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In den Armen des Schicksals

hier erhältlich:

Iain Ross glaubt nicht an die alten schottischen Mythen und Legenden. Doch als er die schöne Fremde aus dem eisigen Loch Ceo vor dem Ertrinken rettet, ist es, als würde seine Seele berührt. Er kann und will die amerikanische Wissenschaftlerin nicht mehr aus seinem Leben entlassen - womit Billie Harper durchaus einverstanden ist. Und dennoch: ihre Liebe zueinander soll nicht sein: So sehr Ross' Herz sich auch nach ihr sehnt - der jahrhundertealte Fluch, der über seinem Haus liegt, zwingt sie dazu, scheinbar für immer getrennt zu bleiben...


  • Erscheinungstag: 10.10.2010
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862783625
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

1965

E s war Blasphemie … aber Margaret Henley wusste, sie hatte schon lange genug gelebt, um das Unheil auf Druidheachd zukommen zu sehen. Wenn die dunkle Wolke sich über dem kleinen Dorf in den schottischen Highlands entlüde, würde sie allerdings nicht mehr leben. Auch wenn Margaret ihre genaue Sterbestunde nicht kannte, so wusste sie doch, dass diese lange vor Druidheachds schwerster Prüfung schlagen würde.

Wie oft hatte sie sich gewünscht, die Sehkraft ihres Zweiten Gesichts, die sie vor den Tragödien im Leben der Dorfbewohner warnte, hätte mit dem Alter ebenso nachgelassen wie die ihrer Augen …

Eine Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. „Mum, du hast heute weder einen Happen gegessen noch einen Fuß aus dem Bett gesetzt! Also, in meinem Haus gibt es so was nicht! Entweder du hilfst mir jetzt dabei, dich in den Sessel beim Fenster zu bugsieren, oder ich rufe Dr. Sutherland an, damit er dich in der Dorfklinik unterbringt. Und das ist mein voller Ernst.“

Margaret hob die Lider. Nun, ihr Augenlicht war scheinbar auch noch nicht genug erloschen. Denn leider konnte sie immer noch sehr deutlich sehen, wie Flora, die eigensinnigste Tochter, die man sich vorstellen konnte, auf sie herabschaute. „Ich habe keine Lust aufzustehen.“

„Und ich habe keine Lust, dich im Nachthemd zu beerdigen! Wenn du schon unbedingt sterben willst, dann steh wenigstens auf und zieh dir dein bestes Kleid an.“

Etwas machte sich tief in Margaret bemerkbar, etwas, mit dem sie wahrlich nicht gerechnet hätte. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel sich verzogen und das Lachen sich in ihrer Kehle emporarbeitete. „Flora, es ist ein Kreuz mit dir. Ich beklage den Tag, an dem ich dich empfangen habe.“

„Soll ich den Doktor anrufen?“

Mühsam setzte Margaret sich auf. Das Knacken in ihren Gelenken war nicht zu überhören. Hatte sie etwa mit ihren über neunzig Lebensjahren noch immer nicht genug Hammeltalg vertilgt, um die Gelenke gut geölt zu halten? „Ich werde wohl nie wissen, warum ich Dinge sehe.“

„Weil der Herr im Himmel es so wollte, und weil du ein verknöchertes altes Frauenzimmer und zu stark bist, um dich von ein paar Visionen unterkriegen zu lassen und dich im Bett zu verkriechen.“ Flora war auch lange nicht mehr die Jüngste. Als sie sich bückte, um ihrer Mutter zu helfen, die Beine aus dem Bett zu heben, meldeten die eigenen Gelenke lautstark Protest an.

„Eher sterbe ich!“

Flora hielt eine Haarbürste hoch. „Soll ich dich kämmen?“

„Das bisschen, das noch übrig ist, kämme ich selbst.“ Margaret nahm die Bürste entgegen und zog die weichen Borsten hauptsächlich über kahle Schädelhaut.

„Es gibt neuen Klatsch im Dorf.“ Flora stemmte die Hände in die schmalen Hüften und schürzte die Lippen. „Aber ich denke, den erzähle ich dir nicht eher, bis du etwas gegessen hast.“

„Ich will deinen Klatsch gar nicht hören.“ Margaret hielt abwägend inne. „Es sei denn, es betrifft den Gutsherrn.“

„Aye, das tut es.“

„Dann frühstücke ich beim Fenster.“

Margaret wartete, bis Flora das Zimmer verlassen hatte, bevor sie aufstand, sich anzog und zu dem kleinen Tischchen am Fenster ging. Von hier hatte man einen wunderbaren Blick auf die Highlands. Margaret war agil genug, um sich mit Flora und deren Mann zum Essen zusammenzusetzen, und von Zeit zu Zeit tat sie es auch. Aber meist schützte sie Mattigkeit oder Schmerzen in den alten Knochen vor, damit sie ihre Ruhe genießen konnte. Flora plapperte immer so viel und regte sich über Nichtigkeiten auf.

Jetzt kam Flora mit einem Tablett zurück. „Ein schönes frisches Brötchen und Sahneporrigde. Du bist ja dürr wie ein Stock. Wenn ich eine alte Frau bin, dann hoffe ich, dass meine Tochter genauso gut zu mir ist wie ich zu dir.“

„Du bist eine alte Frau, und du hast nur Söhne geboren.“

Flora verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich erzähle dir nicht einmal das kleinste Fitzelchen von den Neuigkeiten, bis du alles aufgegessen hast.“

Margaret hatte Hunger, dennoch murrte sie rebellisch, einfach, weil es so von ihr erwartet wurde. Sie setzte sich, goss die Extraportion Sahne, die Flora vorausschauenderweise mit auf das Tablett gestellt hatte – Flora war eine wirklich gute Tochter –, über ihr Porridge und aß alles auf, bis auf einen letzten Löffel, den sie absichtlich übrig ließ. Dann strich sie Butter auf das Brötchen und genoss auch noch den letzten Krümel. „So! Bist du nun zufrieden?“

„Halbwegs.“ Flora ließ sich auf dem Stuhl ihrer Mutter gegenüber nieder. „Und ich bin die Verkörperung der Selbstdisziplin, dass ich so lange gewartet habe, um dir die Neuigkeiten zu berichten.“

„Ich bin sicher, im Himmel wartet dafür eine Belohnung auf dich“, erwiderte Margaret trocken.

„Lady Mary Ross hat letzte Nacht ihr Kind zur Welt gebracht.“

„In der Halloween-Nacht?“

„Aye. Hier in Druidheachd. In der Klinik, und Dr. Sutherland hat das Kind geholt.“

„Endlich ein Neugeborenes.“

„Aber das ist noch nicht alles.“ Flora lehnte sich zurück und wartete ein wenig, um die Spannung zu erhöhen.

„Nun sag schon. Ich könnte sterben, bevor du alles losgeworden bist.“

„Melissa Sinclair hat ihren Sprössling zur gleichen Zeit geboren.“

„Du meinst doch sicher nicht zu genau der gleichen Zeit?“

„Doch, das meine ich. Und es hört nicht auf.“ Flora lehnte sich jetzt aufgeregt vor. „Jane MacDougall ist ebenfalls niedergekommen. Drei Babys, die alle im gleichen Moment das Licht der Welt erblickten. Keiner kann sagen, wer zuerst gekommen ist. Man stelle sich das nur mal vor, Mum!“

„Und wer hat die anderen Kinder geholt, wenn Angus Sutherland mit Lady Mary beschäftigt war?“

„Jeanne Maxwell hatte Dienst, sie hat das Sinclair-Kind geholt. Und Jane MacDougall hat sich selbst darum gekümmert.“

„Nein!“

„Aye. Dr. Sutherland hat dem Lord den Sohn in die Arme gedrückt und ist gleich zu Jane weitergerannt, doch Jane wollte wohl nicht so lange warten.“

„Ein Sohn? Der Gutsherr hat einen Sohn?“

„Sie alle haben Söhne geboren. Alles Jungen. Und alle …“, Flora verhaspelte sich vor lauter Aufregung, „um Mitternacht geboren. Um Punkt Mitternacht, zum Glockenschlag!“

„Nein!“ Margaret merkte erst jetzt, dass ihr der Mund offen stand. Sie schloss ihn hastig, aus Angst, ihre dritten Zähne könnten sich vielleicht verselbstständigen. „Das glaube ich nicht!“

„Hat man so etwas schon gehört?! Hat man jemals von so etwas gehört?!“

Doch Margaret achtete kaum noch auf Floras Worte. Sie starrte aus dem Fenster. Drei Babys, geboren um Mitternacht! Drei Jungs!

Jetzt verstand sie endlich so viel mehr als vorher. Klar und deutlich sah sie den Teil der Vision vor sich, der sie den ganzen Tag im Bett gehalten hatte. Und als ihre Sicht sich klärte und sie wieder die braunen und roten Farben des Herbstes vor dem Fenster wahrnahm, da drängten sich neue Bilder vor ihre Augen.

Drei Jungen. Einer mit den gleichen schwarzen Locken wie der Lord, einer mit den durchdringenden grauen Augen wie sein Vater, der Dorfwirt, und einer mit dem Rotschopf des Tunichtguts von einem Fischer, der ihn gezeugt hatte. Drei Jungs, die lachend über das grüne Gras unter dem Fenster tollten, die über die Weiden und Hügel der Highlands rannten. Drei Jungs, die zusammen aufwuchsen, die sich zusammen dem Leben stellten.

Drei Jungs – und eine dunkle Wolke, die nicht mehr ganz so düster war.

„Das ist ein Zeichen. Die drei dürfen nicht getrennt werden“, sagte sie. Margaret kehrte aus ihrer Vision an den Tisch zurück. Flora saß ihr noch immer gegenüber, nur konnte Margaret nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. „Die drei Mitternachtsjungs. Sie haben das Leben gemeinsam begonnen, sie dürfen nicht getrennt werden.“

„Der Lord wird da bestimmt nicht mitmachen, selbst wenn die anderen bereit dazu sind.“

„Aye, er wird einverstanden sein. Denn das ist das Ende des Fluchs, der seit achthundert Jahren auf seiner Familie liegt.“

„Mum, mit Verlaub, du bist verrückt.“

„Richtig, und ich werde noch viel verrückter, solange man mich nicht auf dem Kirchhof begraben hat.“

„Soll ich den anderen erzählen, was du gesagt hast?“

„Aye. Erzähle es jedem, der es hören will.“ Margaret hielt inne. „Natürlich wird jeder es hören wollen.“ Sie drehte den Kopf zum Fenster zurück und hörte nur noch das Klappern von Geschirr und dann die Schritte, als Flora sich zurückzog.

Drei kleine Mitternachtsjungs. Margaret sehnte sich danach, die Babys auf den Armen zu halten. Nun, das würde bald geschehen. Denn man würde auf sie hören. Selbst der Lord respektierte die Visionen, die allein Margaret Henley vorbehalten waren. Eines nach dem anderen würden die Babys zu ihr gebracht werden, und sie würde sicherstellen, dass die Wege der Jungs auf immer miteinander verwoben blieben.

Eines Tages würden aus den Mitternachtsjungs Mitternachtsmänner werden.

Es war Blasphemie … aber sie wünschte, sie würde es schaffen, diesen Tag noch zu erleben.

1. KAPITEL

E s hieß, es lebe ein Ungeheuer in Loch Ceo. Eine grauenerregende Kreatur mit den Schuppen und Flossen eines Fisches und dem Kopf und der Mähne eines Pferdes. Ein fünfzehn Meter großes Ungetüm, das röhrend wie ein Löwe brüllte oder weinend klagte wie eine liebeskranke Sirene. Letzteres hing übrigens davon ab, wer die Geschichte erzählte.

Soweit Iain Ross wusste, hatte bisher niemand das Ungeheuer, das sich in Loch Ceo tummelte, in blauem Denim und dicker Schafswolle gekleidet gesehen, doch genau das war es, was sich seinem Blick jetzt darbot. Wenn er sich nicht täuschte, dann ertrank gerade jemand – ein Junge, wie es von hier aussah – in dem See.

Iain pfiff nach seinem Hund und eilte die Stufen des Turms von Ceo Castle hinunter. Eigentlich stieg er nie bis zum Rundgang hoch. Eigentlich setzte er nicht einmal einen Fuß in die Ruine. Aber der Sonnenschein war heute so schön gewesen und hatte ihn nach einem frühen herbstlichen Schneesturm gelockt, dass er nicht einmal die Zeit gehabt hatte, es sich anders zu überlegen.

Jetzt bereute er seine Voreiligkeit.

„Hollyhock, du dummer Hund! Wo, zum Teufel, steckst du schon wieder?“

Kein Bellen folgte als Antwort. Hollyhock – sicherlich weder Iains Wahl eines Namens für ein Haustier noch seine Wahl eines Haustieres – war mal wieder verschwunden. Was überhaupt Hollyhocks einziges Talent war. In den Monaten, seit man Iain den Welpen aufgedrängt hatte, musste der Hund vom Rand einer Klippe gerettet, aus dem nahen Sumpf gezogen und vor der Kühlerhaube eines viel zu schnell fahrenden Austin Healey weggerissen werden. Scheinbar besaß Hollyhock ebenso viele Leben wie eine Katze, leider mangelte es ihm sowohl an der Schläue als auch an der Vorsicht, die Katzen zu eigen war.

Die Wendeltreppe im Turm war gefährlich; jahrhundertelang hatten Soldatenstiefel die Steine abgewetzt und in eine spiegelglatte Oberfläche verwandelt. Iain nahm die Stufen, so schnell er es wagte. Doch es gab nur wenige Möglichkeiten, um sich festzuhalten, und ein falscher Schritt könnte eine Katastrophe bedeuten. Es schien, als würden endlose Minuten vergehen und er kaum weiterkommen, doch endlich hatte er den untersten Absatz erreicht und spurtete los zum See.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie der Junge ins Wasser gefallen sein sollte, aber eine andere Erklärung gab es nicht. Niemand ging in Loch Ceo schwimmen, nicht einmal am heißesten Sommertag. In dem eisigen Wasser würden sich nur Pinguine wohlfühlen, Menschen auf gar keinen Fall. Hin und wieder versuchte ein unbedarfter Tourist sich an einem Kopfsprung und bereute es dann für den Rest seines Lebens – wenn er denn überlebte. Jetzt, im Herbst, war die Wassertemperatur noch um einige Grade gesunken.

Und dann war da ja auch immer noch das Ungeheuer zu bedenken.

Vom Schloss bis zum See war es nicht weit, doch Bäume umstanden das gesamte Ufer. Früher, als das Schloss noch bewohnt gewesen war, hatte es hier nie Bäume gegeben, doch jetzt musste Iain sich seinen Weg durch dichtes Geäst und über abgestorbene Baumstümpfe suchen, was sein Tempo verlangsamte. Er konnte das dunkelblaue Wasser durch die herbstlich belaubten Bäume blitzen sehen, doch er wusste, er kam nicht schnell genug voran. In einem kalten See konnte ein schmaler Junge wie der, den er gesehen hatte, innerhalb von wenigen Minuten ertrinken.

Endlich hatte er das Ufer erreicht. Hier an dieser Stelle fiel es gute drei Meter steil ab. Weiter unten gab es einen kleinen Sandstrand, von dem aus man ins Wasser waten konnte, doch dafür blieb keine Zeit. Die Augen mit einer Hand beschattet, ließ Iain den Blick über den See schweifen. Es war nichts zu sehen, nichts unterbrach die glatte Wasseroberfläche, nicht die kleinste Welle. Und dann tauchte ein Kopf auf, mit kurzem dunklen Haar, das sich krass von einem weißen Gesicht abhob, so weiß, wie Iain es noch nie gesehen hatte. Er sah angstvoll aufgerissene Augen und Lippen, die sich lautlos bewegten. Und dann hechtete Iain mit einem Kopfsprung ebenfalls ins Wasser.

Billie Harper wusste nicht, wo der Hund jetzt war, aber ehrlich gesagt, es machte ihr immer weniger aus. Denn wenn sie innerhalb der nächsten Sekunden nicht selbst aus dem See herauskam, würde sie sterben.

Was dem Hund dann auch nichts mehr helfen würde.

Billie dachte, sie wüsste, was kaltes Wasser ist. Da hatte es einen eiskalten Tümpel gegeben, gar nicht weit entfernt von dem großen Wohnwagen im ländlichen Florida, wo sie aufgewachsen war. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie das kalte Wasser in die Haut stach und wie einem als Kind die Luft wegblieb. Aber sie erinnerte sich auch daran, dass man dann irgendwann wieder atmen konnte. Jetzt allerdings glaubte sie nicht, dass ihre Lungen je wieder Luft würden aufnehmen können.

Ihr schien, dass sie seit Stunden versuchte, ans Ufer zurückzukommen. Sie konnte auch nicht sagen, wie sie so weit auf den See hinausgetrieben war. Sie hatte einen Hund verzweifelt im Wasser paddeln sehen und war hineingesprungen, um dem Tier zu Hilfe zu kommen. Der typische Billie-Harper-Impuls. Sie war untergetaucht, bevor sie noch richtig hatte Luft holen können, und jetzt, ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengte, schien sie nicht mehr an ihren Ausgangspunkt zurückgelangen zu können.

Der Teil ihres Verstandes, der noch arbeitete, war erstaunt über den anderen Teil, der die Funktionen eingestellt hatte. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, und selbst die Panik, die sie mit der Wucht einer Kanonenkugel getroffen hatte, schwand mehr und mehr. Natürlich kämpfte sie noch, aber sie war lange nicht mehr so entschlossen zu gewinnen. Vermutlich gab es schlimmere Schicksale für die Tochter eines Altwarenhändlers ohne Bankkonto, als in einem See in den schottischen Highlands ihr Ende zu finden, nur einen Steinwurf entfernt von der Ruine eines mittelalterlichen Schlosses. Selbst in ihren Kinderträumereien war ihr nie ein besseres Ende eingefallen.

Hoffentlich fand das Eingang in ihren Nachruf.

Doch das war nicht ihr letzter Gedanke. Während ihr Verstand sich mehr und mehr verdunkelte, meinte sie, Wasser aufspritzen zu hören. Vielleicht waren es ja nur ihre eigenen Arme, mit denen sie hilflos herumwedelte. Sie wusste es wirklich nicht. Alles kam langsam zum Stillstand. Ihr Geist, ihr Wille, selbst das Schlagen ihres Herzens. Das Wasser umschmeichelte sie sanft, wie ein Freund. Es wäre ein Leichtes, jetzt einfach aufzugeben, nur … sie war nun mal eine Kämpfernatur. Sie liebte es einfach zu kämpfen. Bis zum letzten Jahr hatte es eigentlich wenig im Leben gegeben, das sie nicht geliebt hatte.

Also wedelte sie noch einmal mit den Armen, und dieses Mal traf sie auf etwas Festes. Einen Moment lang flammte wilde Hoffnung in ihr auf. Vielleicht hatte sie ja das Ufer erreicht und war mit dem Arm gegen einen Baumstamm oder einen Felsen geschlagen. Doch ein letzter Blick sagte ihr, dass sie dafür viel zu weit vom Ufer entfernt war.

So fragte sie sich, ob das Ungeheuer sie vielleicht gefunden hatte. Falls ja, würde sich das noch viel besser im Nachruf machen. Ein letztes Mal hob sie die Arme, dann ergab sie sich mit einem Seufzer.

Eine Frau.

Es war Iain in dem Moment klar geworden, als er die Arme um den Ertrinkenden schlang. Doch es blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er hatte von Anfang an gewusst, dass ihm nur Minuten blieben, falls überhaupt, um eine Rettungsaktion erfolgreich zu vollenden. Er musste ins Wasser, sich den Jungen schnappen und ihn sofort aus dem Wasser ziehen. Doch beim ersten Aufschlag ins Wasser hatte er wertvolle Augenblicke verschwendet, weil er sich schlicht nicht hatte bewegen können.

Dennoch hatte er sich bewegt. Nachdem der erste Schock abgeklungen war, hatte er jeden Gedanken aus seinem Kopf verbannt und war auf die Stelle zugeschwommen, wo der Junge sein musste. Da gab es kleine Ringe, und ab und zu hob sich auch ein Arm. Er war gerade rechtzeitig dort angekommen und hatte den Jungen gepackt, bevor er unterging.

Nur … der Junge war gar kein Junge.

In seinem ganzen Leben war Iain noch nie so kalt gewesen. Er sah zu dem Körper am Ufer hinüber, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, von der aus er ins Wasser gesprungen war, und ihm wurde klar, dass er eine erwachsene Frau gerettet hatte. Sie war schlank und ihr Haar kürzer als seines, aber sie war zweifelsohne eine Frau. Ihr Busen zeichnete sich unter der nassen Wolle ab, er hatte die weichen Rundungen auch an seinem Arm gespürt, und sie hatte die längsten Wimpern, die ihm je untergekommen waren.

Auch die blasseste Haut.

Das machte die Vorstellung einer notwendigen Mund-zu-Mund-Beatmung nicht eben leichter, zumal er selbst noch um jeden Atemzug rang. Er kniete sich neben sie und drehte sie auf die Seite. Fest drückte er seinen Handballen rhythmisch in ihren Rücken, zweimal, dann noch einmal. Sie hustete und gab einen schwachen Laut von sich, doch ihre Brust hob und senkte sich nicht, wie sie sollte.

Er debattierte nur kurz mit sich, drehte sie wieder zurück und legte seine Hand an ihren Nacken, sodass ihr Kopf zurückfiel. Dann hielt er ihr mit den Fingern der anderen Hand die Nase zu, holte tief Luft und drückte seinen Mund auf ihre Lippen.

Auch wenn ihm die Kälte im Mark saß … sie fühlte sich wie Eis an seinen Lippen an. Während er Luft in ihre Lungen pumpte, hatte er den Eindruck von Haut und Lippen, die weich und cremig waren wie Hochlandbutter. Er hob den Kopf und beobachtete ihre Brust. Er sah die Spitzen ihrer Brüste, die sich von der Kälte zusammengezogen hatten und gegen die nasse Wolle drückten, aber eine Bewegung war nicht zu erkennen. Er beatmete sie noch einmal, und als er dieses Mal auf ihre Brust starrte, ließ sich ein schwaches Heben und Senken ausmachen. Stumm zählte er mit, auch um die eigenen Ängste zu beruhigen. Sekunden vergingen, und ihre Brust hob sich wieder, dieses Mal von allein. Die Frau hustete zweimal und schnappte nach Luft.

Zufrieden verfolgte er mit, wie sie um Atem rang und Wasser spuckte. Aber er konnte es sich nicht erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Das Wasser, das sie eingeatmet hatte, war jetzt nicht mehr die größte Gefahr für sie, nun stand Unterkühlung an erster Stelle.

Iain fiel nichts Besseres ein, als sie den schmalen Pfad zurück nach Fearnshader, seinem Zuhause, zu tragen. Sonst war ja niemand hier, der Hilfe leisten konnte, keiner, der sie in die kleine Klinik in Druidheachd bringen konnte. Wenn er die Hauptstraße nahm, hatte er vielleicht Glück, und jemand würde vorbeifahren und sie mitnehmen, doch große Hoffnungen machte er sich nicht. Das Glück hatte ihn schon häufiger links liegen lassen.

Er zitterte. Vermutlich war das ein gutes Zeichen. Sein Körper kämpfte zumindest ums Überleben. Ihr Körper … das war eine ganz andere Sache. Zwar atmete sie jetzt regelmäßig, aber dennoch lag sie reglos da wie ein Stück Treibholz.

Der nächste Schauer überkam ihn, dann noch einer. Bis er seine Arme unter ihren Rücken und ihre Beine geschoben hatte, bebte er am ganzen Leib, so stark, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er überhaupt aufstehen konnte. Doch er schaffte es. Sie bestand praktisch nur aus Haut und Knochen, da gab es kein Gramm Fett als Schutz gegen die Kälte, dennoch war sie eine erwachsene Frau und damit entsprechend schwer, erst recht mit den nassen Sachen am Leib. Er konnte sich kaum noch erinnern, wie es war, sich so schwach zu fühlen. Eine alte Angst, die er lange in sich verschlossen hatte, kroch plötzlich näher heran.

Irgendwo zwischen den Bäumen bellte ein Hund. Iain pfiff, doch es war ein kläglicher Versuch. Der Hund bellte weiter.

„Hollyhock!“

Ein struppiger Mischling mit lebhaften Augen brach durch das Unterholz und bremste nur Zentimeter vor Iain ab, um sich ausgiebig zu schütteln und Iain und dessen Last mit Wassertropfen zu besprühen.

Iain wurde jäh klar, warum die Frau schwimmen gegangen sein musste. „Du bist ein richtiges kleines Ekel und noch dazu eine tödliche Gefahr für jeden! Ab nach Hause, Hollyhock!“

Keineswegs geknickt, jagte der Hund über den Pfad davon, der sie nach Hause bringen würde, während Iain ihm nachstolperte.

Für ein so großes Anwesen gab es relativ wenige Hausangestellte auf Fearnshader. Im Moment wünschte Iain sich jedoch, er hätte weniger Wert auf Abgeschiedenheit als auf Unterstützung gelegt. Es gab Passagen während des fünfzehnminütigen Wegs, da er sich ernsthaft fragte, ob er durchhalten würde.

Doch er hielt durch. Er war nur ab und zu lange genug stehen geblieben, um einen prüfenden Blick auf die Frau zu werfen und sich zu versichern, dass sie noch atmete. Sie hatte sich kein einziges Mal gerührt, auch keinen Laut von sich gegeben. Als er die Haustür aufschob und in die große Halle von Fearnshader trat, lag die Fremde noch genauso leblos in seinen Armen wie zuvor am See.

„Ist jemand da?“, rief er laut.

Er rechnete nicht wirklich mit einer Antwort. Mittwochnachmittags hatte das Personal frei. Selbst seine Haushälterin, die über solch Schlendrian und Untreue immer entrüstet schnaubte, war dieses Mal in Glasgow bei ihrer Schwester. Als niemand sich meldete, nahm Iain sich immerhin Zeit für einen deftigen Fluch.

Er musste die Frau schnellstmöglich aufwärmen. Für einen Anruf beim Doktor war keine Zeit. Er würde sie wieder ins Wasser setzen. Dieses Mal jedoch warmes Wasser, das ihren ganzen Körper bedeckte, ihre Temperatur in die Höhe trieb und die Blutzirkulation normalisierte.

Das nächste Badezimmer lag nicht weit von der Treppe in der oberen Etage. Iain sah die Stufen hinauf. Er hatte es nur mit Anstrengung bis hierher geschafft, und noch immer zitterte er vor Kälte. Selbst das Laufen mit dem zusätzlichen Gewicht hatte ihn nicht aufgewärmt. Die Treppe wand und drehte sich, und einen Moment lang fragte er sich, ob er es bis nach oben schaffen konnte. Aber es blieb ihm wohl keine große Wahl.

Oben auf dem Absatz schwankte er und wusste, er hatte sich bis zum Letzten verausgabt. Das Desaster vor Augen, fiel ihm eine Szene aus einem alten amerikanischen Spielfilm ein, den eine ehemalige Freundin ihn gezwungen hatte, sich mit ihr anzuschauen. Penelope hatte sich als eine zweite Scarlett O’Hara gefallen, aber jetzt hatte Iain den Beweis, dass die Rolle des Rhett Butler keineswegs auf ihn passte. Butler hatte seine Lady beschwingt für eine leidenschaftliche Nacht nach oben ins Schlafzimmer getragen, Iain dagegen wankte und taumelte und kämpfte darum, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Zudem hatte er nichts als eine Badewanne mit heißem Wasser im Sinn.

Mit den letzten Kraftreserven stolperte er vorwärts.

Im Bad setzte er seine Last direkt in der Wanne ab. Aus Erfahrung wusste er, dass es Minuten dauerte, bevor heißes Wasser aus dem Hahn kam, und er verfluchte die britischen Sanitärinstallationen. In einer Ecke stand ein kleines Heizgebläse, angeschaltet allein, wenn Gäste zu Besuch kamen. Nur wenige Schotten würden so etwas überhaupt erwarten oder gar nutzen. Jetzt jedoch drehte Iain den Lüfter auf die höchste Stufe und schloss die Tür, um die Hitze im Raum zu halten.

Die Lippen der Frau waren blau, ihre Haut schimmerte fast in der gleichen Farbe. Im Raum mochte es vielleicht schnell warm werden, doch die nassen Kleider legten sich wie eine eisige Hülle um ihren Körper.

Er dachte nicht lange nach, zog sie zu sich heran, schob ihren Pullover an ihrem Rücken hoch und stülpte ihn ihr über den Kopf. Dann ließ er sie wieder gegen den Wannenrand sinken und wiederholte das Ganze an ihrer Vorderseite. Wenig später war sie von der Taille aufwärts nackt, und ein Haufen eisig-nasser Wolle lag auf dem Boden neben der Wanne. Ihre Jeans war da schon ein größeres Problem. Trotz der fast tauben Finger schaffte Iain es, den Reißverschluss herunterzuziehen, doch der nasse schwere Jeansstoff klebte ihr an den schmalen Hüften und Schenkeln.

Iain kämpfte weiter und hoffte inständig, dass sie nicht das Bewusstsein wiedererlangte, während er sie auszog. Er konnte sich ihre Panik bestens ausmalen. Vermutlich würde er auch nicht viel zu seiner Verteidigung vorbringen können, bevor sie ihm das Schlimmste unterstellte. Mit einem leisen Fluch zerrte und ruckte er den Stoff tiefer. Bis er sich ihre Reaktion vorgestellt hatte, hatte er nicht unbedingt daran gedacht, was er hier freilegen würde. Jetzt allerdings nahm er die perfekten kleinen Brüste und die schmale Wespentaille wahr.

Er löste die Schnürsenkel ihrer soliden Wanderstiefel und zog ihr die Schuhe aus, warf sie achtlos hinter sich. Die dicken wollenen Socken folgten und dann endlich auch die Jeans. Die Beine waren ebenso wohlgeformt wie der Rest von ihr.

Dann endlich drehte Iain den Hahn auf, doch der Strahl, der aus der Öffnung lief, war fast ebenso kalt wie die Wasser des Sees.

Iain merkte, dass er an seine Grenzen stieß. Sie war eiskalt, er auch, und das verdammte Badezimmer war noch immer alles andere als warm. Sein Blick schwang zum Duschkopf – die moderne Dusche hatte einen eigenen Durchlauferhitzer. Nur konnte er die Frau schlecht unter einen heißen Wasserstrahl legen, wenn sie bewusstlos war.

Aber er konnte sich mit ihr hinstellen und sie aufrecht halten, und dann würde das Wasser sie beide aufwärmen.

Er kickte die Schuhe von den Füßen und stieg in die Wanne. Mit letzter Kraft hob er die Frau unter den Achseln hoch und stützte sie mit seinem eigenen Körper. Sekunden später umspülte sie warmes, weiches Wasser.

Sie stand in Flammen. Zumindest schien es Billie so. Wirklich überzeugt davon war sie jedoch nicht, denn noch nie im Leben war ihr so kalt gewesen. Während Feuer an ihrer Haut leckte, bebte sie innerlich vor Kälte.

Etwas arbeitete sich in ihrer Kehle empor, ein Laut, fremd und erniedrigend. Sie stöhnte – und schämte sich sofort dafür.

„Ist schon in Ordnung“, sagte da eine Stimme. „Sie sind in Sicherheit.“ Eine Pause. „Auch wenn es Ihnen im Moment vielleicht nicht so vorkommen mag.“

Billie wusste nicht, was sie mit dieser Stimme anfangen sollte. Manchmal, als Kind, da hatte sie so tief geschlafen, dass es nach dem Aufwachen lange Sekunden gedauert hatte, bis sie sich daran erinnerte, wer und wo sie war. Jetzt erging es ihr ähnlich.

Sie war allerdings sicher, dass sie kein Kind mehr war.

 Schritt für Schritt kehrte das Leben in sie zurück. Sie hatte eine Stimme gehört, auch wenn sie nicht verstanden hatte, was diese Stimme sagte. Und ihr war, als würde Feuer jedes einzelne Nervenende in ihr verbrennen. Jetzt erkannte sie das monotone Geräusch auch als Wasserrauschen und spürte das Prasseln der Tropfen auf ihrer Haut. Zudem fühlte sie noch etwas anderes.

Die Arme eines Mannes.

Es kostete sie Mühe, sich zu erinnern, wie man die Augen öffnete, und dann dauerte es noch einmal, bevor sie dieses Wissen umsetzte. Als es ihr schließlich gelang, sah sie nur Weiß. Sie versuchte, auszumachen, was es sein konnte.

Die Stimme sprach wieder. „Sie sind in den See gehüpft. Ich habe Sie herausgezogen und hierher gebracht. Ihre Körpertemperatur war gefährlich abgesunken. Es tut mir leid, aber es war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, wie ich Sie schnell wieder aufwärmen könnte.“

Die Stimme vibrierte an ihrer Wange, eine Stimme mit einem melodischen Akzent. Und dann wusste sie plötzlich, auf was sie da schaute – auf einen Pullover, der sich über einer männlichen Brust spannte. Billie hob den Kopf an und hatte dabei das Gefühl, noch nie eine größere Kraftanstrengung unternommen zu haben. Eine Schulter kam in Sicht. Schwindel überfiel sie, sie wäre zusammengesackt, hätte der Mann sie nicht gehalten. Sie brachte nur ein Wort heraus, und das auch nur mit Mühe.

„Was?“

„Sie waren dabei zu ertrinken. Ich habe Sie gerettet, und jetzt wärme ich Sie auf.“

„Oh.“ Bruchstückhaft kehrten einzelne Erinnerungen zurück. Wie sie eine Straße entlanggelaufen war. Sie war in Schottland. Ein Bild, das die Verbindung zwischen den einzelnen Gedächtnisteilen einrasten ließ. Sie hatte die Gegend erkundet und dabei etwas gesehen … „Da war ein Hund.“

„Meiner, fürchte ich. Ihm geht es prächtig. Er ist von allein aus dem See herausgekommen.“

Das freute sie. Doch, ehrlich. Allerdings, wenn sie jetzt zurückdachte … das Tier war ziemlich hässlich gewesen. Trotzdem war sie ihm zu Hilfe geeilt. Dumm. Extrem dumm.

„Ich habe Sie nach Hause getragen. Sie sind in meinem Haus. Ich wusste nicht, wie ich Sie sonst am schnellsten hätte aufwärmen können. Deshalb habe ich Sie unter die heiße Dusche gestellt. Da Sie allerdings nicht selbst stehen konnten, musste ich Sie aufrecht halten.“

Das hörte sich doch alles sehr vernünftig und nüchtern an. Die Briten waren ja auch ein nüchternes Volk, und die Schotten sowieso. So ganz und gar nicht wie ihre amerikanischen Verwandten, die in eiskalte Seen sprangen, um Hunde zu retten.

„Hören Sie, regen Sie sich nicht auf, aber ich musste Sie … ausziehen.“

Sie vernahm die Stimme des Mannes diesmal schon klarer, doch sie brauchte immer noch lange, um den Sinn seiner Worte auszumachen. Also verarbeitete sie langsam eine Silbe nach der anderen. Und dann verstand sie. Sie stand in einer fremden Dusche und wurde an die breite Brust eines Unbekannten mit einem kultivierten schottischen Akzent gehalten.

Und sie war splitterfasernackt.

Sie hob den Kopf höher, jetzt, da der Schwindel sich wieder gelegt hatte. Und starrte in die blausten Augen, die sie je gesehen hatte, und in ein Gesicht, bei dem sie normalerweise nach Luft geschnappt hätte, würden ihre Lungen nicht noch immer bei jedem Atemzug verbrennen. „Ich bin nackt?“

Seine Miene drückte Bedauern aus, seinen Augen jedoch gelang das nicht ganz. „Nun, Sie tragen noch Ihre Unterwäsche. Und ich bin vollständig angezogen, was Ihnen beweisen sollte, dass ich keinerlei unehrenhafte Absichten habe.“

Billie brachte nicht einmal eine Unze Empörung auf. Stattdessen begann sie zu lachen, leise zuerst, dann immer lauter. Es sprudelte einfach aus ihr heraus, ließ sich nicht aufhalten, auch wenn sie sich ermahnte, sich zusammenzunehmen.

„Schh …“ Hysterie war wohl eine zu erwartende Reaktion. Iain versuchte, sie zu beruhigen, indem er ihr über den Rücken strich, bis ihm klar wurde, was er da tat und wie sein Körper darauf reagierte.

Sofort hörte er auf damit. „Sie kommen wieder in Ordnung. Sobald die Wanne voll ist, werde ich diesen Raum verlassen, und Sie nehmen in aller Ruhe ein heißes Bad. Wenn Sie sich wieder aufgewärmt haben, werde ich Ihnen etwas zum Anziehen heraussuchen, und dann fahre ich Sie zur Klinik.“

„Welchen Sinn hat es denn noch, wenn Sie sich umdrehen?“ Sie stieß die Worte zwischen Kichern und schmerzhaftem Prusten aus. „Sie haben doch schon alles gesehen, was es zu sehen gibt. Nicht, dass es überwältigend viel wäre.“

„Ich fürchte, das verbessert die Situation als solche nicht unbedingt.“

„Möglich. Aber immerhin kann kein Zweifel daran bestehen, dass ich noch lebe.“

„Nein, das sicher nicht.“ Iain konnte ihr Zittern der Länge nach an seinem Leib spüren. Es glich der Reaktion einer Frau, kurz bevor sie sich in sinnlicher Ekstase verlor, und sein eigener Körper schien den Unterschied nicht erkennen zu können. Er hielt sie ein wenig von sich ab. Das Wasser stieg an seinen Waden hoch, es müsste jetzt tief genug sein, um sie zu bedecken. „Kommen Sie, setzen wir Sie hin. Ich helfe Ihnen. Sie sind immer noch schwach.“

Billie ernüchterte zusehends und unterdrückte einen Schluchzer. Ja, sie war schwach. Um genau zu sein, sie fühlte sich wie der sprichwörtliche Schluck Wasser in der Kurve. „Grundgütiger, ich wäre fast umgekommen.“

„Aye. Das wären Sie.“

„Und Sie haben mich gerettet.“

„Das Mindeste, was ich tun konnte, wenn man bedenkt, dass Sie meinen Hund retten wollten. Doch beim nächsten Mal würde ich es vorziehen, wenn Sie warteten, bis er wenigstens dreimal untergegangen ist.“

„Sie müssen doch auch frieren.“ Sie beugte sich ein wenig zurück und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sie sind noch immer angezogen.“

Er bräuchte nur ihren Blick nachzuahmen, um sich noch einmal an der Augenweide, die er freigelegt hatte, erfreuen zu können. Er tat es nicht. „Es war besser so, meinen Sie nicht auch?“

„Wieso? Stehen Sie auf knochig?“

Das, was sich in seinem Innern rührte, kam nicht zur Ruhe. Er hielt den Blick fest auf ihr Gesicht geheftet, weil er sich nur allzu gut daran erinnerte, wie der Rest von ihr aussah. „Kommen Sie, sehen wir zu, dass wir Sie ins heiße Wasser bekommen.“

Sie lächelte. „Ich denke, so viel schaffe ich schon allein. Kümmern Sie sich erst einmal um sich selbst.“

Er war völlig verdattert. Selbst wenn man in Betracht zog, was sie soeben durchgemacht hatte, war ihr Gesicht eher durchschnittlich. Doch wenn sie lächelte …

Als er nicht reagierte, fuhr sie fort: „Hören Sie, ich bin in Ordnung. Bald zumindest.“ Und dann fügte sie murmelnd hinzu: „Auch wenn das meinen Nachruf komplett ruiniert.“

Iain wurde klar, dass sie Amerikanerin war, dem Akzent nach zu urteilen aus den Südstaaten. Er hatte zu sehr auf andere Dinge geachtet, als dass es ihm bisher aufgefallen wäre. Langsam löste er die Arme von ihr, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. Er wollte sehen, ob sie allein stehen konnte.

Als sie nicht zusammensackte, kaschierte er seinen Rückzug aus der Badewanne mit höflicher Konversation und stellte die Dusche ab. „Tut mir leid, dass das passiert ist. Wir in den Highlands sind berühmt für unsere Gastfreundschaft. Normalerweise zeigen wir unseren Gästen gegenüber mehr Rücksicht und Takt.“

Billie setzte sich in die Wanne, besser gesagt, sie tat nichts dagegen, dass sie hineinsank. Das Wasser schwappte um sie, und sie rutschte weiter nach unten, bis es sie völlig bedeckte. Sie zog den Vorhang zu, was eigentlich nur noch eine Formalität war. Durch den Spalt konnte sie sehen, wie ihr Retter das Bad unter Wasser setzte, weil es aus seinen tropfnassen Sachen strömte. Er griff nach einem Handtuch, den Rücken ihr zugekehrt. Ganz offensichtlich war sie von einer seltenen Spezies gerettet worden – einem Gentleman.

„Der Ausdruck Gast trifft es wohl“, hob sie an. „Obwohl die Familie meiner Mutter aus Druidheachd stammt. Beziehungsweise vor über hundert Jahren stammte.“

„Tatsächlich?“

Billie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so müde gefühlt zu haben. Die Worte kamen nur noch schleppend über ihre Lippen. „Sie war eine MacFarlane, von den Druidheachd MacFarlanes. Wohl eine der letzten. Soviel ich weiß, soll es hier keine mehr von ihnen geben. Ist das richtig?“

Lange blieb es still. Billie glaubte schon, sie sei eingeschlafen und hätte seine Antwort nicht gehört. Doch dann erklang seine Stimme von der anderen Seite des Vorhangs.

„Durchaus. Und das ist auch gut so. Im Mittelalter hat Ihre Familie die meine mit einem Fluch belegt. Und seit achthundert Jahren müssen wir nunmehr damit leben.“

2. KAPITEL

Das Badezimmer war nicht besonders aufschlussreich. Was die sanitären Installationen anging, so vermutete Billie, dass ihr Retter in einem alten Haus lebte. Doch woher wusste sie schon, was in Druidheachd als alt und was als neu bezeichnet wurde? Auf ihren Streifzügen durchs Dorf hatte man ihr ein hundert Jahre altes Haus, vollkommen mit Efeu und Moos überwachsen, als „das neue Cottage am Ende der High Street“ beschrieben.

Ein vorsichtiger Ausflug auf unsicheren Beinen auf den Korridor machte ihr jedoch klar, dass sie nicht schlicht irgendwo gelandet war. Eingewickelt in einen flauschigen Frotteebademantel – einer der Luxusklasse –, stand sie bei der Tür und sah sich um.

Sie befand sich entweder in Draculas Schloss oder in der Villa der Addams-Familie. Zumindest in der schottischen Version davon.

„Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen warten.“

Sie wandte den Kopf und sah ihren Retter auf sich zukommen. Auf den Armen trug er ein Bündel Kleider. Einen Moment lang konnte sie ihn nur anstarren. Das war also der Mann, der sie nackt an seiner Brust gehalten hatte. Das war der Mann, der sein Leben für sie riskiert hatte. Heathcliff, zum Leben erwacht. Aber dieser Mann ließ in all ihren Jungmädchenfantasien über eine Liebesgeschichte im Stile von Wuthering Heights den erheblichen Mangel an Kreativität und Dramaturgie deutlich werden.

Sie erholte sich so weit von ihrer Überraschung, dass sie murmeln konnte: „Wo, zum Teufel, bin ich? Bin ich etwa bis zum Buckinghampalast abgetrieben?“

„Nein, das nicht.“ Iain blieb vor ihr stehen. „Sie sind noch immer viel zu blass.“

„Und ich zittere auch noch immer“, ergänzte sie. „Aber ich stehe auf meinen eigenen zwei Beinen, und ich bin vollständig bedeckt, ganz so, wie ich es vorziehe.“

Etwas glitzerte in seinen blauen Augen auf. Sie konnte nicht anders, sie lächelte. Er erwiderte das Lächeln nicht. „Sie haben einen bösen Schock erlebt, Miss …“

„Harper. Billie Harper.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

Das Zögern war so flüchtig, dass sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Er schüttelte kurz ihre Hand. In dem Handschlag lagen Stärke und Zurückhaltung. „Ich heiße Iain Ross.“

„Iain Ross, es ist mehr als nur angenehm, Sie kennenzulernen. Man könnte fast sagen, ich hätte mein Leben dafür gegeben, Sie kennenzulernen. Aber das kommt der Wahrheit wohl ein wenig zu nahe, nicht wahr?“ Sie schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln. „Und das hier ist Ihr …“, „Haus“ schien ihr unter den gegebenen Umständen unangebracht, „… Heim?“

„Sagen Sie einfach Fearnshader.“

Billie lehnte sich an die Wand. Ihre Beine benahmen sich seltsam. Um genau zu sein, alles an ihrem Körper verhielt sich seltsam. Eigentlich war sie die inkarnierte Widerstandskraft, aber selbst sie konnte nicht ignorieren, dass sie Auge in Auge mit dem Tod gestanden hatte. „Ich glaube, ich sollte mich besser setzen“, murmelte sie.

„Auf der anderen Seite des Flurs ist ein Gästezimmer. Dort können Sie sich anziehen und sich ausruhen. Ich habe in der Klinik angerufen. Dr. Sutherland wird in Kürze hier sein. Er hielt es für besser, Sie noch nicht zu transportieren.“

„Es tut mir leid, dass ich so viele Umstände mache.“

Seine Augen funkelten heller. „Was man sich so erzählt, haben die MacFarlanes immer Unruhe gestiftet.“

„Das können Sie laut sagen. Meine Mutter behauptet, es gibt keine Familie, die mehr Probleme schafft. Außer vielleicht die Harpers.“ Sie stieß sich von der Wand ab und wankte gefährlich. Sofort schlang er seinen Arm um ihre Hüfte, um sie zu stützen. „Ich denke, das schaffe ich auch allein.“

„Und ich denke, Sie schaffen es nicht allein.“

„Und Sie sind ein Mann, der keinen Widerspruch duldet?“ Sie riskierte ein weiteres Lächeln.

Doch er schien immun dagegen zu sein, hob nur eine Augenbraue. „Es geschieht nicht oft, dass jemand sich bewogen fühlt, es zu versuchen.“

„Vorsicht. Für eine Herausforderung bin ich immer zu haben.“ Dennoch lehnte sie sich dankbar an ihn. Sie war daran gewöhnt, dass ihr Körper ihr gehorchte. Heute schienen ihre Beine jedoch einen eigenen Willen zu haben.

Er fühlte sich so warm an, stark und definitiv männlich. Sie war normal groß – es hatte nie etwas Außergewöhnliches an ihr gegeben –, und er überragte sie um mehr als einen Kopf. Mit den schwarzen byronesken Locken aus der Stirn gekämmt und den aristokratischen Gesichtszügen war er ein Mann, bei dem man leicht ins Schwärmen geraten konnte. Obwohl … in ihrem Zustand hätte sie wohl für jeden geschwärmt. Schwäche schien heute bei ihr als Spezialität des Tages auf der Karte zu stehen.

„Wie groß ist dieses Anwesen hier eigentlich?“, fragte sie. „Wie haben Sie es noch genannt?“

„Fearnshader. Es ist riesig.“

„Fearnshader.“ Sie bemühte sich, den Namen so auszusprechen, wie er es getan hatte. Sein Akzent war kaum wahrnehmbar, eher englisch als schottisch, doch das rollende R und der musikalische Singsang waren eindeutig vorhanden. „Es gefällt mir. Hat der Name eine Bedeutung?“

„Erlenhain. Westlich von hier liegt einer.“

„Ich mag es, wie ihr hier euren Häusern Namen gebt. Mein Vater hatte unserem Heim auch einen Namen gegeben – Blechbüchsen-Anwesen.“

„Das sollte vermutlich ein Scherz sein?“

„Und ob. Ein Anwesen war es auf jeden Fall nicht.“ Sie ließ sich von ihm über die Schwelle in das Zimmer helfen, das er erwähnt hatte. Der Atem stockte ihr. Es war ein großer Raum mit hohen Fenstern aus Rautenscheiben, die auf einen Garten hinausgingen, der, obwohl ein wenig verwahrlost, immer noch unglaublich war.

„Oh, wie hübsch! Wie absolut schön!“

„Sehen wir zu, dass wir Sie ins Bett kriegen.“

„Diesen Satz höre ich ständig von den Männern.“

Ein rauer Laut kam über seine Lippen. Sie sah zu ihm hin und stellte fest, dass er sich angestrengt bemühte, nicht zu lachen. Sie strahlte ihn an, wenn auch müde. „Das Leben ist viel zu kurz, um so etwas ernst zu nehmen.“

„Haben Sie das heute herausgefunden?“

Ihr Lächeln schwand, als er sie auf das Bett zuführte. „Nein, heute hätte ich es fast bewiesen.“

„Ja, fast.“

„Habe ich mich eigentlich schon bedankt?“

„Auf die verschiedensten Arten.“

„Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Wenn Sie nicht in den See gesprungen wären, um mich zu retten, dann wäre ich sang- und klanglos untergegangen. Aber das hier ist viel besser.“ Sie legte sich auf das Bett. „Ich bin Ihnen was schuldig. Eine ganze Menge.“

Er trat zurück. „Brauchen Sie noch etwas? Ich setze den Wasserkessel auf und komme bald mit einer Tasse Tee für Sie zurück.“

„Das Wunderheilmittel. Sie würden meine Mutter mögen. Sie hat uns auch immer Tee gegeben, bei jedem Wehwehchen.“ Sie sah ihm nach, wie er zur Tür ging. „Ich weiß, was ich für Sie tun kann, Iain.“

Er drehte sich zu ihr um. „So?“

„Sicher. Wenn die MacFarlanes einen Fluch über Ihre Familie gelegt haben, dann müsste eine MacFarlane – oder wenigstens ein Faksimile – den Fluch doch auch wieder aufheben können. Sagen Sie mir, welche Beschwörungsformel ich aufsagen muss, und ich tue es.“

Er lächelte nicht einmal. „Ich fürchte, da werden mehr als nur ein oder zwei Worte notwendig sein.“ Er schüttelte den Kopf. „… und auch der König mit seinem Heer, rettete Humpty Dumpty nicht mehr.“

„Oh, es tut mir leid.“ Sie war erschüttert über den leeren Ausdruck in seinen Augen. Sie hatte ihn necken wollen, hatte auf ein Lächeln gehofft, stattdessen huschte ein Anflug von Trauer über sein Gesicht. „Es tut mir ehrlich leid. Mir war nicht bewusst …“

Der Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Was war Ihnen nicht bewusst?“

Was sollte sie jetzt sagen? Dass sie niemals vermutet hätte, ein erwachsener Mann würde an etwas so Absurdes wie einen Fluch glauben? „Mir war nicht bewusst, wie lange ich Sie schon aufgehalten habe, wenn Sie doch genauso erschöpft sein müssen“, erwiderte sie dumpf. „Vergessen Sie den Tee. Ich ruhe mich einfach nur aus und warte, bis der Doktor kommt. Sie gehen und kümmern sich um sich selbst.“

„Darin bin ich Meister.“

Sie zog eine Grimasse. „Bis heute hielt ich mich auch dafür.“

Was genau hatte er getan?

Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete Iain darauf, dass der Tee durchzog. Das Haus war ihm noch nie so ruhig vorgekommen. Doch nach Billie Harpers musikalischer Plauderei gliche Piccadilly Circus einem Grab.

Er war in Loch Ceo gesprungen, um einen Jungen zu retten, und hatte eine ausgewachsene Frau ans Ufer zurückgebracht. Noch dazu eine Druidheachd MacFarlane. Ihr Haar war kurz, doch nun, da es fast trocken war, umschmeichelten feminine Strähnen weich Gesicht und Hals. Ihre Augen hatten das gleiche Schokoladenbraun wie ihr Haar, waren riesengroß und umrahmt von dichten dunklen Wimpern, und ihr großzügiger, aufreizender Mund, begrenzt von tiefen Grübchen, schickte konstant die Botschaft von Humor und Witz aus.

Dabei war sie nicht im eigentlichen Sinne schön, nicht nach den Standards, die die Frauen gesetzt hatten, die durch seine Nächte gezogen waren. Doch obwohl sie dem Tod nur knapp entkommen war, war sie so voller Leben, dass jedes ihrer Worte und jede ihrer Bewegungen vor Energie nur so strotzten.

Sie war so vital – und er so völlig bleiern.

Er erhob sich aus dem Stuhl, auch wenn seine Beine ihn noch nicht richtig tragen wollten, und ging zum Fenster. Von hier aus konnte er den Erlenhain sehen. Die Bäume standen seit Ewigkeiten da, lange vor dem Haus, vielleicht schon so lange wie Ceo Castle. Wenn ein alter Baum starb, wuchs ein neuer nach und nahm seinen Platz ein. Die Ross’ hatten den Hain immer gehegt. Als Kind war Iain gelehrt worden, dass der Schutz der Bäume seiner Verantwortung oblag, zusammen mit Tausenden von anderen Pflichten, die sich aus der Position als Lord über Druidheachd ergaben. An der Seite seines Vaters war er über den Familienbesitz gewandert und hatte gelernt, was von ihm erwartet wurde. Die Brust des Jungen war dann immer vor Stolz angeschwollen bei dem Gedanken, dass all diese Ländereien eines Tages ihm gehören sollten.

Heute würde er alles bereitwillig aufgeben, jedes Feld, jeden Stein, jeden Baum. Wenn er dafür die Dinge bekommen könnte, die er nie gehabt hatte.

Er wusste nicht, wie lange er auf den Erlenhain gestarrt hatte. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er die Schritte nicht gehört hatte.

„Ich konnte nicht schlafen.“

Er drehte sich um und sah Billie hinter sich stehen. Sie trug sein Rugbyshirt aus Universitätszeiten und eine Trainingshose, bei der die Beine so weit aufgerollt waren, dass sie sich wie pralle Würste um ihre Knöchel legten. „Von Anordnungen halten Sie nicht viel, oder?“, fragte er.

„Extrem wenig. Es tut mir leid.“ Sie lächelte nicht. „Aber … dieses Alleinsein ist nicht gut, nach allem, was passiert ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Sie verstehen schon.“

„Muss ich das?“

„Es ist albern, aber wenn ich die Augen schließe, habe ich das Gefühl, als würde das Wasser über mir zusammenschlagen.“

Mitgefühl drängte sich in seine eigenen düsteren Gedanken. Sie wirkte, als müsse sie in den Arm genommen und gehalten werden, doch er war nicht der Mann dafür. „Ich habe Tee gekocht. Setzen Sie sich, ich schenke Ihnen eine Tasse ein.“

„Danke, das ist nett.“ Sie ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder und wirkte äußerst erleichtert, wieder zu sitzen. „Das ist wirklich ein beachtliches Haus, Iain.“ Sie zögerte. „Ich darf Sie doch Iain nennen, oder? Ich weiß, ich bin schrecklich salopp.“

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie schrecklich in irgendetwas war. In seinen Sachen, in die sie zweimal hineingepasst hätte, sah sie geradezu anbetungswürdig aus. Er verspürte den albernen Impuls, ihr die seidigen Strähnen am Hals zurückzustreichen und den Kragen des Shirts ein wenig zu richten.

Er brauchte keine Erinnerung daran, warum er sein Lebtag auf meilenweiten Abstand zu anbetungswürdigen süßen Frauen geachtet hatte. „Sie können mich nennen, wie Sie wollen“, antwortete er.

Unter Wimpern, die lang waren wie eine schlaflose Nacht, sah sie zu ihm auf. „Sollte ich Sie besser kennenlernen, werde ich das wahrscheinlich auch.“ Die Grübchen an ihrem Mund zeigten sich. „Und ich bin Billie.“

Er wandte sich ab, viel zu bezaubert für einen Mann, der sich rühmte, emotional grundsätzlich auf Distanz zu bleiben. „Gut.“

Er stellte Tassen auf den Tisch und goss Tee ein, der erstaunlicherweise nicht dampfte. Mit gerunzelter Stirn befühlte er die Kanne. Sie war kalt.

Wie lange hatte er am Fenster gestanden und auf den Erlenhain gestarrt?

Einen Moment lang wusste er nicht, was er sagen sollte. Dann übernahmen die erstklassigen Manieren, die ihm während einer endlos scheinenden Kindheit eingedrillt worden waren. „Entschuldigen Sie, ich werde frischen Tee aufbrühen. Dieser hier ist kalt geworden.“ Er ging zum Herd. Als er den Kessel mit Wasser füllte, ignorierte er bewusst seine Hände, die alles andere als ruhig waren.

„Ach, das passiert mir auch ständig. Ich mache Tee, dann werde ich abgelenkt, und schon kann ich ihn nur noch mit Eiswürfeln und Zitrone retten.“

„Sie sind zu nachsichtig. Ich fürchte, meine Gedanken sind schlicht abgeschweift.“

„Kein Wunder. Schließlich haben Sie heute Leib und Leben für mich riskiert.“

Für Bruchteile von Sekunden malte er sich aus, wie es ausgegangen wäre, wäre ihm die Rettungsaktion nicht gelungen. Er wäre mit ihr ertrunken, denn trotz all seiner Fehler war er kein Mann, der die Suche aufgegeben hätte, um sich selbst zu retten. Das Wasser hätte ihn verschlungen, und er wäre gestorben, der Letzte seiner Linie.

Und mit ihm die Hoffnungen und Ängste von Jahrhunderten.

„Das ist schon wirklich ein Haus“, sagte sie.

Er schüttelte seine Gedanken ab. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das als Kompliment oder Kritik zu verstehen habe.“

„Eigentlich weder noch. Es ist eine Feststellung. Ich könnte glatt meinen, ich befände mich im Märchen. Gruselige Wasserspeier sitzen lauernd auf dem Dach, grimmig aussehende Männer schauen einem aus lebensgroßen Porträts nach, die Wände sind dick wie Kerkermauern, und der Wind rüttelt an Fensterscheiben, die älter sind als meine Urgroßeltern. Ich warte nur noch auf die gespenstischen Orgelklänge, aber bis jetzt bin ich enttäuscht worden.“ Sie lächelte, damit er erkannte, dass sie scherzte. „Ehrlich, es ist atemberaubend. Und so wunderbar alt. Und groß. Hier muss es doch mindestens fünfzig Räume geben. Auf dem Weg nach unten habe ich einen Blick in den einen oder anderen geworfen.“

„An welches Märchen dachten Sie da?“

Sie überlegte, einen schlanken Finger an die Wange gelegt. „Dornröschen, würde ich sagen. Es ist so ruhig hier. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Apropos ruhig … sind wir wirklich allein hier?“

„So ziemlich.“

„Ihre … Frau ist nicht zu Hause? Ihre Kinder? Diener?“

„Es gibt weder Frau noch Kinder, die zu Hause sein könnten. Und das Personal hat heute seinen freien Tag. Deshalb habe ich ja auch selbst die Aufgabe übernommen, Sie aufzuwärmen.“

„Ich verstehe. Normalerweise bezahlen Sie jemanden dafür, um die Trottel, die Sie aus dem See fischen, auszuziehen und wieder auf Normaltemperatur aufzuheizen.“

„Normalerweise schon.“

„Was mich daran erinnert … Wo ist denn diese Kreatur, die ich retten wollte? Ich würde ihr nämlich gern meine Meinung sagen.“

„Hollyhock? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich rennt er gerade wieder einmal auf der Uferstraße vor ein Auto.“

„Hollyhock?“ Das Lachen kam tief aus ihrer Kehle. „Hollyhock! Stockrose! Iain, das ist der hässlichste Hund, der mir je untergekommen ist. Sie hätten ihn Stinkmorchel nennen sollen. Oder Eierbovist.“

Obwohl er es gar nicht vorhatte, musste er lächeln. „Ich habe den Namen nicht für ihn ausgesucht, das hat eine kleine Freundin von mir getan. Sie hat ihn mir auch geschenkt. Weshalb er überhaupt noch am Leben ist.“

„Ich würde ihn gerne sehen, wenn er trocken ist. Ist er wirklich so schlimm, wie ich glaube?“

„Schlimmer.“

Sie stand vom Tisch auf und ging zu einer der etwa ein Dutzend Türen im Parterre, die nach draußen führten. Sie stieß einen gellenden Pfiff aus, der Iain fast das Trommelfell zerriss. Er hatte nicht einmal geahnt, dass die weibliche Physiologie solche Geräusche zu produzieren erlaubte.

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