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Im Rausch der Zeit. Das temperamentvolle Leben der Witwe Clicquot

Als Buch hier erhältlich:

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»Die Geschichte einer Frau, die durchschlagenden Erfolg hatte, lange bevor das Konzept der Gläsernen Decke Karriere machte.« New York Times Book Review


Frankreich, 1805: Nach dem Tod ihres Mannes setzt sich die erst siebenundzwanzigjährige Witwe Barbe-Nicole Clicquot Ponsardin über alle Konventionen hinweg, indem sie die Leitung des Familienunternehmens für Weine in Reims übernimmt.

Es ist die Zeit der Napoleonischen Kriege, ganz Europa leidet unter politischen Unruhen und wirtschaftlicher Instabilität, doch die junge Witwe schafft es, das Geschäft weiterauszubauen. Binnen kürzester Zeit verkehrt sie nicht nur mit Napoleon selbst, sondern mit allen europäischen Herrschaftshäusern. Sie erfindet neue Herstellungsverfahren, lässt das ikonisch goldgelbe Etikett patentieren und macht ihren Namen zur Marke. Mit vierzig gehört sie zu den reichsten und berühmtesten Unternehmerinnen Europas.Aus der temperamentvollen Anfängerin wird dieGrande Dame des Champagners.


Filmreif: Bundesweiter Kinostart 7. November 2024


»Im Rausch der Zeit« ist eine Reise ins Europa des frühen 19. Jahrhunderts und die faszinierende Geschichte einer Frau, deren Vermächtnis bis heute in unseren Gläsern prickelt.


»Ein prickelndes Lesevergnügen.«
Stern


»Leichtfüßig und anmutig erzählt. Eine mitreißende Unternehmensgeschichte.«
Julia Flynn Siler, Wall Street Journal

»Eine wunderbar unterhaltsam geschriebene Biografie. Von der positiven Energie und Kraft dieser Frau können wir uns heute noch etwas abschauen«
Natalie Lumpp, Deutschland führende Weinexpertin

»Ein verführerische Mischung aus Biografie und Geschichte«
USA Today

»Wenn Sie Champagner mögen, ist dieses Buch definitiv einen Schluck wert.«
Associated Press


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008553

Leseprobe

Für Noelle und Roberta – mehr denn je

Einleitung

Dies ist die Geschichte des französischen Champagners – aber die Idee, sie zu schreiben, entstand keineswegs im Glanz eines prächtigen Landschlosses. Ihre Ursprünge lagen in einem etwas bescheideneren kleinen Luxus: zwischen den Regalen einer gut bestückten Weinhandlung. Meine Begeisterung für die Geschichte eines der großartigsten Weine – und einer der großartigsten Frauen – auf dieser Welt hatte einen bemerkenswert schlichten Anfang. So sehr wir Champagner mit Festen und gutem Leben assoziieren – für mich begann diese Leidenschaft ohne Fanfarenstöße in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, wo ich gerade versuchte, die, wie sich zeigen sollte, letzten Monate in einem alles andere als glamourösen Job zu überstehen.

Mitten in diesem Alltagstrott – und den gelegentlichen Kaufräuschen, mit denen jede vernünftige Frau ihn sich erträglich zu machen versucht – stieß ich auf die Witwe Clicquot. Die Schriftstellerin in mir würde den Beginn dieser Liebesbeziehung gern ins Frühjahr verlegen, wenn die Erde auftaut und neues Leben verspricht, doch es war anders. Der Winter hatte die Ebenen des Mittleren Westens fest in seinem Griff, und ich starrte sehnsüchtig auf eine Batterie Schampus, die mich von fernen Appellationen und den sonnensatten Weinbergen Frankreichs träumen ließ.

Es war keineswegs so, dass ich mit dem Champagner noch keine Bekanntschaft gemacht hätte. Meine Freundinnen und ich tranken ihn regelmäßig mit einer gewissen Begeisterung, die ich lieber nicht näher bezeichne. An jenem Nachmittag aber stieß ich erstmals auf die Geschichte von Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin. Sie fand sich auf einem Kärtchen in der Kiste der 1996er-Grande-Dame, die ich mir – so hatte ich entschieden – unzweifelhaft verdient hatte.

Die ansprechende kleine Lebensbeschreibung bestand aus nicht einmal fünfunddreißig Wörtern, aber sie erzählte eine Geschichte, die allein schon in ihren Umrissen meine Aufmerksamkeit erregte. Es war die Geschichte einer Frau, die dazu erzogen worden war, treusorgende Ehefrau und Mutter zu sein, die mit nicht einmal dreißig Jahren ihren Mann verlor und mit einem kleinen Kind zurückblieb, die keine Ausbildung genossen hatte und wenig Lebenserfahrung besaß, die ihr Schicksal entschlossen in die eigenen Hände nahm und mit Tatkraft und Talent aus einer noch jungen familieneigenen Weinhandlung eines der berühmtesten Champagnerhäuser der Welt machte. Das, so dachte ich, ist eine Frau, die keine Kompromisse macht.

In den folgenden Jahren ging mir ihre Geschichte nicht aus dem Sinn, auch nicht, als wir aus dem Mittleren Westen nach Kalifornien, in die Heimat meines damaligen Mannes, zogen und uns dort auf den Hügeln von Sonoma County niederließen, wo die Winter neblig grün und unbeschreiblich mild sind. Irgendetwas an dieser Frau, die für ihre Leidenschaft so unglaubliche Risiken auf sich genommen hatte, klang noch immer tief in mir nach, und ich begann erste bescheidene Nachforschungen anzustellen, ging in der örtlichen Weinbibliothek in Healdsburg Hinweisen auf die Witwe Clicquot aus dem 19. Jahrhundert nach und las alte Reiseberichte, die auf dem Höhepunkt des napoleonischen Reiches verfasst worden waren und mir Gelegenheit gaben, mein eingerostetes Französisch zu verbessern. Als jemand, der sich nie auf bloße theoretische Nachforschungen beschränkt, sorgte ich natürlich dafür, dass wir so ziemlich alles an Schaumwein probierten, was wir auftreiben konnten, zunächst vor Ort und später dann in Frankreich, wo ich einen windigen Januar in einem großzügigen alten Bauernhaus verbrachte, umgeben von nichts als schlammigen Weingärten.

Das Problem war stets, die Frau selbst zu finden, diese junge Witwe mit dem sperrigen Namen Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin: eben die Veuve – oder Witwe – Clicquot. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Barbe-Nicole sich ans Erwachsensein und all die damit verbundenen Kompromisse gewöhnte, schafften es die Biografien von Unternehmern und kaufmännischen Pionieren nur selten in die Geschichtsbücher. Dies galt umso mehr, wenn es sich um eine Frau handelte. Die Archive sind voller Briefe und Tagebücher von Staatsmännern und Fürsten, aber nur wenige sammelten die persönlichen Aufzeichnungen von Geschäftsleuten, selbst von solchen, die Außergewöhnliches geleistet hatten. Das ist noch heute so. Die Liebesbriefe der meisten von uns werden in den großen Bibliotheken der Welt nicht aufbewahrt werden. Die Chancen, dass schriftliche Dokumente über eine junge Frau aus dem 19. Jahrhundert für die Nachwelt erhalten blieben, war besonders gering, es sei denn, sie war Königin oder Gräfin oder die Schwester, Frau oder Mutter eines berühmten Mannes.

Barbe-Nicole war nichts dergleichen. Sie war einfach nur eine beeindruckende unabhängige Frau, der es gelang, sich in der unspektakulären, beinharten Welt der Wirtschaft einen Namen zu machen. Als ich es endlich ins Unternehmensarchiv von Veuve Clicquot Ponsardin in Reims schaffte und fest damit rechnete, hier ihre privaten Geheimnisse enthüllen zu können, musste ich feststellen, dass die unzähligen Regalbretter voller Geschäftsbücher waren, die allesamt von Barbe-Nicoles einzigartiger Entschlossenheit zeugten. Auf die Frau aber, die hinter dem gelben Etikett stand, fanden sich nur wenige Hinweise.

Also zog ich, statt zu recherchieren, mit hilfsbereiten Freundinnen durch die Champagne, um wenigstens eine Spur von dem Leben zu entdecken, das Barbe-Nicole geführt haben musste; etwas, das nicht nur erklärte, wie eine Frau aus dem Leben, das andere für sie vorgesehen hatten, ausgebrochen war, sondern auch, warum sie das getan hatte. Wir stolperten im Regen über ausgefahrene, dreckige Straßen und suchten in den Feldern oberhalb des Dorfes Bouzy nach den Weinbergen der Witwe. Mit kollektiver Charmeoffensive brachten wir den reservierten Winzer im Château de Boursault, einem ihrer bevorzugten Landhäuser, dazu, uns zumindest für zehn Minuten auf den Privatgrund zu lassen, den sie so sehr geliebt hatte. Ich saß stundenlang in der kühlen Stille der Kathedrale Notre-Dame in Reims und dachte daran, dass auch Barbe-Nicole diese Mauern gekannt hatte. Überall starrte ich auf Gebäude und Straßenecken, warf verstohlene Blicke durch Fenster und suchte vergeblich nach einer Frau und der fein gewobenen Textur ihres Lebens.

Mitunter fragte ich mich, ob es überhaupt möglich sein würde, auf ihr Privatleben zu stoßen und sie aus der Stille zu befreien, die ihre Geschichte umgab. Bevor meine Suche beendet war, traf ich mich im kalifornischen Napa Valley in sonnendurchfluteten Büroräumen mit Winzerinnen und weiblichen Unternehmensvorständen auf der Suche nach der modernen Inkarnation der Witwe Clicquot und in der Hoffnung, mittels der Erfahrungen von Frauen im Weingeschäft die Vergangenheit entwirren zu können. Und später war da ja noch Frankreich. Überall in den kleinen Städten der Champagne lebt La Veuve – in Frankreich gibt es nur eine – im Halbschatten der mündlichen Volksüberlieferung weiter. Als ich irgendwann genug hatte von verstaubten Büchern und Archiven, bat ich einfach die Menschen in den Bars und Bistros, sich zu erinnern, wobei ich natürlich wusste, dass Erinnerung und Erfindung eng miteinander verwandt sind, vor allem nach zweihundert Jahren. Die offenen Weinflaschen wanderten von Tisch zu Tisch, und manchmal kam der Besitzer aus der Küche, um eine zu rauchen und zuzuhören. In solchen Augenblicken war die Frau, nach der ich forschte, gegenwärtig.

Ich stelle mir gern vor, das Leben der Witwe Clicquot sei in stiller Dunkelheit langsam gereift wie ein seltener und exquisiter Jahrgang. Diese Dunkelheit hat ihren Ursprung zum Teil in meinem Leben und meiner Fantasie. Zum Teil ist sie die Nacht der Geschichte und der Rolle, die Unternehmer, vor allem Unternehmerinnen darin spielen. Aber jetzt ist endlich die Zeit gekommen zu genießen. Wie wir alle wissen, verändert sich Wein im Lauf der Zeit: Er wird wertvoller. Die harten Tannine verwandeln sich in sanfte Aromen; die Geschmacksnoten gewinnen an Reife. Im 19. Jahrhundert war vieles aus der Geschichte der Witwe nicht wert, bewahrt zu werden. Heute sind allein schon die groben Umrisse dieses Lebens atemberaubend. Es zu erzählen wird unseren Blick auf die Geschichte des Champagners und die Rolle, die eine Frau in ihr spielte, verändern.

Wir alle kennen den Wein, den Barbe-Nicole berühmt gemacht hat. Kein Wein dieser Welt weckt so viele unmittelbare Assoziationen wie der Champagner. Das Ploppen eines Korkens und das helle Schäumen bedeuten Feier und Glanz und oft die Möglichkeit romantischer Zweisamkeit. Der Champagner ist der Wein der Hochzeiten und der Neujahrsküsse. Er ist köstlich, und vor allem: Er wird mit Frauen in Verbindung gebracht.

So war es immer. Von Lord Byron, dem Dichter, stammen die berühmten Worte, eine Frau solle einzig und allein beim Verzehr von Hummersalat und Champagner zu sehen sein. 1 Byron war ein gnadenloser Chauvinist, aber diese Vorstellung hat noch immer ihren Reiz. Die sinnenfrohe und mächtige Madame de Pompadour, Mätresse des Königs von Frankreich, formulierte es in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, nicht lange nach der Erfindung des Champagners, unübertrefflich: »Champagner ist der einzige Wein, von dessen Genuss eine Frau schöner wird.« 2 Glaubt man der Legende, so waren die flachen, kelchartigen Champagnergläser, die als coupes bekannt sind, den viel bewunderten Brüsten dieser Frau nachgebildet. Im 20. Jahrhundert war Champagner das perfekte Getränk zum kleinen Schwarzen, und noch heute lässt er an die verrückten Typen des Jazz-Zeitalters und die Eleganz alter Humphrey-Bogart-Filme denken.

Ein Blick auf das Champagnergeschäft erzählt jedoch eine ganz andere Geschichte. In den Sitzungszimmern und Weinkellern ist Champagner Männersache. Heute bekleidet allenfalls eine Handvoll Frauen höhere Positionen in der französischen Weinindustrie, und lange Zeit wurde nur eines des exquisiten und international renommierten Champagnerhäuser – der grandes marques – von einer Frau geführt: nämlich Champagne Veuve Clicquot Ponsardin, an dessen Spitze bis 2011 Cécile Bonnefond stand. 3

Die bekannten Geschichten von den Ursprüngen des Champagners besagen, dass es stets Männer waren, die das Geschäft mit dem Wein kontrollierten. Champagnerbegeisterte erfahren so auch schon bald, dass ein Mann den edlen Wein erfunden hat. Die Geschichte schreibt dieses Verdienst einem blinden Mönch aus dem 17. Jahrhundert zu, der den heute berühmten Namen Dom Pierre Pérignon trug und das Geheimnis der Champagnerbläschen in den Kellergewölben seiner Abtei am Rande des Dorfes Hautvillers entdeckt haben soll. Der Legende zufolge war er der liebenswert verrückte Wissenschaftler des Champagners, der unablässig daran arbeitete, gewöhnliche Weine aus der Region in prickelndes flüssiges Gold zu verwandeln.

Hatte Dom Pérignon herausgefunden, wie man Champagner herstellt, so lernten andere begabte und erfolgreiche Männer, wie man ihn weltweit vermarktet: Leute wie Jean-Rémy Moët, der seine persönlichen Beziehungen zu Napoleon nutzte (die während ausgiebiger Weinwochenenden auf den luxuriösen Gütern Moëts in Épernay vertieft wurden), um eines der ersten Handelsimperien in Sachen Champagner aufzubauen. Ansichtskarten, auf denen Moët und Napoleon bei der frohgemuten Inspektion der Weinkeller zu sehen sind, dokumentieren diese Prominentenfreundschaft und waren schon im 19. Jahrhundert begehrte Souvenirs. Noch berühmter war Charles-Henri Heidsieck, der sich den Marketinggag einfallen ließ, nach Russland zu reisen und die zweitausend Meilen auf einem Pferderücken zurückzulegen. Sein Sohn Charles Camille wurde später in einem populären Lied als »Champagner-Charlie« verewigt, 4 und schon bald stand »Champagner-Charlie« umgangssprachlich für »zu Ausschweifungen neigender Mann oder notorischer Schampustrinker«. 5

Angesichts solcher Geschäftsleute verwundert es nicht, dass Champagner eines der weltweit bekanntesten Produkte ist. Die kleine Region im Nordosten Frankreichs mit weniger als dreißigtausend Hektar Weinanbaufläche 6  – die einzige Gegend, in der echter Champagner hergestellt wird – war in überdurchschnittlichem Maße mit unternehmerischem Talent gesegnet. Das Problem ist nur, dass die Geschichte, wie diese Männer allmählich ein globales Champagnerimperium aufbauten, allenfalls zur Hälfte stimmt. Dom Pérignon war unzweifelhaft ein begabter Weinhersteller und wahrscheinlich einer der großen Verkoster der Weingeschichte, aber nicht er war es, der entdeckte, wie man die Bläschen in einer Champagnerflasche hält. Im Gegenteil, als sie auf natürliche Weise auftraten, versuchte er sie zu beseitigen. Er wollte kein neues Produkt entwickeln, sondern die Bedürfnisse des Marktes befriedigen, den er und seine Ordensbrüder kontrollierten: den Handel mit qualitativ hochwertigen »stillen« Weinen.

Noch schockierender ist, dass der Champagner gar nicht in Frankreich erfunden wurde. Es waren die Briten, die als Erste dahinterkamen, wie man Wein zum Schäumen bringt, und als Erste mit prickelndem Champagnerwein handelten. Die Legende von Dom Pérignon wurde erst im späten 19. Jahrhundert ersonnen – um schließlich vom Estate Moët & Chandon als Markenzeichen eingetragen zu werden. 7 Und auch wenn Champagner-Charlie die Bühne mit echter Begeisterung betrat, war Champagner bereits ein großes Geschäft, als der junge Mann in Brettlliedern gefeiert wurde, und er war keineswegs der aus dem Nichts kommende Aufsteiger, als der er sich gerierte.

Champagner war freilich nicht immer ein großes Geschäft. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet das Getränk in eine schwere Krise und schien dazu bestimmt, zu einer rein regionalen Kuriosität zu verkommen. Lokale Winzer mussten selbst um bescheidene Verkäufe kämpfen, und der Champagner wäre möglicherweise in der Versenkung verschwunden und hätte dasselbe Schicksal erlitten wie sein unglückseliger Gegenspieler, der Sekt, der heute außer in Deutschland nur noch bei Kennern eine Rolle spielt.

All das änderte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, und zwar dank der Entschlossenheit und des Einfallsreichtums von weniger als einem Dutzend bedeutender Händler und Winzer: Sie erkannten, dass die Schaumweine, die in den steilen Weinbergen südlich von Reims gediehen, ein weit größeres Potenzial hatten. 8 Binnen einer einzigen Generation wurde aus dem an den Rand gerutschten Champagner eine machtvolle wirtschaftliche Größe. Zwischen 1790 und 1830 stiegen die Verkäufe um nahezu tausend Prozent, von ein paar Hunderttausend Flaschen pro Jahr auf über fünf Millionen. Bei Anbruch des 20. Jahrhunderts, noch bevor das Jazz-Zeitalter den Champagner zum Symbol für eine ganze Epoche machte, wurden weltweit pro Jahr schon zwanzig Millionen Flaschen Schampus gekauft. 9

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch war Champagner noch immer ein Nebenerwerbszweig, und diese Jahrzehnte sollten sich als entscheidendes Momentum für die Champagnerindustrie erweisen. An seinen kulturgeschichtlichen Scheidewegen hat vor allem eine Unternehmerpersönlichkeit dafür gesorgt, dass dieser Schaumwein zum berühmtesten Luxusprodukt auf dem Weltmarkt wurde: die Witwe Clicquot.

Barbe-Nicole, die mit siebenundzwanzig Jahren ihren Mann verloren hatte und weder über eine kaufmännische Ausbildung noch über Erfahrungen aus erster Hand verfügte, machte innerhalb von wenig mehr als zehn Jahren aus einem soliden, wenn auch kleinen und immer ums Überleben kämpfenden Familienunternehmen das wohl wichtigste Champagnerhaus des 19. Jahrhunderts. Dank ihrer technischen Innovationen in den Kellereien finden wir heute in den Regalen überall auf der Welt Champagnerflaschen zu erschwinglichen Preisen. Hätte sie nicht das unter dem Namen remuage bekannte Verfahren entdeckt, wäre der Champagner ein Getränk für die Superreichen oder die besonders Glücklichen geblieben. Ich hätte in ihm meine Sorgen in jenem Winter in Wisconsin nicht ertränken können – und hätte mich niemals auf diese donquichotteske Suche nach den verlorenen Einzelheiten des Lebens einer anderen Frau gemacht.

Mit vierzig war Barbe-Nicole eine der reichsten und berühmtesten Unternehmerinnen in ganz Europa und eine der ersten Frauen in der Geschichte, die an der Spitze eines internationalen Geschäftsimperiums standen. Sie hatte erkannt, dass dieser Produktionszweig in einer Krise steckte, und sich ohne Angst auf ein neues Geschäftsfeld und auf neue Märkte gewagt: zu einer Zeit, als die gesamte Gesellschaftsstruktur des alten Frankreich – das Ancien Régime – zusammenbrach und Europa sich in einem Zustand kollektiver Panik befand. Erfahrenere Unternehmer warteten lieber, bis die Krise vorbei war – oder wandten sich ganz neuen Geschäftsbereichen zu. Nicht so die Witwe Clicquot. Ihre Geschichte basiert auf reinem Wagemut. Indem sie ihre finanzielle Unabhängigkeit für eine Zukunft in der Champagnerbranche aufs Spiel setzte, veränderte sie die Geschichte der französischen Weinproduktion. Im Zuge dessen trug sie außerdem dazu bei, das Produkt, das sie verkaufte, zu einem Synonym für Luxus, Festivitäten und Wohlleben zu machen.

Sie eröffnete neue Horizonte für Frauen in der Wirtschaft und zwang die Menschen um sie herum, die geschlechtsspezifischen Rollenbilder ihrer Zeit zu überdenken, und zwar mehr oder weniger unabhängig von ihr selbst. Aber die öffentliche Figur dieser verwitweten Unternehmerin, die sich weigerte, die von der Gesellschaft für sie vorgesehene beschränkte häusliche Rolle zu übernehmen, unterschied sich merklich von der Privatperson. Barbe-Nicole verweigerte sich still, aber beharrlich den Vorstellungen der damaligen Kultur im Hinblick darauf, wie Frauen beschaffen seien und was sie leisten könnten. Doch zu Hause und in ihren Ansichten war sie alles andere als eine Revolutionärin.

In ihren persönlichen Überzeugungen war sie eine zutiefst konservative und mitunter rigide Person. Ihre Familie blieb stramm katholisch, selbst als Religiosität im republikanischen Frankreich geächtet und gefährlich war. Sie setzte sich nicht für die Rechte der Frauen ein, obwohl der Feminismus zu ihrer Zeit seine Anfänge erlebte. 10 Stattdessen umgab sie sich mit Männern als Angestellten, Partnern, ja sogar Freunden. Sie war eine hingebungsvolle, aber eindeutig dominante Mutter, die ihr einziges Kind – eine Tochter – für geistig unbegabt hielt, deshalb vom Familienunternehmen ausschloss und lieber an einen eitlen und extravaganten adligen Lebemann verheiratete – an einen Mann, dessen Charme zu erliegen Barbe-Nicole selbst stets in Gefahr war. Und am Ende überließ sie einen Großteil des Familienunternehmens und der Weingärten ihren männlichen Geschäftspartnern.

Sie war voller Widersprüche, doch bestand ihre Genialität als Geschäftsfrau paradoxerweise gerade darin, dass sie sich weigerte, über ihre Optionen in einem Schwarz-Weiß-Denken zu entscheiden. Ihr Erfolg beruhte nicht darauf, dass sie sich gegen das System stellte, aber sie hielt sich auch nicht sklavisch an die Konvention. Als Tochter eines Lokalpolitikers, der selbst inmitten einer garstigen Revolution auf seinen gewitzten Überlebensinstinkt hatte vertrauen können, verfügte sie über die Gabe, die Chancen zu erkennen, die sich in Augenblicken kultureller und wirtschaftlicher Instabilität boten, das heißt in dem Zeitraum, da alte Strukturen und alte Geschäftsmodelle (samt denen, die unbeirrt an ihnen festhielten) verschwanden und innovative Ansätze aufkamen. Sie war eine Frau, die den Mut hatte, in die Bresche zu springen – emotional, physisch und finanziell.

Aufgrund ihrer Bereitschaft, ohne viel Aufhebens etwas zu wagen, wurde die Witwe Clicquot zu einer der berühmtesten Frauen ihrer Epoche. Wie die andere große Witwe der damaligen Zeit, die britische Königin Victoria, gehörte sie zu denen, die einem Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten. Jahrzehntelang und bis nach Russland kannten Soldaten, Fürsten und Dichter ihren Namen. Schon bald kamen Touristen, um einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die der Schriftsteller Prosper Mérimée einmal als die ungekrönte Königin von Reims bezeichnet hatte. In der Champagne kannte man sie nur als la grande dame. Seltene Jahrgänge von Veuve Clicquot tragen, zur Erinnerung an ihren Ruhm, noch heute diesen Namen. Sie blieb bis an ihr Lebensende eine widersprüchliche Person: großzügige Philanthropin und eisenharte Geschäftsfrau, eine kleine, unprätentiöse, bewusst bodenständige Frau mit einer scharfen Zunge, die der Welt einen überaus köstlichen Wein und eine ätherische Vision verkaufte. Dann verschwand sie, und geblieben ist von ihr kaum mehr als der Name auf einer Champagnerflasche.

Bevor diese komplexe und mitunter widersprüchliche Frau auf einen Markennamen reduziert wurde – oder in Zeichnungen des 20. Jahrhunderts auf eine tanzende Flasche mit Beinen –, bestimmte die Witwe Clicquot den Produktionszweig, dem sie sich verschrieben hatte. In einer Zeit wachsender kultureller Rigidität machte sie den Weg frei für eine zweite Generation von Unternehmerinnen im Champagnergeschäft, für Frauen, die einen ebenso scharfen Verstand und eine ebenso ausgeprägte Begabung hatten wie sie. In ihren Fußstapfen baute die junge Witwe Louise Pommery eines der großen Champagnerhäuser der Welt auf, ein Haus, das zu der Zeit, als Barbe-Nicoles Geschichte sich dem Ende neigte, schwindelerregende Höhen an Reichtum erklomm und weiteres Wachstum verhieß. Fortschreitend auf einem Weg, den Barbe-Nicole ihr gebahnt hatte, erfand die Witwe Pommery den trockenen Champagner (brut), den Weintrinker noch heute verehren. Leider sollte es im Champagnergeschäft keine dritte Generation von Frauen dieses Kalibers geben, keine Frauen, die kleine Familienunternehmen in imposante Firmenimperien verwandelten. Die Frauen, die später kamen – wie Lily Bollinger und Mathilde-Émilie Laurent-Perrier –, verwalteten in erster Linie Unternehmen, die von einer früheren Generation berühmt gemacht worden waren. Und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Weinproduktion in der Region zu einem groß angelegten Geschäft geworden, das fast ausschließlich in der Hand von Männern lag, die sich bereits zu den Reichen und Mächtigen zählen konnten, sodass unausgebildete und unerfahrene junge Unternehmer kaum Chancen hatten.

Doch fast ein Jahrhundert lang – das erste Jahrhundert, in dem Champagner zu einem globalen Symbol für Luxus und Festlichkeit wurde – war das Champagnergeschäft Frauensache. An der entscheidenden Weggabelung in der Geschichte dieses berühmten Weines beherrschte Barbe-Nicole die Branche. Das Ergebnis war eine bessere Zukunft für Frauen in der Wirtschaft. Heute vergibt das von ihr begründete Haus einen renommierten Preis, der nach ihr benannt ist und die Leistungen begabter internationaler Geschäftsfrauen würdigt. Und dank der Witwe Clicquot können Historiker noch immer behaupten, kein Geschäftszweig auf dieser Welt sei so sehr vom weiblichen Geschlecht geprägt worden wie der der Champagnerproduktion. 11

Kind der Revolution, Kind der Champagne

Was den Menschen in der Champagne in Erinnerung blieb von diesem Sommer des Jahres 1789, das waren die gepflasterten Gassen von Reims, die vom Gesang und Geschrei der wütenden, Freiheit und Gleichheit fordernden Menge widerhallten. 1 Die Französische Revolution nahm ihren Lauf, wobei einstweilen niemand diesen Begriff für eines der umwälzenden Ereignisse in der modernen Menschheitsgeschichte benutzte. Erst ein Jahrzehnt zuvor hatte die Demokratie in den amerikanischen Kolonien Wurzeln geschlagen, und eine neue Nation hatte sich etabliert, die in ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien militärisch und finanziell von Frankreich unterstützt worden war, einem der mächtigsten und ältesten Königreiche der Welt. Nun war die Demokratie auch nach Frankreich gekommen. Ihr Beginn war blutig und brutal.

Die jungen Mädchen in der königlichen Klosterschule von Saint-Pierre-les-Dames, knapp außerhalb des alten Stadtkerns von Reims gelegen – einer geschäftigen Handelsstadt mit vielleicht dreißigtausend Einwohnern im Herzen der französischen Textilindustrie und nur hundertdreißig Kilometer östlich von Paris 2  –, hatten wenig zu schaffen mit dieser größeren Welt von Krieg und Politik. Zwei Jahrhunderte zuvor war Maria, die Königin von Schottland, im zarten Alter von fünf Jahren als Schülerin ins Kloster gekommen und dort von ihrer Tante, der adligen Äbtissin Renée de Lorraine, betreut worden. Die anderen Mädchen an dieser katholischen Klosterschule stammten zum großen Teil ebenfalls, wie Maria Stuart und ihre Tante, aus adligen Kreisen und verbrachten ihre Tage damit, die artigen Künste zu erlernen, die man von den begüterten Töchtern der gesellschaftlichen Elite erwartete: Sticken, Musizieren, Tanzen und Beten. Im abgeschiedenen Innenhof waren nur die leichtfüßigen Schritte und die raschelnden Gewänder der Nonnen zu vernehmen, die schweigend ihren Geschäften nachgingen. Der Garten war schattig und lud selbst in der Sommerhitze zum Aufenthalt ein.

Die Mädchen waren von ihren Eltern nach Saint-Pierre-les-Dames geschickt worden, damit sie in Sicherheit und privilegierten Verhältnissen Erziehung und Ausbildung genossen. Doch im Juli 1789 war ein königliches Stift möglicherweise der gefährlichste Ort für sie. Der Adel und die Kirche hatten die Bauern jahrhundertelang mit allen möglichen Abgaben gequält und ausgepresst, und in diesem Sommer brach sich die schon lange kochende Wut nun plötzlich Bahn und schlug um in offenen Klassenkampf, der die Geschichte Frankreichs veränderte. Auf furchtbare Weise wurden alte Rechnungen beglichen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Klosterschwestern und diese jungen Mädchen – die Töchter der gesellschaftlichen Elite der Stadt – zum Ziel des Volkszorns werden mussten. Aus Paris hörte man bereits, dass Nonnen vergewaltigt und die Reichen auf offener Straße ermordet würden. 3 Wein floss jetzt aus den öffentlichen Springbrunnen, und das Lachen und Grölen der Menge in Reims wurde immer fiebriger und erregter.

Hinter den verrammelten Fenstern, umgeben von den königlichen Mauern von Saint-Pierre-les-Dames, mag eines der Mädchen erst, als die Menge fast schon in der Tür stand, geahnt haben, dass sich die Welt und ihre eigene Zukunft gerade grundlegend veränderten. Barbe-Nicole Ponsardin war elf Jahre alt, als die Revolution begann. Sie war ein kleines, ernstes Mädchen mit goldblondem Haar und großen grauen Augen, die älteste Tochter eines der reichsten und wichtigsten Kaufleute der Stadt – eines begüterten und kultivierten Mannes, der davon träumte, seine Familie in den Adelsstand zu befördern, und deshalb seine Tochter auf diese renommierte Klosterschule geschickt hatte, damit sie zusammen mit den Töchtern von Feudalherren und Fürsten erzogen wurde. 4

Jetzt zogen wütende Menschenmassen durch die Straßen von Reims, und es hatte den Anschein, als sollte Barbe-Nicole das gleiche Schicksal zuteilwerden wie ihren adligen Klassenkameradinnen. Die Geschäfte waren geschlossen, die Felder verlassen. Im Stadtzentrum, im großen, fast noch im Schatten der berühmten Kathedrale liegenden Haus der Familie, waren die Eltern – Ponce Jean Nicolas Philippe und Marie Jeanne Josèphe Clémentine Ponsardin oder einfacher Nicolas und Jeanne-Clémentine – in großer Sorge. Selbst wenn es möglich wäre, eine Kutsche durch die Straßen von Reims zu schicken, um Barbe-Nicole nach Hause zu holen, würde eine solche Vorführung von Reichtum und Angst nur die privilegierte Stellung der Tochter öffentlich kundtun und damit die Gefahr vergrößern, die ihr auf den Straßen drohte.

Die letzte Hoffnung der Eltern war ihre Schneiderin, eine einfache, aber ausgesprochen mutige Frau. Sie machte sich mit einem kleinen Packen Kleider auf den Weg zum Kloster, ängstlich darauf bedacht, dass niemand sie sah; sie wusste um die einzige Möglichkeit, eine Tochter aus begütertem Hause wohlbehalten durch die Straßen des revolutionären Frankreichs zu bringen: in Verkleidung. Nachdem sie die Kleine nach Art der ärmlichen, einfachen Leute angezogen hatte, machten sie sich eilends auf den Weg. Das unförmige Wollkleid muss heftig gekratzt haben, und Barbe-Nicoles erste Schritte in den groben Holzschuhen – die so ganz anders waren als ihre weichen Lederslipper – waren mit Sicherheit eine recht wacklige Angelegenheit. 5

Einen Augenblick später aber befanden sie sich schon in den vor Erregung kochenden Straßen von Reims und schickten Gebete zum Himmel, dass man sie nicht bemerken möge. Eine Schneiderin oder ein Bauernmädchen würde niemand behelligen, aber die an der Klosterschule erzogene Tochter einer hochrangigen Persönlichkeit aus dem Bürgertum – noch dazu eines Mannes, der nur ein Jahrzehnt zuvor an der Krönung des Königs beteiligt gewesen war – würde zwangsläufig zum Ziel gewaltsamer Übergriffe werden. Noch viel Schlimmeres sollte einigen von denen widerfahren, die vor der Revolution an langen Sommerabenden in den strahlenden Räumlichkeiten des Familiensitzes von Nicolas und Jeanne-Clémentine zu Gast gewesen waren.

Die Straßen außerhalb des Klosters waren eine einzige rot funkelnde Flut von Männern mit phrygischer Kopfbedeckung, den sogenannten Jakobinermützen, die als klassisches Symbol der Freiheit einst in den antiken Demokratien von freigelassenen Sklaven getragen worden waren. 6 Die Männer sangen bekannte Militärmärsche mit neuen Texten. Aus der Ferne war das Schlagen von Trommeln zu hören, und die dröhnenden Stiefeltritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten von den Fassaden der großen Bauwerke der Stadt wider, als sich die Männer zu provisorischen Bürgerwehren zusammenschlossen. Überall in Frankreich hatte man Angst vor einer möglichen Invasion, da die anderen großen Monarchien Europas sich aufrafften, Truppen zu schicken, um den Volksaufstand niederzuschlagen, der die Massen überall auf dem Kontinent elektrisiert hatte.

Es muss schrecklich gewesen sein für das kleine Mädchen, durch dieses Chaos auf den Straßen zu hetzen. Um sie herum war nichts als Aufruhr, als sich die Massen zusammenrotteten. Die beiden Frauen eilten hastig vorüber. Aus der wütenden Menschenmenge mag der eine oder andere einen Blick auf Barbe-Nicole geworfen und dunkel erkannt haben, wer da vorbeilief. Vielleicht wurde sie Zeuge einiger der vielen kleinen Grausamkeiten der Revolution – des Vandalismus, der Prügeleien. Wer einen Tag wie diesen erlebte hatte, sollte ihn jedenfalls sein Leben lang nicht mehr vergessen.

Wir können nur mutmaßen, welche Schrecken Barbe-Nicole von diesem Tag in Erinnerung geblieben sind, und wir werden niemals genau wissen, was als Nächstes geschah. Nur die gröbsten Umrisse dieser dramatischen Geschichte haben als Familienlegende überlebt. Gesichert ist aber noch Folgendes: Nachdem sie entkommen waren, in den ersten Tagen der Revolution, versteckte die Schneiderin das Mädchen in ihrer kleinen Wohnung über ihrem Laden, nicht weit entfernt von einem kleinen, schmuddeligen Platz am südlichen Stadtrand von Reims, wo auch heute noch einige wenige Gebäude aus dem 18. Jahrhundert stehen. Nicht viel von Reims hat die Artillerie- und Luftangriffe des Ersten Weltkriegs überstanden, aber wenn ich mir diese schiefen Bauten ansehe, frage ich mich, ob Barbe-Nicole vielleicht aus einer dieser Wohnungen mit den verblichenen Leinenvorhängen hinausblickte auf eine Welt, die im Begriff war, sich grundlegend zu verändern. Der Platz ist noch heute als Place des Droits de l’Homme bekannt – als Platz der Menschenrechte.

Nachdem diese Geschichte mehr als zweihundert Jahre lang immer wieder erzählt worden ist, fragen heute einige Leute, ob es wirklich Barbe-Nicole war und nicht etwa ihre kleine Schwester, die auf so dramatische Weise durch die Straßen einer Stadt im Griff der Revolution floh. In den wenigen frühen Dokumenten aber, die Einzelheiten aus dem Privatleben Barbe-Nicoles enthalten – in einer von einem lokalen Historiker stammenden Biografie ihrer Familie aus dem 19. Jahrhundert und einer oberflächlichen, von der adligen Gattin des Unternehmensdirektors verfassten Skizze aus der Mitte des 20. Jahrhunderts –, bildete das die zentrale Legende von Barbe-Nicoles Kindheit. 7

Diese eine Familienanekdote ist sogar die einzige Geschichte aus der Kindheit, die überliefert ist. Abgesehen von den nackten Tatsachen ihrer Geburt und ihrer Herkunft ist nichts geblieben von Barbe-Nicoles Mädchenjahren. Diese Stille ist aber möglicherweise der wichtigste Teil ihrer Geschichte. Wie andere Kinder aus privilegierten vornehmen Familien der Zeit sollte sie unsichtbar bleiben. Sie hätte ein ruhiges und gewöhnliches Leben in einer Kleinstadt in der französischen Provinz führen sollen – ein Leben, dessen Tage mit den Pflichten einer Ehefrau und den Bedürfnissen der Kinder und der älter werdenden Eltern ausgefüllt gewesen wären. Viele Stunden lang hätte sie hübsche Kleider entworfen und abendliche Einladungen geplant. Es hätte die Triumphe und Tragödien des Alltagslebens gegeben. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte Barbe-Nicole in relativer Anonymität gelebt und wäre so auch gestorben.

Wir wissen natürlich, dass dem nicht so war. Die Revolution, die letztlich das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Gewebe Frankreichs veränderte, ist einer der Gründe dafür, dass die Lebensgeschichte Barbe-Nicoles eine so unerwartete Wendung nahm. Alle Politik ist lokaler Natur, selbst inmitten der großen Weltereignisse. Und wie es in der kleinen ländlichen Region im Nordosten Frankreichs, die wir als die Champagne kennen, häufig der Fall ist, spielten auch in den unruhigen Tagen jenes Sommers die Weinberge eine wichtige Rolle.

1789 wandelte sich die Welt, aber die Revolution hatte sich schon lange angekündigt. Diese Männer und Frauen zogen aus einem ganz bestimmten Grund durch die Straßen von Reims. Seit über zehn Jahren stagnierte die Landwirtschaft. Die arbeitende Bevölkerung, die immer nur knapp über die Runden gekommen war, hatte Einbußen hinnehmen müssen. Ganze Dörfer standen am Rand einer Hungersnot, die Ernte war durch eine lange Dürre und extreme Temperaturschwankungen vernichtet, die die kalkhaltigen Felder der Champagne hatten steinhart werden lassen. Der Boden war so trocken, dass der Regen, der endlich irgendwann kam, nur noch mehr Leid brachte: Die Erde konnte das Wasser nicht mehr aufnehmen, es entstanden Springfluten überall im Tal der Marne, die das Elend der Arbeiter und Arbeiterinnen in der Region weiter verschlimmerten.

Im Sommer 1789 waren die vignerons, die die Weinstöcke hegten und die Trauben anbauten, aus denen der Champagner gemacht wurde, aufs Äußerste frustriert und wütend. Das Jahr hatte einige der kältesten und scheußlichsten Wetterperioden des gesamten Jahrhunderts gebracht, und in ganz Frankreich war die Ernte arg dezimiert worden. 8 Den Bauern – und damit auch den Winzern – drohte die ganz reale Gefahr einer massenhaften Hungersnot. Und selbst wenn man die Ernte einbringen konnte, ließen die Abgaben, die der arbeitenden Bevölkerung in Frankreich auferlegt waren, kaum Luft zum Atmen. Ein typischer Weinbauer musste, selbst wenn ihm das Land gehörte, nicht selten mehr als vierzig Prozent Steuern an den lokalen Adel und Klerus zahlen – allein für die Erlaubnis, seine Trauben zu ernten und zu verarbeiten. 9 Auf dem Land waren in Frankreich noch immer die Überreste des alten Feudalismus zu finden, und das Gesetz gab dem örtlichen Lehensherrn das Exklusivrecht, die Mühle oder die Weinpresse des Dorfes zu kontrollieren. So musste der Winzer zur Erntezeit Monopolpreise berappen, und das, bevor er überhaupt versucht haben konnte, seine Ware zu verkaufen. Zu denen, die am schlimmsten betroffen waren, gehörten die Weinbauern, die außerhalb der Mauern des Benediktinerklosters von Hautvillers lebten, also dort, wo der begabte Mönch Dom Pérignon ein Jahrhundert zuvor aus dem Handwerk der Weinherstellung eine Kunst gemacht hatte.

Barbe-Nicole freilich kam nicht aus einer Bauernfamilie, und ihr Vater hatte keine Beziehungen zur Weinproduktion. Eher könnte vom Gegenteil die Rede sein …

Barbe-Nicole kam am 16. Dezember 1777 als ältestes Kind von Nicolas Ponsardin und seiner neunzehn Jahre alten Frau Jeanne-Clémentine, geborene Huart-Le Tertre, zur Welt. Für die Wirtschaft der Champagne war damals nicht der heute berühmte Schaumwein überlebenswichtig, sondern die Tuchmacherei – insbesondere die Herstellung weicher, robuster Wollware. Ein von Barbe-Nicoles Großvater gegründeter Familienbetrieb in der Textilbranche hatte ihren Vater zu einem reichen und zunehmend bedeutenden Mann gemacht. Einem Historiker zufolge war er »der größte Arbeitgeber der Stadt im Textilbereich«. 10 Am Vorabend der Revolution beschäftigte er in seinen Fabriken fast tausend Menschen und verkaufte jährlich Waren im Wert von rund vierzigtausend Livres, was etwa sechshunderttausend Euro entspricht. 11

Als Mann mit gesellschaftlichem Ehrgeiz hatte Ponsardin zudem seit mehr als zehn Jahren die Grundlagen für eine politische Karriere gelegt. Erst kürzlich hatte er eine wichtige Position im Stadtrat von Reims erlangt, doch sein Stern war bereits seit spätestens 1775 im Aufstieg begriffen, als er im Alter von nur achtundzwanzig Jahren dazu auserkoren worden war, in dem örtlichen Ausschuss mitzuwirken, der die Krönung von König Louis XVI. und seiner nunmehr verrufenen Gemahlin Marie-Antoinette ausrichten sollte. 12 Er gehörte sogar zu der Abordnung städtischer Honoratioren, die das Königspaar an der Tür ihrer Kutsche willkommen hieß. Louis XVI. und seine Gattin sollten in Reims gekrönt werden, da die Kathedrale noch immer die sogenannte Sainte Ampoule beherbergte, eine mystische Phiole mit dem Sakramentsöl, das Männer zu Königen machte und der Sage nach elfhundert Jahre zuvor von einem Engel in Gestalt einer Taube vom Himmel gebracht worden war.

Die Tatsache, dass Ponsardin bei der Vorbereitung der Krönungszeremonie für den König eine so herausgehobene Rolle spielte, machte deutlich, dass er ein treuer Untertan war, und ließ erwarten, dass ihm in der Stadt Reims eine glänzende Zukunft bevorstand. Vermutlich zahlte sich das Ganze auch für ihn als Unternehmer aus. Denn für die königliche Feier wurde bei den örtlichen Textilhändlern – unter ihnen zweifellos auch Ponsardin – kilometerweise feinster, mit Goldstickereien ornamentierter Karmesinstoff geordert, mit dem das Schiff der berühmten Kathedrale Notre-Dame de Reims geschmückt werden sollte.

Ponsardin war tief beeindruckt von diesem flüchtigen Kontakt mit der königlichen Familie. Zu Ehren des Königs hatte er eine Unmenge Geld ausgegeben, um im Zentrum von Reims ein ausladendes, unter dem Namen Hôtel Ponsardin bekanntes Stadtpalais zu errichten, das in dem förmlichen, extravaganten Stil gehalten war, der auf ewig mit dem Namen Louis XVI. verbunden sein wird. Heute beherbergt das imposante Gebäude – man könnte sagen: passenderweise – die örtliche Handelskammer und führt somit in gewisser Weise die Tradition der Familie fort, die einst in diesen Mauern wohnte. 13 Das Haus liegt an der rue Cérès, einem der Hauptboulevards der Stadt, und beeindruckt durch seine symmetrische Fassade mit den riesigen, licht und leicht wirkenden Fenstern. Hier wurde Barbe-Nicole geboren, in einer Straße, die nach der römischen Göttin der Fruchtbarkeit benannt ist. Die Gärten sind im klassischen französischen Stil des 18. Jahrhunderts angelegt, mit niedrigen Hecken, die sich in kunstvollen Formen über die Rasenflächen schlängeln. Die Innenhöfe betören im Frühsommer noch heute mit ihren intensiven Düften. Hier, umgeben von Luxus im Herzen eines bedeutenden Handelszentrums, verbrachte Barbe-Nicole ihre Kindheit, zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern Jean-Baptiste Gérard (geb. 1779) und Clémentine (geb. 1783).

Während das Hôtel Ponsardin mit seiner kühlen grandeur von außen abweisend wirkt, strahlt es im Innern noch immer lichte Wärme aus. Die Intarsienarbeiten sind fantasievoll und verspielt, und die glänzenden Parkettböden, über die Barbe-Nicole als kleines Mädchen rannte, begrüßen noch immer die Besucher. Im Erdgeschoss befanden sich elegante Salons und Ballsäle, in denen die Familie vornehme Gäste empfing. Der Bau war unglaublich teuer. Mitunter befielen Ponsardin Sorgen, wenn er an die Unsummen dachte, die ihn ein so glanzvolles Domizil kostete. Obwohl er über ein beträchtliches Vermögen verfügte, hatte er schließlich nicht die Mittel, es zu vollenden.

Ponsardin träumte von dem Tag, an dem seine Familie zum Adel gehören würde. Dies muss einer der Gründe dafür gewesen sein, dass er seine Töchter auf die königliche Klosterschule Saint-Pierre-les-Dames schickte, wo sie mit den Kindern der höheren Schichten in Berührung kamen. Mit Sicherheit träumte er von nichts Geringerem als einer »guten Partie« für sein erstgeborenes Kind. Von all seinen Kindern war sie diejenige, die seinen Charakter und seine Art, sich zu geben, geerbt hatte, und als seine Älteste nahm sie einen besonderen Platz in seinem Herzen ein. 14 Aber sollte er für seine Töchter von großartigen Verbindungen mit jungen Männern aus der Aristokratie geträumt haben, so fanden diese Träume im Sommer 1789 ein jähes Ende. Niemand, der auch nur über ein gewisses Maß an Weitblick verfügte, hätte seine Tochter in den folgenden Monaten und Jahren einem Adligen zur Frau gegeben, und Ponsardin war wahrlich kein Narr.

Die politischen Ereignisse in Frankreich hatten sich in diesem Sommer fast überstürzt. In Paris hatte sich im Juni ein breiter Aufruhr zu einer Bewegung »von unten« ausgewachsen, und wenige Wochen später platzte den Franzosen der Kragen. In unmittelbarer Frontstellung gegen König und Adel verlangten sie ein Mitspracherecht in Steuerfragen. Bis Juli hatte Louis XVI., wie üblich taub gegenüber allen Forderungen, es geschafft, die Revolutionäre nur noch wütender zu machen, und Zehntausende von Bürgern waren auf den Straßen von Paris unterwegs, um Veränderungen einzuklagen. Dann, am 14. Juli, stürmte ein nach Blut dürstender mörderischer Mob das berüchtigte Gefängnis von Paris, die Bastille, und setzte den König und die Königin, die verachtete Marie-Antoinette, in ihrem Schloss in Versailles gefangen.

Reims liegt nicht weit östlich von Paris. Die Nachricht von den Ereignissen in der Hauptstadt verbreitete sich rasch. Mit einem Mal war ganz Reims auf den Beinen. In ihrem Kern war die Revolution ein Klassenkampf: Adlige und Geistliche wurden beschimpft und misshandelt, und man nahm ihnen ihren Besitz. Auch die berühmten Weinberge bei Hautvillers gehörten zu dem Grundbesitz, der konfisziert und den Menschen zurückgegeben wurde. 15 In den darauffolgenden Tagen waren die öffentlichen Plätze überall in der Champagne Protestmärschen, Jubelfeiern und den Menschenmengen vorbehalten. Als die ersten Nachrichten von den Unruhen Reims erreichten, schloss sich Nicolas Ponsardin der Revolution an.

Als Freund des Adels zu gelten war bei Anbruch der Revolution gefährlich. In diesen turbulenten und gesetzlosen Zeiten wurden Menschen schon aus geringeren Anlässen getötet. Plötzlich brachte allein schon die Tatsache, dass man wohlhabend war und eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung innehatte – die Tatsache, dass man am Feudalsystem partizipiert hatte, das für das Leben in der französischen Provinz über Jahrhunderte bestimmend gewesen war –, die eigene Familie in Gefahr, und Ponsardin war einer der Ersten, die erkannten, welche Folgen dies für das Leben in Reims hatte.

Ponsardin war kein Märtyrer und wollte auch nicht, dass seine Frau und seine Kinder zu Märtyrern wurden. Erstaunlicherweise witterte er nicht nur den völligen Umschwung im politischen Klima, sondern er profitierte sogar davon, indem er seine lokale Prominenz und Macht in den frühen Jahren Barbe-Nicoles noch zu steigern wusste. Die Revolution sollte sich für all jene aus den wohlhabenden Industriellenkreisen, die einen klaren Kopf behielten, als Segen erweisen. Ponsardin machte eine rasche politische Rechnung auf und entschied, ohne zu zögern, dass es für ihn und seine Familie – seine elegante und sittsame Frau Jeanne-Clémentine und seine drei kleinen Kinder – das Beste sei, die Revolution mit offener Begeisterung zu unterstützen. Bei der Abwägung seiner Optionen erkannte er vermutlich, dass ihm kaum eine andere Wahl blieb.

Ponsardin schloss sich nicht nur den Protestierenden an, sondern gesellte sich gleich dem radikalsten Flügel zu, den Jakobinern, deren Mitglieder ein endgültiges Ende der Monarchie in Frankreich forderten. Er wurde als Vertreter seiner Stadt in die neue Nationalversammlung entsandt und übte sich gemeinsam mit Tausenden anderen prominenten Bürgern aus ganz Frankreich in demokratischer Politik. Sicher ging er in den ersten rauschhaften Tagen der Revolution auf die Straße. Die breiten Avenuen von Reims waren die Brutstätte politischer Aktivität, die zu einem großen Teil aus erbitterten Vergeltungsaktionen bestand. Die Bürger feierten, aber es lag eine nervöse Anspannung in der Luft. Die Klügsten unter den Adligen planten hastig ihre Flucht ins Exil.

Ziel des öffentlichen Zorns der Menge, die jetzt auf den Straßen unterwegs war, war die Kathedrale von Reims mit ihren alten königlichen Schätzen. Die Nationalversammlung und die neue Revolutionsregierung – der auch Ponsardin angehörte – erklärten alle Kirchen in Frankreich für aufgelöst und benannten sie in »Tempel der Vernunft« um. Vielleicht war Ponsardin dabei, als die seit Jahrhunderten sorgsam aufbewahrte Phiole mit dem Sakramentsöl, mit dem die Könige gesalbt wurden, von einer aufgewühlten Menge durch die kühle Luft ins Zentrum der Stadt getragen wurde – zur nur ein paar Minuten vom stillen Glanz des Hôtel Ponsardin entfernt gelegenen ehemaligen Place Royale, die nun, patriotischer, Place Nationale hieß. Dort wurde das geheiligte Glasgefäß unter dem leeren Blick einer Statue Louis’ XV. öffentlich zerschlagen.

Im Gefolge der Menge müsste Ponsardin auch beobachtet haben, wie die alte Kirche und das nahe gelegene Palais du Tau, der erzbischöfliche Palast, in dem die Könige von Frankreich die Nacht vor ihrer Krönung verbracht hatten, geplündert und verwüstet wurden. Die Kathedrale verlor ihren Wappenschmuck, und die Porträts der Könige wurden angezündet und zertrampelt. Noch heute legen die kalten Steinmauern der Kathedrale Zeugnis ab von dem in ferner Vergangenheit liegenden Aufruhr, auch wenn dieser verblasst gegenüber dem, was die ganze Stadt und ihr gotisches Meisterwerk in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erleiden mussten. Nur die fein geschwungenen floralen Ornamente blieben unbeschädigt. Angeblich stellen sie sämtliche Pflanzen dar, die auf den Feldern der Champagne und auf den von Rebstöcken bedeckten Hügeln der sich im Süden über der Stadt erhebenden Montagne de Reims wuchsen. Die Menschen in Reims haben ihre enge Beziehung zum Land und ihre Ehrfurcht vor der Natur nie vergessen.

Auf den Freiflächen, an denen die breiten Boulevards der Stadt aufeinandertreffen, errichteten Männer wie Nicolas Ponsardin schon bald festlich geschmückte Altäre für die Göttin einer neuen, säkularen Religion. Dort erneuerten lang verheiratete ältere Paare ihr Eheversprechen, um auf diese Weise ihren Glauben an die neue Ordnung zu bezeugen, und auf dem zentralen Platz der Stadt schmückten Kinder Freiheitsbäume mit Bändern und Blumen. Ponsardin soll sogar persönlich einen dieser Bäume gepflanzt haben. 15 In Paris zogen die Frauen barbusig durch die Straßen, und selbst in Reims wurden junge Frauen, von der Menge in anstößigen Posen in die Höhe gehoben, durch die Straßen getragen, dürftig in lose sitzende Gewänder gehüllt, mit Kronen auf dem Kopf und einem einzigen Wort auf der Stirn: Freiheit. 16 Das Bild dieser jungen Frauen ist noch heute ein vertrautes Symbol für Freiheit und Demokratie. Das bekannteste: die Freiheitsstatue in New York, ein Geschenk des französischen Volkes.

Nicht wenige Eltern steckten ihre Töchter in weiße Kleider und ließen sie mit Blumen durch die Straßen ziehen, doch Ponsardin wollte seine Kinder nicht öffentlich zur Schau stellen. Vielmehr setzte er trotz seiner herausgehobenen Position in der neuen revolutionären Bewegung alles daran, die örtliche Politik zu beruhigen und seiner Familie jede unnötige Aufmerksamkeit zu ersparen. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum wir so wenig über die Kindheit von Barbe-Nicole wissen.

Nicolas hatte gute Gründe, seine Familie vor der Öffentlichkeit zu schützen und den Mantel des Schweigens über das Leben im Hôtel Ponsardin zu ziehen. Alles andere wäre schlicht zu gefährlich gewesen. Hinter der brüchigen Fassade des Republikanismus hütete die Familie in den folgenden zehn Jahren ein explosives Geheimnis. Denn mochte Ponsardin auch die öffentliche Rolle eines jakobinischen Patrioten und willfährigen Konvertiten zum Kult der säkularen Vernunft spielen – die Realität sah anders aus. Barbe-Nicole war weniger ein Kind der Revolution als ein Kind der Champagne – einer Gegend, die reich ist an von Königen handelnden Legenden und geheimnisvollen Erzählungen, einer Gegend, in der das Auge selbst von den fern sich hinziehenden Weinbergen aus am Horizont den Turm der großen Kathedrale von Reims erspähen kann.

Heiratsversprechen und Familiengeheimnisse

Barbe-Nicole gehörte einer besonders bedeutsamen Generation an, vielleicht einer der bedeutsamsten in der abendländischen Geschichte. Die Wissenschaft lehrt, die moderne Gesellschaft – mit dem Wert, den sie dem Handel und der Freiheit des Einzelnen beimisst – sei im Zuge der Französischen Revolution entstanden. 1 Tausend Jahre lang war das gesellschaftliche Geflecht Frankreichs weitgehend unverändert geblieben. Die Menschen glaubten, sie seien Teil eines ausgedehnten Beziehungsnetzes, das seit Generationen Bestand hatte. Sie definierten sich über die gesellschaftlichen Rollen, die sie von ihren Vorfahren übernommen hatten, und akzeptierten diese Rollen als unumstößlich.

Für die neue, postrevolutionäre Generation, die nach 1789 erwachsen wurde, löste sich dieses Netzwerk auf. Die Revolution hatte sie gelehrt, dass sich die Welt auf höchst radikale Weise verändern kann. Bauern konnten zu Politikern werden, Könige – einst wie Götter verehrt – auf dem Schafott enden. Der junge italienische Soldat Napoleon Bonaparte, der schon bald über eines der größten Imperien dieser Welt herrschen sollte, aber einen Großteil seiner Kindheit in einer armseligen Volksschule in der Champagne verbracht hatte, wurde einer der herausragenden Vertreter dieser Generation.

In diesem neuen, modernen Zeitalter beruhte die Gesellschaftsstruktur auf Geschäftsbeziehungen und der Zurschaustellung von Waren. In vielerlei Hinsicht unterschied sie sich nur wenig von der Welt, in der wir heute leben. Weil die Leute anfingen, ihre Träume in den Waren gespiegelt zu sehen, die sie kauften, kam es zu einer zweiten, wirtschaftlichen Revolution. Schon bald sollte der Champagner zu einem dieser Produkte werden, die den Leuten sagten, wer sie waren. Die explodierende Bekleidungsindustrie freilich betraf Barbe-Nicole und ihre Familie unmittelbarer. Schließlich hing ihr luxuriöser Lebensstil vom Textilhandel ab.

In den 1780er- und 1790er-Jahren entwickelte die Welt ein Bedürfnis nach Mode, wie man es bis dahin nicht gekannt hatte. Eine Generation zuvor war die Kleidung Ausdruck des Standes gewesen. Der Adel hatte natürlich schon immer ungeheuer viel Geld für Mode ausgegeben. Marie-Antoinette konnte gar nicht genug edelsteinbesetzte Schuhschnallen und seidene Unterröcke besitzen. Sie waren Symbole der Macht und der Privilegiertheit, die sie schlau einzusetzen wusste. Jetzt aber interessierten sich auch die Bürger der Mittelschicht für Mode, die nunmehr ebenfalls demokratisch wurde. 2 Zum ersten Mal imitierte die Kleidung der arbeitenden Bevölkerung den Stil der Reichen. Und im revolutionären Frankreich begannen die Angehörigen der Oberschicht, wenn sie klug waren, rasch, den bäuerlichen Stil nachzuahmen.

Die Mode war ein Herzstück der Revolution. Nicht ohne Grund wurden die Mitglieder des radikalen Jakobinerklubs auch als sans culottes bezeichnet – also als Menschen, die nicht die Kniebundhosen von Adel und Klerus trugen. In den Monaten, als auf den Straßen Frankreichs zur öffentlichen Belustigung wahllos Menschen enthauptet wurden, übernahmen die Damen den jakobinischen Look, indem sie ihr Haar hochsteckten und den Hals mit blutroten Bändern schmückten. 3 In Paris lieferten sich die Ehefrauen republikanischer Politiker mit derlei fantastischen Kostümierungen einen regelrechten Wettbewerb. In Großbritannien kam sogar ein eigenes Wort für Männer auf, die die Revolutionsmode in Frankreich und den USA imitierten: Sie hießen Dandys.

Als junge Frau war Barbe-Nicole natürlich nicht immun gegen die verführerische Macht der Mode und die Verlockung, mit Kleidern gesellschaftliche Zeichen zu setzen. Ihre Schwester Clémentine, eine stadtbekannte Schönheit, war berüchtigt für ihren Hang, den neuesten Trends nachzulaufen. Als sie erfuhr, dass man das Haar in London turmhoch toupiert trug und mit Schleifen und Schmuck verzierte, ließ sie sich, wie ihre Enkelin sich später erinnerte, »mit einer wolkigen Frisur mit weißem Tüll und himmelblauen Schleifchen« porträtieren. 4

Bislang ist kein Bild von Barbe-Nicole gefunden worden, das sie als junge Frau zeigt, obwohl es eines gegeben haben muss. Kleine, auf Elfenbein gemalte Miniaturporträts – gleichsam die Schnappschüsse der damaligen Zeit – waren gang und gäbe. Doch auch ohne Porträt können wir uns Barbe-Nicole leicht als Sechzehnjährige vorstellen. Anders als ihre gertenschlanke Schwester war sie nicht im konventionellen Sinne hübsch. Sie war unscheinbar und neigte zur Pausbäckigkeit. Das Papier, das sie als »Citoyenne de la République« ausweist, beschreibt sie in diesem Alter als sehr klein, nämlich nur 1,45 Meter groß, mit grauen Augen und einer Haarfarbe, die sogar der nüchterne Beamte poetisch als »glühend« blond bezeichnete. 5 Im Französischen evoziert das Wort »ardent« die Farbe glühender Kohle oder ein Glas lohfarbenen Schnapses.

Wie so viele andere Töchter des revolutionären Frankreich trug sie die schlichten weißen Musselinkleider, die als patriotische Symbole einer ländlich-einfachen und egalitäreren Zukunft galten. Diese weißen Kleidungsstücke waren mehr als nur eine populäre – und populistische – Modeerscheinung. 6 Die dogmatischeren Mitglieder der neuen republikanischen Regierung verlangten nämlich schon bald nach einer verpflichtenden nationalen Kleiderordnung, und so war es Ende der 1790er-Jahre verwegen, irgendetwas anderes zu tragen. Die Männer steckten ihre langen Hosen unten in die Arbeitsstiefel, die schlichten Kleider der Frauen wiesen oft nur ein einziges schmückendes Detail auf: die Revolutionskokarde. Auf dem Porträt, das wir nicht besitzen, trug Barbe-Nicole, um die vornehmen Pariser Damen zu kopieren, mit Sicherheit eine solche Anstecknadel auf der Brust – eine Rosette aus Papier oder Stoff in den Revolutionsfarben Rot, Weiß und Blau.

Wenn Barbe-Nicole den Eindruck erweckte, Tochter eines französischen Revolutionärs und überzeugten Radikalen zu sein, so täuschte die äußere Erscheinung. Familie Ponsardin lebte eine wohldurchdachte Lüge – oder zumindest eine sorgfältig ausgetüftelte öffentliche Täuschung. Vater Nicolas hatte nicht nur das Familienvermögen gerettet, sondern auch noch von einem Bauernaufstand profitiert. Weil er sich die revolutionäre Sache des gemeinen Mannes zu eigen gemacht hatte, war seine politische Prominenz noch gewachsen, während er weiterhin ein Privatleben führte, das sich seit den Tagen des Ancien Régime im Grunde nicht geändert hatte und vom Wohlstand und den Privilegien der oberen Mittelschicht geprägt war. Möglich aber war dies nur, weil er und seine Familie wussten, wie wichtig es war, das Geheimnis zu wahren.

Barbe-Nicoles Vermählung war Teil dieses kollektiven Verschweigens. 1798 nahte das neue Jahrhundert mit großen Schritten, und in Barbe-Nicoles Leben sollte ebenso bald ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Auch wenn die fürchterlichsten Exzesse der Revolution vorüber waren, Frankreich blieb in der neuen Ära des Republikanismus sozial und politisch unruhig. In diesem Klima sollte die einundzwanzig Jahre alte Barbe-Nicole verheiratet werden. Ihr Zukünftiger war ein guter Fang – der elegante François Clicquot, attraktiver Sohn eines anderen wohlhabenden und erfolgreichen Textilhändlers, der zunehmend auch im lokalen Weinhandel tätig war.

Barbe-Nicole wird vermutlich von einer kirchlichen Trauung geträumt haben, mit Kerzen und Chorgesang und Weihrauchduft. Vielleicht brüteten sie und die treue Schneiderin der Familie, die Frau, die sie vor der wütenden Menge gerettet hatte, heimlich über Modezeichnungen aus Paris und staunten über die fantasievollen Kleider der mit enormer erotischer Ausstrahlung gesegneten Madame Tallien 7 und all der anderen Frauen, die am patriotischen Kleidungsstil des Directoire, der neuen französischen Regierung, mitgewirkt hatten. Aber die junge Braut wusste natürlich, dass ihr Vater ein so provokantes Herausputzen seiner Tochter niemals erlauben würde. Es würde nur Aufsehen erregen.

Ihre Träume von einer kirchlichen Trauung gar waren illegal und gefährlich. Die Religionsausübung war in Frankreich offiziell 1794 beendet worden: Seither waren die Zeremonien des Katholizismus gesetzlich verboten. 8 Vater Nicolas hatte der Nationalversammlung angehört, die dies beschlossen hatte. Aber Familie Ponsardin war noch immer katholisch. Mehr noch: Obwohl sich Nicolas öffentlich zur radikalen Politik der Partei und einer neuen, säkularen Gesellschaft bekannte, die die Vernunft auf ihre Fahnen geschrieben hatte, blieb er nicht nur Katholik, sondern auch treuer Royalist. Schließlich hatte er an der Krönung des Königs teilgenommen. Auch träumte er noch immer davon, eines Tages das Adelswappen zu besitzen. Im privaten Rahmen und unter strenger Geheimhaltung begannen katholische Familien überall in Frankreich, gefährliche religiöse Zeremonien abzuhalten, während sie nach außen den neuen bürgerlichen Ritualen der Politik huldigten.

Und so heiratete Barbe-Nicole, angetan mit dem einfachen, aber durchaus modischen weißen Musselinkleid einer jungen Revolutionärin, früh an einem Junimorgen François, den einzigen Sohn von Philippe und Cathérine-Françoise Clicquot. Die Trauung fand vor einer kleinen, ängstlichen Schar von Familienangehörigen in einem düsteren Keller statt – vielleicht in den Kellerräumen des großen Anwesens von Familie Ponsardin. 9 Da nämlich einer der unterirdischen Gänge zu dem neuen Haus in der rue de l’Hôpital führte, wo Barbe-Nicole und François ihr gemeinsames Leben beginnen sollten, wäre es nur naheliegend und angemessen gewesen, wenn sich die beiden Familien heimlich dort versammelt hätten.

Mehrere Hundert Kilometer solcher miteinander verbundenen Gänge verliefen im Untergrund von Reims. Glaubt man der Legende, so zwangen die Römer, als sie das antike, damals Duro...

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