das nur aus vier Zutaten bestand: Mehl, Butter, Milch und Kürbis. Auf der Etagere befanden sich außerdem noch Orangen-Mohnkuchen und Karamell-Shortbread, alles in mundgerechten Happen präsentiert.

»Bitte bediene dich«, sagte sie, während sie sich selbst einen Scone nahm. »So, und jetzt zu dir. Rob hat erzählt, dass du gestern evakuiert werden musstest«, sagte sie und strich sich eine ihrer braunen Strähnen aus dem Gesicht. »Wie geht es dir?«

»Ja. Das Feuer kam überraschend und breitete sich schnell aus, aber mir geht es gut. Aber ohne Rob würde ich vielleicht heute nicht hier sitzen.«

Stolz blitzte in Sandys Augen auf. »Rob ist ein guter Feuerwehrmann.« Dann wurde sie nachdenklich. »Aber dort oben sollte es eigentlich nicht brennen«, sagte Sandy nachdenklich. Sie trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und goss sich etwas Milch nach. »Der feuchte Regenwald und die zerklüfteten Steinbrüche haben Brände bisher immer aufgehalten. Früher war ich jeden Winter in der Kurrawong Lodge, Jenny und Liam sind tolle Gastgeber. Ich hoffe, sie finden einen Weg, die Lodge wiederaufzubauen.«

Betroffen verzog Mieke ihr Gesicht. In der Lodge hatten viele historische Fotos gehangen, aus einer Zeit, in der Jenny und Liam noch bevorzugt auf Pferden unterwegs gewesen waren. Diese Fotos waren verloren, wie so vieles andere auch. Sandy schnüffelte. »Es riecht nach Rauch«, stellte sie fest.

»Das ist meine Kleidung. Ich musste meinen Koffer zurücklassen«, gab Mieke beschämt zu. Das konnte Sandy nicht so stehen lassen. Eine Viertelstunde später hatte sie sie neu eingekleidet, während sich Miekes eigene Sachen in der Waschmaschine drehten.

Sandy war kleiner als Mieke, dafür üppiger, und es war nicht ganz einfach gewesen, etwas zu finden, was Mieke tragen konnte. Aber das weite Baumwollkleid passte sich ihrer Figur an, als sie es mit einem neongelben Gürtel schnürte.

Ein schrilles Klingeln ließ Mieke zusammenzucken und riss sie aus ihren Gedanken. Sandy hingegen schaltete ruhig den Wecker aus. »Fütterungszeit! Magst du mir helfen?«, fragte sie und führte Mieke in eine gemütliche Ecke, in der zwei Chesterfield-Sessel neben einer Récamiere standen.

Einen nach dem anderen hob Sandy die Stoffbeutel aus dem Kasten heraus, um den Possums ihre Milch zu geben. Das Kleinste war nackt, blind und so klein, dass Sandy ihm einen nadeldicken Schlauch in den Mund schob, der mit einer Spritze verbunden war. Seine Haut war rosa, die geschlossenen Augen groß, die Lider blau: eine fast außerirdische Erscheinung. Dennoch streckte es die dürren Pfoten mit der Porzellanhaut zur Spritze hin, als wisse es genau Bescheid. Die Possums blieben beim Füttern im Beutel, und Sandy half ihnen beim Trinken, indem sie eine Hand um ihre Köpfe legte und dabei ihre Augen bedeckte.

»Das entspannt sie«, erklärte sie Mieke. Immer wieder bat sie sie, die Temperatur der Milch zu messen und sie in einem Wasserbad aufzuwärmen, wenn sie sich zu stark abgekühlt hatte. »Wenn du die Flasche an den Arm hältst und kaum einen Temperaturunterschied spürst, dann ist es perfekt.«

Die älteren Tiere bekamen die Milch entweder direkt aus der Spritze oder aus einer Flasche. Sandy zeigte Mieke, wie man die zierlichen Tierbabys mit einem Tuch massierte, um nach dem Trinken ihre Verdauung anzuregen.

»Wie oft musst du sie füttern?«, fragte Mieke, die selbst häufig zu Stoßzeiten mit dunklen Augenringen zur Arbeit erschienen war, weil sie zweistündlich zur Nachtfütterung der Eichhörnchen hatte aufstehen müssen. Eichhörnchenpflege hatte den Nachteil, dass es pro Jahr zwei Würfe gab und man daher von März bis September gut beschäftigt war. Hinzu kam, dass jeder Wurf drei bis acht Junge umfasste.

»Das kommt drauf an. Die ganz Jungen alle zwei Stunden, den im blauen Beutel alle drei und die zwei Großen einmal pro Nacht. Früher fand ich das schwierig, jetzt bin ich daran gewöhnt und wache von allein auf.«

Nach den Possums waren die Kängurus dran, die bis dahin in einer in einem Gestell befestigten Hängetasche geschlafen hatten. Deren Fläschchen waren um einiges größer. Sandy weckte eines nach dem anderen, sodass sie im Stehen trinken konnten. Es waren insgesamt fünf Joeys, und Sandy hielt in jeder Hand eine Flasche, während Mieke sich erst mal auf ein Joey konzentrierte. Dabei hielt sie wie Sandy die Flasche so hoch, dass die kleinen Beuteltiere ihren Kopf in den Nacken legen mussten, um zu saugen.

»Das sind Billa und Bong. Die beiden habe ich vor einer Woche auf der Landstraße nach Currumbin eingesammelt. Am selben Tag, im Abstand von einem Kilometer.« Ihre Züge verhärteten sich. »Billas Mutter war noch nicht ganz tot, ich musste nachhelfen. Ihre Verletzungen waren zu stark, sie war nicht mehr zu retten.« Sandys Blick war auf den Kasten mit den Spritzen gerichtet, der auf einer Anrichte stand. Mieke verstand: Hier lagerten auch Medikamente, die Tiere endgültig von ihrem Schmerz erlösten.

»Viele Kängurus werden überfahren, wenn sie in der Dämmerung am Straßenrand grasen. Aber die Joeys in den Beuteln überleben den Aufprall oft und können mehrere Tage durchhalten. Deswegen ist es wichtig, den Beutel zu überprüfen, wenn man an einem frisch überfahrenen Känguru vorbeikommt.«

Nachdem alle Tiere versorgt und wieder in ihren Beuteln verstaut waren, gingen die beiden Frauen spazieren.

Schweigend wanderten sie, bis Mieke ein Gebüsch mit lilafarbenen Blüten entdeckte.

»Der ist hübsch. Was ist das für ein Busch?«

Sandy verzog ihr Gesicht: »Lantana«, sagte sie abfällig und pflückte ein Blatt ab, das sie zwischen den Fingern verrieb. Ein penetranter Geruch stieg auf. »Das wächst hier überall. Es riecht furchtbar, verbreitet sich schnell und verdrängt einheimische Pflanzen – ursprünglich kommt es aus Amerika. Rob gibt sich alle Mühe, aber wir werden es einfach nicht los.«

Mieke betrachtete den blühenden Busch. So schön die australische Natur war, so fragil und anfällig war sie auch. Bereits vor 230 Millionen Jahren hatte sich der Kontinent aus dem südlichen Teil Gondwanas gelöst und der Fauna und Flora damit eine Gelegenheit gegeben, sich in einem abgeschlossenen System ganz auf die Begebenheiten vor Ort anzupassen. Auch nach seiner Erstbesiedelung durch die Aborigines war Australien jahrtausendelang von anderen Kontinenten isoliert gewesen. So war ein ökologisches Gleichgewicht entstanden.

Erst während der letzten Jahrhunderte hatte es wieder Einflüsse von außen gegeben. Neue Siedler hatten das Land entdeckt und erschlossen und immer wieder fremde Lebewesen eingeschleppt, die das Ökosystem störten. Agarkröten, Füchse, Kaninchen, Wildschweine, Katzen oder Gartenpflanzen – zu groß ist die Zahl der Eindringlinge, gegen die die australische Natur sich nicht zu wehren vermag.

»Rob hat Lantana mal mit einer schönen Frau verglichen, die alle Augen auf sich zieht, aber toxisch für ihre Umgebung ist. Sie breitet sich immer mehr aus, bis ihre aufdringliche Schönheit allgegenwärtig ist und sie das Leben um sich herum erstickt hat.«

Sandy kniete nieder und pflückte eine mauvefarbene Blüte aus einem pfahlgrünen Busch.

»Die hier hingegen ist hübsch und nützlich. Das ist Emu Bush. Die Aborigines haben ein Gebräu aus den Blättern hergestellt, das für Wundheilung eingesetzt wurde.«

Als Mieke sich interessiert dazuhockte, sah sie einen Schatten über Sandys Gesicht fallen. Eine Erinnerung schien sie zu überrumpeln, und der Schatten wurde zur Gewitterwolke, als Sandys Stirn sich krauste. Irritiert beobachtete Mieke, wie Sandy die Blüte in ihrer Faust zerknüllte.

Gerade als sie das Haus wieder erreichten, parkte Rob seinen Wagen. Er lächelte, als er Mieke entdeckte. Seine Füße steckten in schweren Stiefeln, und ein intensiver Rauchgeruch ging von ihm aus. Seine breiten Schultern hingen müde herab.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte er Mieke belustigt, die schmunzelnd mit den Achseln zuckte. Es musste merkwürdig für ihn sein, sie in den Kleidern seiner Mutter zu sehen. »Ich habe was für dich«, fuhr er an seine Mutter gewandt fort und hielt ihr einen Beutel entgegen. »Zwei Kurzkopfgleitbeutler. Hast du für die noch Platz?«

Vorsichtig nahm Sandy den Stoffbeutel entgegen, aus dem ein moschusähnlicher Geruch aufstieg, und holte die handtellergroßen Tiere heraus. Mit ihrem hellgrauen Fell und dem geringelten Schwanz erinnerten die putzigen Tierchen Mieke an eine winzige Version von Cuddles. Zwischen ihren Augen zog sich ein schwarzer senkrechter Strich über den Kopf den Rücken hinunter, der die ausdrucksvollen Gesichter geschminkt wirken ließ. »Faszinierend«, fand Mieke.

Sandy lächelte. »Wenn sie ausgewachsen sind, können sie über fünfzig Meter weit durch die Luft gleiten«, erklärte Rob. »Leider kann man das so gut wie nie beobachten, da sie nachtaktiv sind.« Robs Begeisterung ließ sie ein weiteres Mal an Alexander denken. Als er nach der Trennung seine Sachen aus der Wohnung abgeholt hatte, hatte Mieke etwas verloren in den plötzlich so leeren Räumen gestanden. »Dann hast du jetzt endlich Platz für dein verdammtes Igelgehege«, hatte Alexander schließlich aber gespottet und all ihre Zweifel verfliegen lassen, ob ihre Entscheidung, der Beziehung ein Ende zu setzen, richtig gewesen war. Alexander hatte nie Verständnis für ihren ehrenamtlichen Einsatz gezeigt, für ihn war es reine Zeitverschwendung, Tiere aufzupäppeln, die »im Gefecht der Evolution anscheinend unterlegen waren«, wie er das genannt hatte.

»Möchtest du dir mal einen aus der Nähe anschauen?«, bot Sandy an und hob eine Hand in Miekes Richtung.

Vorsichtig nahm Mieke das federleichte Tierchen entgegen, das sofort anfing, auf ihrer Hand herumzuklettern. Bei näherem Hinsehen konnte sie die Flugmembran erkennen, die sich zwischen seinen Armen und Beinen spannte.

»Ein wahres Wunder der Natur«, fand sie und gab gut acht, dass der Winzling nicht herunterpurzelte. »Wie so vieles hier in Australien.« Sie seufzte. »Ich habe nachgedacht. Ich kann nicht entspannt Urlaub machen, wenn hier Menschen und Tiere um ihre Heimat kämpfen. Viel lieber würde ich helfen, mich um Wildtiere kümmern.« Sie reichte Sandy das Tier zurück, bevor es zu nervös wurde.

Sandy beäugte sie kritisch. »Meinst du das ernst?«

»Ja. Es fühlt sich falsch an, jetzt noch an Urlaub zu denken. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich mir schon immer Aufgaben gesucht, denn herumsitzen, zuschauen oder gar Katastrophen wie die Buschfeuer zu verdrängen, das liegt mir nicht.«

»Du bist ganze drei Monate hier, richtig?«, fragte Sandy. Dabei schob sie den Beutel mit den Kurzkopfgleitbeutlern in ihren Ausschnitt, wohl um die Tiere zu wärmen oder sie ihren Herzschlag spüren zu lassen. »Aber kommt erst mal ins Haus.«

Während Sandy die Neuzugänge untersuchte, bereitete Mieke ihnen, Sandys Anweisungen folgend, ein Gehege vor. Dafür schnitt sie Zweige eines gelb blühenden Akazienbaumes ab, die sie im Käfig befestigte. Die Enden steckte sie in Wassergefäße, damit sie sich länger hielten. Mithilfe eines Hanfseils, das sie zwischen den Käfigstäben hindurchwebte, schuf sie Klettermöglichkeiten. In die Futterschüsseln kamen Mehlwürmer, ein klein geschnittener Apfel, aus dem sie sorgfältig die Kerne entfernte, Bananenstücke und eine Proteinbreimischung aus einem Pulver, das speziell auf die Bedürfnisse von Kurzkopfgleitbeutlern zugeschnitten war.

»Ihnen fehlt nichts. Aber sie sind zu jung, um allein in der Wildnis zu überleben«, urteilte Sandy, als sie die Tiere in ihren neuen Käfig packte. Diese versteckten sich sofort zwischen den Blättern der Eukalyptuszweige. »Im Gegensatz zu mir«, sagte sie und seufzte. »Die Zeit geht zu schnell vorbei. Gestern war ich achtzehn und plante nur bis zum nächsten Abendessen, und jetzt?«

»Hm, ich denke, man ist so alt, wie man sich fühlt«, sagte Mieke ausweichend, denn das war die Antwort, die Sandys Frage zu bedingen schien.

»Nein, so meine ich das nicht. Ich fühle mich nicht alt. Ich bin nur schon viel zu lange jung.« Sie lachte und die Falten in ihrem Gesicht lachten mit.

»Das ist eine positive Sichtweise«, antwortete Mieke. »Ich habe mir nie viel Gedanken über das Altern gemacht. Man ist immer so alt, wie man ist, und das ist eines der wenigen Dinge, die man nicht ändern kann.«

»Es sei denn, man steht auf Botox«, sagte Sandy. »Aber ich stehe lieber zu meinen Falten. In meinem Alter muss man nicht so aussehen, als hätte man sich morgens das Gesicht gebügelt.« Wie auf ein Zeichen gruben sich Lachfältchen in Sandys Augenwinkel. Sie standen ihr gut.

Rob stieß wieder zu ihnen und begutachtete den Käfig. »Sieht gut aus«, urteilte er. »Fehlen noch ein paar Rückzugsorte, und ich würde in der Ecke eine Zwischenetage mit einem Stück Rinde einbauen, aber insgesamt passabel.«

Seine Mutter grinste verschmitzt und zwinkerte Mieke zu. »Das kannst du als großes Kompliment auffassen. Rob ist ein echter Perfektionist, wenn es um Tiergehege geht. Er macht da eine Wissenschaft draus, nicht wahr, Rob?« Dieser war gerade dabei, die Drahtbefestigung eines Stocks, der den Tieren als Leiter diente, fester zuzuziehen.

»Da kommt er ganz nach seinem Vater«, fügte sie hinzu, und Mieke bemerkte, wie Rob ganz leicht zusammenzuckte. Von seinem Vater war bisher nichts zu sehen und auch nicht die Rede gewesen, und auch auf den Fotos im Haus hatte Mieke niemanden entdecken können, der in das Profil gepasst hätte.

Gemeinsam gingen sie ins Haus und kümmerten sich um das Abendessen. Der Braten würde etwa eine Stunde im Ofen brauchen, bis dahin setzten sie sich an den gedeckten Tisch und unterhielten sich.

»Dieses Jahr hat es noch weniger geregnet als sonst. Dir ist vielleicht aufgefallen, wie trocken es überall ist?« Sandy wartete nicht auf Miekes Antwort, sondern erzählte weiter. »Der Natur geht es schlecht. Aber es liegt nicht nur an der Kargheit des Landes. Am Ende geht es in Australien immer um die Kohle – im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie erzählte vom Fracking der Minengesellschaften, die große Mengen an Wasser aus dem Erdreich zogen, um Gas aus den Kohleflözen zu gewinnen, von nicht nachhaltiger Farmwirtschaft und dem Klimawandel, den die australischen Politiker so gerne leugneten.

»Die Natur spielt für unsere Politiker einfach keine große Rolle. Obwohl die Temperaturen steigen und es ständig neue Hitzerekorde gibt«, echauffierte sich Rob. »Die Buschfeuer verhalten sich anders als früher. Natürlich gehören Feuer zum australischen Ökosystem dazu, und viele Pflanzen sind auf die Feuer zur Fortpflanzung angewiesen. Bei manchen Bäumen wie dem riesigen Mountain Ash springen die Samenkapseln erst bei hohen Temperaturen auf und geben ihr kostbares Gut frei. Und der Grasbaum blüht ausschließlich nach einem Buschfeuer, von denen er in seiner jahrhundertelangen Lebensspanne so einige erlebt. Wohin man schaut, unsere Natur braucht Feuer. Selbst die Banksia vor meinem Schuppen hat epikormische Knospen. Wurde bei einem Brand die Rinde verletzt, sprießen die Triebe, die schon vorher unter der schützenden Hülle gebildet wurden. Feuer ist essenziell, und das wussten bereits die Aborigines, die mit verschiedenen Techniken dafür gesorgt haben, dass der ewige Kreislauf weitergeht.«

»Aber«, warf Sandy ein, »diese wichtige Funktion wird nur erfüllt, wenn die Natur im Gleichgewicht ist, wenn das Feuer nicht stärker ist als Flora und Fauna und diese genug Zeit und Kraft haben, um sich nach dem Brand wieder zu erholen. Und das ist nicht mehr der Fall. Ich glaube, es wird eine schlimme Feuersaison werden. Vielleicht sogar eine, die alle Rekorde bricht. Und das bringt mich auf dich«, kam Sandy auf den Punkt. »Es ist abzusehen, dass bald jede Menge ehrenamtliche Helfer gebraucht werden, die sich um die betroffenen Wildtiere kümmern. Deshalb sponsert die Gruppe We for Wildlife einen dreitägigen Trainingskurs an der Gold Coast, in dem man sich zum qualifizierten Wildtierretter ausbilden lassen kann. Die Verpflegung während des Kurses wird gestellt, um Unterbringung muss man sich selbst kümmern.«

»Gerade mal drei Tage – das reicht?«, wunderte sich Mieke, die in Deutschland zeitaufwendige Kurse und Trainingseinheiten für jede heimische Wildtierart belegt hatte.

»Eigentlich nicht. Es geht mehr um Grundlagen. Aber nach Ende des Kurses ist angedacht, dass die Teilnehmer noch eine Weile von den Organisatoren in direkt betroffenen Gebieten eingesetzt werden. So soll gesichert sein, dass die ersten Einsätze unter – wenn auch indirekter – Anleitung stattfinden und die Retter unabhängig vom Kurs erste Erfahrungen sammeln, dabei aber jederzeit Rücksprache halten können. Allerdings müsstest du dich beeilen, die Kurse beginnen immer freitags, das wäre schon übermorgen. Was meinst du, wäre das was für dich?«

Rob kam Mieke zuvor. »Überleg dir das gut, Mieke. Das ist ein hartes Pflaster da draußen.« Seine Stirn krauste sich, und Mieke verstand, dass er sie vor den Bildern beschützen wollte, die gerade durch seinen Kopf rasten.

»Rob«, unterbrach sie ihn mit ruhiger Stimme. »Der Kurs klingt perfekt für mich. Ich habe mich bereits in Deutschland viele Jahre um hilfebedürftige Tiere gekümmert, und nicht alle davon haben überlebt. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.«

Rob schüttelte den Kopf, schwieg aber, was Mieke ihm hoch anrechnete. Alexander hatte ständig versucht, sie zu bevormunden, und stundenlang argumentiert, wenn er anderer Meinung gewesen war.

»We for Wildlife ist eine wunderbare Organisation«, überging Sandy die Situation, während sie den Braten aus dem Ofen holte und ihnen allen die Teller füllte. »Ich habe schon viel mit der Gruppe zu tun gehabt. Manchmal halte ich Vorträge für sie in Grundschulen, um den Kindern die Wildtiere näherzubringen.« Sofort beneidete Mieke die Schüler um diese Erfahrung. Sandy war eine beeindruckende Frau und musste einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

»Ich habe immer eine Auswahl an Federn, Eiern oder Stacheln im Gepäck, wenn ich den Klassenraum betrete«, erzählte sie weiter. »Damit möchte ich vor allem die Neugier der Kinder wecken. Man respektiert nur, was man kennt. Und um etwas kennenzulernen, muss man erst einmal wissen, dass es existiert. Du wärst erstaunt, wie viele Erwachsene hier keine Ahnung von unseren Tieren haben, und die umzuerziehen, das ist ein Kampf gegen Windmühlen. Kinder kann man noch formen und ihnen die Liebe zur Natur mit einfachen Mitteln nahebringen. Und manchmal sind sogar sie es, die den Erwachsenen anschließend spielend leicht die Augen öffnen können, indem sie selbst die Welt um sich herum viel deutlicher wahrnehmen.«

Später am Abend telefonierte Mieke mit Lina, die ihr zu dem Vorhaben gratulierte: »Ich finde es toll, dass du dich einsetzt. Das passt zu dir.«

Mieke lachte. »Bisher habe ich den Kurs noch nicht begonnen«, wehrte sie ab. Doch ihr Rucksack stand schon bereit, und die ausgedruckte Anmeldebestätigung lag obenauf.

»Ich wünschte, ich könnte an deiner Seite sein«, seufzte Lina. »Stattdessen hänge ich im deutschen Winter bei Dauerregen fest. Mein Chef hat es versäumt, rechtzeitig neues Personal einzustellen, nachdem zwei Kollegen gekündigt haben. Ich schiebe fast täglich Überstunden. Aber nächste Woche fangen zwei Neue an, dann trete ich kürzer.«

»Wenn ich das hier alles heil überstehe, fahren wir nächstes Jahr gemeinsam nach Australien«, versprach Mieke ihr.

»Hast du alle anderen Übernachtungen schon storniert? Effizient, wie du immer bist.«

»Nein, das mache ich in den nächsten Tagen. Die Entscheidung war ja sehr spontan, und ich habe morgen noch den ganzen Tag Zeit, bevor ich an die Gold Coast fahre.«

»Du wolltest dich eigentlich in Australien entspannen, Schwesterherz. Bitte übernimm dich nicht.«

Mieke lehnte sich an den Klafter Holz, der hinter Robs Hütte gestapelt war. Dass Lina sich Sorgen um sie machte, war nichts Neues.

»Ich kann nicht anders, Lina. Nach dem, was ich erlebt habe, muss ich einfach helfen. Den Plan, die letzte Urlaubswoche auf Koala Island zu verbringen, halte ich aber aufrecht. Darauf hatte ich mich so gefreut, und ich denke, nach einigen Rettungsaktionen wird mir diese Erholung guttun. Um innerlich runterzukommen. Ich werde mich nicht auspowern. Das verspreche ich dir.« Koala Island lag vor der Goldküste südlich von Brisbane und war bekannt für seine stetig wachsende Koala-Population. Während Koalas in vielen Teilen des Landes immer seltener wurden, lebten sie auf der Insel geschützt, fern von Urbanisierung und Fragmentierung, wilden Hunden und Chlamydien. Sie hatte ein Panorama-Zimmer im Koala Island Haven Resort gebucht, denn um von dort aus ein Fotomotiv mit Koala zu finden, müsse man nur vor die Tür treten, hatte eine Reisebloggerin geschrieben. Das hatte vielversprechend geklungen.

Nach dem Gespräch mit Lina rief Mieke die Mietwagenfirma an, die wenig begeistert davon war, dass sie ihr Auto im Buschfeuer verloren hatte. Schließlich erklärte man sich dennoch bereit, ihr einen neuen Wagen zu stellen, da ihr Hyundai vollversichert gewesen war.

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