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Im silbernen Licht des Mondes

In der weißen Villa am türkischblauen Meer in Tanger beginnt für Keira die leidenschaftlichste Romanze ihres Lebens! Sie hat sich unsterblich in Gerard verliebt, obwohl sie befürchtet, dass er nur mit ihren Gefühlen spielt. Denn der TV-Reporter scheint über sie nur an Informationen kommen zu wollen …


  • Erscheinungstag: 30.11.2023
  • Seitenanzahl: 122
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745753707
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Gerard Findlay sah gerade zu, wie sein Faxgerät eine weitere ärgerliche Nachricht seines Chefredakteurs ausdruckte, als er das Schreien hörte.

Für einen Moment fühlte er sich drei Monate zurückversetzt zu jenem furchtbaren Erlebnis, das ihn immer noch jede Nacht in seinen Träumen verfolgte. Er begann zu zittern, wartete auf das Maschinengewehrfeuer, den ohrenbetäubenden Knall der einschlagenden Raketengeschosse, den Brandgeruch, die Staubwolken zerberstenden Mauergesteins. Dann wurde er sich bewusst, wo er wirklich war und was er da hörte.

Er befand sich in Sicherheit in London, und der Krach kam aus dem Nachbarhaus.

„Diese verdammten Mädchen!“ Zornig wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. „Eines Tages drehe ich ihnen den Hals um!“

Von dem Tag an, als er vor sechs Monaten in eines der kleinen Häuschen in den umgebauten ehemaligen Stallungen, nur einen Steinwurf von der Chelsea Bridge entfernt, eingezogen war, hatten ihn die jungen Frauen von nebenan zum Wahnsinn getrieben. Sie feierten Partys bis zum frühen Morgen, spielten laute Popmusik oder unterhielten sich lautstark von einem Zimmer zum anderen. Gerard hatte an die Wand geklopft, war nach nebenan gegangen, um sich zu beschweren … ohne Erfolg. Schließlich hatte er sich an den Makler gewandt, über den er das Häuschen gemietet hatte.

„Die eine der beiden ist die Stieftochter des Eigentümers“, hatte dieser ihn aufgeklärt. „Die Rothaarige.“

„Ach die.“ Gerard hatte sofort gewusst, wen der Makler meinte: eine große, gertenschlanke junge Frau mit der Anmut einer Tänzerin, einer flammendroten Lockenmähne und grünen Augen, die an den funkelnden Blick einer wütenden Katze erinnerten.

Der Makler hatte vielsagend gelächelt. „Ein reizvoller Anblick, nicht wahr? Genauso wie ihre Freundin, die mit den langen schwarzen Haaren. Sie arbeiten beide als Model.“

„Wollen Sie behaupten, dass nur die beiden dort wohnen?“, hatte Gerard ungläubig gefragt. „In dem Haus wimmelt es doch ständig von Leuten!“

„Ach, Sie wissen doch, wie die jungen Leute heute sind“, hatte der Makler lachend geantwortet. „Da werden Tag und Nacht Partys gefeiert. Hören Sie, ich werde Ihre Beschwerde weiterleiten, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.“

Gerard hatte keine Ahnung, wie sein Vermieter auf seine Beschwerde reagiert hatte. Gleich am nächsten Tag war er mit einem Kamerateam in ein vor kurzem noch friedliches kleines Land geschickt worden, in dem nun ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Es war sein Beruf, hautnah von den Kriegsschauplätzen dieser Welt zu berichten, und er war sich des Risikos bewusst. Diesmal hatte es ihn erwischt.

Als er schließlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er natürlich bemerkt, dass in dem Haus nebenan nur noch die Rothaarige, die Stieftochter des Eigentümers, wohnte. Jedes Mal, wenn sie sich vor dem Haus begegneten, schaute sie eisig an ihm vorbei.

Offensichtlich wusste sie, dass er sich bei dem Makler über sie und ihre Freundin beschwert hatte, und nahm es ihm übel. Hatte ihr Stiefvater der Dunkelhaarigen die Schuld gegeben und ihr gekündigt? Gerard fühlte deswegen Gewissensbisse, denn er hatte das dunkelhaarige Mädchen eigentlich ganz gern gemocht. Am Tag seines Einzugs war sie mit Kaffee und Sandwiches vorbeigekommen, um ihn und die Umzugsleute damit zu bewirten. Die hatten ihn um seine schöne Nachbarin beneidet und gar nicht aufgehört, von ihren langen Beinen zu schwärmen.

Gerard wäre vielleicht interessiert gewesen, wenn er zu dem Zeitpunkt nicht gerade erst eine gescheiterte Beziehung hinter sich gehabt hätte. Er hatte feststellen müssen, dass Judy, mit der er einige Monate zusammen gewesen war, sich während seiner häufigen, beruflich bedingten Auslandsreisen mit anderen Männern getroffen hatte, und sie deswegen zur Rede gestellt. Sie hatte zynisch und ungläubig reagiert, als er ihr versichert hatte, er sei ihr nie untreu geworden. Das war das Ende der Affäre gewesen, und Gerard war noch zu verletzt und enttäuscht, um sich auf eine neue Beziehung einzulassen.

Das dunkelhaarige Mädchen hatte ihn dann zu einer ihrer Partys gleich am folgenden Wochenende eingeladen, aber er war so beschäftigt gewesen, dass er es einfach vergessen hatte. Als sie sich das nächste Mal vor dem Haus begegnet waren, hatte sie ihn deswegen sanft getadelt.

„Diesmal verzeihe ich Ihnen noch“, hatte sie seine Entschuldigung angenommen. „Nächsten Samstag geben wir wieder eine Party. Machen Sie es gut, indem Sie diesmal kommen!“

„Es tut mir Leid“, hatte er mit einem bedauernden Lächeln geantwortet. „Aber ich habe schon die Koffer gepackt, um nach Brasilien zu fliegen.“

„Fürs Fernsehen?“ Ihre Frage war ein stillschweigendes Eingeständnis gewesen, dass sie wusste, wer er war. Gerard war sofort misstrauisch geworden. Luden die beiden Mädchen ihn vielleicht nur ein, weil er eine bekannte Persönlichkeit war? Weil sein Gesicht bald jeden Abend in den Fernsehnachrichten zu sehen war? Gerard war nicht gern prominent. Er verstand sich als Journalist und nicht als Entertainer und hasste es, wenn die Leute ihn umschmeichelten, weil sie sein Gesicht vom Bildschirm her kannten.

„Ganz recht“, hatte er deshalb kurz angebunden geantwortet und ärgerlich hinzugefügt: „Übrigens, könnten Sie und Ihre Freundin vielleicht abends etwas weniger Krach machen? Ich habe ständig Kopfschmerzen, weil Sie bis mitten in die Nacht laute Rockmusik spielen.“

„Aber natürlich“, hatte sie liebenswürdig erwidert.

Natürlich hatte sich nichts geändert. Ganz im Gegenteil, Gerard hatte sogar den Eindruck, dass die beiden danach ihre Stereoanlage noch mehr aufdrehten, und sie luden ihn nicht noch einmal zu einer Party ein. Wenn er an die Wand geklopft hatte, war die Musik noch lauter geworden, wenn er nach nebenan gegangen war, um sich zu beschweren, hatte ihn die Rothaarige angesehen, als sei er eine Schnecke, die ihren Salat wegfräße.

Ein Pochen an seiner Haustür ließ Gerard zusammenzucken. Für einen Moment war er wie gelähmt vor Schreck. Reiß dich zusammen! ermahnte er sich verächtlich. Du bist nicht mehr im Bürgerkrieg, sondern wieder in London, in Sicherheit.

Jemand klingelte Sturm. „Hallo?“, rief eine weibliche Stimme. „Oh bitte, Sie müssen da sein! Bitte, helfen Sie mir!“

Ungeduldig riss er die Tür auf. Seine finstere Miene veranlasste die junge Frau, die draußen stand, einen Schritt zurückzuweichen. Gerard war eine beeindruckende Erscheinung. Groß, schlank und durchtrainiert, erinnerten seine Bewegungen an die Gewandtheit einer Raubkatze. Wann immer die Zeit es ihm erlaubte, hielt er sich durch Squash, Schwimmen und Krafttraining fit.

„Es … es tut mir Leid, wenn ich störe“, sagte die junge Frau stockend.

„Sie sind doch das Mädchen, das nebenan ausgezogen ist!“, bemerkte er erstaunt.

Sie nickte. „Sara Ounissi“, sagte sie erregt und fügte flehentlich hinzu: „Bitte, ich brauche Ihre Hilfe.“ Sie sprach mit leicht fremdländischem Akzent, und der Name klang arabisch. Gerard war sich allerdings sicher, dass sie sich ihm ursprünglich mit einem anderen Zunamen vorgestellt hatte.

„Was ist denn los?“ Er sträubte sich, als Sara versuchte, ihn aus dem Haus zu ziehen. Wahrscheinlich hatten die beiden Mädchen sich gestritten, und er hatte keine Lust, darin verwickelt zu werden.

„Ich muss nebenan ins Haus. Sie lässt mich nicht ein, aber ich weiß, dass sie da ist, denn ich habe sie stöhnen hören. Ich habe Angst, dass sie diesmal stirbt!“

„Stirbt?“, wiederholte er bestürzt. Worüber waren sich die beiden Mädchen in die Haare geraten? Wegen eines Mannes? Die Dunkelhaarige hier wirkte eher sanftmütig: zierlich und feingliedrig gebaut, obwohl wie ihre Freundin groß und elegant von Statur, mit glänzendem pechschwarzem Haar, einem makellosen goldschimmernden Teint und ausdrucksvollen dunklen Rehaugen.

„Bitte, kommen Sie! Verschwenden Sie keine Zeit mit Fragen“, jammerte sie jetzt. „Ich habe schon alles versucht, aber sie macht nicht auf.“

„Vielleicht ist sie ja gar nicht da?“

„Oh doch! Ich habe sie gehört!“

„Haben Sie sich mit ihr gestritten?“

„Nein, nein, es geht um etwas ganz anderes … Keira ist sehr verstört. Ihr ist heute Morgen der Fernsehvertrag gekündigt worden, eine große Werbekampagne für Rexel, die Kosmetikfirma. Während des letzten Jahres war Keira Rexels ‚Gesicht‘. Sie haben sie sicher in der Fernsehwerbung gesehen?“

„Ich habe selten Zeit zum Fernsehen“, antwortete Gerard abweisend. In den letzten drei Jahren hatte er sich mehr im Ausland aufgehalten als zu Hause; und wenn er einmal in England war, dann interessierten ihn schon aus beruflichen Gründen in der Hauptsache Nachrichtenprogramme und politische Magazine.

„Sie sind doch andauernd selbst im Fernsehen!“ Sara machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn für einen Heuchler hielt.

„Nur in Nachrichtensendungen!“ Es ärgerte Gerard, wie die Leute zunehmend Nachrichten mit Unterhaltung verwechselten. Er und seine Kollegen setzten nicht selten ihr Leben aufs Spiel, wenn sie von den Kriegsschauplätzen dieser Welt berichteten, und das Fernsehpublikum konsumierte diese Berichte wie einen Abenteuerfilm, bei dem nur Filmblut vergossen wurde! „Werbung sehe ich mir grundsätzlich nicht an.“

„Na schön. Rexel ist ein großer Kosmetikkonzern. Der Vertrag brachte Keira also viel Geld ein. Er stand diese Woche zur Erneuerung an, doch Rexel hat Keira ohne Vorwarnung fallen gelassen.“

„Das ist Pech, aber sicher keine Sache auf Leben und Tod, oder? Ist ihre Familie nicht vermögend? Sie wird deswegen doch nicht verhungern …“

Sara Ounissi winkte ungeduldig ab. „Darum geht es nicht. Keira kann Zurückweisungen nur schwer verkraften. Ihr Agent rief mich an, um mir zu sagen, dass die Entlassung durch Rexel sie schwer getroffen habe. Benny war auch mein Agent und weiß, dass Keira und ich befreundet sind. Ich habe auch als Model gearbeitet, hauptsächlich Modeaufnahmen für Zeitschriften. Vielleicht haben Sie mich ja schon einmal gesehen?“, fügte sie unwillkürlich mit einem koketten Augenaufschlag hinzu. „Allerdings habe ich meinen Job nach meiner Heirat letzten Monat aufgegeben. Mein Mann will nicht, dass ich arbeite.“

Gerard sah sie erstaunt an. Die Frauen, mit denen er zusammenarbeitete, hätten sich von ihren Ehemännern nie vorschreiben lassen, ihre Arbeit aufzugeben. „Und das macht Ihnen nichts aus?“

Ihr kühler Blick verriet, dass sie die Frage übel nahm. „Sein Lebensstil verlangt von mir viele Pflichten als Gastgeberin. Ich hätte gar keine Zeit mehr, als Model zu arbeiten. Überdies reisen wir sehr viel. Mein Mann besitzt Häuser in der Schweiz, am Golf und in Sussex. Von Sussex komme ich jetzt. Die Fahrt nach London hat ewig gedauert, und nun lässt Keira mich nicht ein. Ihr Schlüssel passt nicht zufällig auch ins Schloss von Keiras Eingangstür?“

„Das hoffe ich nicht! Es wäre mir kein angenehmer Gedanke, dass sie hier ein und ausgehen könnte, wenn ich nicht da bin!“

„Du meine Güte!“, stieß Sara ungeduldig aus. „Wollen Sie denn nicht begreifen? Es handelt sich um einen Notfall!“

„Was befürchten Sie eigentlich?“, fragte Gerard immer noch zögernd. „Der Verlust des Vertrags mag ein schwerer Schlag gewesen sein, aber deshalb wird sie sich doch nicht umbringen!“

„Sie begreifen wirklich nicht. Keira hat ein Problem …“

„Ich verstehe“, sagte Gerard verächtlich. „Drogen. Haben Sie Angst, dass sie eine Überdosis genommen hat?“

„Nein!“, wehrte Sara heftig ab. „Keira ist krank. Sie leidet an Bulimie, verstehen Sie?“

„Bulimie?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das kommt doch in den besten Kreisen vor und ist nicht akut lebensbedrohlich, oder?“

„Sie haben wirklich keine Ahnung!“ Jetzt war es an Sara, Verachtung zu zeigen. „Als Journalist sollten Sie eigentlich wissen, dass Bulimie durchaus bedrohlich sein kann. Keira isst und isst und bringt sich dann bewusst zum Erbrechen. Dadurch können innere Blutungen verursacht werden. Vielleicht liegt sie jetzt bewusstlos in ihrem Haus, oder ist an ihrem Erbrochenen erstickt. Seit ich nicht mehr mit ihr zusammenwohne, konnte ich mich nicht mehr so um sie kümmern. Deshalb weiß ich nicht, in welcher Verfassung sie ist. Bitte …“, drängte sie, halb ärgerlich, halb verzweifelt. „Wenn Sie schon nicht helfen wollen, kann ich wenigstens Ihr Telefon benutzen, um die Polizei anzurufen?“

„Sicher. Es tut mir Leid. Aber warum rufen Sie nicht den Hauseigentümer an? Er ist doch ihr Stiefvater, oder?“

Saras Gesicht verriet, dass sie den Eigentümer nicht besonders mochte. „Er ist in Tanger.“

„Hat sie denn sonst keine Familie?“

„Nicht hier in England.“

„Schön, dann sollten wir bei dem Makler nachfragen, ob der einen Schlüssel für das Haus hat.“

„Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?“ Saras Gesicht hellte sich auf. „Sein Büro ist um die Ecke. Ich fahre sofort hin.“

„Warten Sie. Besser, wir rufen vorher an. Ich habe die Nummer im Adressbuch.“ Gefolgt von Sara ging Gerard in sein Haus zurück, suchte die Nummer des Maklers heraus und rief an.

„Er ist momentan leider nicht hier“, erklärte die Sekretärin. „Aber wir haben natürlich einen Nachschlüssel. Sagten Sie, dass Sara da ist? Könnte sie vielleicht kommen und den Schlüssel holen?“

„Ich bin schon auf dem Weg!“, sagte Sara, die mitgehört hatte, und rannte zu ihrem Wagen.

Während des Telefonats war ein weiteres Fax von Gerards Chefredakteur eingetroffen. Gerard überflog es resigniert. Es enthielt einmal mehr die kategorische Weigerung, ihn zur Berichterstattung ins Ausland zu schicken, und endete mit den Sätzen: „Kommen Sie ins Büro. Ich muss mit Ihnen sprechen.“

Gerard zerknüllte das Blatt, warf es ärgerlich in die Ecke und ging hinaus.

Es war ein warmer Nachmittag im Frühsommer. Um diese Zeit waren die meisten Bewohner der winzigen Reihenhäuschen zur Arbeit. Familien wohnten hier keine, denn die Häuschen eigneten sich nur für Singles oder Paare ohne Kinder.

Gerard spähte durch das Fenster in das Wohnzimmer des Nachbarhauses, das in frühlingshaftem Grün und Weiß eingerichtet war. Es wirkte makellos aufgeräumt. Kein Mensch war zu sehen.

Er konnte nur hoffen, dass er sich nicht zum Narren machte. Immerhin war es möglich, dass Sara die Situation dramatisch aufbauschte … Und wenn nicht? Was, wenn es der hübschen Rothaarigen tatsächlich schlecht ging?

Die Rothaarige kannte er eigentlich gar nicht. Natürlich hatte er ihr bisweilen bewundernd hinterhergeschaut. Welcher Mann hätte das nicht? Mit ihrem anmutigen Gang und den flammendroten Locken war sie schon etwas Besonderes. Aber er hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Wie hatte Sara sie genannt? Keira … ein ungewöhnlicher Name; er passte zu ihr.

Gerard pochte an die Haustür. „Keira? Sind Sie da? Machen Sie auf!“

Alles blieb still, zu still. Gerard wurde von dem seltsamen Gefühl beschlichen, dass hier wirklich etwas nicht stimmte. In seinem Beruf entwickelte man ein scharfes Gespür für kritische Situationen.

Es funktionierte natürlich nicht immer. Manchmal wurde man von der Gefahr überrascht. Die Dorfbewohner, mit denen er jenen Abend, bevor er angeschossen worden war, verbracht hatte, waren jetzt entweder tot oder heimatlos. Es war ein idyllisches kleines Dorf mit weißgetünchten Häusern unter roten Ziegeldächern gewesen. Seine Ankunft war in die Zeit der Apfelblüte gefallen, und Gerard war bezaubert gewesen von dieser scheinbaren Oase des Friedens inmitten des Aufruhrs.

Vielleicht hatte das Auftauchen seines Kamerateams die Aufmerksamkeit des Gegners auf das Dorf gelenkt. Kurze Zeit nach ihrem Eintreffen schlugen die ersten Granaten ein. Innerhalb weniger Tage waren von dem Dorf nur noch rauchende Trümmer übrig, und Gerard hatte nichts tun können, um die Zerstörung aufzuhalten und den Menschen zu helfen. Was ihm blieb, war, der Welt von dieser Tragödie zu berichten, wofür er sein Leben und das seines Teams aufs Spiel setzen musste.

Alle anderen, der Kameramann, der Toningenieur, der junge Regisseur, für den es die erste Kriegsberichterstattung gewesen war, überlebten unversehrt. Nur Gerard war verwundet worden. Ein paar britische Soldaten, die dort im Dienst der UN – Truppen stationiert waren, hatten ihn herausgeholt. Er war nach England zurückgeflogen worden, wo er die bestmögliche Behandlung erhielt. Der Streifschuss am Kopf heilte gut, die Beinwunde bereitete ihm größere Probleme. Er hinkte immer noch leicht, vor allem wenn er müde war. Man hatte ihm aber versichert, dass sich dies mit der Zeit ganz verlieren würde. Die Narben an Geist und Seele dagegen, waren dauerhafter und machten ihn empfindsam für Stimmungen.

Im Moment verspürte Gerard immer deutlicher ein Gefühl von drohendem Unheil.

„Keira! Machen Sie auf, oder ich komme rein!“, rief er. Die Haustüren der kleinen Häuschen waren aus ziemlich leichtem Material und ließen sich sicher eintreten. Dennoch scheute Gerard vor diesem Schritt zurück, denn sein Bein war noch nicht ganz geheilt, und er wollte die Arbeit seiner Ärzte nicht wieder zunichte machen.

Aber es gab ja noch andere, elegantere Möglichkeiten einzubrechen. Gerard hatte einmal einen professionellen Einbrecher interviewt, der ihm bereitwillig demonstriert hatte, wie man mit Hilfe einer Kreditkarte Hotelzimmertüren öffnen konnte. Gerard hielt es für gerechtfertigt, das Gelernte jetzt auf die Probe zu stellen.

Er holte seine Brieftasche hervor und zog eine Kreditkarte heraus und setzte sie vorsichtig so an, wie es ihm der Einbrecher gezeigt hatte. Er hörte ein Klicken und drückte: die Tür öffnete sich wie von Zauberhand. „Na, wer sagt’s denn?“, brummte er zufrieden, trat ein und sah sich um.

Das kleine Nachbarhäuschen war vom Zuschnitt her mit seinem identisch. Man betrat zuerst eine winzige Diele mit dem Treppenaufgang ins Obergeschoss. Geradeaus lag die Küche, rechts das Wohnzimmer, dessen Tür offen war.

„Keira?“ Gerard wandte sich zur Küche und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Die Küche war ultramodern und teuer eingerichtet, aber in diesem Moment sah sie aus, als hätten Vandalen dort gehaust. Die Kühlschranktür stand sperrangelweit offen, auf dem Boden davor lagen Lebensmittel verstreut, und auch der Tisch und die Anrichten waren mit Essensresten und aufgebrochenen Lebensmittelpackungen übersät.

Das Mädchen konnte Gerard nirgendwo entdecken. Sie musste oben sein. In welchem Zustand befand sie sich? Gerard eilte die Treppe hinauf, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm.

Auch in den beiden kleinen Schlafzimmern oben konnte er keine Spur von dem Mädchen entdecken. Die Zimmer waren geschmackvoll und betont feminin eingerichtet und makellos aufgeräumt. Angesichts des auffälligen Gegensatzes zu dem Chaos in der Küche jagte Gerard ein Schauer über den Rücken.

Die Tür zum Bad war zu. Gerard drückte vorsichtig die Klinke und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war. Dennoch zögerte er, einfach einzutreten, und klopfte erst einmal an.

„Keira? Ich bin Gerard Findlay, Ihr Nachbar. Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ihre Freundin Sara macht sich Sorgen. Machen Sie bitte die Tür auf, Keira.“

Er hörte, wie sich drinnen im Bad etwas regte, dann ein leises Stöhnen. Ohne sich weiter um Anstandsregeln zu kümmern, öffnete er die Tür und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Das rothaarige Mädchen lag zusammengekauert unmittelbar hinter der Tür. Bei Gerards Eindringen hob sie matt den Kopf, der Blick ihrer grünen Augen erinnerte ihn an ein verängstigtes Kätzchen.

„Verschwinden Sie!“

Sie schluckte mühsam und verzog schmerzerfüllt das bleiche Gesicht. Offenbar hatte sie sich lange und heftig erbrochen.

Gerard war ein praktisch denkender Mensch und hatte gelernt, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Müssen Sie sich noch erbrechen? Oder sind Sie fertig?“, fragte er ruhig.

Sie schloss die Augen und presste eine Hand an den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, wobei sie den Kopf von Gerard weg drehte. „Verschwinden Sie!“, flüsterte sie kläglich. „Bitte, lassen Sie mich allein.“

Ohne ihre Bitte zu beachten, beugte Gerard sich herab und hob sie mühelos auf seine Arme. Er war ein starker Mann, und dieses Mädchen fühlte sich leicht wie eine Feder an.

„Nein!“

Ihr matter Protest verhallte ungehört. Gerard trug sie ins Schlafzimmer und setzte sie behutsam auf dem Bett ab. Während er sie dann mit einer Hand stützte, zog er ihr mit der anderen die leichte blaue Seidentunika über den Kopf.

„Was machen Sie da?“ In sichtlicher Panik versuchte sie, sich zu wehren.

Doch Gerard hatte ihr das Kleid bereits ausgezogen und warf es in eine Ecke des Raumes. Darunter trug sie einen weißen Seidenteddy mit tiefem Spitzendekolleté und der gleichen zarten Spitze am hohen Beinausschnitt.

„Mistkerl!“ Ihre grünen Augen blitzten zornig, als sie sah, wie Gerards Blick über ihren Körper schweifte. „Nehmen Sie die Hände weg! Es geht mir nicht so schlecht, dass ich Sie nicht daran hindern könnte, mich zu vergewaltigen.“ Sie hob drohend ihre Hände mit den langen, perfekt manikürten und lackierten Fingernägeln. „Ich kratze Ihnen die Augen aus, wenn Sie es auch nur versuchen!“

„Sie machen Witze!“ Gerard packte der Zorn angesichts dessen, was dieses Mädchen sich antat. „Bilden Sie sich wirklich ein, irgendein Mann könnte Sie sexy finden, so, wie Sie jetzt aussehen?“ Er biss sich auf die Zunge, als er ihr betroffenes Gesicht sah. Deutlich freundlicher fuhr er fort: „Hören Sie, ich habe Ihnen das Kleid nur ausgezogen, weil ich dachte, Sie würden sich in etwas Sauberem wohler fühlen.“

Sie zuckte sichtlich zusammen, als sie begriff, was er meinte. „Oh nein!“, stöhnte sie. „Ich muss furchtbar aussehen! Schauen Sie mich nicht an! Verschwinden Sie, bitte!“

Gerard hob ihre Beine auf das Bett und half ihr, sich auszustrecken. Dann ging er zu dem großen Einbauschrank und suchte einen langen blauen Morgenmantel heraus.

Keira lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, wieder in dieser Kauerstellung, die so hilflos wirkte. Ihr flammendrotes Haar war über dem Kissen ausgebreitet, ihre Haut wirkte unwirklich weiß und zart; die rosigen Knospen ihrer kleinen hohen Brüste schimmerten durch die weiße Seidenspitze, und dann diese Beine … Gerard ließ seinen Blick bewundernd darüber schweifen. Dieses Mädchen war zweifellos viel zu dünn, aber betörend schön. Wie ein Feenkind, nicht ganz von dieser Welt.

Wie alt mochte sie sein? Einundzwanzig oder zweiundzwanzig? In jedem Fall gut zehn Jahre jünger als er.

„Ziehen Sie das an.“

Sie öffnete die Augen und setzte sich mühsam auf. Zitternd ergriff sie den Morgenmantel und zog ihn sich über. Gerard kniete vor dem Bett nieder, um den breiten Gürtel um ihre zierliche Taille zu binden. Sie wirkte so zerbrechlich, dass er fast Angst hatte, sie anzufassen. Und das machte ihn erneut wütend.

„Wie können Sie sich nur so etwas antun?“, fragte er und blickte hoch in ihr Gesicht. „Sie haben einen schönen Körper. Warum versuchen Sie, ihn aus dummer Eitelkeit zu zerstören?“

„Aus Eitelkeit?“ Ihr Lachen klang eine Spur hysterisch, wie Gerard besorgt feststellte. „Glauben Sie, ich gefalle mir? Erzählen Sie mir nichts von einem schönen Körper! Ich weiß, wie dick ich bin. Ich brauche ja nur in den Spiegel zu sehen.“

„Dick?“, wiederholte Gerard fassungslos. „Das können Sie nicht im Ernst glauben! Wenn überhaupt, dann sind Sie zu dünn!“

„Sparen Sie sich Ihre Lügen! Ich weiß, dass Sie es nur gut meinen, aber ich bin nicht dumm.“

„Vielleicht nicht dumm, aber bestimmt verrückt“, entgegnete Gerard entschieden. „Ich werde jetzt Ihren Arzt anrufen, damit Sie Hilfe bekommen.“

„Nein!“ Sie packte seinen Arm, um ihn zurückzuhalten. „Ich will ihn nicht sehen!“

Gerard hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Er konnte die Situation einfach nicht einschätzen. Sara Ounissi hatte von einem Notfall gesprochen, und auch er war bei Keiras Anblick zunächst sehr erschrocken gewesen. Nun aber war er sich nicht mehr sicher, wie ernst ihr Zustand wirklich war. Sie war natürlich kreidebleich und was sie sagte, beunruhigte ihn, aber er hatte nicht das Gefühl, dass sie ein dummes kleines Mädchen sei, das nicht wusste, was es tat. Im Gegenteil, ihre grünen Augen blickten wach und intelligent.

Er entschied sich, auf Saras Rückkehr zu warten. Sie würde sicher wissen, was zu tun sei.

Als habe sie seine Gedanken erraten, schluckte Keira und flüsterte heiser: „Sie sagten, Sara sei hier? Wo …?“

„Sie ist fort, um einen Schlüssel von dem Makler zu holen. Eigentlich müsste sie schon zurück sein. Möchten Sie ein Glas Wasser? Oder gibt es irgendein Medikament, das Sie einnehmen?“

„Ein Glas Wasser, bitte. Wenn Sie so nett wären …“

In diesem Moment waren auf der Treppe eilige Schritte zu hören. Außer Atem und blass erschien Sara auf der Schwelle zum Schlafzimmer und sah ihre Freundin besorgt an. „Oh Keira! Ist alles in Ordnung?“

Keira lächelte matt. „Bestens“, sagte sie, setzte sich hin und versuchte aufzustehen. Gerard reagierte zu spät. Ohne Vorwarnung sackte Keira ohnmächtig zusammen und fiel neben dem Bett zu Boden.

„Rufen Sie den Arzt an!“, befahl Gerard, ehe er Keira wieder hochhob und auf das Bett zurücklegte.

Widerspruchslos eilte Sara davon. Ihr Mann kann sich wirklich glücklich schätzen, dachte Gerard trocken. Hoffentlich weiß er es auch! Warum lerne ich nie ein Mädchen wie Sara kennen? Na ja, ich habe sie ja kennen gelernt und es erst gar nicht bei ihr versucht. Wie hätte ich auch ahnen können, dass sie die perfekte Ehefrau abgibt!

Nachdenklich wandte er sich wieder Saras rothaariger Freundin zu. Sie tat ihm aufrichtig Leid, machte ihn aber auch maßlos wütend. Wenn er an den verzweifelten Überlebenskampf andernorts auf der Welt dachte, dessen Zeuge er bei seiner Arbeit immer wieder geworden war, dann erfüllte es ihn mit Zorn, dass diesem dummen Mädchen, das in einem reichen, sicheren Land lebte und alles hatte, was man sich nur wünschen konnte, nichts Besseres einfiel, als zu versuchen, sich aus Eitelkeit umzubringen.

Wieso ließ ihre Familie das zu? Sein Blick schweifte durch den Raum. Auf einer Kommode vor dem Fenster standen ein paar Fotos. Neugierig ging Gerard hin, um sie sich anzusehen.

Das eine zeigte Keira neben einer Frau im Bikini, die auf den ersten Blick nicht viel älter als Keira zu sein schien. Bei genauerer Betrachtung waren auf der sonnengebräunten Haut jedoch verräterische Falten zu erkennen, während das Gesicht eine Spur zu glatt wirkte. Folge eines Faceliftings? War dies Keiras Mutter? Das rote Haar, die grünen Augen und die hochgewachsene, sehr schlanke Figur der Frau legten diese Vermutung nahe.

Auf einem anderen Foto sah Gerard dieselbe Frau wieder mit Keira, umgeben von einer Gruppe anderer Leute in einem luxuriös eingerichteten Salon mit Marmorböden und Kronleuchtern. Diesmal stand ein sehr viel älterer Mann an ihrer Seite, grauhaarig, tief gebräunt, in einem leichten, hellen Tropenanzug. Er hatte den Arm um die Taille der älteren Rothaarigen gelegt und lächelte in die Kamera.

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