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In der Hitze des Todes

hier erhältlich:

Olympische Spiele in Rio - das Blut kocht

Olympiade in Rio: Mitten in der Eröffnungszeremonie zielt ein Athlet mit seinem Speer auf die brasilianische Präsidentin. Ein Attentat? Plötzlich drehen noch mehr Sportler durch: Ein Ringer schluckt eine Überdosis Schlaftabletten, eine Sportschützin erschießt ihren Kollegen. Während die ganze Welt auf Rio schaut, sucht Detective Rafael Carvalho nach der unheimlichen Macht, die die Sportler in den Wahnsinn treibt …


  • Erscheinungstag: 05.10.2017
  • Aus der Serie: James Patterson Bookshots
  • Bandnummer: 13
  • Seitenanzahl: 120
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677103
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

TEIL EINS

TIM GILMORE

1. KAPITEL

Neununddreißig Jahre lang hat das Telefon auf Julianas Seite des Bettes mitten in der Nacht geklingelt, genau wie jetzt. Juliana hat sich darüber nie beklagt. Nicht ein einziges Mal. Wenn es klingelt, reicht sie mir einfach den Hörer und sagt, ich solle aufpassen, dass ich nicht umgebracht werde.

Das Telefon steht auf ihrer Seite des Bettes, weil es auf meiner nur die Wand gibt. Ich verdiene ein ganz normales Polizistengehalt, unser Haus hat die Größe einer Schuhschachtel. Ich rolle mich rüber, drücke den kleinen Knopf an meiner Casio aus schwarzem Plastik. Die Leuchtschrift zeigt vier Uhr an.

„Carvalho?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehört Vitoria Paz, meiner Partnerin seit zwei Jahren.

Ich grunze. Meine Knochen tun weh.

„Ich hasse es, dich zu wecken.“

„Jeder hasst es, mich zu wecken“, erwidere ich. „Deshalb wecken sie dich immer zuerst.“

Ich höre ihr Seufzen, aber ich weiß, dass sie lächelt. „Ich bin in fünf Minuten bei dir.“

Sie spricht aus einem Mundwinkel, weil sie raucht. Sie raucht eine Menge. Paz ist sechsundzwanzig und zäh wie Leder.

„Worum geht’s?“, frage ich und rolle mich aus dem Bett.

„Vermisste Person.“

Ich ziehe meine Socken im Dunkeln an. Darin bin ich Experte.

„Würde man sie nicht immer noch vermissen, wenn ich endlich mal ausgeschlafen hätte?“

Ich höre, wie Paz einen weiteren Zug von ihrer Zigarette nimmt. „Der verschwundene Typ ist ein Athlet. Und du weißt, was das im Moment bedeutet.“

Ich weiß genau, was das im Moment bedeutet. Offiziell werden die Olympischen Spiele in ein paar Stunden eröffnet, die ganze Welt schaut auf Rio. Und alle, von der Präsidentin bis ganz unten, sind nervös.

„Seit wann wird er vermisst?“

„Seit elf Stunden“, erklärt Paz. „Gönn dir einen Kaffee – du klingst gereizt.“

Ich lege das Telefon so leise wie möglich zurück auf den abgenutzten Nachttisch. Trotzdem höre ich, wie Juliana sich bewegt.

„Rafael“, sagt sie, „pass auf, dass sie dich nicht umbringen.“

Ich verspreche es ihr und höre zu, wie ihr Atem wieder ruhig wird. Während Juliana zurück in ihre Träume gleitet, benutze ich die blaue Beleuchtung der Casio, um den Weg aus dem Schlafzimmer in die Küche zu finden. Ich setze den Kessel auf den Herd und hole meine Marke und meine Dienstwaffe aus dem Küchenschrank über dem Kühlschrank. Bald erscheinen die Scheinwerfer von Paz’ Auto im Küchenfenster, und ich erhasche einen ersten Blick auf mein Spiegelbild. Ich sehe ziemlich zerknittert aus. Mein Haar ist länger, als es sein sollte, immer noch größtenteils braun, aber an den Schläfen schon ergraut. Ich habe mich seit zwei Tagen nicht rasiert und trage das Hemd von gestern. Man kann wohl sagen, dass ich schon besser ausgesehen habe.

Paz sieht hinter dem Steuer ihres winzigen Fiat Panda ziemlich frisch aus. Ich steige in den Wagen, der nach Rauch stinkt. Draußen ist es ziemlich warm, und Paz trägt eine enge schwarze Weste und Jeans. Sie joggt dreimal die Woche, boxt in einem Sportstudio und stemmt siebzig Kilo. Sie versteckt ihre Kraft und ihren Mut hinter einem perfekten Lächeln, funkelnden braunen Augen und einer schwarzen Haarmähne, die ihr Gesicht in dichten Locken umrahmt.

„Morgen, Carvalho.“

„Morgen. Geht’s dir gut?“

„Besser als dir, dem Aussehen nach zu urteilen.“

Ich lächle. „Das heißt nicht viel.“

Paz fährt langsam aus der Einfahrt und tritt erst aufs Gas, als wir außer Hörweite von Juliana sind. Paz flucht wie ein Barkeeper und raucht wie ein Schlot, aber sobald sie in die Nähe meiner Frau kommt, verhält sie sich wie eine Ministrantin auf dem Weg zur Kirche. Nach einer Weile gibt sie richtig Stoff. Ich halte mich an meinem Kaffeebecher fest und kann nur hoffen, dass sie kein Schlagloch erwischt und mich für den Rest meines Lebens entstellt.

„Musst du so schnell fahren? Ich bin nur zwei Wochen von meiner Pensionierung entfernt und würde meinen Renteneintritt gern noch erleben, wenn du nichts dagegen hast. Es handelt sich hier um eine vermisste Person, nicht um eine Schießerei.“

Paz lächelt. Sie mag es, wenn ich so brummig bin. Sie hat eine Hand am Steuer und steckt sich mit der anderen eine neue Zigarette in den Mund, bevor sie sie mit ihrem silbernen Feuerzeug ansteckt.

„Der vermisste Athlet ist Tim Gilmore“, sagt sie. „Hast du schon mal von ihm gehört?“

„Der Typ aus Australien?“

Ich sehe ihn vor mir. Er ist Australiens Aushängeschild und in der ganzen Stadt auf Plakaten zu sehen. Blond, sonnengebräunt und groß.

„Speerwurf, richtig?“

Paz nickt und nimmt einen tiefen Zug. Ihre Augen verengen sich im Rauch, und plötzlich sieht sie aus wie ein mexikanischer Bandit, der den Horizont nach Ärger absucht.

„Genau. Er ist der Mannschaftskapitän“, sagt sie und zieht wieder an der Zigarette. „Siebenundzwanzig Jahre alt. Das sind seine zweiten Olympischen Spiele. Er hat große Chancen auf eine Medaille. Oder er hätte sie, wenn man wüsste, wo er ist.“

Wir flitzen an Häuserreihen vorbei durch die Stadt. Mit der Hand, die nicht den Kaffee hält, klammere ich mich am Sitz fest. Der Bezug ist ziemlich durchgesessen, an einigen Stellen schaut der Schaumstoff heraus. Dort, wo Paz’ fünfjähriger Sohn Felipe mit seinen kleinen Fingern am Schaumstoff gepult hat, ist ein Loch. Er ist der Einzige, der häufiger auf ihrem Beifahrersitz sitzt als ich. Jedes Mal, wenn ich ins Auto steige, ist das Loch größer geworden.

„Felipe ist wie eine Motte im Kleiderschrank“, sage ich. „Irgendwann wird der Sitz weg sein.“

Paz geht nicht darauf ein. „Gilmore hat gestern am späten Nachmittag noch lange trainiert“, sagt sie. „Aber zum Abendessen mit seinem Team ist er nicht erschienen. Und er geht auch nicht an sein Handy.“

„Am späten Nachmittag?“ Ich schalte die blaue Hintergrundbeleuchtung meiner Uhr ein. „Das ist ja erst zwölf Stunden her.“

„Ich weiß“, sagt Paz, kurbelt das Fenster herunter und schnipst ihren Zigarettenstummel hinaus. „Man fragt sich, warum sie so nervös sind, oder?“

„Daran musst du dich gewöhnen“, erwidere ich. „Das ist genau wie bei der Fußballweltmeisterschaft. Alle werden in den nächsten zwei Wochen besonders wachsam sein. Und wenn irgendwas passiert, flippen sie aus.“

Plötzlich tritt Paz auf die Bremse, und wir kommen zum Stehen. Dabei quietschen die Reifen so laut, dass wir bestimmt den ganzen Häuserblock wecken. Ich werfe Paz einen Seitenblick zu, während ich den letzten Schluck von meinem Kaffee trinke, und stelle den Becher auf dem Armaturenbrett ab.

„War das wirklich nötig?“

„Nein“, sagt sie und grinst. „Aber es hat sich gut angefühlt. Wie dem auch sei, wir sind da.“

Wir parken an der Rua da Carioca, inmitten von einunddreißig Hochhäusern, die die besten Sportler der Welt beherbergen. Es sind fast viertausend Wohnungen. Neue Coffeeshops, Blumengeschäfte und Postämter an jeder Ecke. Aber so früh am Morgen haben alle noch geschlossen.

„Nicht gerade viel Nachtleben“, sagt Paz.

Sie hat recht. Es herrscht Ruhe, und hinter kaum einem der Tausenden von Fenstern brennt Licht.

„Sportler brauchen ihren Schlaf. Eins der wenigen Dinge, die ich mit ihnen gemeinsam habe. Auf geht’s!“

Gilmores Coach wartet in der Lobby auf uns.

„Hunter Brown“, sagt er mit breitem australischem Akzent. Er hat einen festen Händedruck und helle, aufmerksame Augen. Sein Blick ist fast ein wenig lauernd.

„Carvalho“, sage ich. „Das ist Detective Paz.“

Vitoria gibt ihm die Hand.

„Ist er wieder aufgetaucht?“

Brown schüttelt den Kopf. Ich runzle die Stirn, als wir zu den Sofas hinübergehen, die auf der anderen Seite der Lobby stehen.

„Ich weiß schon“, sagt Brown. „Sie denken wahrscheinlich, dass ich überreagiere.“

Ich sage nichts.

„Hören Sie, Tim hat vier Jahre lang für diese Spiele trainiert. Er würde uns jetzt nicht im Stich lassen. Nur wenn etwas ganz und gar nicht in Ordnung wäre.“

Er macht sich anscheinend wirklich Sorgen.

„Ist er vorher schon mal verschwunden?“, fragt Paz.

Brown schüttelt den Kopf. „Nein, nie. Wir ziehen unseren Trainingsplan jetzt seit achtzehn Monaten durch. Er ruft mich an, bevor er joggen geht und auch, bevor er etwas isst, das nicht auf seinem Diätplan steht. Er hat die Hosen voll wegen der WADA.“

„Das sind die Jungs von der Anti-Doping-Truppe?“

„Völlig richtig“, sagt Brown. „Sie können jederzeit an die Tür klopfen, um Urin- und Blutproben zu nehmen.“

„Aber Gilmore ist doch clean, oder?“, fragt Paz.

„Darauf können Sie wetten. Aber wenn man nicht da ist, wenn sie auftauchen, wird man für den Rest seiner Karriere für einen Betrüger gehalten. Besonders wenn man so gut ist wie Tim.“

Er seufzt, und ich frage mich, ob er überhaupt geschlafen hat.

„Können Sie uns Gilmores Zimmer zeigen?“, frage ich.

Er nickt. „Er teilt es sich mit Oscar Ryan, dem Hammerwerfer. Haben Sie von ihm gehört?“

Ich schüttele den Kopf.

„Das werden Sie aber, wenn die Spiele vorbei sind“, sagt Hunter Brown und lächelt kurz. „Egal, jedenfalls wird Oscar uns reinlassen.“

„Nun gut“, sagt Paz. „Dann sollten wir ihn jetzt wecken.“

2. KAPITEL

Im Lift ist es eng, und ich habe das Gefühl, dass Hunter Brown mir etwas sagen will. Doch bevor er dazu kommt, öffnen sich die Türen, und wir gehen einen langen, geraden Flur entlang. Es riecht nach frischer Farbe und neuem Teppich.

Vor einer der Türen bleibt Brown schließlich stehen. „Hier ist es.“

Ein mürrischer Riese öffnet und füllt fast den gesamten Türrahmen aus. Er sieht aus, als könnte er einen Mann mühelos zerquetschen, ohne ins Schwitzen zu kommen und ohne dass es ihm auch nur eine schlaflose Nacht bereiten würde. Ich nehme an, es ist Oscar Ryan, finde es aber nicht heraus, weil er Hunter Brown nur kurz zunickt, während er uns mürrisch mustert. Dann zieht er sich in die Dunkelheit seines Zimmers zurück.

„Es gibt etwas, das Sie über Tim Gilmore wissen sollten“, sagt Brown, während er uns durchs Halbdunkel führt. „Er ist momentan in keiner guten Verfassung.“

Das Zimmer ist quadratisch. Eine Wand wird von einem Panoramafenster ausgefüllt, an einer anderen verläuft eine glänzende weiße Küchenzeile. Der Boden ist aus Holz und knarrt bei jedem Schritt. Ein Flachbildschirm ist an einer der magnolienfarbenen Wände angebracht. Eine einzelne Glühbirne neben der Abzugshaube über dem Herd erleuchtet den Raum. Ich lasse mich auf ein Sofa fallen, gegenüber dem australischen Teamcoach. Das gedämpfte Licht wirft lange Schatten und verleiht seinen tief liegenden Augen einen sorgenvollen Ausdruck.

„Was wollen Sie damit sagen, ‚in keiner guten Verfassung’?“

Brown seufzt. „Er hat in den Medien das Image eines australischen Helden. Aber es fällt ihm nicht leicht, dem gerecht zu werden. Das hier ist seine beste Chance, olympisches Gold zu gewinnen.“

„Er spürt den Druck?“

„Absolut richtig!“

Hinter dem Coach geht Paz auf der Suche nach Spuren durch den Raum, hebt Flaschen mit Proteinshakes und Nudelschachteln auf.

Schließlich bleibt sie stehen und setzt sich zu mir aufs Sofa. Ich frage sie, ob sie etwas Interessantes gefunden hat, doch sie schüttelt den Kopf.

„Tim ist ziemlich unordentlich“, erklärt Brown, als er meinen Blick auf die schmutzigen Teller und die im Zimmer verstreute Sportkleidung bemerkt. Auf dem Sofa liegt ein Buch mit zerrissenem Einband. Ein Stück Papier dient als Lesezeichen. Ich frage mich, ob Gilmore das Buch je zu Ende lesen wird.

Doch dann fällt mir die Schrift auf dem Papierfetzen auf. Ich ziehe ihn aus dem Buch und drehe ihn um, bevor ich ihn Paz reiche. Es ist eine Telefonnummer, notiert auf dem Kassenzettel eines Supermarkts.

„Eine Handynummer“, sagt Paz. „Könnte wichtig sein.“

„Der Bon stammt von einem Supermarkt hier aus der Gegend“, sage ich. „Wahrscheinlich hat er die Nummer erst vor Kurzem notiert. Wen muss er wohl in Rio anrufen, dessen Nummer nicht in seinem Handy gespeichert ist?“

Ich ziehe mein Handy heraus, wähle die Nummer und höre, wie es tutet.

3. KAPITEL

Das Maracanã – Stadion ist eine beeindruckende Festung. Aufregung spiegelt sich in den Gesichtern der Menschen wider, die an mir vorbeieilen, während ich draußen warte und die Atmosphäre aufsauge.

Offiziell habe ich heute Abend Dienst und soll den VIP-Bereich im Auge behalten. Doch in Wirklichkeit habe ich Plätze in der ersten Reihe für die Show. Ein Dank der Stadt für vierzig Jahre Dienst. Juliana hält meine Hand, und ich spüre ihre Aufregung. Sie ist stolz auf mich. Das hat sie jedenfalls gesagt, als sie mir mein Jackett glattgestrichen hat, bevor wir losfuhren. Paz geht links von mir und hält die Hand von Felipe, ihrem kleinen Sohn.

„Pass schön auf heute Abend“, sagt sie zu ihm. „Damit du dich an all das hier erinnerst, wenn du erst mal so alt bist wie Carvalho.“

Sie zwinkert mir zu und lächelt ihr Zahnpastalächeln. Wir haben den ganzen Tag an dem Fall Gilmore gearbeitet, was nicht gerade viel Spaß gemacht hat. Jetzt wollen wir die Arbeit hinter uns lassen und uns amüsieren. Die Luft vibriert vor Stolz und freudiger Erwartung. Die größte Show der Welt ist in Rio angekommen. Ich muss an Igor Morales denken, einen Freund meines verstorbenen Vaters, der inzwischen ein langjähriger Freund von mir geworden ist. Freitagabend spielen wir immer Domino, und er erzählt mir Geschichten darüber, wie er Uruguay die Fußballweltmeisterschaft hat gewinnen sehen. Das war 1950, damals waren zweihunderttausend Zuschauer im Maracanã-Stadion.

„Halt Felipe gut fest“, sage ich zu Paz. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Stadion nähern, wird die Menschenmenge dichter.

„Das mach ich doch schon die ganze Zeit.“

Ich packe Julianas Hand fester, und wir drängeln uns durch die Menge. Die Leute lachen und scherzen, während sie sich vorwärts schieben. Wir brauchen fünfzehn Minuten, um in den VIP-Bereich zu gelangen. Felipe hat die Augen vor Staunen weit aufgerissen. Unsere Sitze sind mit hellblauem Leder bezogen, alles rechtzeitig für die Spiele, und es gibt Becherhalter in den Armlehnen. Wahrscheinlich würde Igor Morales das Stadion nicht wiedererkennen.

„Passt du mal auf Felipe auf? Ich hole uns was zu trinken“, ruft Paz mir durch die grölende Menge zu. Die Stimmung scheint schon auf dem Höhepunkt zu sein, bevor die Zeremonie überhaupt begonnen hat.

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