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Im Leben wie im Tod

Als Buch hier erhältlich:

Peter Decker und Rina Lazarus ermitteln wieder

Das Verschwinden eines Bewohners aus einer betreuten Wohneinrichtung wird Peter und seinem Partner übertragen – scheinbar ein leichter Fall.Doch je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto sicherer ist Peter sich, dass der Mann nicht einfach weggelaufen ist, sondern entführt wurde. Doch der einzige Anhaltspunkt, eine ehemalige Pflegerin der Einrichtung, verschwindet, bevor Peter mit ihr sprechen kann. Als dann bei der groß angelegten Suche im Wald von Greenbury auch noch die Leiche eines Jungen auftaucht, der bereits seit Längerem vermisst wird, ermittelt Peter plötzlich in zwei Fällen gleichzeitig, immer im Ungewissen, ob der Wald seine dunklen Geheimnisse preisgeben wird …


  • Erscheinungstag: 22.02.2022
  • Aus der Serie: Ein Decker/Lazarus Krimi
  • Bandnummer: 26
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951277
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Jonathan – meinen Co-Autor,
ein Leben lang

Und für unsere neueste Erstausgabe – Adeline Grace –
wahrlich ein passender Name

KAPITEL 1

In seinen vier Jahrzehnten als Detective hatte Decker das ein oder andere gelernt. Einer der erfreulichen Aspekte von Vermisstenfällen war die Tatsache, dass sie häufig gut ausgingen. Allerdings nicht immer. Denn Menschen verschwinden aus einer ganzen Bandbreite von Gründen.

Manche fielen einem Unfall zum Opfer: eine falsche Abzweigung auf einem Wanderweg oder eine plötzliche Riesenwelle beim Segeln trotz eigentlich ruhiger See. Manchmal wurde ein Leben mit böser Absicht ausgelöscht: eine aus dem Ruder gelaufene Zufallsbekanntschaft oder jemand, der bei einer Autopanne an die falsche Art von Hilfe geriet. Andere wiederum kamen bei augenscheinlich harmlosen Begegnungen um, die furchtbar schiefgingen, sodass die fassungslosen Täter nur noch versuchen konnten, die böse Tat zu verbergen und ein sie von innen her zerfressendes Geheimnis zu bewahren, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen wollten oder konnten.

Aber bisweilen verschwanden Menschen auch ganz einfach, weil sie es wollten.

Bislang wusste niemand so genau, welcher dieser Gründe auf Bertram Lanz, einen fünfunddreißigjährigen Mann mit kognitiver Beeinträchtigung zutraf, der auf einem Ausflug organisiert von der Loving-Care-Einrichtung, einem Heim für betreutes Wohnen, verschwunden war. An dem Ausflug hatten fünfzig Männer und Frauen mit kognitiven Einschränkungen teilgenommen. Als die Begleitpersonen die Gruppe nach der zweistündigen gemütlichen Wanderung wieder zurück in den Bus lotsten, war Bertram gesund und munter gewesen. Als alle nach einem Aufenthalt von einer Stunde in einem örtlichen Diner für die Heimfahrt wieder den Bus bestiegen, bemerkten die Betreuer jedoch rasch, dass ihnen eine Person fehlte. Und egal, wie oft sie nachzählten, jedes Mal kamen die Loving-Care-Begleiter zu demselben Ergebnis. Noch länger dauerte es herauszufinden, wer vermisst wurde.

Das war vor sechs Stunden gewesen, und jetzt war es zehn Uhr abends. Seit dem Anruf beim Polizeirevier Greenbury durchkämmten sowohl Officers als auch Freiwillige die unmittelbare Umgebung nach Bertram. Der Einbruch der Nacht hatte auch den letzten Rest Tageslicht verschluckt: kein Mond, nur unzählige winzige Lichtpunkte waren am dunklen Firmament zu sehen. In den zahlreichen Waldgebieten war es jetzt stockfinster, was eine Suche unmöglich machte. Sogar in der Stadt selbst sorgte die Straßenbeleuchtung eher für Atmosphäre als für Licht. Detective Peter Decker war vom Wald in die Wohngebiete gewechselt und hatte während der letzten zwei Stunden Runde um Runde durch die Straßen gedreht, wobei er immer wieder Anwohnern begegnet war, die dieselben Blocks absuchten. Er machte sich Sorgen um das Wohlergehen des Vermissten. Bertram war nicht krank und musste auch keine lebenswichtigen Medikamente einnehmen, aber seine eingeschränkten Alltagsfähigkeiten erschwerten es ihm vermutlich, in einer Umgebung mit komplexen Anforderungen zurechtzukommen. Weil es Sommer war, würde Bertram zumindest den Vorteil der wärmeren Nächte haben.

Decker fischte sein Handy aus der Tasche und rief seine Frau Rina an, die sich dem Suchtrupp angeschlossen hatte. In einem anderen Leben – vor fünf Jahren – war er Detective Lieutenant beim LAPD gewesen. Dem Leben in der Großstadt hatte er den Rücken gekehrt, aber aus dem Polizeidienst hatte er sich nicht ganz zurückziehen wollen. Als dann ein Posten am Greenbury PD frei geworden war, hatte er die Gelegenheit beim Schopf gepackt, in einem verschlafenen kleinen Universitätsstädtchen in Upstate New York zu arbeiten. Es war nicht so, dass es hier kein Verbrechen gab, aber wenn etwas passierte, kam es immer völlig unerwartet.

Nach zweimaligem Klingeln nahm Rina ab. »Hallo, Schatz. Gibt’s was Neues?«, sagte er.

»Das wollte ich dich auch gerade fragen.«

»Leider nein.« Er hielt inne. »Warum gehst du nicht nach Hause, Rina? Wir haben jetzt Unterstützung aus den benachbarten Departments. Es besteht kein Grund, dass alle von uns immer weiter dieselben Straßen absuchen.«

»Wo könnte er nur hingegangen sein, Peter? Der Diner liegt vollkommen abgelegen.«

»Wenn er zu Fuß unterwegs ist, kann er nicht allzu weit gekommen sein. Das Problem ist der Wald. Falls er beschlossen hat, einen Spaziergang zu machen – es ist selbst tagsüber sehr leicht, die Orientierung zu verlieren. Momentan ist es zu dunkel, um nach ihm zu suchen. Wir vermuten, dass er sich in irgendeine Garage oder Hütte verkrochen hat. Du weißt ja, wie es ist in dieser Stadt. Voll mit Ruheständlern, die einen Teil ihrer Zeit anderswo verbringen, und niemand ist zu Hause. Wir versuchen gerade, die Eigentümer zu erreichen, um ihre Erlaubnis einzuholen, ihren Wohnbesitz zu betreten. All das ist zeitaufwendig.«

»Was meintest du mit ›wenn er zu Fuß unterwegs ist‹?«

»Ist nicht ausgeschlossen, dass diese Sache geplant war. Wir müssen alles in Betracht ziehen, auch wenn es unwahrscheinlich ist.«

»Ganz abwegig ist das nicht«, sagte Rina. »Wie kann man sonst jemanden einfach verlieren?«

»Wir haben gleich zu Anfang mit den vier Betreuerinnen und Betreuern gesprochen, allerdings nur kurz. Sobald der Bus am Diner angekommen war, herrschte ein wildes Durcheinander. Alle drängten ins Lokal, gaben Bestellungen auf und suchten nach Stühlen. Der Diner kann maximal fünfunddreißig Leute unterbringen, aber sie waren über fünfzig Personen.«

»Dann hat sich der Laden strafbar gemacht.«

»Ja, hat er. Aber es ist eine Raststätte in einer abgelegenen Gegend, und vermutlich wog die Aussicht auf zahlende Gäste schwerer als die Furcht vor einer Anzeige.«

»Dann haben die Betreuer ihn aus den Augen verloren?«, fragte Rina.

»Sie haben nicht die einzelnen Personen von der Liste abgehakt, sondern nur durchgezählt. Als die Bewohner des Heims in den Bus stiegen, fiel ihnen auf, dass jemand fehlte.«

»Habt ihr schon mit den restlichen Teilnehmern des Ausflugs gesprochen?«

»Nein, noch nicht. Die stehen zu sehr unter Schock.«

»Das glaube ich gerne«, sagte Rina. »Kommst du heute Abend nach Hause?«

»Ich bleibe hier vor Ort, bis die Suche offiziell bis morgen früh abgebrochen wird.«

»Wann könnte das ungefähr sein?«

»Vor Mitternacht, aber ich suche vielleicht trotzdem weiter. Ich bin ziemlich aufgedreht.«

»Ist Tyler bei dir?«

»Nein. Jeder vom Department ist allein unterwegs. Bleib nicht wegen mir auf.«

»Mach ich vielleicht trotzdem«, entgegnete Rina. »Ich bin auch ein bisschen aufgedreht.«

»Versuch, etwas Schlaf zu bekommen, Liebling. Ruf mich an, sobald du zu Hause bist.«

»Mach ich. Hab dich lieb. Sei vorsichtig.«

»Dito und dito.«

Als Rina in die Einfahrt fuhr, war sie perplex, dass dort bereits jemand stand – überrascht, aber nicht beunruhigt, denn sie erkannte den Wagen. Ein kurzer Blick in alle Richtungen, dann flitzte sie zur Haustür und schloss auf. Als sie eintrat, stand Gabe auf. »Hallo!«

»Was für eine schöne Überraschung!« Rina ging auf ihn zu und umarmte ihn freudig. Gabe hatte bei ihnen gelebt, seit er vierzehn gewesen war. Jetzt, zehn Jahre darauf, war er knapp eins neunzig, schlank und drahtig. In sein hellbraunes Haar mischten sich aschblonde Strähnchen. Seine Augen waren leuchtend grün und spähten hinter einer randlosen Brille hervor. Er trug ein kurzärmeliges Hemd mit Cocktailglas-Muster zu schwarzen Jeans und Sandalen.

Gabe erwiderte die Umarmung. »Wie geht’s meinen Lieblings-Pflegeeltern?«

Rina lachte. »So viele gibt’s ja nicht zur Auswahl.«

»Dann vielleicht: Wie geht’s meinen beiden Lieblings-Eltern?«

»Davon hast du auch nicht so viele.«

Jetzt musste Gabe lachen. »Du wirst einfach nicht älter, weißt du das?«

Rina warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie war in den Fünfzigern und fühlte sich abwechselnd wie ein Teenager und wie eine Hundertjährige. Meistens setzte sich allerdings die Jugend durch. Sie hatte noch immer eine schlanke Figur, und das trug dazu bei, dass sie sich fit und energiegeladen fühlte. »Das liegt daran, dass ich ein Kopftuch trage und du meine ganzen grauen Haare nicht sehen kannst.«

»Alles, was ich sehe, sind deine strahlend blauen Augen und dein fröhliches Lächeln.«

»Du Schmeichler.« Sie knuffte ihn spielerisch in den Arm. »Wie geht’s denn dir, Schätzchen?« Ein rascher Blick auf die Uhr. »Wann bist du angekommen?«

»Vor ungefähr einer Stunde. Ich weiß, es ist schon spät. Störe ich?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Wo ist der Chef?«

»Die ganze Stadt ist gerade unterwegs und sucht nach einem Vermissten. Der Mann ist in der Nähe des Waldes verschwunden; er hat eine kognitive Beeinträchtigung. Ich komme gerade von der Suche.«

»Ist ja furchtbar. Kann ich irgendwas tun? Ich habe ein Auto.«

»Nein, gar nicht. Die haben mich gerade nach Hause geschickt. Hast du Hunger?«

»Nein, alles gut. Ich habe gegessen, bevor ich nach Greenbury gekommen bin, und dann hab ich euren Kühlschrank geplündert. Ich habe mir den Rest Hackbraten genommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Natürlich ist es in Ordnung. Setz dich. Erzähl mir, was bei dir gerade so los ist.«

Die beiden setzten sich nebeneinander auf ein blau-weiß gemustertes Sofa. Ursprünglich hatte Rina für die Ausstattung der Zimmer farbigen Chintz und Blumenmuster gewählt. Vor einem Jahr hatte sie alles auf Muster in Blau und Weiß umgestellt. Das Haus sah aus wie eine Ming-Vase, mit hier und da ein wenig Holz als Kontrast.

»Nichts Besonderes.« Gabe lehnte sich zurück an die Kissen. »Ich wollte nur mal vorbeischauen und Hallo sagen. Ist ja schon ein Weilchen her.«

»Allerdings.«

Rina lächelte und wartete darauf, dass er damit herausrückte, was er auf dem Herzen hatte. Als Gabe es vorzog zu schweigen, fragte sie: »Wie geht’s Yasmine?«

»Ziemlich mies.«

»Oje.«

»Nicht wegen mir, sondern wegen ihres Medizinstudiums. Entweder hat sie Uni, oder sie lernt.«

»Das erste Jahr soll ja das schwerste sein.«

»Ja, total. Ihre Eltern nerven sie, dass sie wieder zurück nach Los Angeles kommen und sich auf einen Studienplatz für Pharmazie bewerben soll. Es gibt jede Menge junge Perserinnen, die Apothekerinnen sind.«

»Ich dachte, ihre Eltern wollten unbedingt, dass sie Medizin studiert.«

»Ich habe keine Ahnung, Rina. Vielleicht wollen sie sie nur von mir weghaben.«

»Ihr seid doch verlobt.«

»Schon, das heißt aber nicht, dass sie glücklich darüber sind.«

»Du bist zum Judentum übergetreten.«

»Ja, bin ich. Ich habe sogar ein bisschen Hebräisch und eine ganze Menge Farsi gelernt. Aber ich bin nicht der Typ, den sie sich für ihre Tochter vorgestellt hatten.« Er musste grinsen. »Obwohl sie den Ring, den ich ihr geschenkt habe, ziemlich gut fanden.«

»Mit was Funkelndem bringt man sie immer auf seine Seite.«

»Wer mag schon kein Bling? Yasmine denkt drüber nach … über Pharmazie. Ich würde sie unterstützen, egal, was sie macht. Ich will nur, dass sie glücklich ist, aber ich glaube nicht, dass es ihr in L. A. besser gehen würde, wenn sie bei ihren Eltern wohnt und nicht bei mir ist. Aber das ist ihre Entscheidung.« Er sah auf die Uhr. »Ich sollte dich nicht wach halten.«

»Alles in Ordnung, Gabe.«

»Wie ist dieser Mann verschwunden?«

Rina seufzte. »Er lebt in einem Heim. Die Bewohner haben einen Ausflug gemacht, um im Wald wandern zu gehen. Der Bus hielt an einem Diner hier in der Gegend, an einer der abgelegeneren Strecken. Angeblich waren da viele Leute auf engstem Raum. Als die Gruppe wieder in den Bus stieg, war der Mann nicht mehr da. Peter und andere örtliche Polizeibehörden suchen noch immer nach ihm. Wahrscheinlich ist er noch eine ganze Weile unterwegs und sieht sich um.«

»Ja, na klar. Der arme Kerl – der Vermisste. Nicht Peter. Obwohl ich mir sicher bin, dass er gerade ziemlich viel zu tun hat.«

Rina sah ihren Pflegesohn prüfend an. »Was ist los, Gabe? Ich weiß, du hast uns gern, aber man fährt nicht drei Stunden von New York hierher ohne einen bestimmten Grund. Musst du mit Peter reden?«

»Eigentlich bin ich gekommen, um mit dir zu reden, Rina.« Er sah zur Decke und stieß laut vernehmlich den Atem aus. »Meine Mutter ist in den Staaten.«

»Wie schön!« Sie hielt kurz inne. »Oder doch nicht?«

»Keine Ahnung. Meine Mom und ich haben ein ziemlich durchwachsenes Verhältnis.«

»Ich dachte, ihr zwei hättet euch wieder angenähert.«

»So einigermaßen.«

»Ihr redet wieder miteinander.«

»Ja … mehr oder weniger.«

»Sie hat sich vierzehn Jahre lang um dich gekümmert, Gabe. Selbst als sie keinen Cent hatte, hat sie immer dafür gesorgt, dass genug zu essen da war und du ein Dach über dem Kopf hattest.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich versuche ja, nachsichtig zu sein, aber sie hat mich schließlich im Stich gelassen.«

»Nicht direkt. Sie hat dich zu uns gebracht.«

»Was im Nachhinein das Beste war, was mir je passiert ist. Tut aber trotzdem immer noch weh.«

»Natürlich. Wo ist sie denn gerade?«

»In der Stadt. Vor ungefähr zwei Wochen hat sie mich angerufen, als ich gerade in Chicago gearbeitet habe, also hatte ich eine Entschuldigung, mich nicht mit ihr treffen zu müssen. Aber sie muss auf meine Website gegangen sein und meinen Konzertplan gesehen haben. Sie weiß, dass ich gerade in New York bin und eine Meisterklasse unterrichte.« Er schwieg einen Moment. »Sie will sich mit mir treffen. Am besten sofort.«

»Weißt du, warum?«

»Keinen Schimmer. Aber nach elf Jahren in Indien an der Seite eines Mannes, der mich nicht ausstehen kann, ist es sicher nicht, weil sich ihr Mutterinstinkt plötzlich gemeldet hat.«

»Willst du sie denn sehen?«

»Hm …« Er verzog das Gesicht. »Ich würde gerne meine Halbschwester und meinen Halbbruder sehen.«

»Sie hat die beiden mitgebracht?«

Gabe nickte.

»Was ist mit Devek?«

»Der ist nicht mit dabei. Ist auch besser so. Ich kann ihn nämlich ebenso wenig leiden wie er mich.« Er befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und stand auf. »Ich brauche einen Schluck Wasser.«

»Ich hol’s dir, Gabe. Still oder mit Kohlensäure?«

»Still ist super.«

Rina ging in die Küche und holte ein Glas stilles Wasser und eine gekühlte Dose Mineralwasser. Sie trank es gerne direkt aus der Dose, weil es auf diese Art besonders erfrischend war. Als sie zurückkam, stand Gabe vor dem Stutzflügel und sah sich die vielen Familienfotos an, die darauf standen. Obwohl er nicht vor der Tastatur saß, schien ihn die Nähe zu dem Instrument zu beruhigen. Er kehrte zum Sofa zurück, setzte sich und leerte das Wasser.

»Devek und meine Mom haben Probleme«, sagte er schließlich.

»Hat deine Mom dir das erzählt?«

»Nicht sie. Juleen.«

»Dann hast du also mit deiner Schwester gesprochen.«

»Nur ganz kurz. Juleen ist ein Mädchen, das so leicht nichts aus der Ruhe bringt, aber sie klang ziemlich durcheinander. Sie hat mir erzählt, dass ihre Eltern kaum noch miteinander reden. Sie hat mir auch erzählt, dass sie ganz plötzlich aufgebrochen sind, und ohne ihren Vater.«

»Das klingt nicht gut.«

»Nein, das tut es nicht. Meine Mom ist schon mal aus einer schlechten Ehe abgehauen. Ich würde ihr zutrauen, auch noch ein zweites Mal wegzulaufen. Sie scheint sich immer den Falschen auszusuchen.«

»Hat deine Mom dir etwas über ihre Ehe erzählt?«

»Keinen Ton. Sie hat sich nach meinem Dad erkundigt. Sie wollte wissen, ob er noch in Nevada wohnt … was der Fall ist. Sie hat mich allerdings gebeten, falls ich mit ihm spreche, ihm gegenüber nicht zu erwähnen, dass sie hier ist … in den Staaten. Sie hat Angst, dass er immer noch sauer auf sie ist.«

»Verständlich.«

»Ehrlich gesagt geht’s ihm richtig gut in seinem jetzigen Leben. Chris würde ihr niemals wehtun. Er sehnt sich immer noch nach ihr. Er hat mir mehrmals erzählt, dass er sie sofort wieder zurücknehmen würde. Aber vermutlich würde er ihr das Leben einfach wieder zur Hölle machen.«

»Er hat sie verprügelt.«

»Ja, das war schrecklich. Zum Glück bin ich reingekommen, als er sie gerade geschlagen hat. Er hat aufgehört, als er mich bemerkt hat. Er war wütender, als ich ihn jemals gesehen habe.«

Rina nickte. Sie wusste, was damals vorgefallen war. Chris Donatti dachte, Terry hätte sein Kind abgetrieben. Gott allein wusste, was passiert wäre, wenn er herausgefunden hätte, dass sie mit dem Kind eines anderen Mannes schwanger war.

»Mittlerweile ist mir klar, dass sie gehen musste, aber es tut trotzdem weh.«

»Ich weiß. Aber das Ganze ist über zehn Jahre her. Vielleicht ist es an der Zeit, mit der Sache abzuschließen. Deine Eltern haben sich beide Mühe gegeben. Sie haben einfach nur … ihre Defizite.«

»Nette Umschreibung. Chris ist ein gefährlicher Irrer. Wenn er in den 1930ern gelebt hätte, wäre er für eine ganze Reihe wesentlich schlimmerer Verbrechen als häusliche Gewalt hingerichtet worden. Ich bin sein Sohn, und trotzdem macht er mir Angst. Aber … wenigstens war er während der letzten elf Jahre Teil meines Lebens. Das ist mehr, als ich von meiner Mom behaupten kann.«

»Du warst in Kontakt mit ihr.«

»Ein bisschen, ja.« Er seufzte. »Um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ich würde meine Mutter gerne persönlich treffen. Aber ich ahne, dass mehr dahintersteckt, als ihrem Kind einen Besuch abzustatten. Ich weiß, sie wird versuchen, mich zu irgendwas zu beschwatzen.«

»Zu was denn?«

»Zu irgendeinem Gefallen, den ich ihr nicht tun will.«

»Du bist nicht mehr vierzehn, Gabriel. Du musst nichts tun, was du nicht tun willst. Und es könnte sein, dass sie sich ohne Devek mit dir treffen will. Da es Spannungen zwischen euch beiden gibt, ist sie vielleicht einfach nur rücksichtsvoll.«

»Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht liegst du auch falsch, und ich hab recht. Vermutlich gibt’s nur einen Weg, es rauszufinden.«

Rina wartete ab.

Schließlich fuhr Gabe fort: »Kannst du mitkommen, wenn ich sie besuche? Ich weiß, das klingt total kindisch, aber wenn sie dich sieht, wird sie sich … gemäßigter verhalten. Und die Wahrscheinlichkeit ist geringer, dass sie mich einwickelt. Und falls ich doch eingewickelt werde, kannst du mich drauf aufmerksam machen.«

»Ja, Leute einwickeln kann Terry gut.«

»Ich weiß. Versuch, sie nicht zu hassen.«

»Ich hasse Terry nicht, und Chris hasse ich auch nicht. Sie sind deine Eltern, und sie haben ein wunderbares Kind in die Welt gesetzt.«

»Hasst Peter sie?«

»Natürlich hasst er sie nicht. Er war ziemlich sauer, als sie dich bei uns abgeladen hat, ohne zu verraten, wo sie zu erreichen ist – deinetwegen, nicht unseretwegen. Jetzt bist du Teil unserer Familie. Alle betrachten dich als Familienmitglied.«

»Ich weiß.« Gabe nagte an seiner Lippe. »Und ich bin wirklich dankbar für alles.«

»Dankbarkeit ist nicht nötig. Konzerttickets dagegen …«

Gabe musste schmunzeln. »Wusstest du, dass ich fast jeden Tag mit Hannah telefoniere, wenn ich in der Stadt bin? Als ich ihr erzählt habe, was los ist, hat sie gesagt, ich soll dich um Rat fragen. Sie hat gesagt, du wärst sehr weise.«

»Wie witzig.« Rina lachte. »Das hat meine Tochter mir selbst noch nie gesagt.« Ein Seufzen. »Wann triffst du dich mit deiner Mom?«

»Ich hab ihr gesagt, ich würde sie anrufen, wenn ich einen freien Tag habe. Wann würde es dir passen?«

»Nächste Woche würde gehen, aber ich will es erst mit Peter besprechen.«

»Hab ich mir schon gedacht. Hoffentlich versucht er nicht, es dir auszureden.«

»Peter hat mir noch nie etwas ausreden können. Vermutlich ist das etwas, worüber sich alle Ehemänner beklagen.«

»Ehemänner, Freunde, Verlobte … Das ist das Los eines jeden Typen.«

Rina musste lachen und stand auf. »Ich mache dir das Gästezimmer fertig.«

»Da hab ich mich schon häuslich eingerichtet, mit frischen Handtüchern und allem drum und dran.« Er erhob sich ebenfalls. »Das mit dem Mann, der vermisst wird, tut mir wirklich leid. Wie konnten die ihn verlieren?«

»Vier Betreuer auf fünfzig Erwachsene. Kein gutes Verhältnis.«

»Man sollte doch meinen, sie würden ihn sofort finden. Wie weit kann er denn schon gekommen sein?«

Rina breitete ratlos die Arme aus. »Hoffentlich finden sie ihn morgen früh, und zwar wohlbehalten.«

»Es sei denn, er will nicht gefunden werden«, gab Gabe zu bedenken. »Ist vermutlich nicht sonderlich lustig, ein Erwachsener zu sein und in einem Heim leben zu müssen. Der arme Kerl. Ich vermute, selbst eine Behinderung stellt keine ernsthafte Hürde dar, wenn man sich nach Freiheit sehnt.«

KAPITEL 2

Der Wagen in der Einfahrt war ein BMW 340i-Cabrio mit schwarzem Verdeck und spezialangefertigten Felgen.

Was um alles in der Welt machte Gabe hier?

Decker sah auf die Uhr: 2:28 in der Früh. Er würde wohl einfach bis zum Morgen warten müssen, um es herauszufinden. Normalerweise parkte Rina in der Garage, und er parkte in der Einfahrt, aber da der Wagen des Jungen beide Plätze blockierte, stellte er sein Auto am Bürgersteig ab. Zum Glück war es eine ruhige Gegend mit wenig Verbrechen. Dann ging er ins unbeleuchtete Haus, wobei er darauf achtete, niemanden zu wecken.

Im Schlafzimmer brannte kein Licht; Rinas Gestalt nahm weniger als die Hälfte des Bettes ein. Sie hatte sich klein zusammengerollt und sich die Decke über den Kopf gezogen. Decker nahm sich den Schlafanzug, den sie ihm sorgfältig zurechtgelegt hatte, und schlich ins Bad, um sich umzuziehen. Für einen Mann seiner Körpergröße war es nicht einfach, leise aufzutreten. Er wusste, dass er mittlerweile ein wenig kleiner als seine ursprünglichen eins dreiundneunzig war, aber er war noch immer eine stattliche Erscheinung. Er hatte volles Haar, wenn auch nicht mehr ganz so üppig, wie es einmal gewesen war. Sein Schnurrbart war noch genauso dicht wie vor fünfzig Jahren. Aber die Farbe hatte sich von ihrem natürlichen Rotton beinahe in Weiß verwandelt. Er ging ja auch schon auf die siebzig zu; er konnte einfach nicht begreifen, wie schnell die Zeit vergangen war. Sosehr er sich auch bemühte, er schien sie einfach nicht anhalten zu können.

Als er wieder aus dem Badezimmer kam, drehte Rina sich um und streckte ihm zur Begrüßung den Arm entgegen. »Gabe ist da.«

»Hab ich mir schon gedacht. Ich habe sein Auto in der Einfahrt wiedererkannt.«

»Ich hätte ihn bitten sollen, es woanders hinzustellen.« Rinas Stimme klang verschlafen. »Tut mir leid.«

Decker schlüpfte unter die Bettdecke, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. »Nicht weiter schlimm.«

Rina rollte sich wieder zusammen. »Hattet ihr Erfolg hinsichtlich Bertram Lanz?«

»Nein. Wir versuchen’s morgen bei Tageslicht noch mal.«

»Wie spät ist es jetzt?«

»Etwa halb drei.«

»Gegen halb sechs wird es hell«, nuschelte Rina.

»Also wird das für mich entweder ein sehr kurzer Schlaf oder ein ziemlich langes Nickerchen.«

Rina murmelte etwas Unverständliches und schlief wieder ein.

Als am Morgen der Wecker klingelte, war sie bereits aufgestanden. Deckers Atem roch säuerlich, und er schleppte sich ins Bad. Es dauerte zwanzig Minuten, bis er geduscht und sich rasiert und angezogen hatte, aber seine Mühen wurden belohnt durch eine Kanne frisch gebrühten Kaffee und seine lächelnde Ehefrau. Wie sie um diese Uhrzeit so fröhlich sein konnte, war ihm absolut rätselhaft.

»Frühstück?«, fragte sie.

»Toast. Kann ich mir selber holen.«

»Ich habe letzte Nacht geschlafen. Du nicht.«

»Was ist mit dem Jungen?«

»Deinem Pflegesohn?«

»Ja, sag ich doch. Dem Jungen. Was will er?«

»Er möchte, dass ich nächste Woche nach Manhattan komme. Passt dir das?«

»Natürlich.« Er hielt inne. »Darf ich fragen, wieso?«

»Terry ist in New York. Sie will ihn sehen. Aber er will sich nicht ohne Rückendeckung mit ihr treffen.«

»Warum denn? Ist sie in Schwierigkeiten?«

»Weiß ich nicht genau, aber sie ist mit den Kindern und ohne ihren Mann hier.«

»Klingt nicht gut, Rina. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist, als ich versucht habe, ihr zu helfen. Am Ende hatten wir einen Sohn. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich bin nicht in der Lage, noch weitere Kinder großzuziehen.«

»Ich weiß. Ich werde die Augen offen halten.«

»Wie alt sind sie, Terrys Kinder?«

»Das Mädchen dürfte jetzt etwa elf sein. Der Junge ist jünger, vier oder fünf.«

»Wann soll euer privates Treffen denn stattfinden?« Er sah auf die Datumsanzeige seiner Uhr. »Heute ist schon Mittwoch. Diese Woche fällt also mehr oder weniger flach.«

»Gestern Abend haben wir den genauen Termin offen gelassen.« Rina brachte Toast, Butter und Marmelade an den Tisch und setzte sich mit einer Tasse Kaffe. »Was habt ihr hinsichtlich Bertram Lanz geplant? Sucht ihr immer noch Freiwillige?«

»Ja. Die Gruppe trifft sich um neun vor dem Diner. Eigentlich bietet der Diner um acht schon Pfannkuchen für die Freiwilligen an. Also wann immer du vorbeikommen kannst, wäre das prima. Falls du nicht kannst, mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, es werden eine Menge Leute mitmachen.«

»Wo kann der arme Mann nur hin sein?«

»Keine Ahnung. Aber wenn er sich irgendwo in fußläufiger Entfernung befindet, werden wir ihn finden. Kevin Butterfield stellt gerade mehrere Suchtrupps aus den einzelnen Departments zusammen. Falls wir ihn nicht finden, muss ich irgendwann zu dem Heim fahren. Und mit den Mitarbeitern sowie den Bewohnern sprechen. Wir müssen uns ein Bild davon machen, wer Bertram ist und warum er sich einfach so abgesetzt haben könnte. Falls er Eltern hat und die noch nicht benachrichtigt worden sind, muss das ebenfalls heute passieren.«

»Ich komme um neun vorbei und helfe bei der Suche.«

»Danke. Was hat Gabe vor?«

»Ich vermute, er fährt zurück nach New York. Er gibt momentan einen Kurs, also weiß ich, dass er an einen bestimmten Terminplan gebunden ist.«

Decker nahm einen großen Bissen Toast und spülte ihn mit dem Rest seines Kaffees herunter. »Richte ihm viele Grüße von mir aus. Und sag ihm, er soll mich anrufen, wenn er irgendwelche Bedenken hat, was dieses Treffen angeht. Du weißt, ich könnte anstelle von dir mitgehen.«

»Ich glaube, er hat mich gebeten, weil er weiß, dass du viel zu tun hast.«

»Oder er will nicht, dass ich dabei bin.«

»Er denkt, du bist immer noch wütend auf seine Mom.«

»Ich bin überhaupt nicht wütend. Aber Terry hat sich von einem netten, harmlosen Mädchen in jemanden verwandelt, der gerissen ist und andere manipuliert. Er muss sich in Acht nehmen.«

»Ich bin sicher, das weiß er.«

»Schon, aber sie ist immer noch seine Mutter. Mütter wissen, wie sie einen rumkriegen.«

»Letztes Jahr haben wir uns bestens mit deiner Mutter verstanden.«

»Wir beide haben uns ja auch von unserer besten Seite gezeigt.«

»Vielleicht zeigt Terry sich ja auch von ihrer besten Seite.«

»Genau das macht mir Sorgen. Sie ist nämlich wesentlich charmanter als meine Mutter.« Decker gab Rina einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du bei der Suche mithilfst. Wir sind so ein kleines Department. Wir haben ein paar Officer aus umliegenden Polizeirevieren dazugeholt, aber Freiwillige können den entscheidenden Unterschied ausmachen.«

»Gegenseitige Unterstützung«, entgegnete Rina. »Die schafft es nicht auf die Titelseite, aber damit kommen wir durch den Alltag.«

Die morgendliche Suche verlief erfolglos. Am Mittag holte Decker sein Handy aus der Tasche und rief Tyler an, der von einem anderen Streifenwagen aus an der Suche beteiligt war. Anfangs waren er und McAdams Partner gewesen. Jetzt waren sie Freunde, obwohl Tyler eher im Alter von Deckers Kindern war. Ihre Beziehung hatte nicht sonderlich gut begonnen. Aber McAdams hatte sich als fähiger Kollege herausgestellt. Als der junge Mann dranging, sagte Decker: »Hey, Harvard. Irgendwas gefunden?«

»Immer noch nichts, wirklich gar nichts. Und bei euch?«

»Komplette Fehlanzeige. Wir haben noch nicht mal eine Spur, der die Hunde folgen könnten. Könnte sein, dass ihn jemand abgeholt hat und die Hunde deshalb keinen Geruch aufnehmen können.«

»Die Sache war geplant?«

»Sie war geplant, oder er hat es geschafft, per Anhalter mitgenommen zu werden«, sagte Decker. »Jetzt brauchen wir weitere Informationen. Das bedeutet, wir müssen mit Leuten sprechen, die dabei waren.«

»Sie sind alle wieder zurück in die Einrichtung gefahren. Außerdem habe ich gehört, dass sie Rechtsanwälte kontaktiert haben. Möglicherweise reden sie gar nicht mit uns.«

»Lanz wird seit weniger als vierundzwanzig Stunden vermisst. Es ist äußerst wichtig, dass wir so viel rausfinden, wie wir können, und zwar schnellstmöglich. Außerdem, wenn seitens der Eltern eine Zivilklage droht, wird die Mithilfe der Einrichtung einen guten Eindruck machen. Egal, ob wir willkommen sind oder nicht, ich werde einen kleinen Ausflug zum Loving-Care-Heim machen und Bertrams Zimmer durchsuchen. Lust mitzukommen?«

»Klar. Ist Mike Radar mit deinem Plan einverstanden?«

»Ich ruf ihn jetzt sofort an. Ich bin sicher, es ist in Ordnung.« Decker schwieg kurz. »Hast du dein iPad dabei?«

»Habe ich immer, aber ich komme nicht ins Internet. Was brauchst du?«

»Informationen über das Loving-Care-Wohnheim für Erwachsene. Schau mal nach, ob es da in der Vergangenheit Probleme gab. Und ob es vielleicht irgendwelche Kommentare über die Einrichtung gibt und wie gut die Betreuung ist.«

»So was wie ’ne Yelp-Bewertung für Heime für Erwachsene?«

Decker musste schmunzeln. »Ich weiß nicht, ob’s Yelp ist, aber jegliche Onlinebeewertungen. Jeder hat doch zu irgendwas eine Meinung.«

»Stimmt. Wie wär’s, wenn ich zurück aufs Revier fahre, und wir treffen uns dort?«

»Perfekt.«

»Wie weit ist das Heim entfernt?«

»Von Greenbury? Ungefähr zwei Stunden mit dem Auto, wenn’s gut läuft.«

»Hast du schon zu Mittag gegessen?«

»Nein, noch nicht.«

»Vielleicht besorge ich uns was vom koscheren Deli.«

»Gute Idee. Ich nehme Pute auf Roggenbrot mit Salat, Tomate, Mayo und Senf. Hol du dir, was immer du möchtest. Das geht auf mich. Und könntest du für mich tanken? Der Tank ist so gut wie leer.«

»Mach ich.«

»Und schau dir an, wie wir mit dem Auto zum Heim kommen. Besorg dir Wegbeschreibungen von verschiedenen Webseiten. Noch besser, kauf eine richtige Straßenkarte.«

»Dein Auto hat ein Navi, Old Man.«

»Ein Navi ist ja schön und gut, aber nicht in ländlichen Gegenden, wo sich alles ständig verändert. Ich will einen Plan B haben, falls die Navi-Strecke auf einmal einfach endet, weil die Straße wegen Überflutung gesperrt ist.«

»Sonst noch was?«

»Momentan nicht. Aber ich behalte mir das Recht vor, dir nach Gutdünken weitere Aufträge aufs Auge zu drücken.«

McAdams balancierte ein Picknick auf dem Schoß, das jeden Moment herunterzurutschen drohte. Auf einer Stoffserviette befanden sich ein Sandwich, Coleslaw, Kartoffelsalat und eine kleine Schale mit Obst. Wie er als schmalhüftiger Mensch so viel auf einer so kleinen Fläche unterbringen konnte, grenzte an Zauberei. Der Junge war von Natur aus schlank und mittelgroß. Mittlerweile war er fast dreißig und um den Brustkorb herum breiter geworden. Er hatte sich auch ganz ansehnliche Oberarmmuskeln zugelegt. Sein braunes lockiges Haar war sommerlich kurz geschnitten. Die grünbraunen Augen blickten so wach wie immer, so wie es sich für jemanden gehörte, der in Harvard studiert hatte. Er biss in sein Sandwich, und aus der Mitte quoll etwas hervor. Er leckte es ab und kaute energisch. Dann schluckte er den Bissen herunter und sagte: »Nach dem zu urteilen, was ich im Netz gefunden habe, gibt’s nicht viel zu berichten.«

Decker blickte angestrengt durch die Windschutzscheibe, als er auf dem Weg zum Highway ländliche Straßen entlangfuhr. Der dichte Bewuchs rechts und links des Asphalts zog als ein einziges grünes Band an ihnen vorbei. Er hatte Hunger, aber die Strecke war ziemlich kurvig und ihm nicht vertraut. Er musste sich auf die zahlreichen Biegungen der Straße konzentrieren.

»Was hatten die Leute über das Heim zu sagen?«

»Hab ehrlich gesagt nicht allzu viel gefunden. Laut der wenigen Bewertungen, die ich gelesen habe, hat das Loving Care ein sauberes, angenehmes Ambiente, anständiges Essen, ein gutes Verhältnis von Betreuern pro Bewohner, gute medizinische Versorgung einschließlich Therapeuten sowie jede Menge Aktivitäten. Die Bewohner kriegen Einzelzimmer.«

»All das klingt positiv. Irgendwelche gegenteiligen Meinungen?«

»Der Hauptkritikpunkt war, dass der Laden teuer ist. Also so richtig teuer. Der monatliche Betrag ist exorbitant. Bei jährlicher Zahlweise gibt’s zehn Prozent Rabatt.«

»Über wie viel reden wir?«

»Unterschiedlich, im Durchschnitt aber um die zehntausend im Monat, was es für alle außer die wirklich Reichen unerschwinglich macht. Ist ja nicht mal wie bei ’ner Entzugsklinik, wo hoffentlich ein einziger Aufenthalt ausreicht, obwohl das selten der Fall ist. Hier geht das Jahr ein, Jahr aus.«

»Gibt der Staat irgendwelche Zuschüsse?«

»Wahrscheinlich ein bisschen, aber ich vermute, nicht allzu viel«, entgegnete McAdams.

»Für das Geld sollten sie Fünfsterneservice bieten.«

»Zumindest würde ich ein Sternerestaurant und einen Wellnesstempel mit Aromatherapie erwarten«, sagte McAdams. »Das mit dem Restaurant und dem Wellnesstempel ist natürlich Quatsch, aber die bieten tatsächlich einmal pro Woche eine Maniküre an.«

»Da meld ich mich doch sofort an«, sagte Decker. »Machen die auch Ausnahmen?«

»Du meinst, ob sie den weniger gut Betuchten ein bisschen entgegenkommen? Keine Ahnung. Am Ausflug haben fünfzig Bewohner teilgenommen. Ich schätze mal, ein paar sind nicht mitgefahren. Das macht um die sechzig Bewohner à einhundertzwanzig Riesen im Jahr. Bei der Kohle kann man ’ne Menge Leistungen anbieten und trotzdem noch Gewinn machen.«

»In der Tri-State-Area von New York, Connecticut und New Jersey gibt es viele sehr wohlhabende Leute, die immer nur das Beste von allem haben wollen.«

»Da hast du recht«, pflichtete McAdams ihm bei. »Und trotzdem hat all das viele Geld nicht verhindern können, dass ihnen ein Bewohner abhandengekommen ist. Oder wie von dir vorgeschlagen, vielleicht selbst dafür gesorgt hat, abhanden zu kommen. Falls ja, muss ihm jemand geholfen haben. Hilfe bräuchte da jeder. Die Gegend ist dicht bewaldet, und man kann sich leicht verirren.«

»Vielleicht hatte er einen Fluchtplan. Hat irgendeiner der Bewohner einen Führerschein?«

»Weiß nicht. Soll ich mal anrufen?«

»Nein, schon gut. Wir sind ja bald da.«

»Soll ich fahren, damit du was essen kannst, Boss?«

»Du kannst auf dem Rückweg fahren. Ich esse dann. Mit vollem Magen vernehme ich ungern Leute.«

»Kein Problem, außer dass dein Sandwich schlecht werden könnte. Ist heiß draußen.«

»Ich bin sicher, ich kann’s irgendwo in einem Kühlschrank deponieren.«

Einige Minuten fuhren sie schweigend weiter, während McAdams sich mit seinem Handy beschäftigte. »Kein Empfang.« Er blickte auf. »Was gibt’s bei dir Neues?«

»Rina fährt nach New York.«

»Oh, wann denn?«

»Wahrscheinlich nächste Woche.«

»Die Enkelkinder besuchen?«

»Das macht sie bestimmt, aber das ist nicht der Grund, warum sie hinfährt.«

Stille.

»Muss ich dir alles aus der Nase ziehen, oder verrätst du’s mir?«, brummelte McAdams.

»Gestern Abend hatten wir Besuch von Gabe«, sagte Decker. »Seine Mutter ist aus Indien angereist. Sie ist in Manhattan und will sich mit Gabe treffen. Aber er will sie nicht ohne Begleitung sehen.«

»Warum nicht? Ist sie gemeingefährlich wie sein Vater?«

»Nicht gemeingefährlich, aber sie manipuliert gerne. Gabe befürchtet, dass sie vorhat, ihn zu etwas zu überreden, das er nicht machen will.«

»Zu was denn?«

»Keine Ahnung. Wie dem auch sei, wenn Rina dabei ist, ist die Chance größer, dass Terry sich gut benimmt, glaubt Gabe.«

»O-kay«, sagte McAdams. »Braucht ein vierundzwanzig Jahre alter Konzertpianist wirklich Unterstützung, um Nein zu seiner Mama zu sagen?«

»Ist ’ne schwierige Beziehung.«

»Alle Beziehungen zu den eigenen Eltern sind schwierig. Und Eltern können verdammt gut manipulieren. Ist kein Sonderfall … na ja, sein Dad ist vielleicht schon ein Sonderfall. Selbst mein Vater ist kein Profikiller.«

»Das macht er nicht mehr. Er ist ein … Psychopath, der hin und wieder jemanden umbringt, wenn es zweckdienlich ist.« Er schwieg kurz. »Vermutlich ist das Haarspalterei.«

»Ach was?«

Decker zuckte die Achseln. »Kurz gesagt, Gabe hat Rina gebeten mitzukommen, und sie hat Ja gesagt. Niemand hat mich um Rat gefragt. Ich bin nur ein unbeteiligter Zuschauer.«

»Bis du’s auf einmal nicht mehr bist.«

Decker antwortete nicht sofort. »Meinst du, ich sollte mitfahren?«

»Du willst tatsächlich meine Meinung hören?«

»Scheint so.«

»Ist ja ganz was Neues.« McAdams grinste. »Ich schätze, das hängt davon ab, wie’s mit Bertram Lanz aussieht. Wenn nichts Dringendes ansteht, klar, fahr mit ihr. Ich würde schon gern wissen, warum Gabe dich nicht gleich gefragt hat, ob du mitkommst. Du kennst Terry doch besser als Rina.«

»Ich glaube, Gabe hat Angst, dass mir vielleicht der Kragen platzt.« Decker hielt kurz inne. »Du hast übrigens recht. Ich sollte besser hierbleiben, bis wir Bertram Lanz gefunden haben.«

»Glaubst du, er lebt noch?«

»Ich weiß es nicht. Wenn das Verschwinden nicht geplant war, hätten wir ihn mittlerweile schon gefunden, würde ich meinen. Allerdings haben wir gerade erst angefangen. Wir werden weitersuchen.«

»Leben Lanz’ Eltern noch?«, fragte McAdams.

»Kurt und Mila Lanz. Sie leben in Deutschland. Bevor wir losgefahren sind, habe ich sie recherchiert. Er ist ein Industrieller – Eisen und Stahl. Gehört nicht zu den zehn reichsten Männern Deutschlands, aber er ist trotzdem noch ziemlich reich.«

»Deshalb kann er sich auch die stolze Summe leisten, die das Loving Care verlangt. Wieso sollte ein wohlhabendes deutsches Ehepaar sein Kind in ein Betreuungsprogramm in den Vereinigten Staaten schicken?«

»Ja, das ist komisch. Soweit ich feststellen konnte, hat Bertram keinerlei nahe Verwandte in Amerika.« Decker schnaufte abschätzig. »Ich vermute, sie können leichter ihren Lebensstil pflegen, wenn Bertram weit weg ist. Aber vielleicht bin ich jetzt nur unfreundlich.«

»Wahrscheinlich nicht.« McAdams dachte nach. »Wenn Bertram deutscher Staatsbürger ist, hätte er einen Reisepass. Er könnte überallhin abgehauen sein.«

»Er hat eine Lernschwierigkeit«, gab Decker zu bedenken. »Meinst du, er käme allein auf einem Flughafen zurecht?«

»Möglicherweise. Besonders wenn er mehrfach zwischen Amerika und Europa hin und her gereist ist. Reiche Familien machen das öfter.«

»Ja. Reiche Familien sind auch gut geschützt. Vielleicht müssen wir uns was einfallen lassen, um an sie ranzukommen.«

»Stimmt. Reiche Leute sind oft von mehreren Schichten Sicherheitsmaßnahmen umgeben. Das ist, als ob man sich erst mal durch eine kugelsichere Weste arbeiten müsste.«

»Nichts ist kugelsicher«, bemerkte Decker. »Man muss nur die Lücken finden.«

KAPITEL 3

Das Loving-Care-Heim befand sich in Baniff, einem kleinen Städtchen im westlichen Teil des Staates New York, auf halbem Weg zwischen dem Gebiet der Finger Lakes und Rochester, mit nur wenigen geografischen Anhaltspunkten, an denen sie sich unterwegs orientieren konnten. Die Einrichtung lag etwa eine Fahrtstunde vom ursprünglichen Gebiet der Seneca, der westlichsten Gruppe der Irokesen-Konföderation, entfernt. Einige Monate zuvor hatten Decker und Rina während eines Kurzurlaubs diese Gegend bereist und verschiedene Stammesgebiete besucht, wo sie sich das örtliche Kunsthandwerk angesehen und mehr über die Kultur der indigenen Bewohner des amerikanischen Nordwestens erfahren hatten. Vielleicht würden sie für den kommenden Sommer eine Reise bis ganz hinauf zu den Niagarafällen und nach Kanada planen.

Nachdem sie etliche Kilometer Highway gefahren waren, entdeckte Decker schließlich die Ausfahrt. Innerhalb weniger Minuten erreichte er einen Ort mit einer Hauptgeschäftsstraße, die links und rechts von um die letzte Jahrhundertwende erbauten Gebäuden in unterschiedlichen Stadien der Baufälligkeit gesäumt war. Jedes Haus war in einer anderen Farbe gestrichen, was die breite Straße ein wenig an eine Patchworkdecke erinnern ließ. Das Rathaus war ein weißes zweigeschossiges Gebäude mit einer Kuppel, umgeben von einer grünen Rasenfläche, auf der Beete mit verschiedenen Blumenarten farbige Akzente setzten. In den Seitenstraßen lagen zahlreiche Kirchen. Das einzig Ungewöhnliche war ein dem amerikanischen Revolutionskrieg und dem Bürgerkrieg gewidmetes Militärmuseum.

Es gab Wohnhäuser in unterschiedlichen Baustilen, aber holzverkleidete Bungalows mit umlaufender Veranda oder aufwendigere viktorianische Gebäude mit Zierelementen an der Vorderseite herrschten vor. Sie wirkten heimelig, wie sie dort inmitten von kleinen quadratischen Rasenflächen im Schatten dicht belaubter Eichen lagen. Die Hauptstraße schlängelte sich durch den Ort, bis sie schnurgerade durch Ackerland führte.

Der Himmel war strahlend blau, noch immer ein Novum für Decker, der seinen Beruf so viele Jahre lang in den heißen, smogverpesteten Sommern von Los Angeles ausgeübt hatte. Es gab Zeiten, da vermisste er die Großstadt mit all ihren Herausforderungen, aber Greenbury hatte sich nicht als das verschlafene kleine Städtchen entpuppt, das er sich vorgestellt hatte, als er die Koffer gepackt hatte. Es gab unerwartete Verbrechen, und der Ort hatte seine eigenen Probleme – knappe finanzielle Mittel und wenig technische Ausrüstung auf dem neuesten Stand. McAdams war Deckers erster und einziger Partner in Greenbury. Zu Anfang ihrer Zusammenarbeit war Tyler arrogant und unreif gewesen. Zwei Schussverletzungen hatten den Jungen rasch erwachsener und besonnener werden lassen, und hin und wieder konnte Decker noch immer ein leichtes Hinken bei ihm feststellen. Warum sich Tyler für die Polizei anstatt für eine hochkarätige Anwaltskanzlei entschieden hatte, war ein ziemliches Rätsel. Decker vermutete, es war Tylers Art und Weise, es seinem Vater, einem erfolgreichen Anwalt und Finanzier, heimzuzahlen. In Wahrheit konnte McAdams tun, was immer er wollte – gar nichts eingeschlossen. Denn seinen eigenen Angaben zufolge war sein Treuhandfonds gigantisch.

Als sie in südwestlicher Richtung fuhren, ging die Landschaft allmählich in ein Weinanbaugebiet über: Meile um Meile von an Spalieren hängenden Trauben.

»Wie weit ist es noch?«, fragte McAdams.

»Ungefähr zwanzig Minuten«, sagte Decker.

»Ist aber schön hier.« McAdams sah sich um. »In New York State wird ziemlich guter Riesling und Gewürztraminer angebaut. Ich hatte mal mit dem Gedanken gespielt, mir ein Weingut zuzulegen. Dann hab ich beschlossen, dass es mehr Sinn macht, den Wein zu kaufen anstatt ihn selber herzustellen.«

»Ist eine von diesen romantischen, aber schwer in die Realität umzusetzenden Vorstellungen«, kommentierte Decker.

»Ja, jede Art von Landwirtschaft ist verdammt harte Arbeit.« McAdams sah auf sein Handy. »Keine Nachricht von irgendwem in Greenbury. Man sollte doch annehmen, sie hätten mittlerweile was gefunden.«

Die Weingüter gingen bald in unbebaute, mit trockenem Gras bedeckte Felder über. »Am späten Nachmittag sollten sie noch mehr Spürhunde bekommen.«

»Das wird nur funktionieren, wenn es eine Spur gibt, der sie folgen können.«

»Vielleicht finden die Hunde im Wald etwas«, entgegnete Decker. »Wir müssen in der Lage sein, einen Unfall auszuschließen. Er könnte gestolpert sein und sich verletzt haben. Gestern Nacht war es stockdunkel.«

»Ja, natürlich. Wie lange dauert’s jetzt noch?«

»Ungefähr zehn Minuten.« Decker lächelte. »Du bist wie ein kleines Kind, Harvard. ›Sind wir bald da?‹ Jetzt hast du bestimmt Empfang. Spiel ein bisschen mit deinem Handy.«

»Ich sag’s nur ungern, aber ich muss pinkeln.«

»Dringend?«

»Lieber früher als später.«

»Soll ich anhalten?«

»Ja.«

»Wirklich?« Decker war überrascht, aber als er ein Eichenwäldchen entdeckte, fuhr er langsam rechts ran. »Ich hätte gedacht, draußen zu pinkeln, wäre unter deinem Niveau.«

»In der Stadt würde ich’s auf keinen Fall machen, obwohl sich niemand darüber beschweren würde. Aber hier am Arsch der Welt?« Er öffnete die Tür. »Ich bin immer noch ein Kerl, Boss. Ich genieße die Wunder der großen grünen Freilufttoilette.«

Das Heim war auf freiem Feld errichtet worden und lag in einem Gebiet mit Schiefervorkommen. In der Vergangenheit war hier Fracking betrieben worden, bis es 2014 vom Bundesstaat verboten worden war. Obwohl die Gegend nicht dicht bewaldet war, gab es jede Menge Natur in der unmittelbaren Umgebung. Decker fragte sich, warum das Heim es vorgezogen hatte, seine Bewohner für eine ganz normale Wanderung zwei Stunden lang mit dem Bus durch die Gegend zu kutschieren.

Die Auffahrt führte zu einem Wachhäuschen und einem Tor. Nachdem sie einem uniformierten Mann mit schwarzem Schnurrbart ihre Namen genannt hatten, durften Decker und McAdams ihren Weg auf das Grundstück fortsetzen. Das parkähnliche Areal war mit sattgrünem Rasen bedeckt, dessen Halme von einer unlängst erfolgten Bewässerung glitzerten. An strategischen Stellen, neben Blumenbeeten oder unter großen, schattenspendenden Eichen, standen Bänke, aber niemand war draußen. Vielleicht lag es am heißen Wetter, oder aber das Heim wollte seine Bewohner jetzt genauer im Auge behalten.

Das Anwesen wirkte wie alles andere, aber nicht wie eine Betreuungseinrichtung. Es handelte sich um eine Reihe unauffälliger eingeschossiger Gebäude mit roten Ziegeldächern und pink verputzten Wänden, wie sie normalerweise eher in Miami oder Los Angeles anzutreffen waren. Die Gartenanlage zwischen den Gebäuden bestand aus Rosenbeeten, durch die sich Wege aus Natursteinplatten schlängelten. Links der Zufahrt lag ein Parkplatz. Decker entdeckte einen mit der Aufschrift BESUCHER gekennzeichneten Stellplatz und bog hinein.

Die beiden Männer stiegen aus und gingen zu der doppelflügeligen Glastür. Ein Summer ließ sie den Empfangsbereich betreten. Die Frau hinter dem Schreibtisch schien in den Fünfzigern zu sein und hatte kurzes glattes grau meliertes Haar und ein freundliches Lächeln. Laut Namensschild hieß sie Linda Kravitz; sie fragte, wie sie ihnen behilflich sein könne. Decker wies sich aus. »Wir sind mit Dr. Lewis verabredet.«

Sie blickte von Deckers Brieftasche auf. »Eine schreckliche Sache. Wo ist der arme Bertram?«

»Wir haben eine ganze Stadt, die da draußen nach ihm sucht, Ms. Kravitz.«

»So etwas ist noch nie vorgekommen. Es ist wirklich erschütternd.«

»Kannten Sie Bertram?«, fragte Decker.

»Aber natürlich. Ich kenne alle Bewohner.«

»Wie viele sind es?«, fragte McAdams.

»Im Moment? Neunundfünfzig.«

»Wie ist Bertram denn so?«, fragte Decker.

»Ein ruhiger Mann mit gutem Benehmen. Er war neu hier. Na ja, nicht neu. Seit etwas über einem Jahr. Ich sage nur neu, weil einige unserer Bewohner schon seit vielen Jahren hier sind.«

»Wurde er aus einer anderen Betreuungseinrichtung hierher verlegt?«

Linda wirkte verlegen. »Ohne Erlaubnis sollte ich wirklich nicht über ihn sprechen.«

Decker blieb hartnäckig. »Ich frage mich nur, ob es möglich ist, dass er wieder dahin zurückgekehrt ist, wo er vorher gewohnt hat. Wissen Sie zufällig, welches Heim das war? Könnte uns allen Zeit und Kummer ersparen.«

»Aber wie sollte er dahin kommen?«

»Ich weiß es nicht, Ma’am, aber es ist nur ein einfacher Anruf.«

»Das überlasse ich Dr. Lewis. Wie dem auch sei, Sie können Ihn selbst fragen.« Sie drehte sich zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch um und nahm den Hörer ab. Nach einem leise geführten Gespräch legte sie auf und sagte: »Er ist gleich bei Ihnen.« Sie deutete auf einige in den Boden geschraubte Plastikstühle. »Nehmen Sie doch Platz.«

Die beiden setzten sich.

McAdams blickte einen Gang hinunter, der zu einem offenen, wie ein Aufenthaltsraum aussehenden Bereich führte. Er erhaschte einen Blick auf ein Zimmer mit Sofas, Stühlen, Tischen, auf denen Spiele aufgebaut waren, ein Klavier und den allgegenwärtigen Flachbildfernseher. Der Raum schien jenseits seines Blickfelds noch weiterzugehen, aber in dem Teil, den er sehen konnte, befand sich keine Menschenseele.

»Wo sind denn alle?«, fragte er Decker im Flüsterton.

»Gute Frage.«

Kurz darauf betrat ein Mann den Empfangsbereich, stellte sich vor und streckte ihnen die Hand zur Begrüßung hin. »Lionel Lewis.« Ein kurzes Händeschütteln. »Hier entlang bitte.« Er ging schnell und sah über seine Schulter zurück. »Das Ganze ist einfach nur furchtbar. Wie hat das passieren können?«

»Diese Frage scheint uns momentan alle zu beschäftigen«, bemerkte Decker.

Lewis murmelte etwas Unverständliches. Er war groß, hatte einen eher kurzen Oberkörper und lange Gliedmaßen. Dunkle, sorgenvolle Augen blickten aus einem länglichen Gesicht mit deutlich ausgeprägten Wangenknochen. Sein Hautton war ein warmes Sepiabraun, und sein dunkles Haar war kurz geschoren. Er trug eine marineblaue Hose und ein weißes Button-down-Hemd mit hochgerollten Ärmeln und offenem Kragen.

Er führte die beiden Detectives an dem Aufenthaltsraum vorbei und durch einen weiteren Flur in ein geräumiges Büro mit viel Tageslicht, das durch die auf den immer noch menschenleeren Rasen hinausgehenden Fenster hereinfiel. Es gab nur wenige Möbel – einen Schreibtisch, einen Schreibtischstuhl sowie weitere Plastikstühle für Gäste –, aber die deckenhohen Bücherregale waren voll mit wissenschaftlichen Texten über Gesundheitsmanagement und Krankenhausverwaltung. Es gab auch Bücher über Erziehungspsychologie und Sonderpädagogik. An allen freien Wandflächen hingen Abschlusszeugnisse, Berufsermächtigungsurkunden und Auszeichnungen für herausragende Leistungen. Lewis hatte in Harvard studiert. Wenn Decker sein Alter schätzen sollte, würde er Lewis für Mitte vierzig halten.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Lewis deutete auf die Plastikstühle. Sein Gesichtsausdruck war äußerst ernst.

Als die Detectives sich gesetzt hatten, fragte McAdams: »Welches Haus?«

»Bitte?« Lewis wirkte verwirrt. McAdams zeigte mit dem Daumen auf die Zeugnisse. »Ach so, Lowell.«

»Ich war im Quad. Cabot.«

»Wann haben Sie Ihren Abschluss gemacht?«

»Vor sechs Jahren.«

»Ah.« Lewis warf einen Blick auf seine Zeugnisse. »Wie Sie sehen können, habe ich nach meinem ersten Abschluss noch eine ganze Weile dort verbracht.«

»Er hat gerade seinen Juraabschluss in Harvard gemacht«, merkte Decker an.

»Tatsächlich.« Lewis nickte. »Schön da. Ich wünschte, ich wäre jetzt dort … egal wo, nur nicht hier.« Er sah Decker an. »Und Sie haben wirklich keinerlei Anhaltspunkte gefunden?«

»Ich habe nichts gehört.« Decker hielt inne. »Wir haben uns etwas gefragt: Der Rasen draußen ist leer. Der Aufenthaltsraum ist leer. Wo sind denn alle?«

»Wir haben den ganzen Tag Gruppentherapiesitzungen abgehalten – mit jeweils zehn Bewohnern. Unsere Leute sind vollkommen durcheinander. Sie machen sich Sorgen um Bertram, aber sie waren auch beunruhigt, weil sie gestern von der Polizei vernommen wurden.«

»Die Bewohner haben wir eigentlich nicht vernommen«, entgegnete Decker. »Wir haben hauptsächlich mit dem Aufsichtspersonal gesprochen. Einige Bewohner haben Fragen gestellt, und wir haben uns bemüht, sie wahrheitsgemäß zu beantworten. Das Ganze verlief ziemlich chaotisch. Wir haben versucht, eine einfache zeitliche Abfolge zu erhalten, was Bertram angeht. Die Suche nach ihm war und ist unsere oberste Priorität.«

»Na ja, vielleicht hat die bloße Tatsache, dass die Polizei da war, sie nervös gemacht.«

»Möglicherweise. Irgendwann würde ich die Bewohner allerdings gerne befragen. Manchmal wissen sie Dinge. Das bringt mich zu einem anderen Punkt: Die Bewohner sind volljährig. Fungiert das Loving Care als ihr gesetzlicher Vertreter?«

»Also, das ist etwas problematisch«, antwortete Lewis. »Loving Care ist rechtlich für keinen unserer Bewohner verantwortlich. Das Heim ist mehr oder weniger eine Wohnanlage für Gleichgesinnte.«

»Gilt das auch für Bertram Lanz?«

»Absolut. Bertram war mündig. Nach dem, was wir tatsächlich tun, könnte man uns vermutlich als Vertreter bezeichnen, aber die Zimmer sind keine Gefängniszellen. Unsere Leute können nach Belieben kommen und gehen, solange sie sich abmelden, damit wir sie im Auge behalten können – zu ihrer eigenen Sicherheit.« Der Doktor schwieg einen Moment. »Es kommt selten vor, dass jemand ganz geht. Die meisten Bewohner fühlen sich hier sehr wohl. Die Einrichtung ist ihr Zuhause.«

»Hat Bertram sich auch wohl gefühlt?«

»Bertram ist vor etwas über einem Jahr hergekommen. Nach meiner eigenen Einschätzung und nach dem, was ich von anderen mitbekommen habe, war es schon eine Umstellung für ihn. Ich fand ihn höflich, aber zurückhaltend. Wir haben uns sehr bemüht, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Möglicherweise gab es eine Sprachbarriere. Bertrams Muttersprache war Deutsch, aber sein Englisch war tatsächlich recht gut. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine Frau hier, eine Pflegekraft, die fließend Deutsch sprach. Sie schien, mehr als alle anderen, ein gutes Verhältnis zu Bertram aufgebaut zu haben.«

»Dann sollten wir uns mit ihr unterhalten«, sagte Decker.

Lewis blickte säuerlich. »Sie hat uns vor zwei Wochen verlassen.« Ein leidgeprüftes Schnaufen. »Sie hat sich gut mit den Bewohnern verstanden, war aber eine ziemliche Diva. Ich würde nicht sagen, dass sie andere Angestellte sabotiert hat, aber bei Mitarbeiterfeiern war sie definitiv nicht sehr beliebt.«

»Na gut. Kann ich ihren Namen und ihre Telefonnummer haben?«

Lewis schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich gebe generell keine Informationen über Mitarbeiter heraus – weder über aktuelle noch über bereits ausgeschiedene.«

»Wir haben einen Vermissten«, rief ihm McAdams in Erinnerung.

»Aber was könnte Elsie denn damit zu tun haben?«

»Ehrlicherweise wissen wir nicht genau, ob er vermisst wird oder ob er mit jemandem weggegangen ist, Dr. Lewis.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil die Spürhunde keine brauchbare Spur gefunden haben. Manchmal bedeutet das, dass die vermisste Person mit einem Fahrzeug weggefahren ist. Wie alt ist Elsie?«

»Anfang vierzig.«

»Und sie war eine Pflegerin?«

Lewis nickte. »Ja. Und zwar eine gute.«

»Wie lange hatte sie im Loving Care gearbeitet?«

»Da muss ich überlegen.«

»Einfach Pi mal Daumen«, sagte Decker.

»Vielleicht etwas mehr als drei Jahre.«

»Und nach den etwas mehr als drei Jahren, die sie hier gearbeitet hat, hat sie vor zwei Wochen einfach so beschlossen zu kündigen?«

»Wie ich Ihnen bereits sagte, sie hat sich nicht mit den Kollegen verstanden.«

»Trotzdem hat sie’s ’ne ganze Weile ausgehalten«, merkte McAdams an.

»Wir zahlen sehr gut.«

»Vielleicht hat jemand anderes besser gezahlt«, sagte Decker.

»Zum Beispiel?«

»Soweit ich informiert bin, kommt Bertram Lanz aus einer sehr wohlhabenden Familie.«

Lewis sah ihn ungläubig an. »Sie wollen andeuten, dass Elsie mit Bertram abgehauen ist.«

»Ich ziehe alles in Erwägung«, entgegnete Decker. »Diese Frage lässt sich leicht beantworten. Könnten Sie Elsie anrufen? Wie lautet übrigens ihr Nachname?«

Nach längerem Zögern sagte Lewis schließlich: »Schulung.«

Decker notierte sich den Namen. »Könnten Sie sie anrufen?«

»Sie ist vermutlich nicht zu Hause.«

»Gibt nur einen Weg, das rauszufinden.«

Lewis hielt kurz inne, dann griff er zum Telefonhörer und drückte eine Taste. »Linda, könnten Sie mir bitte Elsie Schulungs Nummer raussuchen?« Er hielt kurz inne. »Handy und Festnetz, danke.« Er legte auf. »Linda ist meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen sollte.«

»Gibt es sonst noch etwas, das ich über Elsie Schulung wissen sollte?«, fragte Decker.

»Sie war tüchtig in ihrem Job. Ich hatte nie Schwierigkeiten mit ihr. Allerdings war ich ihr Chef. Ich weiß, sie tat die Dinge auf ihre Weise, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Bertram entführen würde. Das wäre völliger Schwachsinn.«

»Wie kommen Sie denn auf Entführung?«, fragte McAdams.

»Na ja, warum sollte er ausgerechnet mit ihr von hier weggehen? Sie könnte ihm doch nie im Leben die Leistungen anbieten, die es hier gibt.«

»Vielleicht sind sie zusammen durchgebrannt«, schlug McAdams vor. »Ein Mann hat gewisse Bedürfnisse.«

Lewis verzog missbilligend das Gesicht. »Er ist ein wunderbarer Mensch, aber er hat eine kognitive Beeinträchtigung.«

»Na und? Trotzdem ist er ein Mann.«

»Und zwar einer mit sehr wohlhabenden Eltern«, ergänzte Decker. »Sie sagten, er ist vor etwa einem Jahr hierhergekommen?«

»Richtig.«

»Von welcher Einrichtung ist er hergewechselt?«

»Von einem Heim in Connecticut.«

»Gut«, sagte Decker. »Und wissen Sie, warum er hierher ins Loving Care gekommen ist?«

»Das Loving Care ist der Konkurrenz um Lichtjahre voraus. Wir bieten unseren Bewohnern mehr Beschäftigungsmöglichkeiten – mehr Kurse für diejenigen, die sich weiterbilden möchten. Wir bieten Berufsausbildungen, intensiveren Kontakt mit dem größeren Umfeld und mehr Freiraum als jede andere Einrichtung weit und breit.«

»Dürfen die Bewohner jemanden daten?«, fragte McAdams.

»Wir raten von Einzelaktivitäten mit einer anderen Person ab, einfach weil es zu Drama führt.«

»Meinen Sie mit ›Einzelaktivitäten mit einer anderen Person‹ Sex?«

»Von Sex raten wir ab, aber auch von Liebesbeziehungen, Punkt. Irgendjemand kommt dabei immer zu Schaden. Aber unseren Bemühungen zum Trotz kommen Leute zusammen. Und wenn wir wissen, dass ein Paar sich sexuell betätigt, sorgen wir dafür, dass sie aufgeklärt sind. So weit ich allerdings weiß, war Bertram in keiner Beziehung.«

»Wie hieß Bertrams voriges Heim?«, fragte Decker.

»Das müsste ich nachsehen.«

Linda kam herein und reichte Lewis einen Zettel. »Diese Nummern sind aus Elsies Bewerbung, Herr Doktor. Ich weiß nicht, ob sie noch aktuell sind.«

»Vielen Dank, Linda.« Als sie nicht sofort wieder ging, sagte Lewis: »Das war’s schon, danke.« Er griff zum Telefon und wählte die erste Nummer. Es klingelte zweimal, dann hörte er die Mitteilung, dass die Nummer nicht mehr existierte. Er legte auf. »Kein Anschluss. Nach der Vorwahl zu urteilen, war es vermutlich eine Festnetznummer, die gekündigt wurde.« Er probierte es mit der zweiten Nummer. Es klingelte sehr lange, bis sich die Mailbox einschaltete. Lewis hinterließ eine kurze Nachricht und legte auf. »Da geht niemand dran.«

»Versuchen Sie’s mit einer SMS«, schlug McAdams vor.

»Gute Idee.« Ein Hinweiston erklang, als Lewis die SMS abschickte. »Ich weiß nicht, ob sie antwortet. Sie war wütend, als sie gegangen ist.«

»Hat sie gekündigt oder wurde sie gefeuert?«

»Nachdem sich verschiedene Leute mehrere Jahre lang darüber beschwert hatten, dass sie nicht den üblichen Geschäftsabläufen folgte, erhielt sie eine Abmahnung. Ich habe ein Gespräch mit ihr geführt. Ich dachte, die Wogen hätten sich geglättet, aber sie beschloss zu kündigen. Das ist natürlich ihr gutes Recht.«

»Und zwei Wochen darauf verschwindet Bertram Lanz«, bemerkte McAdams. »Das passt doch ein bisschen zu gut zusammen.«

»Nicht wirklich. Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat, auch wenn die beiden sich gut miteinander verstanden haben.« Lewis schwieg einen Moment. »Bertram hätte jederzeit gehen können. Er hätte kein Verschwinden vortäuschen müssen.«

»Sie haben doch selbst gesagt, er musste sich abmelden«, erwiderte Decker. »Ich bin sicher, Sie hätten darauf geachtet, dass ihm dort, wo er hinwollte, keine Gefahr drohte.«

»Selbstverständlich. Ich will damit nur sagen, dass er kein Gefangener war.«

»Aber irgendwie schon.« Als Lewis nicht darauf einging, fuhr Decker fort: »Bertram hat eine geistige Beeinträchtigung und ist möglicherweise leicht zu beeinflussen. Ihn genau im Auge zu behalten, ist Ihrerseits einfach nur gesunder Menschenverstand. Und falls Sie herausgefunden hätten, dass er vorhatte, sich mit Elsie Schulung zu treffen, hätten Sie es vielleicht unterbunden.«

»Ganz sicher hätte ich es unterbunden«, sagte Lewis. »Ehrlich gesagt hat es mich überrascht, dass sie gekündigt hat. In einer kleinen Stadt wie dieser gibt es nicht viele Stellen für Fachkräfte.«

»Wir werden Elsies Adresse brauchen«, sagte Decker.

»Ich werde nachsehen, was wir in den Unterlagen haben«, entgegnete Lewis.

»Ich tue das nur ungern, aber irgendwann müssen wir einzeln mit den Bewohnern sprechen«, sagte Decker.

»Kann das warten? Viele unserer Bewohner stehen noch unter Schock.«

»Das werde ich berücksichtigen«, sagte Decker. »Aber Bertram wird vermisst. Ich würde es nicht machen, wenn ich es nicht für zwingend halten würde.«

»Sie haben recht«, sagte Lewis. »Ich werde es in die Wege leiten.«

»Danke. Wir würden uns auch gerne Bertrams Zimmer ansehen.«

»Vielleicht könnten Sie das zuerst erledigen, während ich die Mitarbeiter bitte, die Bewohner vorzubereiten.«

»In Ordnung.«

»Ich bringe Sie zu seinem Zimmer.« Lewis öffnete seine Schreibtischschublade und holte einen Schlüsselbund heraus.

»Haben Sie Bertrams Eltern informiert?«, fragte Decker. »Auch wenn er mündig war, ist es moralisch gesehen das korrekte Vorgehen.«

»Selbstverständlich«, sagte Lewis. »Ich hatte nur gehofft, es würde nicht nötig sein.«

»Vielleicht klärt sich die Sache heute noch auf. Aber je länger Sie damit warten, desto schwieriger wird der Anruf. Er sollte auch besser von Ihnen als von der Polizei kommen.«

»Haben Sie sich in letzter Zeit schon erkundigt, ob es neue Entwicklungen gibt?«, fragte Lewis.

McAdams erhob sich und sagte: »Ich rufe Captain Radar an. Hier drin ist kein Empfang. Ich muss vor die Tür gehen.«

»Danke.« Decker stand ebenfalls auf. »Sobald Detective McAdams fertig ist, sehen wir uns Lanz’ Zimmer an.«

»Natürlich.« Lewis stand auf und ging ihnen voran. Er sah auf die Uhr. »Auf der anderen Seite des Großen Teichs ist es jetzt spät am Abend. Falls sich nichts Neues tut, rufe ich die Lanzes morgen früh gleich als Erstes an.« Er sah Decker an. »So etwas wie das hier ist noch nie vorgekommen. Im Grunde sind wir wirklich eine große, glückliche Familie.«

»Das ist bestimmt richtig … im Grunde«, sagte Decker. »Aber wie lautet doch das Sprichwort, Dr. Lewis: Man ist nur so glücklich wie sein unglücklichstes Kind.«

KAPITEL 4

Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sich McAdams in Bertram Lanz’ privatem Rückzugsort um. Das Zimmer war weder groß noch klein: ein sauber aufgeräumter Raum von ungefähr 17 Quadratmetern mit separatem Badezimmer. »Der Typ ist ordentlich.«

»Wir haben einen Reinigungsservice«, sagte Lewis.

»Was macht der?«, fragte Decker.

»Betten machen, Boden fegen, Waschbecken, Toilette und Badewanne im Bad putzen, sämtlichen Abfall leeren, die schmutzige Wäsche mitnehmen und die gewaschene Wäsche abgeben.«

»Wie oft?«

»Jeden Tag.«

»Dann ist sein Müll also vor Kurzem geleert worden.«

»Das Zimmer wurde gestern geputzt – am Tag des Ausflugs.«

»Gut.« Decker schwieg einen Moment. »Wenn Sie zu tun haben, kommen wir jetzt auch allein zurecht.«

»Sie durchsuchen das Zimmer eines unserer Bewohner. Es sollte jemand zur Überwachung dabei sein – zu Ihrem, aber auch zu Bertrams Absicherung.«

»Dann bleiben Sie«, sagte Decker. »Ich weiß aber nicht, wie lange es dauern wird.«

Er wandte sich an McAdams. »Nimm du dir das Bad vor, und ich durchsuche den Wohnbereich.«

Lewis’ Handy klingelte. Er ging dran und seufzte dann. »Es gibt etwas, um das ich mich umgehend kümmern muss.«

»Sollen wir aufhören und warten, bis Sie wieder da sind?«

Nach längerem Zögern sagte Lewis schließlich: »Lassen Sie einfach die Tür offen.«

»Danke, Herr Doktor«, sagte Decker. »Ich weiß Ihr Entgegenkommen zu schätzen.«

»Wir haben alle dasselbe Ziel: dass Bertram das Ganze sicher übersteht.« Lewis eilte davon.

Als er gegangen war, fragte Decker: »Fertig?«

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