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In Love

New York in den 50er Jahren: Auf einer Party erhält eine junge Frau das unmoralische Angebot eines distinguierten Herrn, gegen Bezahlung mit ihm zu gehen. Sie könnte problemlos ablehnen, lässt sich aber darauf ein – und zerstört ihr bisheriges Leben. Erst jetzt wird ihrem Freund, den sie verlässt, bewusst, wie sehr er sie liebt. Das Gefühl, die Chance seines Lebens verpasst zu haben, wird ihn für immer begleiten. Eine beklemmende Liebesgeschichte und der kluge Roman eines bedeutenden Autors aus den USA. Im rauchigen, melancholischen Ton eines Miles-Davis-Stücks erzählt ist "In Love" wie John Williams´ "Stoner" oder die Romane von Richard Yates, eine beglückende Wiederentdeckung.
  • Erscheinungstag: 02.02.2015
  • Seitenanzahl: 144
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006588
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Die Liebe lud mich ein, aber meine Seele wich zurück,

Bedeckt von Staub und Sünde.

Doch die scharfsichtige Liebe bemerkte

Das Zögern meiner Schritte,

Trat näher und fragte sanft,

Ob mir etwas fehle.

George Herbert

1

ALSO, SAGTE DER MANN in der Hotelbar zu der hübschen jungen Frau, ich bin fast vierzig, nicht ganz unbekannt, habe etwas Geld auf der Bank, eine günstig gelegene Wohnung, bin telefonisch leicht erreichbar, meinen Gesichtsausdruck finden Sie wahrscheinlich passend, meine Hand hier auf diesem Tisch ist real, alles an mir ist real, wenn man nicht allzu genau hinschaut.

Sehe ich aus, sagte der Mann in der Hotelbar um drei Uhr nachmittags zu der hübschen jungen Frau, die nichts Besonderes vorhatte, wie jemand, der nicht weiß, was mit ihm nicht stimmt, oder wie jemand, der insgeheim denkt, dass es nicht mehr weitergeht in seinem Leben?

Ich glaube nicht.

Ich glaube, dass ich in einem Spiegel oder in den Augen eines Menschen, dem ich zufällig begegne, vielleicht an einem Nachmittag wie diesem, in einem solchen Hotel, in einer solchen Bar, an einem solchen Tisch, aussehe wie jemand, der weiß, wohin er unterwegs ist, zuversichtlich und selbstsicher, und was er vernünftigerweise erwarten kann, wenn er ankommt, obwohl ich Ihnen, wenn Sie mich fragen würden, dieses unbekannte Ziel kaum beschreiben könnte.

Aber es gibt ein Ziel. Es muss eines geben. Wir müssen so tun, als gäbe es eines, nicht wahr, wir müssen ein Image von Zielstrebigkeit kultivieren, als hätten wir ein ganz bestimmtes Ziel, und den Eindruck vermitteln, als müssten wir eine Verabredung einhalten, als hätten wir einen Ort, wo Sie und ich erwartet werden, selbst wenn wir hier sitzen und Daiquiri trinken und die Schritte von dicken Teppichen gedämpft werden und der Nachmittag vergeht, und als gäbe es dort jemanden, jemand Wichtiges, der uns ungeduldig erwartet. Aber in Wahrheit ist es so, dass unsere Zielstrebigkeit etwas aufgesetzt ist, dass wir nicht verabredet sind, dass wir nirgendwo erwartet oder ersehnt werden und dass im Grunde niemand wartet, überhaupt niemand, vielleicht noch nie jemand gewartet hat, nicht einmal ganz am Anfang, vor langer Zeit, als wir es noch eiliger hatten als heute, damals, als wir jünger waren – ich zumindest, denn Sie sind ja noch vergleichsweise jung, wie alt sind Sie, vierundzwanzig, fünfundzwanzig? –, und als wir, weil wir uns so leidenschaftlich auf den Weg machten, eine Zeitlang glauben konnten, dass es ein solches Ziel einfach geben musste.

Und nun, mit fast vierzig, sage ich mir, dass es dieses Ziel nicht gibt, vielleicht nie gegeben hat und dass es ein Fortschritt ist, nicht etwa enttäuscht zu sein, sondern keine Illusionen mehr zu haben, obwohl das vermutlich nicht stimmt. Und dazu dieses Gefühl, dieses schwer zu beschreibende Gefühl eines bleibenden Verlustes, das Gefühl, sich geirrt, einen Fehler gemacht zu haben, der nicht zu korrigieren, eine bestimmte Geste, die nicht wieder rückgängig zu machen ist.

Aber Sie sind hübsch. Und es ist kurz vor vier. Und hier stehen die Cocktails auf dem Tisch. Und in dem Spiegel sind wir beide zu sehen. Der Kellner wird erscheinen, wenn wir ihn rufen, die Uhr wird ticken, er wird die Rechnung bringen und kassieren, die Stadt wird weiter existieren.

Wünschen wir uns das denn nicht?

Alles an seinem Ort, eine gewisse Ordnung, ein Wohlbefinden, echt oder eingebildet, ein Nachmittag, an dem anscheinend etwas passiert.

Nichts Erschütterndes, nichts Weltbewegendes, ein gewisses Vergnügen, ohne Schuldgefühle.

Die Schuldgefühle kommen später, nicht wahr? Die Schuldgefühle kommen ganz zuletzt. Wenn der Kellner kassiert hat und die Rechnung bezahlt ist, bleibt immer ein Rest, und dann machen sich die Schuldgefühle bemerkbar, nicht wahr?

Schon merkwürdig, sagte der Mann zu der hübschen jungen Frau, wie gut ich schlafe, wie unvermindert mein Appetit ist, und dass ich trotzdem immer müde bin. Ich habe unerklärliche Rückenschmerzen, hier, wo die Muskeln rätselhafterweise verspannt sind, die Augen tun mir weh (obwohl ich inzwischen kaum noch lese und kaum noch ins Kino gehe), und dieser raue, trockene Geschmack in meinem Mund.

Und warum, sagte der Mann, der versprochen hatte, eine Geschichte zu erzählen, und die hübsche junge Frau, die alle Vorteile hatte, noch nicht vierzig zu sein, und alle Nachteile, mit einem eigentümlich vorsichtigen Lächeln ansah, warum fühle ich mich so? Was habe ich verloren, das angeblich nicht wiederauffindbar ist? Was habe ich getan, dass ich so unglücklich bin, ohne überzeugt zu sein, dass dieses Unglück, das mich wie eine Wolke umhüllt, real oder begründet ist?

Vielleicht, sagte der Mann nun mit einem Stirnrunzeln, ist es ja genau das, was mit mir nicht stimmt, wenn etwas mit mir nicht stimmt. Ich weiß nicht mehr, was die Dinge bedeuten. Ich kann sie nicht mehr genau beschreiben. Eine Art Sprachlosigkeit ist über mich gekommen. Ich kann die Gegenstände, die zu meiner Welt gehören, nicht mehr benennen – ein Ornithologe, für den alle Vögel das gleiche Gefieder haben, ein Gärtner, für den alle Blumen gleich aussehen. Glauben Sie, sagte der Mann ernst, dass das meine Malaise ist, wenn es eine Malaise ist? Meine Krankheit, sofern es eine Krankheit ist?

Ja, sagte der Mann, ich habe mich oft gefragt, warum andere Leute mich für traurig halten, aber ich bin nicht traurig, da irren sie sich, aber wenn ich in den Spiegel schaue, scheint das tatsächlich so zu sein, mein Gesicht ist traurig, mein Gesicht ist wirklich traurig, ich komme zu der Überzeugung (und er lächelte, weil es vier Uhr war und der Tag zu Ende ging und die junge Frau sehr hübsch war, erstaunlicherweise war sie allmählich immer hübscher geworden), dass sie doch recht haben und ich tatsächlich traurig bin, trauriger, als mir bewusst ist.

Er begann mit seiner Geschichte.

2

SIE HATTE EIN KLEINES APARTMENT ganz oben. Nebenan wohnte ein seltsames Mädchen, das vornehm und tuberkulös aussah. Unten wohnten zwei modische Jungs, die beim Fernsehen arbeiteten und schwarze Kerzen über einer Kaminattrappe hatten, an der Wand Porträts der muskulösen Wachsoldaten vom Buckingham Palace. Eine Mrs OToole hatte einen Hund.

Ihre Fenster lagen zu einem großen Bürogebäude hin, und sooft sich ihre Vorhänge bewegten, hoben sich Augen, lüstern und erwartungsvoll, von Tischen oder Schreibmaschinen oder Frachttabellen. Nachts schloss sie die Fenster und zog die Vorhänge vor, weil sie glaubte, ein Einbrecher (in ihren Träumen war es immer ein Schwarzer) könne sich vom Dach auf den breiten Fenstersims herunterlassen (sie würde natürlich schlafen, allein, und es würde geräuschlos passieren) und in das Wohnzimmer eindringen, in dem sie schlief. Ich habe versucht, sie mit dem Hinweis zu beruhigen, dass so etwas praktisch unmöglich sei und dass Leute in der Nähe seien. Mrs OTooles Hund würde bellen. Wie denn?, sagte sie, der hat doch keine Zähne. Das Mädchen nebenan könne hören, wenn sie schreie. Aber mit der stimme etwas nicht, sagte sie, nie verlasse sie ihre Wohnung. Und die Jungs im Erdgeschoss? Mein Gott, sagte sie, wem machen die schon Angst? Also wies ich darauf hin, dass sie in einer belebten, vielbefahrenen Straße wohne, sie sei keineswegs allein. Sie sei beschützt, wenn Menschen ein Schutz seien, sie sei umgeben von anderen, wenn Umgebensein eine Beruhigung sei, sie werde bewacht, wenn Nachbarn, die zu viel trinken, und die U-Bahn an der Ecke und ein Taxistand mit Fahrern, die müde in ihren Autos saßen und die Spätausgaben lasen, eine Art Wache seien.

Aber sie hatte die üblichen Erfahrungen gemacht. Einmal, in einem Kino, war sie auf die Toilette gegangen und hatte voller Panik aufgeschrien, als sie das schreckliche Gesicht bemerkte, das langsam über der Tür erschien. Und einmal in ihrer eigenen Wohnung hatte sie Schritte im Treppenhaus gehört, ganz leise und vorsichtig, das regelmäßige Knarren der Stufen, ein leises Atmen. Und dann ein Klopfen. Ihre Tür war verriegelt, die Kette vorgehängt (und ich entsinne mich, wie ihr Gesicht später während eines Streits einmal in dem Spalt erschien). Sie stand da, ich habe mir vorgestellt, wie sie dort stand in ihrem kurzen weißen, verschmuddelten Frotteebademantel auf dem kleinen Läufer, und zwang sich, mit vermutlich leicht hysterischer Stimme zu rufen: Wer ist da? Und dann (merkwürdig, dass es immer die gleiche Formulierung war, wie eingraviert) antwortete die unbekannte Stimme: Sie haben mich bestellt. Und dann sah sie, wie sich der Türknauf vorsichtig bewegte. Sie war daraufhin rasch ans Telefon gegangen, das auf dem Tischchen neben der Couch stand, auf der sie schlief, und hatte die Vermittlung gebeten, die Polizei zu schicken, und vor lauter Angst war ihre Stimme so laut, dass sie auf der anderen Seite der Tür zu hören sein musste, und dann bewegte sich der Türknauf nicht mehr, sie hörte Schritte, die nun rasch die Treppe hinuntergingen. Aber das Bild hatte sich ihr eingeprägt, diese nicht erkennbare Stimme, die in der Menge unauffälliger Leute verschwand, die aus der U-Bahn kamen oder hinuntergingen oder am Zeitungskiosk standen oder sich mit den schweren Gesichtern am Tresen des Grillimbisses vermischten, eine nicht erkennbare Stimme, die, während der Türknauf sich vorsichtig wieder bewegte, draußen vor ihrer nicht völlig einbruchsicheren Tür mit Nachdruck sagte: Sie haben mich bestellt.

Sie hat oft überlegt, umzuziehen oder die Fenster vergittern zu lassen oder die Tür irgendwie zu verstärken. Am Ende kaufte sie in einem Geschäft, das ihr ein Arzt empfohlen hatte, eine Waffe, die wie ein Füllfederhalter aussah, tatsächlich aber eine Tränengaspistole war, und die lag auf ihrem Couchtisch neben dem Telefon und dem Obst, das in der schwarzen Porzellanschale vor sich hin gammelte, und der Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug, das sie von einem Mann geschenkt bekommen hatte. Das Wissen, dass die Waffe dort lag, dieser harmlos aussehende Füller, gab ihr wohl eine gewisse Sicherheit. Und für den Notfall hatte sie ein kleines Feldhandbuch ausgearbeitet. Sie würde, wie in ihrer Militärstrategie vorgesehen, den gesichtslosen und namenlosen und nicht identifizierbaren Angreifer mit dem Tränengas außer Gefecht setzen, dabei ein feuchtes Tuch über Mund und Nasenlöcher halten, da ihr erklärt worden war, dass ein feuchtes Tuch am zweckmäßigsten sei, und dann würde sie zum Telefonhörer greifen und die ebenso gesichtslose und namenlose und nicht identifizierbare Polizei rufen. Noch hatte sie die gefährliche Waffe nicht einsetzen müssen. Sie lag ein wenig ominös, wenn man wusste, was es war, neben dem Telefon und der Schale mit dem vergammelnden Obst.

Die Couch mit den vielen Kissen stand an der Wand unter einem japanischen Druck. Neben der Heizung war ein kleines Radio, Bücherregale unter dem Fenster, davor ein Sessel und davor ein Sitzkissen. Auch das Badezimmer war klein und unordentlich: An der Gardinenstange hingen ihre Strümpfe schlaff wie Gehängte, über der weißen Stange neben dem Waschbecken baumelte ihr kompliziert aussehender BH, die Handtücher waren nie ganz sauber und nie ganz trocken, die Papiertaschentücher schauten aus der aufgerissenen Schachtel, die Zahnpastatube war fast nie zugeschraubt. Im Badezimmerschränkchen befanden sich zahllose kleine und für mich mysteriöse Flaschen, Tiegel, Ampullen, spezielle Cremes, halb leer oder fast leer, Deodorants und Salben, in der ganzen Unordnung einer Apotheke, die vor dem Bankrott steht. Auch die Küche, schmal wie ein Handtuch, war unaufgeräumt: das dreckige Geschirr, der Kühlschrank, bei dem man immer damit rechnen musste, dass er im nächsten Moment den Geist aufgab, meistens Reste eines zu hastig eingenommenen Frühstücks oder eines Abendessens, das aus dem zusammengestellt war, was auf dem Regal stand, im Küchenschrank eine Flasche Scotch oder eine Flasche Brandy (natürlich ein Geschenk). Manchmal unternahm sie morgens sporadische und intensive Anstrengungen, ihre Wohnung aufzuräumen, und einmal im Monat kam eine farbige Putzfrau, die lüftete und Staub wischte und fegte und Ordnung machte. Aber wenn ich an sie denke, sehe ich sie in einem Durcheinander von Hüten, Schmuck, raffinierten Schuhen, einem Buch mit Widmung, Telefonnotizen, Obst, das in einer Schale vor sich hin gammelt, Kissen mit Troddeln, verschnürten Bündeln von Liebesbriefen, die sie wegpackte und herausholte und von neuem las und manchmal wegwarf, Konfektschachteln und natürlich Fotos: von ihrem Kind, von ihr als verheiratete Frau, auf denen sie wie eine andere aussah, wie eine bemerkenswert hübsche Vorfahrin, ein Foto von ihrer Mutter auf einer Reise nach Florida, von einer Gruppe von Schlittschuhläuferinnen oder Pfadfinderinnen am Lagerfeuer, die Mädchen in Blusen und lachend, das Lagerfeuer im Hintergrund, und ein, zwei Fotos von einem Mann. Alles dort, wo es zuletzt hingeworfen oder versteckt worden war, so als hätte sie es nur kurz betrachtet oder verwendet oder in die Hand genommen und kurz darüber nachgedacht und dann, weil das Rätsel, das sie enthielten, nicht zu lösen war, wieder hingeworfen, wo sie gerade war, in eine Schublade oder in ein Regal oder auf einen Tisch. Aber dieses ganze Durcheinander, unübersehbar, nicht weiter wichtig für sie, rührte wohl daher, dass sie ihr Leben als etwas Temporäres betrachtete. Diese Wohnung, ihr Lebensstil, war nur ein Arrangement, rasch zusammengeworfen, um einen Lebensabschnitt zu überbrücken, der ihr unwichtig erschien, und deshalb hielt sie es auch nicht für notwendig, die Dinge in eine endgültige Ordnung zu bringen. Die endgültige Ordnung war noch nicht vorhanden, sie wartete darauf, dass sie sich einstellte.

Sie hatte eine kleine, fast unsichtbare Narbe über einem Auge, die von einem Pfeilschuss herrührte, und sie war nicht in den Arm geimpft worden, weil ihre Mutter sie vor Narben bewahren wollte. Die Augen waren von einem wunderbaren Blau, dunkel, und wenn sie wütend war, wurden sie noch dunkler. Sie trug das Haar hochgesteckt, mit einem Kamm darin, und die Augenbrauen waren nie perfekt nachgezogen, für meine Begriffe fast immer eine Spur zu lang. Sie behauptete, sie könne Fahrrad fahren. Einmal sind wir zusammen geradelt, ich bin von hinten in einen Lastwagen gefahren, aber das war in der Anfangszeit, als es Spaß machte, sich an Sonntagen ein Fahrrad zu mieten. Sie konnte ein paar Wörter Französisch, Auto fahren hat sie nie gelernt. Ich habe sie mal, an der Wand stehend, gemessen, ein Kuss pro dreißig Zentimeter, sie war eins dreiundsechzig, ohne Schuhe und natürlich ohne Strümpfe. Sie war in Oak Park, Illinois, während eines Schneesturms geboren worden und ein Einzelkind, ihr Vater war Mathematiklehrer an einer staatlichen Schule gewesen. Er lebte nicht mehr, ihre Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet, einen Mann aus der Lebensmittelbranche, und das Kind war bei ihnen. Einmal im Monat fuhr sie auf Besuch.

Mein Gott, sagte sie oft, ich bin so durcheinander, findest du nicht? Weil sie alles wollte und sich einbildete, nichts zu haben. Sie wollte, was selbst von einer unfreundlichen Welt nicht zu viel verlangt war: ein Haus, noch einmal heiraten, noch ein Kind. Gewiss, das Haus ihrer Vorstellungen war bescheiden, aber doch eindrucksvoll, in einem besseren Viertel oder am Meer, und der Mann, wenn sie einen fände, müsste Geld haben, nicht unbedingt furchtbar viel, aber doch beruhigend viel, denn in ihrer ersten Ehe hatte es praktisch kein Geld gegeben. Und das zweite Kind, wenn es für sie Gestalt annahm, während sie in ihrem Apartment auf der Couch lag, was nun häufiger als sonst vorkam (manchmal gab es so gut wie keinen Grund aufzustehen, und nur das Telefon verband sie mit Hoffnung und Möglichkeiten und einem Leben, das irgendwo draußen existierte), würde eine schöne, talentierte, reizende, gesunde, ganz und gar wunderbare Kopie ihrer selbst sein. Und natürlich glücklich. Das wünschte sie sich am meisten für das Kind. Nicht wahnsinnig glücklich, das zu erwarten, sagte sie sich, wäre viel zu unrealistisch, aber glücklich, einfach glücklich, schön glücklich, ehrlich glücklich. Das schien ihr nicht zu viel verlangt. Eine notorisch kleinliche Welt konnte ihr das kaum abschlagen. Das Geheimnis war natürlich, dem unsichtbaren Wohltäter immer eine bescheidene Hand hinzuhalten. Außerdem war sie schön. Männer, die fast alles zu ihr sagten und, wenn sie sie lange genug kannte, am Ende sogar die Wahrheit, sagten immer, dass sie schön sei. Für diese Männer blieb sie immer schön, auch wenn sie vieles andere vielleicht nicht mehr war. Warum war dann alles so kompliziert? Warum blieb die bescheidene Hand leer? Warum wurden ihr die Almosen, um die sie bat, die schlichten Almosen versagt? Warum, wo sie doch schön war und jung und verhältnismäßig treu und verhältnismäßig gut und verhältnismäßig leidenschaftlich – warum war es dann so schwer, aus dem widerspenstigen Berg ihr eigenes Stückchen Glück herauszuholen?

Handleser, Graphologen, ältere und etwas bizarre Damen, die im Café Karten lasen, übten eine unwiderstehliche Faszination auf sie aus. Wenn sie in ihrer Hand vertraute Zeichen entdeckten oder dunkel von schwarzhaarigen Männern sprachen, zu denen sie sich hingezogen fühle, oder in ihrer Handschrift einen Konflikt zwischen ihrer impulsiven und ihrer konventionellen Seite sahen, machte sie große Augen. Als die geheimnisvolle Dame im Paillettenkleid ihr offenbarte, dass die Zukunft, wie aus den Karten, ihrer Handschrift, den feinen Spuren ihrer Lebenslinien hervorgehe, eine Ehe bereithalte, eine Enttäuschung, zwei Kinder und nach großem Kummer am Ende Glück auf sie warte, ging ein Strahlen über ihr kleines hübsches Gesicht. Ihr gefielen Wahrsagungen, plötzlich fand sie ihren Charakter ungeheuer dramatisch, und immer wieder lieh sie Madame Clarice ihr aufmerksames Ohr oder hielt Prinzessin Silver Star, jener verblühten Schönheit von den tiefen Mysterien, oder Karghi, dem Ägypter in Smoking und Turban, eifrig die Hand hin.

Alles, was die Bedeutung ihrer Existenz beglaubigte, faszinierte sie (selbst eine etwas komische Wissenschaft, denn sie erklärte, dass sie diesen magischen Deutungen im Grunde keinen Glauben schenke, aber es sei ja schon verblüffend, dass Madame Clarice von ihrer Scheidung gewusst habe). Nichts interessierte sie mehr als ihre Zukunft, vor allem die Frage, welche Männer darin vorkamen, welche Kinder sie bevölkerten und wie viel Glück sie ihr bringen würde.

Ich lächelte, und der Eifer, mit dem sie ihre bereitwillige Hand auf eine karierte Tischdecke legte, amüsierte mich, aber stand mir das zu? Denn diese Begeisterung für Wahrsagerei war bei ihr völlig natürlich. Mehr als irgendetwas anderes wollte sie bestätigt bekommen, dass das Morgen besser sein werde für sie, dass eine Belohnung sie erwarte, dass eine Erfüllung der Träume, die sie so gut vor anderen verbarg, möglich war. Angenommen, Madame Clarice stand tatsächlich in Kontakt zu dem Unbekannten? Hatte sie nicht, wenn man es recht bedenkt, die geschiedene Ehe entdeckt, ohne irgendwelche Hinweise erhalten zu haben? Und hatte sie in ihrer Hand nicht ein Kind gesehen? Angenommen, Karghi, der Ägypter, verfügte über besondere Einblicke? Das Universum war unergründlich, sie war sich selbst unergründlich, Zweifel und Zufälle ringsum, nichts war gewiss. Wie schön, wenn Prinzessin Silver Star tatsächlich die verborgene Zukunft lesen oder aufspüren oder weissagen konnte. Wie angenehm wäre das, dachte sie.

Wenn sie doch nur klüger wäre, sagte sie manchmal. Wenn sie doch nur intelligenter wäre. (Denn auch Intelligenz war der Besitz eines magischen Werkzeugs, mit dem man die Welt leichter beherrschen konnte, wie Aladins Wunderlampe oder eine Alchimistenformel.) Oder sie klagte darüber, dass sie so wenige Freunde hatte. Lag das an einer Eigenschaft von ihr, einer Kälte, einer mangelnden Umgänglichkeit, oder war es einfach so, dass Freunde, wahre Freunde, worunter sie jemanden verstand, der einen nicht kritisierte, so selten waren? Das Leben, das sie führte, fand sie mittlerweile so ermüdend. Jeder schien mehr Glück zu haben als sie, schien zumindest etwas zu besitzen, was sie nicht besaß. Häufig erklärte sie mir, dass es, wenn sie allein war oder niedergeschlagen oder ihre Tage hatte, Momente gebe, in denen alle Bindungen an das Leben wie aufgelöst schienen, in denen sie das Gefühl hatte, dass sie nirgends existierte, sondern wie an einem Faden zwischen dem stumpfen Leuchten des Himmels und der gewichtslosen Schwere der Erde hing. Und wenn sie die Augen lange genug schloss und völlig bewegungslos im Bett lag, kam es ihr fast so vor, als würde sie davonschweben, hohl und durchsichtig. Dann schien es, als wären alle Gedanken, die sie je gehabt hatte, alle Erinnerungen und Eindrücke und Bilder von Menschen und Dingen für immer verschwunden, und als wäre ihr Herzschlag nicht mehr zu hören und das Blut in ihren Adern würde stillstehen.

Sie war dann ganz aus Glas, fühlte sich durchsichtig oder wie aus Gaze, das beim leisesten Windhauch davonwehen konnte. Und weil ich befürchtete, dass solche Stimmungen, aus meiner Sicht waren es einfach Stimmungen, mit einer Todessehnsucht zu tun hatten, bat ich sie, aktiv zu werden, denn mir schien, dass ihre innere Leere vor allem durch Passivität ausgelöst wurde. Aber sie wollte nicht sterben, jedenfalls sagte sie, dass sie nicht sterben wolle. Dieses Davonschweben hatte in ihrer Vorstellung überhaupt nichts mit Sterben zu tun, sondern mit etwas anderem, mit einer Art Freude darüber, endlich frei zu sein, und wenn sie sich jemals frei fühlen werde, werde es diesem Gefühl ähneln, das sie hatte, wenn sie am wenigsten mit der Welt verbunden war. Sie konnte diese Empfindung kaum erklären, aber dieses Gefühl, das sie mir zu vermitteln suchte, war mir im Grunde fremd, denn ich wollte nicht frei von der Welt sein, sondern alles im Griff haben. Und weil mir nichts anderes einfiel, empfahl ich ihr, ihre Tage mit etwas zu verbringen, was ihr wichtig war, und dann dachte sie intensiv darüber nach, was ihr wichtig war.

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