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Insel hinter dem Regenbogen

Happiness Key wird für die verwöhnte Tracy ein Ort der Entscheidung. Geld - oder Liebe?

Die Ehe kaputt, das Vermögen weg, der Exmann im Gefängnis - die verwöhnte Tracy Deloche muss sich von ihrem Luxusleben verabschieden. Nur etwas Land auf Happiness Key ist ihr geblieben, einer Insel vor Florida mit ein paar Strandhäusern. Dort wohnen drei Frauen, mit denen Tracy nichts zu tun hat. Am besten wäre es, alles an einen Bauspekulanten zu verkaufen, glaubt sie. Aber die Zeiten sind schlecht, die Inselbewohnerinnen werden unerwartet zu Freundinnen … und dann ist da noch Marsh Egan. Der attraktive Rechtsanwalt setzt sich leidenschaftlich für den Umweltschutz ein und will Happiness Key unbedingt retten. Tracy muss sich entscheiden: Für oder gegen Marsh, für oder gegen Freundschaft - für oder gegen das Glück.


  • Erscheinungstag: 01.05.2011
  • Seitenanzahl: 656
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862780488
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der alte Mann meldete sich noch immer nicht.

Tracy Deloche ballte die Hand zur Faust und klopfte an den Rahmen von Herb Krauses Fliegengittertür. Sie zuckte zusammen, als sie sich einen Splitter einfing.

Ungeduldig drehte sie die Hand um und zog mit Fingernägeln, die dringend der Hilfe ihrer Lieblingsnagelpflegerin bedurften, den ärgerlichen Holzsplitter heraus. Leider war die herzensgute Hong Hanh mehr als dreitausend Kilometer von ihr entfernt und feilte und polierte gegen eine stattliche Vergütung Fingernägel im Beverly Wilshire Hotel. Tracy hingegen klopfte und schrie und versuchte, Herbert Krauses mickrige Miete einzutreiben, damit sie ihren Kühlschrank und ihren Tank füllen konnte.

„Mr. Krause, sind Sie zu Hause?“, rief sie. „Was ist bloß los?“, murmelte sie, als niemand antwortete. Hinter dem Haus sah sie seinen alten Dodge stehen. Sie war sich sicher gewesen, den richtigen Zeitpunkt erwischt zu haben. Doch offensichtlich hatte sie heutzutage fürs Geldeintreiben ein ebenso gutes Händchen wie für alles andere.

Tracy ließ sich auf eine Holzbank neben drei sorgfältig angeordneten Orchideen in Tontöpfen fallen. Etwas Grünes, Schleimiges flitzte hinter ihr entlang und verschwand in der Streu aus Louisianamoos, die die Beete bedeckte. Das war typisch für Florida – es wimmelte nur so von Lebewesen, die an einem vorbeihuschten und von denen einige mehr dürre Beinchen hatten als ein Eimer voller Hähnchenschenkel.

Happiness Key. Was übersetzt auch so viel hieß wie „Der Schlüssel zum Glück“. Sie musste sich ein Lachen verbeißen.

Ihr Ex-Ehemann C J war verantwortlich für den Namen des „Bauprojekts“, das aus Herbs sowie vier weiteren Häuschen bestand. In einem seltenen Versuch, poetisch zu sein, hatte C J dieses Loch das Yin und Yang von Florida genannt. Auf der einen Seite weiße Sandstrände mit hohen Palmen, die sich in der sanften tropischen Brise wiegten. Auf der anderen Seite die Schönheit der unverfälschten Natur Floridas. Mangroven und Alligatoren, exotische Zugvögel und Sümpfe, in denen die süße Melodie von Mutter Natur niemals verstummte. Wer könnte an einem Ort wie diesem nicht glücklich werden? Vor allem C J, der sich ausgemalt hatte, sein beachtliches Vermögen noch auszubauen, indem er das Land erschloss und einen Großteil dieser Natur dafür opferte – sein Traum waren ein Jachthafen und exklusive Eigentumswohnungen für wohlhabende Leute gewesen, die den Winter in Florida verbrachten.

Von der Seite von Herbs Häuschen her drang das Summen einer Klimaanlage an Tracys Ohr. Bei dem Geräusch bekam sie Zahnschmerzen. Ein Besuch bei Herb war so, als verbrachte man den Sommer in der Antarktis. Wie lange würde es noch dauern, bis das Gerät seinen Geist aufgeben, auf der Mülldeponie des Sonnenstaates landen und sie Hunderte von Dollar für ein neues würde ausgeben müssen? Herb war vermutlich älter als die Mangrovenbäume, die den Zugang zur Bucht blockierten, und älter als die Grabhügel am anderen Ende des Palmetto Grove Key, wo die ersten Siedler Floridas ihre Toten bestattet hatten. Kein Wunder, dass sein innerer Thermostat aus dem Tritt geraten war. Tracy war nur froh, dass der alte Mann selbst für seinen Strom bezahlte. Die Wohnung eines älteren Bürgers zwangsräumen zu lassen, um ein paar Dollar zu sparen, würde ihr die öffentliche Aufmerksamkeit bescheren, die sie im Moment wirklich nicht gebrauchen konnte.

Davon hatte sie in Kalifornien schon genug gehabt.

Sie lehnte sich an die Hauswand aus Betonsteinen, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Seit sie an diesem Morgen aus dem Bett gestiegen war, hatte sie nicht auf die Uhr geschaut, doch sie nahm an, dass es ungefähr neun Uhr war.

Die Luft begann allmählich zu flirren. Im Mai herrschten an der Golfküste Floridas bereits hochsommerliche Temperaturen. Natürlich hatte sie hier noch keinen Hochsommer miterlebt, also war der Juni vermutlich noch schlimmer. Wahrscheinlich war es im Juni unerträglich. Doch was machten schon ein paar Grad Lufttemperatur, wenn man bedachte, wie unerträglich ihr ganzes Leben seit der Scheidung von C J geworden war? Sollte die Luftfeuchtigkeit ruhig so hoch sein, dass man die Luft schneiden konnte. Was kümmerte es sie? Sie würde damit fertig werden und etwas daraus machen.

Das war ihr neues Mantra. Und sie hatte nicht einmal irgendeinem selbst ernannten Guru von der Westküste oder seinen ergebenen Anhängern ein Vermögen bezahlt, um das herauszufinden. Sie hatte es ganz allein herausgefunden. Gratis.

In der Nähe quietschte eine Tür. Einen Moment lang glaubte sie, dass Herb Krause sich durch die eisige Tundra in seinem Wohnzimmer geschlagen hätte. Doch dann hörte sie etwas, das sich wie ein Besen auf dem Betonfußboden anhörte. Sie schlug die Augen auf und beugte sich leicht vor, um Herbs Nachbarin Alice Brooks zu erblicken. Die alte Dame war in einen wallenden rot-weißen Hausmantel gehüllt und fegte ihre Veranda. Das war nicht das erste Mal. Tracy schenkte ihren Mietern zwar nur so viel Aufmerksamkeit, wie unbedingt notwendig war, aber selbst ihr war aufgefallen, dass Alice morgens, mittags und abends mit ihrem Besen draußen war.

Falls ihr Lebensinhalt jemals aus züchtig zugezogenen Hausmänteln und einer Veranda bestehen sollte, die sauber genug war, um jederzeit eine Operation darauf durchführen zu können, würde sie freiwillig ins Wasser gehen, bis die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen. Dann würde sie es sich dort bequem machen und einfach langsam verrotten.

Alice blickte von ihrer Veranda auf. Ihr Blick traf Tracy. Sie schien überrascht zu sein, ihre Vermieterin auf der Bank vor Herbs Häuschen sitzen zu sehen. Einen Moment lang sah sie sich verwirrt um.

Tracy erhob sich und schlenderte über die große Rasenfläche, die die Häuser voneinander trennte. Alice stand sowieso als Nächste auf ihrer Liste. Und da Herb sie entweder ignorierte oder nicht da war, konnte sie ebenso gut weitermachen. Irgendjemand musste heute seine Miete bezahlen – ansonsten wäre Tracy ebenso blank wie Paris Hilton in einem ihrer zahlreichen Privatvideos.

„Guten Morgen, Alice“, sagte sie, als sie vor ihr stand. Sie lächelte, obwohl die Anstrengung, den Mund zu verziehen, ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. „Sie machen wohl nie Pause, oder?“

„Der Sand. Und die Bäume.“ Alice schüttelte den Kopf.

„Tja.“ Tracy war sich nicht sicher, was mit Alice los war. Die alte Dame wirkte immer ein wenig so, als würde sie neben sich stehen. „Nun ja, ich habe mir überlegt, dass ich von allen Mietern den monatlichen Scheck einsammle, bevor es zu heiß wird.“

Alice nickte und legte verwirrt ihre Stirn in Falten. „Heute?“

„Genau. Heute ist der fünfzehnte Mai. Die Miete ist fällig. Erinnern Sie sich? Ich sagte, es wäre unkomplizierter, wenn jeder gleich am selben Tag bezahlen würde?“

Alice nickte wieder, sah aber noch immer verstört aus. Sie trug eine Brille mit Metallrand, der den gleichen silbergrauen Farbton wie ihr Haar hatte. Dazu hatte sie Ohrstecker mit Perlen angelegt, die mit einer altmodischen Halterung befestigt waren. Tiefe Falten zogen sich von ihrer Nase zu ihren Mundwinkeln, die immer etwas nach unten zeigten. Heute wirkte sie noch trauriger als sonst. Tracy hatte das Gefühl, dass die letzten Jahre nicht viele glückliche Momente für Alice bereitgehalten hatten.

Willkommen im Klub.

Im Haus erklang eine helle Kinderstimme, vermutlich von einem Mädchen. Tracy war bereits der neue Saab aufgefallen, der auf der Einfahrt neben Alices zehn Jahre altem Hyundai stand.

„Es tut mir leid“, sagte Tracy. „Klingt, als hätten Sie Besuch. Ich kann auch später wiederkommen, wenn es Ihnen besser passt.“

„Besuch?“

„Jemand ist in Ihrem Haus.“ Tracy wies auf Alices Fliegengittertür. Das Häuschen war, so wie alle anderen in der Siedlung, eine Schuhschachtel aus Betonsteinen mit einem schäbigen Schindeldach. Die Außenfassade von Alices Haus war in einem sanften Gelb gestrichen, die Fensterläden und die Türen in einem strahlenden Korallenrot, die Fenstersprossen und die Gitter vor den Fenstern in einem dunklen Seegrün. Als Verzierung prangten drei türkise Seepferdchen in einer absteigenden Reihe an der Wand. Für Tracy wirkten sie fast so, als versuchten sie zu fliehen.

Alice warf einen Blick hinter sich. „Enkelin. Mein Schwiegersohn. Sind gekommen, um hier zu wohnen.“

Tracy war überrascht. „Hier? Bei Ihnen?“

Ein Mädchen mit langen Haaren – höchstwahrscheinlich die zuvor erwähnte Enkelin – kam an die Tür und drückte sein Gesicht fest gegen das Fliegengitter. „Hi. Haben Sie Kinder?“, fragte sie hoffnungsvoll, die Lippen ans Fliegengitter gepresst.

Tracy versuchte, sich an die Klauseln in Alices Mietvertrag zu erinnern. Konnte ein Mieter ohne ihre Erlaubnis wirklich irgendjemanden einladen, hierherzukommen und auch in dem Häuschen zu wohnen? Mit den gewaltigen Ideen und Plänen für den Grundbesitz war der Papierkram eher dürftig ausgefallen, als C J die Häuschen vermietet hatte. Mit einer Kündigungsfrist von nur dreißig Tagen konnte der Vertrag von beiden Parteien gelöst werden, und alle Reparaturen lagen im Ermessen des Besitzers. Und Besitzer war nun Tracy, da C J augenblicklich mit seinen eigenen Problemen mehr als ausgelastet war.

Das Gesicht des kleinen Mädchens wirkte hinter dem Fliegengitter – einem altmodischen Ding, das vor sich hin rostete – ganz verschwommen. Durch das Fliegengitter hindurch war es schwer zu sagen, wie alt die Kleine sein mochte oder wie sie sonst aussah, doch Tracy nahm an, dass sie noch keine Jugendliche war. Ehe Tracy auf ihre Frage antworten konnte, erklang aus dem hinteren Teil des Hauses die Stimme eines Mannes.

„Olivia …“

„Haben Sie?“, wiederholte das Mädchen etwas leiser. „Jemanden, mit dem ich spielen kann?“

Tracy stellte sich vor, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie und C J zu ihrer persönlichen Gleichung noch ein Kind hinzugefügt hätten.

„Nein, niemanden“, erwiderte sie mit echter Dankbarkeit. „Tut mir leid. Ich habe nicht einmal einen Sittich.“

„Olivia …“ Die Stimme des Mannes klang freundlich, aber die Wiederholung erfüllte ihren Zweck. Olivia drehte sich um und wurde zu einem schemenhaften Umriss. Dann verschwand sie im Innern des Hauses.

„Lee stellt sie aus“, sagte Alice.

Tracy wandte sich wieder der alten Dame zu. „Entschuldigen Sie. Was meinten Sie?“

„Schecks. Lee stellt sie aus.“

„Ihr Schwiegersohn?“

Alice wirkte zufrieden, weil Tracy sie offenbar verstand. „Er wird ihn ausstellen.“

„Großartig. Würden Sie ihn bitten, dass er es jetzt sofort macht? Währenddessen kann ich es ja noch mal bei Herb versuchen. Sein Auto ist da, aber als ich vorhin geklopft habe, hat er nicht aufgemacht.“

„Habe ihn nicht gesehen.“

Tracy nahm das zur Kenntnis. War Herb weg? Oder war er etwa umgezogen? Ohne zu zahlen.

„Lee kümmert sich um … alles“, fuhr Alice fort.

Tracy interessierte sich eigentlich nicht für Alices Lebensumstände – solange sie nur ihre Miete pünktlich bezahlte und ohne zu murren das Häuschen räumte, wenn sie darum gebeten wurde. Aber im Moment musste Tracy sie noch bei Laune halten, deshalb zwang sie sich wieder zu einem Lächeln.

„Ich bin froh, dass Sie eine Familie haben, die Ihnen hilft. Das ist so wichtig.“

Alice wirkte zwar nicht wie ein Mensch, der schlurfte, aber nun zog sie ihre Füße, die in Slippern steckten, doch hinter sich her. Sie trat ins Haus. Ehe sie die Tür hinter sich schloss, bemerkte Tracy den sehnsüchtigen Blick auf den Besen.

Während sie zurück zu Herb Krauses Haus lief, musste Tracy zugeben, dass es im Notfall tatsächlich wichtig war, eine Familie zu haben. Sie sprach da aus eigener Erfahrung, denn sie selbst hatte niemanden. Sie war frisch geschieden, ihre Eltern hatten sie verlassen und der Großteil ihrer Freunde ebenso. Um die ganze Sache noch schlimmer zu machen, war sie in dieses moskitoverseuchte Sumpfgebiet gebracht worden und nun gezwungen, um Geld zu betteln, damit sie sich Lebensmittel kaufen konnte.

C J, der sich vermutlich auf einem Gefängnishof in Victorville sonnte, wusste wenigstens, woher seine nächste Mahlzeit kam. Dass sein Frühstück aus Rühreiern aus Eipulver, altbackenem Toast und wässrigem Kaffee bestand – und wenn schon? Egal, in welche Schwierigkeiten er in den kommenden zwanzig Jahren geraten würde: Die Vollzugsbeamten würden trotzdem immer sicherstellen, dass er keinen Hunger leiden musste.

Das war immerhin etwas. Sie hoffte, dass C J dieses Glück zu schätzen wusste. Denn in den vor ihm liegenden Jahrzehnten würde er sich mit solchen Kleinigkeiten zufriedengeben müssen.

„Da kommt sie.“

Wanda Gray legte Die Piratenbraut neben ihre bequeme Polsterliege unter dem Jacarandabaum und beobachtete, wie ihre neue Vermieterin den Schotterweg zu ihrem Haus heraufkam.

„Kenny …“, rief sie in Richtung der Fliegengittertür und ihres Mannes. „Es ist diese Deloche. Sie kommt, um den Scheck für die Miete zu holen. Misch dich jetzt nicht ein. Ich kümmere mich darum.“

Sie dachte, ein Grunzen gehört zu haben, doch sicher war sie sich nicht. Ein Grunzen war so ziemlich das Einzige, was sie dieser Tage noch von Ken zu hören bekam. Sie bedauerte, sich den Tag, an dem sie zum letzten Mal miteinander gesprochen hatten, nicht rot im Kalender markiert zu haben. Egal. Ein so alter Kalender wäre vermutlich schon längst zu billigen Papierservietten verarbeitet worden oder zu hässlichen Büroutensilien, die kein normaler Mensch für seinen Schriftverkehr benutzte.

„Bitte, bemühe dich nicht“, murmelte sie leise. „Warum solltest du ausgerechnet jetzt damit beginnen, wenn man bedenkt, dass du dich das letzte Mal um das Haus gekümmert hast, als Pluto noch ein Welpe war?“ Das Datum hätte sie sich übrigens auch im Kalender anstreichen sollen.

Sie hatte nicht vor aufzustehen, um die Deloche zu begrüßen. Sie nahm ihre Brille ab und legte sie neben ihr Buch, bevor sie das Sommerkleid über ihren pummeligen Knien glatt strich. Eine Hand ging unwillkürlich zu ihren mit Haarlack fixierten kupferroten Locken. Der Ansatz war erst vor Kurzem mit ihrer Lieblingsfarbe nachgefärbt worden. Doch das war auch schon alles an Vorbereitungen, die sie für die Begegnung mit dieser Deloche treffen würde. Und wenn Tracy Deloche so mager war wie eines von diesen Mädchen in Sex and the City? Was sollte es? Wanda Gray stand in niemandes Schatten – nicht einmal mit ihren sechsundfünfzig Jahren.

Worauf bildete diese junge Frau sich überhaupt etwas ein? Sicher, sie war die Besitzerin dieser zehn Hektar Land auf Palmetto Grove Key, auf der anderen Seite der Bucht von Palmetto Grove gelegen, und der Besitz war vermutlich Millionen wert. Doch was genau hatte sie davon? Ms Deloche mochte dieses Land zwar besitzen, aber sie konnte keinerlei Nutzen daraus ziehen. Sie hatte es nicht anders verdient, wenn sie eine Müllkippe wie diesen Grundbesitz ausgerechnet „Happiness Key“ nannte, weil sie glaubte, dass wegen des ausgefallenen Namens Unmengen von Interessierten hierherströmen würden.

Wandas Ansicht nach würde diese Deloche ziemliche Schwierigkeiten haben, das Land loszuwerden. Die Wirtschaft in Florida lag derzeit am Boden. Und außerdem hatte Wild Florida aufgeschrien, weil das U.S. Army Corps of Engineers Ms Deloches Exmann die Erlaubnis für die Erschließung des Landes gegeben hatte, und war dann vor Gericht gezogen. Hinzu kamen die Leute, die jeden Zentimeter der Mangrovenwälder schützen wollten, und diejenigen, die der Auffassung waren, dass mehr Verkehr und breitere Straßen einen alten indianischen Zeremonien- oder Begräbnishügel stören würden. Ms Deloche befand sich in einer wahrhaft schwierigen Situation. Und Wanda hatte vor, es ihr jetzt noch ein bisschen schwerer zu machen.

Mit Begeisterung.

Heute trug die Vermieterin eine lässige Caprihose in Schwarz und ein passendes Bikinioberteil dazu. Darüber hatte sie ein durchscheinendes weißes Hemdchen gezogen, durch das man bis auf die Schultern und Arme alles sehen konnte. Ihre Taille, ihre Brust und der Hals waren straff und sonnengebräunt. Ihr dunkelbraunes Haar fiel ihr schnurgerade bis zu den Schultern. Sie hatte ein Lächeln, das man sich mit Geld offensichtlich doch kaufen konnte, und faltenfreie Haut, die man am besten mit einer dicken Schicht Sunblocker vor schädlichen Strahlungen und der unvermeidlichen Hautalterung schützte. Wanda hoffte, dass sie nicht so weit dachte. Die eine oder andere Falte würde ihr nur recht geschehen.

Als Tracy endlich zu ihr trat, saß Wanda wartend auf ihrer Liege, die Fingerspitzen aneinandergelegt, und wirkte, als hätte sie alle Zeit der Welt.

„Hi, Wanda“, sagte Tracy und ließ ihre Zehntausend-Dollar-Zähne aufblitzen. „Sie sehen aus, als hätten Sie es schön kühl und gemütlich.“

Wanda ließ sich nicht täuschen. Tracy Deloche würde es nicht mal auffallen, wenn Wanda nach einem tödlichen Biss der Korallenschlange in den letzten Zügen liegen und sich auf dem Boden winden würde.

„Sie sehen auch aus, als hätten Sie es schön kühl und gemütlich.“ Wanda hob eine Augenbraue. „Wegen Ihres Bikinioberteils und so.“

„Glauben Sie mir, dieses Top hat noch nie einen Tropfen Wasser gesehen. Es würde sich in seine Bestandteile auflösen.“

„Na, wenn das nichts ist. Ein Badeanzug, den man nicht nass machen darf. Was lassen Sie sich als Nächstes einfallen?“

Tracy lächelte, als wollte sie sagen, dass die Zeit für belangloses Geplauder hiermit abgelaufen sei. „Ich will Sie nicht lange von Ihrem Buch abhalten.“ Ihr Blick fiel auf das Cover von Wandas Lieblingstaschenbuch und wanderte dann wieder zu Wanda. Doch sie konnte sich ein abschätziges Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin nur kurz gekommen, um den Scheck für die Miete abzuholen.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnete Wanda, ohne sich vom Fleck zu rühren.

„Dann ist der Scheck fertig?“

„Nein. Ganz und gar nicht, wenn ich an die Liste von Dingen denke, die Sie reparieren lassen müssen, ehe Sie auch nur einen Penny bekommen.“ Mit Genugtuung bemerkte Wanda, wie Tracys Lächeln allmählich erstarb. Als es ganz verschwunden war, versetzte Wanda ihrer Vermieterin den Todesstoß.

„Und bevor Sie mich an unseren Mietvertrag erinnern – falls Sie den Fetzen Papier, den Kenny unterschrieben hat, so nennen wollen – und mir sagen, dass Sie nicht verpflichtet sind, irgendetwas in dem Haus zu machen: Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich mit einigen Leuten bei Gericht gesprochen und ihnen von den Dingen erzählt habe, die hier schieflaufen.“

Wanda machte eine kurze Pause, um diese Information sacken zu lassen. „Natürlich habe ich den Leuten nicht meine genaue Adresse genannt. Noch nicht. Aber sie sagten, dass sie diese Bude für abrissreif erklären lassen würden, wenn auch nur die Hälfte der Dinge stimmt, die ich ihnen erzählt habe. Also nehme ich an, dass Sie als eine kluge und gebildete Frau … Sie stimmen sicherlich zu, dass es weitaus besser ist, ein paar Reparaturen zu veranlassen und die jetzigen Mieter zu halten, als sich den ganzen Zirkus anzutun, neue Mieter zu finden.“

Tracy schwieg. Wanda fragte sich, ob sie sich gerade sehr beherrschte, um nicht zu explodieren.

„Möchten Sie die Mängelliste haben?“, fragte Wanda schließlich.

„Haben Sie nie in Betracht gezogen, einfach mit mir über die Probleme zu reden, damit wir eine gemeinsame Lösung finden können?“

„Schätzchen, Leute wie Sie bitten Leute wie mich nicht, einen solch miesen alten Vertrag zu unterschreiben, wenn Sie nicht vorhaben, damit etwas gegen uns in der Hand zu haben.“

„Schätzchen …“ Tracy verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, und das Wort quoll hervor wie kochender Sirup. „Leute wie ich wissen, dass Leute wie Sie mit einem Polizisten verheiratet sind. Selbst wenn ich also ein skrupelloser Besitzer von abbruchreifen Häusern wäre – was als Kind übrigens nie mein Berufswunsch für die Zukunft gewesen ist –, hätte ich es mir doch wohl zweimal überlegt, mögliche Probleme zu ignorieren.“

Wanda starrte auf ihre knallpinken Fingernägel und stellte fest, dass an einem Nagel ein winziges Stück Lack abgeplatzt war. Vermutlich war es passiert, als sie am Tag zuvor die Platte mit Zackenbarsch an Tisch sechs getragen hatte. Sie hätte es besser wissen müssen und nicht versuchen sollen, die gesamte Bestellung auf einmal zu bringen, ohne eine Hand für Notfälle frei zu haben – wie zum Beispiel die Schwingtür, an der sie sich den Kratzer im Nagellack geholt hatte.

Sie blickte wieder auf. „Möchten Sie die Liste haben? Ich habe sie hier. Denn Sie müssen sich ja nur mal umsehen. Ich hätte gedacht, dass Sie das schon erledigt haben, da Ken doch – wie Sie erwähnt haben – Polizist ist.“

„Jetzt machen Sie mal halblang, okay? Ich bin erst seit zwei Wochen hier. Und ich habe den Großteil der Zeit damit verbracht, die Bruchbude auszumisten, in der ich wohne. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mir die anderen Häuser genauer anzusehen.“

„Nein, Sie haben gehofft, wir würden diesen Mietvertrag einfach kritiklos annehmen. Und behaupten Sie nicht, es wäre nicht so.“

Wanda zog einen Umschlag unter ihrem Buch hervor und streckte ihn Tracy entgegen. „Aus dem Herd strömt so viel Gas aus, dass die beiden Sträucher vor meinem Küchenfenster umgekippt sind. Im Bad ist ein Leck im Dach. Die Toilette ist verrosteter als ein Kriegsschiff. Und wenn ich Haustiere hätte haben wollen, hätte ich mir eine Katze zugelegt und keine Horde amerikanischer Schaben. Ich habe schon einen Kammerjäger bezahlt und jemanden, der die größten Löcher abdichtet, durch die sie kommen. Sie können die Kosten von meiner Miete abziehen.“

„Donnerwetter. Keine Kalksteinfliesen? Keine Granitarbeitsflächen?“

Wanda legte den Umschlag auf ihr Buch, als Tracy keine Anstalten machte, ihn entgegenzunehmen. „Machen Sie nur so weiter, und machen Sie sich lustig. Aber denken Sie darüber nach. Wir können warten. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie schwierig es ist, heutzutage eine Zwangsräumung durchzusetzen? Vor allem wenn der Sheriff mit einem bestimmten Mitglied der Palmetto Grove Polizei befreundet ist?“

Tracy bückte sich und schnappte sich den Umschlag. „Ich werde tun, was ich kann. Aber erwarten Sie keine Wunder.“

Wanda sah zu, wie Tracy den Weg zu dem Häuschen entlangging, in dem die Inder sich eingerichtet hatten. Wanda hielt sie nicht davon ab, obwohl sie wusste, dass die beiden nicht zu Hause waren. Vor einer Stunde hatte sie beobachtet, wie sie das Haus verlassen hatten. Wenigstens sprach das junge dunkelhäutige Paar am Ende der Straße ihre Sprache, falls Tracy sie jemals antreffen sollte. Das musste Wanda ihnen zugutehalten. Eine gute Sache an Indern war, dass sie die Landessprache beherrschten und immer gute Manieren hatten. Dass sie jedoch keine fünfzig Meter von ihnen entfernt wohnten, war nur ein weiteres Zeichen, dass dieser Ort, an den Ken sie gebracht hatte, eine vollkommen fremde Welt war. Es würde niemals ihr Zuhause werden.

„Happiness Key, so ein Quatsch.“

Mürrisch betrachtete sie, wie Tracy Deloches fester kleiner Po entschlossen hin und her wackelte, bis die junge Frau schließlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie musste nicht einmal ins Haus rufen, um Ken Bescheid zu geben, dass sie sich um das Problem gekümmert hatte. Wanda wusste, dass es vergebene Liebesmüh war.

2. KAPITEL

Zum Frühstück aß Rishi am liebsten Cornflakes. Die Marke war ihm egal. Meist nahm Janya im Laden die Sorte, die gerade im Angebot war. Ihr Ehemann mochte Cornflakes, die möglichst süß und leicht wie eine Wolke waren. Dann tränkte er sie mit viel Milch, bis alles zu einer dickflüssigen Masse wurde. Doch vielleicht war das – wie so vieles andere – ihre Schuld. Vielleicht würde Rishi ein nahrhafteres Frühstück zu sich nehmen, wenn sie sich die Mühe machen würde, einige der Speisen zuzubereiten, die schon ihre Mutter morgens serviert hatte.

Janya träumte von den Morgen, als sie noch ein Kind gewesen war. Dampfende, mit masala gewürzte Milch und poha, ein Gericht aus geschlagenem Reis, serviert mit Kokosnussraspeln. Sie sehnte sich nach idli, den leckeren Reisküchlein, die man in sambar, eine feurige Soße, tauchte. Und sie wünschte sich die würzigen Omelettes ihres Kochs, zu denen eine Auswahl von Broten gereicht wurde, die entweder gegrillt oder gebacken waren. Manchmal stellte sie sich vor, morgens eine Platte mit verschiedenen Obstsorten zu genießen. Mangos und Papayas, Granatäpfel und besonders chikku mit dem süßen Fruchtfleisch, das nach Karamell schmeckte. Leider hatte sie diese Früchte in Florida noch nie gesehen.

Doch Rishi war solche Speisen nicht gewohnt, also vermisste er sie auch nicht. Die Tante in Massachusetts, bei der er aufgewachsen war, hatte solche Köstlichkeiten für ihre eigene Familie nur selten zubereitet – und noch seltener für Rishi. Rishi war der verwaiste Neffe ihres Ehemannes gewesen, und seine Tante war verpflichtet gewesen, ihm ein Heim zu bieten. Doch sie war nicht verpflichtet gewesen, ihn zu lieben wie ihre eigenen Söhne.

Jetzt war Janya für Rishi verantwortlich, und auch sie musste ihm ein Heim bieten. Aber sie musste ihn nicht lieben, wie sie den Mann geliebt hatte, den sie einst verloren hatte. Janya erfüllte lediglich das, was laut ihres Ehevertrages absolut notwendig war. Sie teilte die Wohnung mit Rishi, hielt sie sauber und sorgte für warme Mahlzeiten. Sie teilte sogar das Bett mit Rishi, doch sie konnte ihr Herz nicht mit ihm teilen. Und sie konnte auch sein Herz nicht annehmen, obwohl sie wusste, dass er sich das wünschte.

An diesem Morgen war Rishi früh zur Arbeit gegangen, ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Cornflakes zu essen oder sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Als sie von ihrem frühmorgendlichen Spaziergang in das ruhige kleine Haus zurückkehrte, das ein wenig nach Weihrauch und verrottendem Holz roch, war er bereits aufgestanden und weggefahren. Erleichtert, dass sie keine nichtssagende Konversation betreiben musste, duschte sie. Dann zog sie sich einen gemütlichen salwar kamiz an, eine bestickte lange Baumwollbluse mit einer Hose, die an den Knöcheln eng geschnitten war. Und bevor sie es sich noch einmal anders überlegte, warf sie einen Blick auf den Busfahrplan, schloss dann die Tür ab und ging die Straße entlang, die die Halbinsel teilte, auf der ihre Häuser standen.

Janya war froh, dass sie an keinem der Nachbarhäuser vorbeigehen musste, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass einer ihrer Nachbarn sie auf einen Plausch anhielt – bis auf Mr. Krause vielleicht. Der Weg zur Bushaltestelle war lang und anstrengend, und wenn sie später nach Hause kommen würde, würde die Sonne jeden Schritt zu einer Qual machen. Wenigstens stand die Bank an der Haltestelle im Schatten unter einem großen Banyanbaum.

Sie wartete allein und beobachtete die Autos, die mit offenem Verdeck und aufgedrehten Radios vorbeisausten. Nur wenige Menschen nutzten in Palmetto Grove den Bus, und deshalb fuhr er auch nur selten. Die Leute hingen nicht halb aus den offenen Türen oder bedrängten und schubsten ihre Mitfahrer wie zu Hause in Indien. Janya bekam immer einen Sitzplatz. Nie lehnte sich jemand an sie, und auch Kleinkinder zupften nicht an ihren Kleidern herum.

Wenn der Bus sie schon nicht an ihre Heimat erinnerte, so tat es der Banyanbaum. Der Banyanbaum war Indiens Nationalbaum, und das Wort stammte aus der Sprache Gujarati. Sie erinnerte sich noch gut an einen vedischen Text, den sie in der Schule gelernt hatte, auch wenn sie ihn inzwischen nicht mehr in Sanskrit wiedergeben konnte.

An der Wurzel wie Brahma, in der Mitte wie Vishnu und oben wie Shiva geformt, grüßen wir dich, König aller Bäume.

Im Juni gab es einen Tag, an dem die Frauen fasten, zum Banyanbaum beten und ihn bitten konnten, bei jeder Wiedergeburt denselben Ehemann geschenkt zu bekommen. Bis zum Juni war es nicht mehr lange hin. Doch das war ein Ritual, an dem Janya sicherlich nicht teilnehmen würde. Weder jetzt noch in Zukunft.

Der Banyanbaum war vor fast einem Jahrhundert vom Erfinder Thomas Edison nach Florida gebracht worden. Das hatte Rishi Janya erst gestern erzählt. Sie hatten einen Ausflug nach Fort Myers gemacht, der Janya ihre neue Heimat näherbringen sollte. Ihr Ehemann liebte solch sonderbare Details, liebte Fakten und Informationen, die er einteilen und in seinem Hirn, das wie ein Computer arbeitete, abspeichern konnte. Seine Begeisterung für diese Nichtigkeiten bereitete ihr Kopfschmerzen.

Sie ermahnte sich, nicht über Rishi oder ihre Ehe nachzudenken. Diese kurzen Momente der Freiheit waren selten genug, und sie wollte sie genießen. Sie wollte zumindest so tun, als wäre sie wie alle anderen und so gut wie glücklich mit ihrem Schicksal.

Der Bus kam pünktlich, und wie immer erschien es ihr beinahe wie ein Wunder. Schnell kletterte sie in den Bus, in der Angst, dass er wegfahren könnte, während sie noch verdutzt den Kopf schüttelte.

Es war eine kurze Fahrt. Palmetto Grove war eine friedliche, ruhige Stadt, klein, mit sehr viel Smaragdgrün und einigen für die Karibik typischen bunten Farbklecksen. Die Autofahrer benutzten nur selten die Hupe, und die Fußgänger waren sicher, wenn sie die Straßen überquerten. In dem kleinen Stadtzentrum, das nur einige Blocks vom Golf entfernt war, befanden sich Läden, Videotheken, Restaurants mit hübschen Sonnenterrassen und Geschäfte mit Eisenwaren, Autoteilen oder Hochzeitstorten. Die Bürgersteige glitzerten im Sonnenlicht. Frauen aller Altersstufen, mit kurzen Hosen oder Sommerkleidern, spazierten Arm in Arm mit braun gebrannten Männern mit Sonnenbrillen durch die Stadt.

In die Stadt zu fahren weckte in Janya jedes Mal ein solches Heimweh, dass sie es kaum aushalten konnte. Nicht weil Palmetto Grove wie Mulund ausgesehen hätte, der kleine Vorort von Mumbai, in dem sie aufgewachsen war. Sondern weil es hier eben nicht so aussah. Hier war alles so leicht, so vernünftig, so höflich, so ganz anders. Sie hatte Indien nie verlassen wollen. Anders als viele Angehörige der Oberschicht, die ihre Zukunft an anderen Orten dieser Welt gesehen hatten, hatte sie ihre immer dort gesehen, wo sie geboren worden war. Jetzt fragte sie sich, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren würde.

In der vergangenen Nacht hatte sie, um ihr Heimweh zu lindern, eine Liste mit Dingen gemacht, die sie erledigen wollte, wenn sie aus dem Bus stieg. Zuerst wollte sie ihre Adressdaten der kleinen Bücherei in der Innenstadt geben, damit sie sich Bücher ausleihen konnte. Dann wollte sie den kleinen Spezialitätenhändler aufsuchen, in dessen Laden unterschiedliche Linsen, Gewürze, Hummus und frisches Pitabrot für die Zugezogenen aus dem Nahen Osten, Jerk-Gewürz für die Jamaikaner und Bananenchips und tropische Säfte für die Kubaner angeboten wurden. Und schließlich wollte sie sich das Freizeitzentrum anschauen.

Als Teil seiner Aktion, sie glücklich zu machen, hatte Rishi ihr von dem Zentrum erzählt. Es gäbe dort Kurse, hatte er gesagt, und für jeden, der in Palmetto Grove lebe, wäre etwas dabei. Die Kursgebühren seien gering, und sie hätte die Möglichkeit, andere junge Frauen zu treffen, junge Frauen, die auch viel Zeit und wenig Geld hätten. Er hatte darauf bestanden, dass es gut sei, das Haus zu verlassen und die Amerikaner besser kennenzulernen. Eines Tages wäre sie selbst eine von ihnen.

Das war etwas, auf das sie sich nicht unbedingt freute. In Janyas Augen wirkten alle Amerikaner einsam. So viel Platz um sie herum. So wenig Familie. Alte Menschen wie Herbert Krause und Alice Brooks lebten allein und mussten sich ohne Hilfe um ihre Angelegenheiten kümmern. Wo waren denn ihre Kinder, ihre Enkel, die Nichten und Neffen, die sie versorgten?

Natürlich gab es Fälle, in denen die Familie schlimmer war, als niemanden zu haben. Sie wusste das.

Eine Stunde später war Janya im Besitz eines Büchereiausweises und hatte zwei Bücher ausgeliehen. Außerdem hatte sie rote und gelbe Linsen gekauft, Asant, Bockshornkleesamen und sechs Dosen mit kubanischem Fruchtnektar. Nachdem sie überlegt hatte, ob es nicht an der Zeit war, nach Hause zu fahren, machte sie sich auf den Weg zum Freizeitzentrum, ihrem letzten Stopp an diesem Morgen.

Das Henrietta-Claiborne-Freizeitzentrum war ein Geschenk an die Stadt Palmetto Grove gewesen. Die exzentrische Erbin eines Fleischerei-Imperiums, deren Auto vor vier Jahren kurz vor der Stadt den Geist aufgegeben hatte, war die edle Spenderin gewesen. Sie war allein und inkognito auf einer Reise kreuz und quer durch den Staat gewesen – von ihrem Anwesen in Palm Beach zu dem Gegenstück in Newport, Rhode Island. Also hatte sie in einem örtlichen Café gesessen und darauf gewartet, dass jemand nach Tampa fuhr, um ein Ersatzteil für ihren Jaguar zu besorgen – so inkognito war sie nun auch wieder nicht gewesen. Und währenddessen hatte Henrietta eine Unterhaltung darüber mitbekommen, wie dringend die Stadt ein Freizeitzentrum brauchte, damit die ständigen Bewohner einen Ort hatten, um soziale Kontakte zu knüpfen, und damit die Kinder und Teenager ihren Hobbys nachgehen konnten.

Henrietta war von der Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Einwohner von Palmetto Grove so beeindruckt gewesen, dass sie stehenden Fußes einen Scheck ausgestellt hatte. Sie hatte dem Bürgermeister die Spende in die Hand gedrückt und war kurz darauf mit ihrem reparierten Jaguar wieder davongefahren. Der Schatzmeister hatte über eine Woche gewartet, um den Scheck zur Bank zu bringen, weil er geglaubt hatte, dass die seltsame alte Dame im Wahn gehandelt hatte. Er und der Bürgermeister hatten ihr einen Vorsprung geben wollen, damit niemand sie finden konnte, wenn die Bank sie anzeigte.

Wenn Rishi ihr diese Geschichte nicht en detail erzählt hätte, hätte sie sie nun auf einer Tafel neben der Eingangstür des Zentrums nachlesen können.

Im Innern roch das Gebäude noch immer neu. Die Wände waren in zarten Pastelltönen gestrichen. Ein gedecktes Rosa für einen Flur, der vom Empfangsbereich abging, Blau für den Korridor auf der gegenüberliegenden Seite. Der Empfangsbereich wurde von bodentiefen Fenstern eingerahmt, und die Wände, die die Fenster umgaben, waren in Buttergelb gestrichen. Wenn Ferien waren, wimmelte es hier nur so von Kindern und Teenagern, aber heute waren nur ein paar Leute zu sehen. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm las Nachrichten am Schwarzen Brett. Ein Mann stand auf der einen Seite des langen Empfangstresens und trug sich in eine Liste ein. Die Frau, die auf der anderen Seite saß und genauso schlicht und steif wirkte wie die Nonnen, die Janya als Kind unterrichtet hatten, lächelte ihr zur Begrüßung zu.

„Wenn Sie wissen, wohin Sie wollen, beachten Sie mich einfach gar nicht“, sagte sie zu Janya. „Aber wenn ich helfen kann, sagen Sie Bescheid.“

Janya fühlte sich ermutigt. „Ich bin hier, um mal zu schauen, welche Kurse Sie hier anbieten.“

Wieder lächelte die Frau. „Wo liegen denn Ihre Interessen? Es gibt noch einige Kurse, die Plätze frei haben. Sportkurse, Computerkurse, spanische Konversation, die Auswahl geeigneter Kinderbücher …“

„Sportkurse?“ Wenn Janya sich entschloss, hierherzukommen, wollte sie etwas Spannenderes als einen Sprachkurs – sie beherrschte bereits drei Sprachen fließend und konnte in zwei weiteren lesen und sich verständlich machen. Und sie brauchte keinen Kurs, in dem man ihr beibrachte, welche Bücher man seinen Kindern zu lesen gab.

„Wir haben einen Volleyballverein, der noch Mitglieder sucht.“

Janya schüttelte den Kopf.

„Yoga.“

Wieder schüttelte sie den Kopf.

„Bauchtanz?“

„Nein, eher nicht.“

„Tanzaerobic.“

Janya legte fragend den Kopf schräg. „Was ist das genau?“

„Man tanzt zu einem bestimmten Programm, das Sie in Form bringt. Unsere Kursleiterin ist toll. Ich kann Ihnen versprechen, dass es Ihnen gefallen wird. Ich halte übrigens den Abendkurs.“

Ganz gegen ihren Willen war Janyas Interesse geweckt. Sie tanzte gern und war ein großer Fan von Bollywood-Filmen. Als Kind hatte sie oft zu Liedern getanzt und gesungen, die sie und ihre Cousine Padmini erfunden hatten. Manchmal hatten sie sich sogar mit Padminis Videokamera dabei gefilmt.

Die unglückliche Erinnerung an zu Hause hatte sie schlagartig wieder ernüchtert. Doch der Dame am Empfang fiel das gar nicht auf. Seit Janya gelächelt hatte, schien die Frau überhaupt nichts anderes mehr wahrzunehmen.

Die Frau stand auf und kam um den Tresen herum. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Kommen Sie mit. Die Hälfte der Stunde ist um. Sie können den Rest der Stunde kostenlos mitmachen. Dann können Sie sich entweder für den Kurs anmelden oder einfach für vier Dollar kommen, wann Sie wollen.“

„Oh nein, ich kann nicht …“

„Sicher können Sie. Sie müssen keine Sekunde länger bleiben, als Sie möchten. Sie können auch einfach zusehen und dann entscheiden, ob es Ihnen gefällt.“

Janya wollte keine Schwierigkeiten machen und ablehnen – nicht wenn die Frau so nett war. „Danke schön.“

Als sie durch den rosafarbenen Flur gingen, fasste die Dame das umfangreiche Angebot zusammen. „Und dann haben wir noch die Schwimmkurse: Wasseraerobic und Anfängerkurse bis hin zu Lebensrettungskursen.“

Janya fühlte sich unwohl. Die Frau tat so, als würde Janya dazugehören, als wäre es etwas ganz Normales, einen Kurs erst auszuprobieren, den man vielleicht belegen wollte. Sie wollte erklären, dass das hier nicht ihr Land war, dass sie weder nach Florida noch in dieses Freizeitzentrum gehörte, dass sie sich unbehaglich fühlen würde, wenn sie mit fremden Menschen tanzen sollte. Doch sie hatten bereits die Eingangstür zur Turnhalle erreicht. Und noch ehe Janya sich überlegt hatte, wie sie sich höflich zurückziehen konnte, standen sie in einem Teil der Halle, der durch einen Paravent abgetrennt war.

Zur Musik, die die Amerikaner Countrymusic nannten, warfen ungefähr zwölf Frauen ihre Arme in die Luft und glitten mit den Füßen im Takt über den Boden. Keine der Frauen blickte auf, als die Tür geöffnet wurde. Nur die Kursleiterin – eine wohlproportionierte Frau in den Dreißigern, die eine enge glänzende Hose und ein gestricktes Spaghettiträgertop trug – bemerkte, dass Janya und die Empfangsdame eingetreten waren.

„Sehen Sie ruhig zu, oder machen Sie mit“, sagte die Empfangsdame. Sie hatte die Stimme nur so weit gesenkt, dass Janya sie über die Musik hinweg noch hören konnte. „Falls Ihnen dieser Kurs doch nicht zusagt, finden wir etwas anderes für Sie. Sagen Sie Bescheid.“ Sie tätschelte Janyas Schulter und schlüpfte aus der Tür.

Janya fragte sich, ob es einen Hinterausgang gab, sodass sie sich hinausschleichen konnte, ohne jemanden zu enttäuschen.

In dem Moment blickte die Kursleiterin sie an, streckte den Arm aus und rief: „Warum stellen Sie sich nicht in die letzte Reihe? Machen Sie den Damen vor Ihnen alles nach. Bis jetzt sind wir alle noch Anfänger. Viel Vergnügen!“

Jetzt konnte sie nicht mehr verschwinden. Janya war genauso gefangen wie in so vielen anderen Dingen. Sie hatte keine andere Wahl. Also stellte sie unsicher ihre Einkäufe auf den Boden und ging in die letzte Reihe, in der drei Frauen schon Platz gemacht hatten. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier eigentlich tat, doch sie machte einfach die Bewegungen der schlanken dunkelhaarigen Frau vor sich nach. Erst als die Schrittfolge vorsah, dass alle sich um sich selbst drehten, und Janya verdutzt stehen blieb, erkannte sie, dass die dunkelhaarige Frau ihre Vermieterin Tracy Deloche war.

Das Henrietta-Claiborne-Freizeitzentrum erinnerte Tracy an eine große öffentliche Highschool – obwohl sie selbst nie eine solche Schule besucht hatte. Die geringsten Geräusche hallten wider. Die Fußböden waren abgewetzt von zu vielen Turnschuhen, die darüber geschlurft und gequietscht waren. Dem Architekten war offensichtlich eher an Zweckmäßigkeit als an Ästhetik gelegen gewesen. Die Flure waren breit genug, um in ihnen das Kentucky Derby laufen zu lassen, und an den Wänden fehlte jeglicher Schmuck. Sie vermisste ihr Fitnessstudio zu Hause, wo jede Stunde mit einem Personal Trainer begann und mit einer Massage endete. Sie vermisste das Dampfbad und die Sauna, die Grotte mit dem lauwarmen Tauchbecken und dem beruhigenden Wasserfall, den Tisch mit der Verpflegung – von duftenden Kräutertees bis hin zu Schüsseln mit frischen Früchten.

Trotzdem – Sport war Sport, und nach ein paar wirklich frustrierenden Tagen tat es gut, die Arme zu schwingen und zu hüpfen. Sie war nur überrascht, eine ihrer Mieterinnen in der Reihe hinter sich zu sehen. Sicher, es war ein Ort der Chancengleichheit für alle. Aber diese Kapur – ihr Vorname war Tracy entfallen – war der letzte Mensch, den Tracy hier erwartet hätte. Natürlich hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, wie Leute in anderen Ländern Sport zu machen pflegten. Vielleicht gab es in Indien oder Pakistan – oder woher auch immer die Kapurs stammten – an jeder Ecke Tanzkurse. Vielleicht war das Tanzen Teil ihrer Religion.

Mrs Kapur sah aus, als wäre sie jünger als Tracy. Sie hatte eine wohlgeformte Figur mit weiblichen Hüften statt der knabenhaften Form, die derzeit Mode war. Ihre Schönheit war nicht zu leugnen. Heute hatte sie ihr schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengebunden, aber an einem Nachmittag hatte Tracy gesehen, wie sie es offen getragen hatte. Es reichte ihr bis zum Rücken. Noch nie hatte Tracy so dickes Haar gesehen. Es hatte diese natürliche Welle, wie sie durch die Luftfeuchtigkeit in Florida entstand. Die junge Frau war mit einer Hautfarbe auf die Welt gekommen, für die viele von Tracys Freundinnen Stunden unter der Höhensonne verbrachten. Sie hatte schwarze Augen, ohne eine Spur von Braun, groß und rund und mit dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Die Augenbrauen waren perfekt geschwungen. Sie war ganz einfach wunderbar – und vermutlich musste sie sich dazu nicht einmal anstrengen.

Tracy gewöhnte sich allmählich daran, die Welt ungerecht zu finden.

Die Musik verklang, und ihre Mieterin eilte auf die Tür zu. Doch Tracy holte sie ein.

„Hi. Es tut mir leid, aber ich habe Ihren Vornamen vergessen.“

Die junge Frau wirkte eher schicksalsergeben als erfreut. „Janya.“

„John-ya.“ Tracy bemühte sich, sich diesen Namen zu merken. „Das ist hübsch.“

Janyas Lächeln gab einen Blick auf ihre weißen Zähne preis – fast perfekt, bis auf einen Eckzahn, der nicht ganz gerade stand. Tracy, deren Vater sich selbst als Kieferorthopäde der Stars anpries, erkannte ein Lächeln, das ohne menschliches Zutun genauso war, wie der Schöpfer es erschaffen hatte.

Ohne Umschweife kam Tracy auf den Punkt. „Ich war gestern bei Ihnen zu Hause. Heute Morgen auch. Um die Miete abzuholen.“

„Die war gestern fällig, richtig? Wir waren nicht da, aber mein Mann hat den Scheck bei Ihnen zu Hause eingeworfen.“

Tracy fragte sich, ob es ein weltweiter Brauch war, die Vermieterin auf ihren Kosten sitzen zu lassen. „Das glaube ich nicht. Der Scheck war nicht im meinem Briefkasten.“

„Rishi hat gesagt, dass er den Scheck nicht in den Briefkasten hat legen wollen, wo ihn jeder rausholen kann. Also hat er ihn unter Ihrer Tür durchgeschoben.“

Tracy war an diesem Morgen aus der Hintertür gegangen und hatte nicht daran gedacht, ihre Post woanders zu suchen als in ihrem Briefkasten an der Straße. Der Scheck lag vermutlich in ihrem Wohnzimmer, und sie hatte ihn übersehen.

„Oh, tja, das erklärt natürlich einiges.“ An Janyas Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass die junge Frau noch mehr erwartete. „Danke – oder vielmehr: Richten Sie Ihrem Mann meinen Dank aus. Sie sind die einzigen Mieter, die ich nicht rügen muss.“

„Rügen?“

„Ermahnen. Bitten. Sie wissen schon … Die Einzigen, die ich nicht ausdrücklich daran erinnern muss.“

„Ich weiß, was Sie sagen wollten.“ Janya drehte sich um, aber Tracy, die sich schuldig fühlte, weil sie die Frau für etwas beschuldigt hatte, das sie nicht getan hatte, legte ihr die Hand auf den Arm.

„Wie hat Ihnen der Kurs gefallen?“

„Ich glaube, es ist schon lange her, dass ich so vieles so schnell gemacht habe.“

„Es war ziemlich anstrengend, oder?“

„Und jetzt muss ich mich beeilen, um zur Bushaltestelle zu kommen, denn sonst verpasse ich den nächsten Bus.“

Wieder wandte Janya sich ab, doch Tracy hielt sie zurück. „Sie nehmen den Bus? Wenn Sie nach Hause wollen, können Sie auch mit mir fahren. Ich kann Sie bringen. Es ist kein Umweg für mich.“

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

„Na ja, nötig ist es nicht. Aber ich biete es Ihnen an. Ich fahre sowieso nach Hause, also juckt es mich nicht weiter.“

„Das … juckt Sie nicht?“ Janya runzelte die Stirn.

„Es ist kein Problem. Das ist nur eine andere Art, das auszudrücken.“ Tracy warf einen Blick auf ihre Uhr. „Aber ich muss jetzt los. Ich kann Herb Krause nicht erreichen, und ich hoffe, dass er zum Mittagessen zu Hause ist. Sie wissen ja, wie die Rentner heutzutage sind. Sie schwören, dass die Rente nicht mal für einen Hamburger reicht.“

Ihr wurde klar, dass Janya ihr nicht ganz folgen konnte. Janya beherrschte ihre Sprache sehr gut, obwohl sie einen Akzent und diese bestimmte Sprachmelodie hatte, die Late-Night-Comedians so gern nachahmten. Doch Tracy hatte schnell gesprochen. Vielleicht zu schnell. Sie hielt inne.

„Also, kommen Sie mit?“, fragte sie, nachdem sie Janya ihrer Meinung nach genug Zeit gelassen hatte, um die Informationen zu verarbeiten.

„Ja, danke.“

„Mein Wagen steht vor dem Gebäude.“ Tracy ging um sie herum, trat aus der Tür und in den Korridor.

Im Empfangsbereich blieb Janya stehen. Sie wirkte etwas missmutig. „Tut mir leid, aber ich habe meine Einkäufe vergessen. Ich muss noch mal zurück. Bitte warten Sie nicht auf mich.“

Tracy winkte ab. „Das ist kein Problem, so eilig habe ich es nun auch wieder nicht.“

Janya lief den Weg zurück und ließ Tracy neben dem Schwarzen Brett zurück. Versonnen tippte Tracy mit der Fußspitze auf und las die Notizen, während sie wartete. Jemand suchte für den Sommer einen Job als Babysitter. Sie schüttelte den Kopf, als sie einen Zettel mit dem Foto einer gestreiften Katze erblickte, unter dem eine Telefonnummer und in fetten Lettern das Wort „Belohnung“ stand. Unzählige Visitenkarten hingen an dem Brett. Sie holte einen Notizblock aus ihrer Tasche und schrieb sich die Telefonnummern eines Dachdeckers und eines Klempners auf. Zwar hoffte sie, dass Wanda Gray übertrieben hatte, als sie von den Problemen im Haus erzählt hatte, doch wenn sie an ihr eigenes Häuschen dachte, bezweifelte sie, dass es so war.

Die Hälfte des Schwarzen Brettes war offiziellen Mitteilungen gewidmet. Nachrichten aus dem Landkreis und der Stadt. Ein Zettel stach besonders hervor. Die Überschrift lautete „Henrietta-Clairborne-Freizeitzentrum“ und darunter stand „Jobangebote“.

Sie las den Aushang von unten nach oben. Es wurde Wartungspersonal für die Wochenenden gesucht. Dann brauchten sie einen zusätzlichen Schwimmlehrer für den Sommer. Eine Schar von kleinen Kindern daran zu hindern, zu ertrinken, war ein Albtraum. Tracy sprach aus Erfahrung, denn sie hatte im College selbst als Schwimmlehrerin gearbeitet.

Ganz oben stand der wichtigste Job. Er nahm mehr als die Hälfte des gesamten Platzes ein. „Bereits vergeben“ stand mit Filzstift darüber. Leiter des Freizeitprogramms. Der Job war befristet und endete im Herbst, wenn die eigentliche Leiterin aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkehrte. Sie sah sich die Liste mit den Aufgaben an. Zwar hatte sie erst die Hälfte gelesen, als Janya mit zwei Plastiktüten in den Händen zurückkam. Doch da ahnte sie schon, dass der bedauernswerte neue Angestellte die Aufgabe hatte, das Jugendprogramm für den kommenden Sommer zu leiten sowie eine ganze Reihe von Aktivitäten zu organisieren. Wer auch immer zu diesem späten Zeitpunkt den Job angenommen hatte, sollte mindestens das Gehalt eines Geschäftsführers bekommen.

„Alles klar?“ Tracy ging voran. Auf dem Parkplatz wies sie auf ein sportliches BMW-Cabrio, das in nicht allzu ferner Zukunft schon als „klassisch“ durchgehen würde. „Springen Sie rein.“

Janya strich beinahe ehrfürchtig über den silbernen Lack. „Es macht bestimmt Spaß, den Wagen zu fahren.“

„Ich habe in diesem Auto das Fahren gelernt.“

„Ist es schon so alt?“

Tracy zuckte bei der Frage unmerklich zusammen. „Steinalt. Genau wie ich.“

Janya lächelte. „Keiner von Ihnen beiden steht wohl schon mit einem Bein im Grab …“

Tracy machte die Beifahrertür auf. „Mein Ex dachte, dass das Auto schrottreif wäre. Als wir heirateten, wollte er, dass ich es verkaufe. Aber ich hing so an dem Wagen, dass wir ihn in unserer Garage eingelagert haben. Mein Vater hat ihn mir gekauft – oder besser: Er war anwesend, als ich ihn mir gekauft habe. Er hat mich am Tag meiner Führerscheinprüfung gleich zum Autohändler geschleppt und mir gesagt, ich dürfe mir aussuchen, was ich wolle, während er in seinem Wagen sitzen geblieben ist und mit seiner Sekretärin telefoniert hat.“

Sie straffte die Schultern, als ihr auffiel, wie das für Janya geklungen haben musste. Sie war nicht länger mit Leuten zusammen, die diesen Lebensstil nachvollziehen und verstehen konnten. Für ihre Freunde zu Hause wäre es eine lustige kleine Geschichte gewesen – vor allem für diejenigen, die den lieben alten Dad persönlich kannten und auch Summer, seine Sekretärin, mit der er inzwischen verheiratet war und eine eigene kleine Familie hatte.

„Es ist gut, dass ich an dem alten Auto festgehalten habe“, sagte sie und bemühte sich um einen etwas bescheideneren Ton. „Es ist zu alt, um noch viel wert zu sein.“

Sie kletterte auf den Fahrersitz und startete den Motor. Schweigend fuhren sie nach Hause, kamen über eine niedrige Brücke und bogen dann auf die schmale Straße, die nach Happiness Key führte. Tracy wollte Janya gerade bei ihrem Haus absetzen – dem ersten von fünf in dem „Bauprojekt“ –, als ihr plötzlich eine Idee kam.

„Ich bitte Sie nicht gern darum“, begann sie, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. „Aber könnten Sie mich zu Herb Krauses Haus begleiten? Nur für einen Moment? Wenn er noch immer nicht reagiert, würde ich gern einen Blick ins Innere werfen, um zu sehen, ob er dort noch lebt. Wenn ich die Tür aufschließe, hätte ich Sie gern dabei – als Zeugin sozusagen, dass nichts durcheinandergebracht worden ist.“

„Sie brauchen einen Zeugen?“

„Ich denke schon.“ Tracy hatte in den Tagen vor C Js Verhaftung und später vor Gericht genug Verfolgung erlebt. Sie wollte keine Wiederholung.

In den Wochen, die sie nun schon auf Happiness Key wohnte, hatte sie eines über ihre neue „Nachbarschaft“ gelernt: Jeder – bis auf Herb Krause vielleicht – wollte unbedingt seine Privatsphäre schützen. Sie wusste das zu schätzen, da sie auch kein Bedürfnis verspürte, sich mit ihren Nachbarn anzufreunden.

Janyas Wunsch, nicht in die Angelegenheit verwickelt zu werden, war mehr als verständlich. Als Janya noch immer nicht antwortete, fügte Tracy hinzu: „Sie können auf der Treppe warten. Ich erwarte nicht, dass Sie mit hineingehen. Ich will nur meinen Kopf durch die Tür stecken.“

„Das kann ich machen.“

„Sie können gehen, sobald ich weiß, was los ist.“ Tracy hielt vor Herbs Häuschen an.

„Er hat wundervolle Pflanzen, nicht wahr?“

Das war Tracy noch nicht aufgefallen. Aber jetzt bemerkte sie, dass Janya recht hatte. Herb Krause hatte einen grünen Daumen. Mindestens zwanzig Blumenkübel waren im Vorgarten des kleinen Hauses verteilt. Einige der Pflanzen waren riesig. Bananenbäume, Palmen, sogar Zitrusgewächse. Sie fragte sich, ob Herb Blumentöpfe bevorzugte, damit er seine Pflanzen immer mitnehmen konnte, wenn er umzog. Falls das so war, wohnte er noch immer hier. Die Pflanzen jedenfalls taten es.

Beide Frauen stiegen aus dem Sportwagen und gingen den Weg zum Haus entlang. Janya blieb kurz stehen, um zu prüfen, wie sich die Blumenerde in einem der großen Töpfe anfühlte, der einen blühenden Hibiskus in einem zarten Pfirsichton beherbergte.

„Vielleicht ist er verreist“, sagte Janya. „Diese Pflanze ist schon lange nicht mehr gegossen worden.“

„Tja, möglicherweise finden wir es heraus.“ Tracy holte den Schlüsselbund hervor. Es waren Kopien der Hauptschlüssel der Maklerin, die für C J die Immobilien vermietet hatte. Damals waren die Mieter eher benutzt worden, um Eindringlinge fernzuhalten, als Geld mit ihnen zu verdienen.

Tracy klopfte und rief Herbs Namen. Dann pochte sie mit der Faust gegen die Tür, was ihr einen weiteren Splitter einbrachte.

„Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig …“ Sie versuchte, den Splitter aus ihrer Hand zu fummeln, und warf Janya einen fragenden Blick zu. Janya zuckte die Schultern.

Tracy hielt den Schlüsselbund ins Licht und fand den Schlüssel, der mit dem Namen „Krause“ beschriftet war. Leider passte er nicht. Unter Janyas Blicken probierte sie einen anderen Schlüssel und dann noch einen anderen. Keiner von ihnen passte.

„Tja, das ist Mist. Ich denke, ich muss mich an die Maklerin wenden, um sie dazu zu bringen, die Originale herauszurücken.“

Janya machte einen Schritt nach vorne und drehte wortlos den Türknauf. Die Tür schwang auf. „Ich dachte mir schon, dass er nicht der Typ ist, der andere ausschließt“, sagte sie und trat zur Seite, damit Tracy ins Haus gehen konnte.

Tracy kam sich albern vor. „Ich bin überrascht. Für meine Tür habe ich sogar noch ein Extraschloss gekauft.“

„Ich warte hier draußen.“

Nun kam Tracy sich noch alberner vor. Mit einem Mal hatte sie ein ungutes Gefühl, allein und unerlaubterweise in Herbs Haus zu gehen. Technisch gesehen gehörte das Haus ihr, doch in den Wochen, die sie hier war, hatte sie sein Angebot, sich das Häuschen von innen anzusehen, nie angenommen. Sie war zu beschäftigt damit gewesen, sich einzuleben. Und sie hatte Angst gehabt, dass Herb sie in ein nicht enden wollendes Gespräch verwickeln würde, das in der Vorführung von Urlaubsfotos, Bildern seiner verstorbenen Haustiere und Aufnahmen seiner süßen Urenkel gipfeln würde. Als sie nun über die Schwelle trat, verspürte sie Bedauern. Es schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um sein warmherziges, gastfreundliches Angebot anzunehmen.

Wohl eher das kalte Angebot. Wie sie es schon vermutet hatte, war die Temperatur im Innern des Hauses kühl – sie hatte sich nur nicht vorstellen können, dass es so eisig sein würde.

„Gott, es ist eiskalt hier drin“, sagte sie zu Janya und warf ihr über die Schulter einen Blick zu.

„Dann ist es unwahrscheinlich, dass er für immer gegangen ist. Oder bezahlen Sie den Strom?“

Tracy schüttelte den Kopf. Sie hatte noch etwas anderes wahrgenommen. Einen leichten Geruch – und zwar keinen angenehmen. Plötzlich war sie hin- und hergerissen zwischen dem Drang wegzurennen und dem Bedürfnis weiterzugehen. Aber wen sollte sie sonst anrufen, um der Sache hier auf den Grund zu gehen? C J war hinter Gittern, ihre Eltern interessierten sich nicht für ihr neues Leben, und bis jetzt hatte sie in Florida noch keinen einzigen Freund.

Sie fühlte sich vollkommen allein. Aus gutem Grund. Denn es stimmte.

„Ich fürchte, das wird ziemlich unerfreulich“, sagte sie, um dem Unvermeidlichen noch ein bisschen aus dem Weg zu gehen.

„Ich denke, wir sollten sichergehen.“

Tracy sah wieder zu Janya und bemerkte auf dem Gesicht der jungen Frau, was sie selbst vermutete.

Tracy biss sich auf die Unterlippe. Dann presste sie die Lippen aufeinander, um sich die Frage zu verbeißen, die ihr auf der Zunge lag. Sie wollte einem Menschen aus einer anderen Kultur nicht verpflichtet sein, einer Frau, mit der sie überhaupt nichts gemeinsam hatte.

„Ich werde mitkommen“, schlug Janya in dem Moment von sich aus vor. „Aber wir müssen uns beeilen, bevor ich es mir anders überlege.“

Tracy war erleichtert, dankbar und beschämt. „Es tut mir leid. Ich fürchte, ich bin ein Hasenfuß.“

„Hasenfuß?“

„Ein Feigling.“

„Dann können wir doch zusammen feige sein.“ Janya kam zu Tracy in das kleine Wohnzimmer.

„Ich war noch nie hier. Ich glaube, das da ist das Schlafzimmer.“ Tracy wies mit einem Kopfnicken auf eine Tür zu ihrer Linken. „Da ist auch die Klimaanlage.“

„Er hat viel an dem Häuschen gemacht. Alles ist ordentlich und neu. Und sauber.“

„Ich fürchte, es riecht aber nicht besonders frisch.“

Janya ging auf das Schlafzimmer zu. „Ein Blick, dann gehen wir.“

„Mr Krause?“, rief Tracy, als sie das Wohnzimmer durchquerten. Ihr fielen die schlichten Möbel auf, die in einem guten Zustand waren, und ein gläserner Couchtisch, auf dem ein Stapel Zeitungen lag. Und sie bemerkte einige welke Zimmerpflanzen.

Vor der Tür blieben sie stehen. Tracy wusste, dass das nun ihre Aufgabe war. Sie holte tief Luft und hielt sie an, drehte dann den Knauf und schob die Tür auf.

Herb Krause war nicht in die Ferien gefahren. Und er war auch nicht einfach weggezogen. Er lag vollständig bekleidet in einer Stoffhose und einem Anzughemd auf dem Bett, das er vor seinem letzten Nickerchen sorgfältig gemacht hatte. Einen Arm hatte er ausgestreckt. Die Handfläche wies nach oben. Entsetzt ging Tracy etwas näher ans Bett, um zu sehen, was ihr Mieter in der Hand hielt. Ein Schlüssel lag in seiner Hand, die Finger waren locker um das Metall geschlossen. Doch der alte Mann würde mit diesem Schlüssel nie wieder eine Tür öffnen.

Herb Krause war blau, steif und sehr, sehr tot.

3. KAPITEL

Wenn eine Autopsie erforderlich wäre, könnte der Gerichtsmediziner es genauer bestimmen, aber ich würde sagen, dass er seit höchstens sechsunddreißig Stunden tot ist. Die Temperatur hier drinnen hat alles etwas verzögert, deshalb ist es schwer zu sagen.“

Der glatzköpfige Hilfssheriff sah von seinem Klemmbrett auf. Angesichts seiner offensichtlichen Emotionslosigkeit hatte er offenbar schon viele tote Menschen gesehen. „Sie können froh sein, dass er in der Zugluft der Klimaanlage verstorben ist.“

„Ja, ich bin von Dankbarkeit überwältigt“, erwiderte Tracy.

Er hob eine schüttere Augenbraue, die der Beweis war, dass seine Glatze nicht der Mode geschuldet war. „Wenn Sie schon dabei sind, können Sie sich auch gleich darüber freuen, dass das Haus praktisch luftdicht abgeriegelt war, bis Sie gekommen sind. So haben die Insekten ihn wenigstens noch nicht gefunden.“

Sie unterdrückte ein Schaudern. Neben dem Geruch des Todes hatte Tracy den Duft von Insektenvernichtungsmittel wahrgenommen. Herb Krause hatte sich offenbar im Krieg mit der Insektenwelt befunden. Wenigstens hatte er die letzte Schlacht gewonnen.

Für die Profis, die sie gerufen hatten, war Herbs Tod nur ein ganz alltägliches Geschäft. Mitarbeiter des Sheriffbüros waren gekommen, hatten sich die Sache angeschaut und dann Herbs Arzt angerufen, dessen Namen Tracy auf der Verpackung eines verschreibungspflichtigen Medikaments neben dem Bett gefunden hatte. Nach einem Gespräch hatte der Arzt zugestimmt, den Totenschein auszustellen, wie das Gesetz es verlangte. Dann hatte er in Herbs Unterlagen nachgeschaut und dem Hilfssheriff gesagt, welchen Bestattungsunternehmer er informieren musste. Der Leichnam wurde von Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens abgeholt, die schnell gekommen waren.

Der Hilfssheriff erledigte die letzten Formalitäten, reichte Tracy das Klemmbrett und steckte seinen Stift wieder ein, nachdem sie unterschrieben hatte. „Wenn Sie noch ein bisschen bleiben können, sollten Sie durchlüften und das Bettzeug für die Müllabfuhr bereitstellen. Ich bin mir sicher, dass seine Verwandten Ihnen dafür dankbar sein werden.“

„Die Müllabfuhr kommt morgen oder Sonntag. Ein Privatunternehmen. Seine Verwandten …“ So weit hatte Tracy noch gar nicht gedacht. Sicherlich hatte Herb Familie. Aber woher sollte sie das wissen? Sie hatte den Mann auf Schritt und Tritt gemieden.

„Das Bestattungsinstitut wird die Adresse der Verwandten brauchen, wenn Sie sie haben“, sagte er. „Mr. Krause hat seine Beerdigung schon im Voraus bezahlt, doch der Leiter hat gesagt, dass in den Unterlagen empörend wenige Informationen zu finden sind.“

„Ich muss mich hier umsehen.“ Tracy wollte nicht zugeben, dass sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte. Das klang kaltherzig – so, als hätte sie überhaupt kein Interesse an ihren Mietern gehabt. Was leider der Wahrheit entsprach.

„Oh, er hatte das hier in der Hand.“ Der Hilfssheriff reichte Tracy den Schlüssel, der ihr schon aufgefallen war. „Warum auch immer. Ich glaube nicht, dass er vorhatte, irgendwohin zu gehen. Seine Taschen waren leer. Sonst hatte er nichts bei sich. Bis auf seine Kleider.“

Tracy berührte den Arm des Mannes, als er sich gerade zum Gehen wenden wollte. „Ich war gestern hier und habe an die Tür geklopft. Meinen Sie … Sie wissen schon … Hat er gelitten? Dass er hier Stunden oder vielleicht tagelang gelegen hat und … mit dem Tod gerungen hat?“

„Nein. Ich denke, er ist gestern ganz normal aufgewacht, hat sich angezogen und fühlte sich dann ein bisschen unwohl. Das Bett war gemacht, also war er bereits aufgestanden. Er hat sich vermutlich hingelegt, weil er dachte, es würde ihm anschließend besser gehen. Dann hat er einen Herzschlag erlitten und war einfach tot.“ Er schnippte mit den Fingern. „Wir sollten alle so leicht aus dem Leben scheiden. Sie haben ihn gesehen. Er sah ganz friedlich aus. Keine Anzeichen, dass er gelitten hat.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht.“

„Sagen Sie Bescheid, wenn Sie die Informationen haben, okay?“ Der Hilfssheriff gab ihr seine Visitenkarte und verabschiedete sich. Tracy starrte noch immer auf die Karte, als sie den Leichenwagen mit Herbs Körper darin den Weg hinunterfahren hörte. In Anbetracht des leiser werdenden Krächzens des Sprechfunkgerätes musste der Hilfssheriff direkt hinter ihm sein.

„Tja, das ist wohl eine Miete, die ich diesen Monat vergessen kann.“ Sie steckte die Visitenkarte in ihre Tasche.

Sie fühlte sich nicht so locker, wie sie klang. Noch nie hatte sie eine Leiche gesehen – außer natürlich im Fernsehen, wo man heutzutage mehr verwesende Leichname zu sehen bekam als Werbung für etwas, das man wirklich brauchte.

Aber die Wirklichkeit? Das war etwas anderes. Auf einer Skala von „heiter“ bis „entsetzt“ mochte Herb Krause vielleicht friedlich ausgesehen haben. Aber der Gedanke, der ihr gleich nach dem ersten Schock gekommen war, war, dass er einsam ausgesehen hatte.

Sollten Menschen allein und unentdeckt sterben? War das auch ihr Schicksal?

Tracy hörte Schritte. Sie drehte sich um und sah Janya Kapur in der Tür stehen.

„Ich habe gesehen, wie sie weggefahren sind“, sagte Janya.

„Der Hilfssheriff hat gemeint, dass er ganz friedlich eingeschlafen ist.“

„Er war alt. Vielleicht war er schon darauf vorbereitet.“

„Ist das möglich?“

Janya zog ihre gerade Nase kraus. „Ich habe Weihrauch mitgebracht.“

„Weihrauch?“ Tracy fragte sich, ob es ein hinduistisches oder buddhistisches Ritual sein mochte. Wollte Janya die bösen Geister vertreiben oder Herbs Seele mit ein bisschen duftendem Rauch in die andere Welt schicken?

Janya schien ihre Gedanken erraten zu haben. „Ich dachte, wir sollten die Fenster öffnen und dann ein paar Räucherstäbchen anzünden, damit das Haus besser riecht.“

Tracy erinnerte sich daran, was der Arzt gesagt hatte. „Das ist nett von Ihnen.“

„Ich mache die Fenster im Wohnzimmer auf.“

Als Janya gegangen war, ging Tracy durchs Schlafzimmer, schaltete die Klimaanlage ab und den Deckenventilator ein und öffnete das einzige Fenster, das noch geschlossen war. In diesem Raum zu sein, in dem Herb vor Kurzem seinen letzten Atemzug getan hatte, machte ihr Angst, aber die frische Luft half.

Widerwillig ging sie in die Küche und fand extragroße Müllbeutel. Die Tüten wie Handschuhe nutzend, zog sie die Laken und das Bettzeug ab und stopfte alles in einen weiteren Müllbeutel. Zur Sicherheit stülpte sie noch einen Müllbeutel darüber und verschloss diesen, so fest es ging. Die Matratze würde ebenfalls auf dem Müll landen, doch sie war froh, dass sie das Schlimmste erst einmal überstanden hatte. Das hatte sie aus dem Fernsehen.

Janya schleppte einen zusätzlichen Standventilator ins Schlafzimmer, suchte und fand eine Steckdose und schaltete ihn ein. Langsam setzte der Ventilator sich in Gang.

„Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen“, sagte Tracy.

„Es macht mich traurig, was ihm passiert ist. Ich will etwas tun.“

Tracy suchte das Badezimmer auf. Es war ein enger Raum mit 50er-Jahre-Fliesen in Rosa und Grau und einem passenden grauen Waschbecken. Alles war altmodisch und so kurios, dass es schon wieder angesagt war. Tracy fragte sich, ob Herb das auch so gesehen hatte oder die Einrichtung auch als überholt empfand, eine Erinnerung daran, dass das Haus nicht nach seinem Geschmack umgestaltet werden konnte. Sie wusch sich die Hände und gleich anschließend zur Sicherheit noch einmal.

Es wurde schnell warm im Haus, doch jetzt erfüllten die frische Luft und der Duft von Janyas Räucherstäbchen die Räume. Herbs Leben war vorbei, und schon morgen würde nichts mehr daran erinnern, dass er hier gestorben war.

„Ich glaube, ich muss die Matratze für die Müllabfuhr nach draußen stellen“, sagte Tracy zu Janya, die im Wohnzimmer wartete. „Aber ich warte damit bis heute Abend.“

„Ich werde seine Pflanzen gießen. Er hat sie so gut gepflegt. Ich weiß, dass er nicht wollen würde, dass sie sterben.“

„Nur weil er gestorben ist.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, wurde Tracy klar, wie sie geklungen haben mussten. „Also gut. Danke.“ Sie war froh, dass sie sich nicht selbst darum kümmern musste. Wahrscheinlich hätte sie nicht einmal daran gedacht.

„Dann mache ich mich mal auf den Weg“, sagte Janya. „Noch etwas … Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich in dem Zimmer, in dem er gestorben ist, ein Licht anmache? Es ist eine Tradition in meinem Land.“ Sie verschwand kurz und kam dann wieder.

Tracy hatte sich derweil im Wohnzimmer umgesehen, das bestürzend aufgeräumt und übersichtlich war. Sie wusste nicht, wie Herb seine Zeit verbracht hatte, aber ein Teil der Zeit war auf alltägliche Nebensächlichkeiten verwendet worden.

„Janya, kannten Sie Herb? Besser als ich, meine ich. Ich kann hier keine Fotos entdecken. Der Hilfssheriff sagte, dass der Bestattungsunternehmer die Telefonnummern seiner Angehörigen haben möchte. Sie wissen nicht zufällig, wer sie sind und wo sie leben, oder?“

„Wir haben uns nur ein paar Mal unterhalten. Er hat mir nie etwas von sich erzählt.“ Janya senkte die Stimme. „Und ich habe ihm auch nichts über mein Leben erzählt. Obwohl es ihm bestimmt gefallen hätte.“

Tracy wollte sich nicht schuldig fühlen. Schließlich war das Einzige, was sie mit Herb Krause verbunden hatte, der Scheck für die nächste Miete gewesen. Trotzdem konnte sie die Tage nicht vergessen, an denen sie extra nachgeschaut hatte, dass er nicht draußen war, um ungesehen an seinem Häuschen vorbeizuschleichen. Und das alles, um nicht von ihm in ein Gespräch verwickelt zu werden.

„Wenn nichts in seinem Mietvertrag steht, muss ich wohl in seinen persönlichen Sachen nachschauen, um etwas zu finden. Seine Familie muss benachrichtigt werden. Ich bin mir sicher, dass seine Angehörigen ein paar seiner Dinge behalten wollen.“ Trotz ihrer Worte fragte Tracy sich, ob das stimmte. Sie konnte nichts entdecken, was für ein Erbstück getaugt hätte. Die Möbel waren billig und nichts Besonderes. Für Kitsch hatte er offenbar nichts übriggehabt.

„Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen“, sagte Janya höflich.

Tracy hatte es aufgegeben, nach irgendetwas zu suchen. Doch sie wusste, dass Janya nur von Herb sprach.

Ken war weg. Aber das war keine Überraschung. Wandas Ehemann hatte das Haus verlassen, noch ehe sie überhaupt die Augen aufgeschlagen hatte. Sie bezweifelte, dass sie ihn heute zu Gesicht bekommen würde, obwohl es heute ihr freier Tag war und sie nicht ins Restaurant zur Arbeit musste. An den meisten Abenden kam er erst nach Hause, wenn sie längst im Bett war. Das machte ihr nichts aus, da sich auf ihrer superbequemen Matratze sowieso nichts Interessantes mehr abspielte.

Sie war sich nicht sicher, wohin ihr Ehemann ging und was er nach der Arbeit machte. Was sie allerdings sicher wusste, war, dass es ihr mittlerweile egal war. Ken konnte mit seinen Kollegen auf den Putz hauen oder mit einem süßen jungen Ding, das ihn für eine Art Dirty Harry hielt. Was auch immer mit ihm los war – sie hatte das Interesse verloren. Eine Frau sollte um ihren Mann kämpfen. Doch was, wenn er nicht mal eine Laufmasche in ihrer Strumpfhose wert war?

Sonnenstrahlen drangen durch die Schlitze in den Schlafzimmerrollos. Sie hatte lange genug auf der Bettkante gesessen. Wie immer wünschte sie sich, sie hätte ihrem Sohn nicht versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Seufzend machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer.

Ein kleiner Blick in den Spiegel überzeugte sie, dass sie letzte Nacht nicht wie erhofft in echtem Schönheitsschlaf geschwelgt hatte. Hitzewallungen hatten sie gequält. Wenn sie zwischen den Attacken richtig geschlafen hätte, dann wären die Auswirkungen jetzt vermutlich nicht so deutlich zu sehen. Sie hatte Tränensäcke unter den Augen, Krähenfüße um die Augen und Falten zwischen den Augen, die wie Ausrufezeichen zwischen ihren Brauen aufragten. Die Anzeichen des Alterns überraschten sie noch immer.

Kein Wunder, dass Ken den Weg nach Hause und ins eigene Bett nicht besonders oft fand.

Nach einer lauwarmen Dusche – sie hätte auch einen neuen Heißwasserboiler auf die Liste für diese Deloche setzen sollen – zog sie sich Shorts und ein Hemdchen an und drehte sich Lockenwickler ins Haar. Dann schlurfte sie in die Küche, um zu sehen, was sie für ein spätes Frühstück finden konnte.

Erstaunt stellte sie fest, dass Ken doch noch zu etwas gut war. Er hatte eine Kanne Kaffee gekocht, die mittlerweile zu einer schlammigen Pfütze verkocht war, doch er hatte auch die Zeitung geholt. Bewaffnet mit ihrer ersten Tasse frisch aufgebrühten Haselnussmokkas – verbotenerweise mit viel Zucker und Sahne verfeinert –, widmete sie sich ihrem Horoskop.

„Widder …“ Sie überflog den Text und las laut vor. „Es mangelt Ihnen nicht an romantischen Interessen, aber sich auszutoben bringt Ihnen nicht das, wonach Ihr Herz sich sehnt. Die Zeit ist gekommen, Ihre Erwartungen einzugrenzen. Freunde können Ihnen helfen, Ihre wahre Liebe zu finden. Vergessen Sie nicht, dass andere sehen können, was Sie nicht sehen.“

Sie brach in Lachen aus. Das Lachen fühlte sich gut an – reinigend, als würde sie sich von etwas Giftigem befreien.

Noch einmal las sie den Text durch. Gut, Punkt eins war richtig. Keine Frage, dass sie ihre romantischen Interessen eingrenzen musste. Sie hatte einen Sättigungspunkt erreicht. Tatsächlich hatte sie abends nicht genug Zeit für all die Männer, die um ihre Aufmerksamkeit buhlten.

Trotzdem war Wanda nicht davon überzeugt, dass es keine gute Idee sein sollte, sich auszutoben. Bisher hatte sie damit jede Menge Spaß gehabt. Und der dritte Punkt? Tja, sie hatte in Palmetto Grove keine Freunde, die es interessierte, ob sie nun ihre wahre Liebe fand oder nicht. Die Frauen, mit denen sie im Dancing Shrimp zusammenarbeitete, waren alle mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Die meisten von ihnen waren jung genug, um wirklich ein eigenes Leben zu haben. Nur bei ihrer Vorgesetzten Lainie fühlte Wanda sich wie eine heiße junge Frau, weil Lainie stramm auf die siebzig zuging. Sie war auch die einzige Person, die wusste, dass Wanda nur noch einen Schritt davon entfernt war, Ken aus dem Haus zu werfen.

Um genau zu sein, stand Wanda kurz davor, Ken den Mietvertrag komplett zu überschreiben und sich eine eigene Bleibe zu kaufen. Eine Eigentumswohnung, etwas Modernes, das leicht sauber zu halten war. Vielleicht ein Apartment mit einem echten Blick auf den Golf und einem Swimmingpool, damit die Enkel sich darum stritten, kommen zu dürfen.

Vom Ende der Straße drang Lärm zu ihr herein. Als sie das Quäken eines Sprechfunkgerätes hörte, runzelte sie die Stirn und legte die zusammengefaltete Zeitung neben ihre Müslischüssel. Hier passierte doch nie irgendetwas. Manchmal fuhren Angler bis zu der Stelle, an der dieser unglückselige Jachthafen geplant gewesen war. Aber zu dieser Tageszeit ging jeder, der fischen wollte, vor der Küste vor Anker. Das Frühjahr war die beste Zeit, Tarpune zu angeln. Doch Tarpune angelte man normalerweise vom Boot aus, und hier in der Nähe gab es keinen geeigneten Platz, um ein Boot zu Wasser zu lassen.

Sie durchquerte das Haus, was nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm, und öffnete die Tür. Neugierig spähte sie hinaus, um einen Blick auf die Geschehnisse zu erhaschen. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann sah sie einen schwarzen Minivan ohne Fenster, der die Straße in Richtung Stadt entlangfuhr, dicht gefolgt von einem Wagen des Sheriffbüros.

Sie dachte über die Möglichkeiten nach, von denen keine besonders angenehm war. Man musste kein Genie sein, um zu ahnen, wer vermutlich betroffen war. Das indische Pärchen und die Deloche waren jung. Sie sahen gesund aus, auch wenn sie für ihren Geschmack alle ein bisschen zu dünn waren. Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach war der bedauernswerte Passagier in dem Van entweder Herb Krause oder Alice Brooks. Möglicherweise ein Herzschlag. Oder eine Lungenentzündung. Eine Lungenentzündung konnte einen alten Menschen schnell dahinraffen. Gerade war es nur ein Schnupfen, und im nächsten Moment sahen sie sich die Radieschen von unten an.

Sie fragte sich, ob sie etwas tun sollte. Wenn Alice in dem Krankenwagen lag, konnte ihr Schwiegersohn Wanda sicher sagen, was los war. Aber wenn es Herb war …

Sie hatte Herb in der letzten Woche gesehen, als sie einen köstlichen Zitronenkuchen, ihren berühmten Key Lime Pie, gebacken hatte. Sie war auf den „echten“ Keys aufgewachsen, und sie wusste, wie ein echter Pie schmecken musste. Nicht wie diese zu Unrecht Pie genannten Dinger in den Schalen aus Alufolie. Sie machte ihre eigenen Pies – wie schon ihre Mama. Dazu zerbröselte sie die besten Weizenschrotkekse, die man kaufen konnte, mischte die Krümel mit geschmolzener Butter – echter Butter, keinem kalorienarmen Ersatz. Und schließlich presste sie ihre eigenen Zitronen – Key Limes natürlich. Wieso sollte man auch einen Key Lime Pie mit persischen Zitronen machen wollen? Wer aß schon persischen Lime Pie? Niemand, der es zugeben würde.

Sie hatte ihr eigenes Geheimnis, das sie auch von ihrer Mama gelernt hatte. Sie rieb eine feine Schicht von Zitronenschale auf die Teigplatte, ehe sie den Belag darauf verteilte. Schließlich garnierte sie den fertigen Pie mit Schlagsahne und ein paar Raspeln dunkler Schokolade sowie einigen dünnen Scheiben Zitrone. Als ihr Sohn geheiratet hatte, hatte er sie gebeten, für den Hochzeitsempfang statt einer Hochzeitstorte ein Dutzend dieser Pies zu machen. Sie hatten einen mehrstöckigen Ständer gebaut, um die Pies darauf zu verteilen, und auf den obersten Kuchen eine Braut und einen Bräutigam aus Plastik in kurzen Hosen und Blumenhemdchen gestellt. Natürlich hatte die Braut einen Schleier und der Bräutigam einen Zylinder getragen, sodass wirklich keine Missverständnisse hatten aufkommen können.

Ihr wurde bewusst, dass sie an der Tür stand und über Kuchen nachdachte, während sie doch eigentlich an Herb oder Alice denken sollte.

Nein, Alice schied schon mal aus. Wanda erhaschte einen Blick auf Alices silbergraues Haar im Garten vor ihrem Häuschen und sah dann auch die Enkelin, die bei ihrer Großmutter eingezogen war. Während sie noch schaute, gingen die beiden hinein.

„Dann also Herb.“

Es tat ihr leid, falls Herb ins Krankenhaus gebracht wurde. Oder es noch schlimmer war. Und es tat ihr auch leid, dass sie an dem Tag, als sie den Key Lime Pie gebacken hatte, fast die Hälfte auf einmal und ganz allein gegessen hatte. Sie hatte einen Wutanfall bekommen, weil Ken nicht gekommen war, um den Kuchen mit ihr zu teilen, obwohl es sein freier Tag gewesen war. Aufgebracht hatte sie den Rest des Pies eingepackt, ihn in ihre beste Keramikkuchenform geworfen – die mit dem Deckel, der aussah wie kreuzweise übereinandergelegte Teigstreifen mit einer Apfelspalte als Griff – und war zu Herbs Haus marschiert. Er war gerade mit seinen Pflanzen beschäftigt gewesen, und sie hatte ihm den ganzen Pie gegeben – nur weil sie nicht gewollt hatte, dass Ken auch nur einen Krümel von dem Kuchen bekam, falls er je wieder nach Hause zurückkehrte.

Jetzt befand sich ihre beste Kuchenform, die sie von ihrer Tochter geschenkt bekommen hatte, die normalerweise kein Händchen für schöne Geschenke hatte, in Herbs Häuschen. Sie hoffte nur, dass er nicht an einer Überdosis Key Lime Pie gestorben war.

Sie musste etwas tun. Die Pie-Form gehörte ihr, und sie musste sie sich zurückholen. Wanda ging hinein, um zu Ende zu frühstücken und sich derweil zu überlegen, wie sie es anstellen und wann sie es tun wollte.

Bevor sie das Haus hinter sich abschloss, probierte Tracy noch einmal den Schlüssel aus, den Maribel Sessions, die Maklerin, ihr für Herbs Häuschen gegeben hatte. Sie hatte sich nicht nur eingebildet, dass der Schlüssel nicht passte. Er passte tatsächlich nicht. Und sie hatte in dem Haus auch keinen ähnlichen Schlüssel liegen sehen – weder auf seiner Kommode noch auf dem Nachttischchen.

Obwohl der Schlüssel, den Herb festgehalten hatte, nicht wie der aussah, den sie bekommen hatte, probierte sie ihn aus. Wie sie vermutet hatte, war er für eine andere Art von Schloss gemacht. Dünn und spinnenartig wirkte er wie ein Gegenstand aus einem Nancy-Drew-Roman. Der geheimnisvolle Schlüssel des toten Mannes. Wenn Tracy einen rätselhaften Dachboden oder einen Turm zu öffnen hätte, wäre sie mit dem Schlüssel vermutlich gut bedient.

Als sie wieder zu Hause war, rief sie Maribel an, die sich um die Vermietung der Häuser kümmerte. Die Maklerin sagte zu, ihr die Originale herauszugeben, wenn Tracy sofort vorbeikam, ehe Maribel zu ihren Terminen für den Tag aufbrechen musste. Mit dem Versprechen, einen passenden Schlüssel zu bekommen, ging Tracy zurück zu Herbs Haus, zog die Tür ins Schloss und machte sich dann auf den Weg in die Stadt. Falls der schlimmste Fall eintrat, konnte sie noch immer das Fliegengitter aufschneiden und durch eines der Fenster ins Haus klettern.

In Tracys Augen wirkte Palmetto Grove immer ein paar Töne blasser, als es eigentlich müsste. An der Golfküste verfiel alles schneller als anderswo. Die Sonne, der umherwehende Sand, die salzige Luft – das alles stahl der leuchtendste Farbe die Strahlkraft und ließ sogar die teuersten Wagen rosten. Kleine Sandhaufen ruinierten das smaragdgrüne St.-Augustine-Gras, obwohl Sprinkleranlagen ständig ein leicht schwefelhaltiges Wasser versprühten. Zu dieser Jahreszeit nickten nur noch die widerstandsfähigsten Blumen mit ihren bunten Köpfen.

Sie hielt vor dem Maklerbüro an – Sessions Realtors: Häuser mit Klasse – und schloss ihren Wagen ab. In dem kühlen Eingangsbereich, der durch weiße Marmorfliesen und griechische Säulen noch ein bisschen kühler wirkte, erklärte Tracy der Empfangsdame, dass Maribel sie erwarte. Die Frau kannte offensichtlich ihren Namen und sprang auf, um Maribel nach vorne zu holen.

Tracy hatte es sich gerade erst mit einem Magazin bequem gemacht, als Maribel schon auf sie zukam. Die Maklerin hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht, das einem glücklichen Schönheitschirurgen seine Mitgliedschaft im Golfklub und den einen oder anderen Urlaub in einem exklusiven Resort sicherte. Sie hatte helle Haare wie Gwen Stefani, was sie mit ihrem passenden cremeweißen Kostüm noch unterstrich. Wie die Stadt, in der sie Häuser kaufte und verkaufte, wirkte Maribel drei Töne zu blass.

„Mrs Craimer“, sagte sie und streckte Tracy die Hand entgegen. „Schön, Sie wiederzusehen. Haben Sie sich also doch noch dazu entschlossen, nach einem Haus zu schauen?“

„Maribel …“ Tracy schüttelte ihre Hand und zog sich dann aus Maribels leicht schwitzigen Fingern zurück. „Ich heiße jetzt Tracy Deloche. Erinnern Sie sich an den ganzen Papierkram?“

Maribel wirkte auf charmante Art unleidlich. „Es tut mir so leid. Was habe ich mir nur gedacht? Es ist nur so, dass Ihr Ehemann eine solch beeindruckende Präsenz hatte.“

„Exmann.“ Im Augenblick beehrte C J vermutlich die Wäscherei des Gefängnisses mit seiner „beeindruckenden Präsenz“ und bügelte Hemden.

„Ich hoffe, Sie haben sich entschlossen, sich unsere Angebote einmal genauer anzuschauen.“ Maribel senkte die Stimme, als wäre der menschenleere Raum eventuell verwanzt. „Der Markt reagiert gerade ein kleines bisschen langsam. Sie können ein Schnäppchen machen, wenn Sie schnell sind.“

Tracy kannte sich mit dem trägen Markt aus. Zu den Problemen, die sie mit den Umweltaktivisten hatte, die wollten, dass Happiness Key in Ruhe gelassen wurde und allmählich zuwucherte, kam die Zurückhaltung möglicher Bauträger. Niemand, der die Mittel besaß, sich gegen aufdringliche Umweltschützer zu behaupten, wollte Tracys Probleme übernehmen. Die Wirtschaft. Die Hurrikane. Die Versicherung. Es sah vielleicht so aus, als würde Tracy eine Goldmine besitzen, doch wie viele Goldsucher vor ihr würde sie – wenn sich nicht schnellstens etwas änderte – zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot Bohnen und Sauerteigbrötchen verspeisen.

„Ich habe nicht vor, in Florida zu bleiben, wenn ich das Land erst mal verkauft habe“, sagte Tracy zu Maribel und hoffte, dass ihre Worte diesmal in Maribels Bewusstsein drangen. „Also bleibe ich in dem Haus auf Happiness Key wohnen. Aber ich brauche die Originalschlüssel für die Häuser.“

„Ja, es hat mir so leidgetan von Ihrem Mieter zu hören. Mr. Cross?“

„Krause. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich seine Akte mitnehmen. Ich brauche Informationen über seine Angehörigen.“ Sie hielt inne. „Hat er vielleicht eine Kaution hinterlegt? Sie wissen schon … Die ich seinen Verwandten auszahlen kann, nachdem ich die notwendigen Reparaturen veranlasst habe?“

„Nicht dass ich wüsste. Die Mietverträge waren relativ formlos. Auch als Anreiz, um jemanden zu überzeugen, dort draußen zu wohnen und eine solch kurze Kündigungsfrist hinzunehmen.“

Tracy war enttäuscht. „Tja, eine schnelle Räumung scheint mir im Augenblick nicht sehr wahrscheinlich zu sein.“

„Dann bleiben Sie noch einige Zeit vor Ort?“

Tracy wollte Maribel nicht erzählen, dass sie sonst nirgends hingehen konnte. Das klang so armselig, so verdammt erbärmlich. Ungefähr so erbärmlich, wie Herbs Kaution verwenden zu wollen, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Sie sollte versuchen, es etwas positiver darzustellen.

„Ich bin eine hoch motivierte Verkäuferin. Ich will den Überblick behalten. Ich weiß, dass der Markt sich jeden Moment erholen und ändern kann, also will ich an Ort und Stelle sein, um den Deal perfekt zu machen.“

„Tja, das nenne ich eine zupackende Haltung.“ Maribel stöckelte auf ihren unmöglich hohen Highheels zu den hölzernen Aktenschränken hinter dem Empfangstresen, öffnete einen und begann, die Akten zu durchsuchen. „Ich sage meinen Mitarbeitern auch immer, dass sie den Überblick behalten und immer auf dem Laufenden sein müssen. Aber in der letzten Zeit habe ich einige der besten Leute verloren. Natürlich werde ich den Verkauf Ihres Landes selbst in die Hand nehmen, also müssen Sie sich keine Sorgen machen. Sie stehen bei mir an erster Stelle.“

„Es gefällt mir, bei jemandem an erster Stelle zu stehen.“ Tracy fragte sich, ob das jemals der Fall gewesen war.

Maribel zog eine Akte hervor und brachte sie herüber. Dann öffnete sie die oberste Schublade ihres Schreibtisches, holte einen Schlüsselbund heraus und reichte Tracy alles.

„Ich habe für jedes Haus einen Nachschlüssel machen lassen, sodass wir einen Schlüssel hier haben, falls ein Käufer das Innere des Hauses besichtigen möchte. Natürlich ist das eher unwahrscheinlich, weil der Käufer des Landes vermutlich alle Häuser dem Erdboden gleichmachen wird.“

Tracy steckte alles in ihre Doctor B Bag von Fendi, die C Js Sekretärin ihr zum Geburtstag besorgt hatte. Das war wahrscheinlich für lange Zeit die letzte Designertasche, die sie besitzen würde. Sie würde es überhaupt nicht bedauern, wenn das Haus, in dem sie wohnte, dem Erdboden gleichgemacht werden würde. Und nachdem sie einen halben Nachmittag mit dem mausetoten Herb Krause in seinem Schlafzimmer verbracht hatte, würde es ihr auch nichts ausmachen, wenn sein Häuschen verschwand.

„Sie wissen im Augenblick sicher nichts mit sich anzufangen, oder?“, sagte Maribel. „Wie beschäftigen Sie sich?“

Tracy war gezwungen gewesen, eine ganze Zeit lang ihr Häuschen zu putzen, damit sie überhaupt darin übernachten konnte – doch diese Information war langweilig und würde sie wie ein Arbeitstier klingen lassen und nicht wie die glamouröse Exfrau eines der schillerndsten Ganoven Kaliforniens.

„Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir Wissen über Florida und das Bundesrecht bezüglich der Feuchtgebiete anzulesen“, erwiderte sie.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Jemand mit genug Geld wird kommen und den Traum von Happiness Key wahr werden lassen. Ich verspreche es – wir sitzen im selben Boot.“

Tracy wusste nicht, ob sie irgendwo gemeinsam mit Maribel Sessions sitzen wollte. Im Moment war Tracys Landbesitz ein großes Echozeichen auf Maribels Radar. Doch in dem Augenblick, wenn feststand, dass es Happiness Key, wie es geplant war, niemals geben würde, würde Maribel Tracy aus ihrem Boot werfen und ohne einen Blick zurück davonsegeln.

Hinter ihr wurde eine Tür geöffnet. Tracy drehte sich um und sah den interessantesten Mann ins Büro kommen, den sie seit Langem gesehen hatte. Er war über eins achtzig groß, schlank und trotz seiner dichten silbergrauen Haare noch jung. Er war nicht sechzig und auch noch keine fünfzig. Sie schätzte, dass er Anfang vierzig und ein Mann war, der genug Selbstbewusstsein hatte, um sich das Haar nicht zu färben. Dieses Selbstbewusstsein spiegelte sich auch in seiner Haltung wider, in den geraden Schultern, in seinen langen Schritten. Und in seinem Lächeln, als er sie nun erblickte.

„Lee“, sagte Maribel. „Kommen Sie, und lernen Sie Tracy Cr… Deloche kennen. Sie ist die Besitzerin des Häuschens Ihrer Schwiegermutter. Tracy, Lee ist einer unserer Mitarbeiter.“

Tracy versuchte, all die Informationen zu verdauen, als der Mann auf sie zukam und die Hand ausstreckte. „Lee Symington, Miss Deloche. Wie geht es Ihnen?“

Lee Symington hatte eine Stimme, in die eine Frau eintauchen und in der sie untergehen wollte. Tief, beruhigend und zugleich intensiv. Und, hey! Diese blauen Augen, die aus seinem sonnengebräunten Gesicht hervorstachen.

„Tracy“, sagte sie. „Nennen Sie mich Tracy. Und Ihre Schwiegermutter?“

„Alice Brooks.“

Jetzt fügte sich alles zusammen. Sie war nur froh, dass Lee nicht mit Wanda verwandt war. „Sicher. Natürlich. Ich habe gestern Ihre Tochter getroffen.“

„Olivia. Ich wollte gerade unter die Dusche hüpfen, als Sie vorbeigekommen sind. Es tut mir leid, dass ich nicht rauskommen und Sie kennenlernen konnte.“

Die Vorstellung von Lee, der unter die Dusche wollte, war mehr, als Tracy ertragen konnte. Vor allem weil Maribel sie konzentriert beobachtete.

„Habe ich richtig verstanden? Wir sind Nachbarn?“, fragte sie.

„Das stimmt. Ich bin vorübergehend bei Alice eingezogen.“ Er blickte Maribel an, um sie mit einzubeziehen. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen Bescheid zu sagen, Maribel. Alice braucht Unterstützung, und Olivia tut ihr gut. Sie stehen sich sehr nahe. Alice geht es nicht gut, seit meine Frau gestorben ist. Karen war ihre Stütze, und ich weiß, dass sie sich wünschen würde, dass ich alles in meiner Macht Stehende für ihre Mutter tue.“

Tracy war sich nicht sicher, was sie darauf erwidern sollte. Dass es ihr leidtat, dass Lees Frau gestorben war? Dass sie ihn für einen ziemlich fantastischen Mann hielt, wenn er der schwachen alten Dame half, für die er eigentlich nicht verantwortlich war? Dass sie hoffte, dass er seine Trauer bereits überwunden und bereit für etwas Neues war?

„Es tut mir leid, dass sie eine so schwere Zeit hatte“, sagte Tracy stattdessen. „Ich bin mir sicher, dass es für Sie auch nicht leicht war.“

„Es ist ein Jahr her. Olivia und ich kommen zurecht. Und Alice wird sich auch fangen – jetzt, da wir uns um sie kümmern.“

„Ich bin nur gekommen, um die Schlüssel für Herbs Haus abzuholen. Mein Nachschlüssel funktioniert nicht, und wir haben seinen nicht gefunden. Sie wissen doch, dass er … gestorben ist?“

„Olivia hat mich auf dem Handy angerufen. Sie hat die Polizei gesehen. Sie hat sich Sorgen gemacht, und Alice war ganz durcheinander. Sie wussten nicht, was los war.“

Tracy zählte das noch zu der Schuld hinzu, die sie nicht empfinden wollte. Warum hatte sie nicht daran gedacht, Alice zu erzählen, was geschehen war? Warum hatte sie ihr die Neuigkeiten nicht schonend beigebracht? Und warum hatte sie Wanda oder ihrem Ehemann eigentlich nichts von Herb gesagt? Jemand sollte einen Ratgeber schreiben: Die liebenswürdige Vermieterin. Aber wie sie sich kannte, würde sie sich vermutlich nicht die Mühe machen, das Buch zu lesen.

Maribel warf einen Blick auf ihre Uhr. „Lee, kümmern Sie sich darum, dass Tracy alles hat, was sie braucht? Ich habe in zehn Minuten einen Besichtigungstermin, und ich muss mich wirklich beeilen.“

Nach einer hektischen Verabschiedung verschwand sie. Tracy verspürte den Drang, ihr zu folgen, um zu sehen, ob Maribel in der Sonne noch blasser wurde oder vielleicht krebsrot. Doch andererseits hatte sie es nicht eilig, Lee Symington zu verlassen.

„Also, haben Sie denn alles?“, fragte er. Seine Augen wirkten warm und verständnisvoll. Tracy war froh, dass sie sich die Zeit genommen hatte, zu duschen, sich ein grünes Sommerkleid mit perlenbesetztem Neckholder anzuziehen und etwas Island Capri aufzusprühen, ehe sie in die Stadt gefahren war. Nach allem, was an dem Tag passiert war, hatte sie etwas Aufmunterung gebraucht.

„Ja, alles“, erwiderte sie. „Aber Sie könnten mich zu meinem Wagen begleiten.“

Er lächelte – es war ein Lächeln, das teils an den reifen Richard Gere und teils an den jungen Harrison Ford erinnerte. Sie war entzückt.

Er hielt ihr die Tür auf, und ihr Rock berührte seine Hose – eine gut geschnittene Sommerhose –, als Tracy an ihm vorbeiging. „Ich weiß, dass Sie versuchen, Happiness Key zu verkaufen. Und ich weiß, dass es eine Weile dauern könnte, wenn man bedenkt …“

„Wenn man bedenkt, dass jeder staatliche und private Bürokrat in Florida und Umgebung mir sagen will, was ich damit tun sollte und was nicht?“, vollendete sie seinen Satz.

„Das trifft es ziemlich genau.“

„Sie kennen die Geschichte vermutlich“, sagte sie.

„Nicht die ganze.“

„Mein Exmann hat das Land gekauft, um es zu erschließen und einen Komplex mit Luxusapartments und einen Jachthafen zu bauen. Alles mit großem Chichi. Dann hatte er leider ein paar Probleme mit dem Gesetz.“ Was ungefähr so war, als würde man behaupten, in Florida gäbe es „ein paar Alligatoren“.

„Und jetzt gehört das Land Ihnen?“

„Das ist fast schon komisch. Ich wusste nichts davon, bis der erste Staub sich gelegt hatte. Nachdem er das Land erworben hatte, hat C J alles in eine Kapitalgesellschaft mit mir an der Spitze umgewandelt. Ich habe alle Papiere unterschrieben, ohne darauf zu achten, worum es ging. Er hat mir erklärt, dass es sich um Steuerabschreibungen handele. Und weil ich gerade damit beschäftigt war, einen Urlaub zu planen, habe ich keine weiteren Fragen gestellt. Gut, dass ich es nicht getan habe.“

„Und jetzt können Sie es nicht verkaufen.“

„Die Leute stehen Schlange, um mich daran zu hindern. Aber das Land ist ein Vermögen wert. Wenn die Situation sich entspannt hat, wird irgendein Bauträger das Land kaufen und – wenn er schon mal dabei ist – die Bürokraten unter der Hand bezahlen. Er wird versprechen, statt dieses Landstrichs etwas anderes unberührt zu lassen oder etwas wiederherzustellen, was er schon zerstört hat, und die zuständigen Behörden werden wegschauen. Ich habe einfach nur nicht die Mittel, um das selbst zu tun.“

„Und was werden Sie tun, während Sie warten?“

Langsam wahnsinnig werden.

„Ich könnte mir einen Job suchen“, sagte sie wie nebenbei – auch wenn die Folgen, keine Arbeit zu haben, durch das Fehlen von Herb Krauses Mietzahlung und die drohenden Reparaturen an Wandas Haus durchaus schwerwiegend sein konnten. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie sich die Hände schmutzig machen müssen.

„Sie müssen sich langweilen. Haben Sie schon darüber nachgedacht, in den Sun County Yacht Club einzutreten?“

Sie musste sich ein Lachen verkneifen. Stumm fragte sie sich, wen genau sie als Empfehlung angeben sollte und wovon sie auch nur für ein paar Monate den Mitgliedsbeitrag bezahlen sollte – ganz zu schweigen von der Jacht.

Doch sie erzählte Lee eine leicht abgewandelte Geschichte. „Ich freunde mich lieber nicht mit zu vielen Leuten an, die ich dann zurücklassen muss. Aber ich dachte, ein Sommerjob könnte eine interessante Möglichkeit sein, um mehr über die Gegend und die Menschen herauszufinden. Sie wissen schon. Am Ball bleiben, ein bisschen darüber erfahren, wie die Dinge hier laufen.“

„Ich wünschte, Sie hätten die Lizenz, um in Florida Immobilien zu verkaufen. Maribel könnte einen weiteren fähigen Mitarbeiter sicherlich gut gebrauchen.“

„So ein Jammer. Ich kann locker mit den Reichen und Berühmten plaudern. Ich würde mich in dem Geschäft sicher gut machen.“

„Also, die Eventmanagerin des Jachtklubs könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen. Zu dieser Jahreszeit hat sie immer viel zu tun. Ich könnte Sie einander vorstellen.“

Tracy fragte sich, ob es einen Job geben mochte, der noch besser zu ihr passte. Sie hatte als Freiwillige viele Events geplant oder dabei geholfen – zuerst als Stellvertreterin ihrer anspruchsvollen Mutter, später als C Js Ehefrau. Charity-Bälle, Golf- und Bridge-Turniere, Lunches.

„Das ist ein sehr freundliches Angebot“, sagte sie. „Vielleicht nehme ich Sie beim Wort.“

„Ich schaue mal, was ich herausfinden kann, und lasse es Sie dann wissen.“

Sie hielt vor ihrem Wagen an und bemerkte seine bewundernden Blicke. Der BMW Z3 war ein flotter kleiner Sportwagen, der in ihrer Jugend ausgesagt hatte, dass sie lebenslustig, sorglos und für jeden tabu war, der kein Geschäftsmann mit ausgezeichneten Aussichten war. Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, was der Wagen aussagte. Vielleicht etwas über längst verblasste Pracht.

„Ihnen wird vermutlich auffallen, dass ich in der nächsten Zeit häufiger in Herbs Häuschen bin“, sagte sie. „Bis wir seine Familie gefunden haben.“

„Ich werde mal Alice fragen, ob sie etwas weiß.“

Sie warf ihm ein dankbares Lächeln zu. Einen Moment lang blickten sie einander abschätzend an. Ihr gefiel, was sie sah. Andererseits war sie auch mit C J zufrieden gewesen – bis er ihr eines Morgens im Solarium gesagt hatte, sie solle sich hinsetzen, und ihr dann offenbart hatte, dass er ins Gefängnis müsse.

„Man sieht sich“, sagte sie und schloss die Tür auf.

„Ganz sicher. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.“

Sie dachte über seine Worte nach, als sie davonfuhr. Und ihr wurde klar, dass sie nicht wusste, was sie brauchte. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber machen müssen. Doch in Zukunft würde es wohl nie mehr so einfach sein.

4. KAPITEL

Janya konnte sich darauf verlassen, dass Rishi bei Einbruch der Dunkelheit heimkam – wenn sie nicht zu Hause mit dem Essen auf ihn warten

würde, wusste sie, dass er bei der Arbeit bleiben und Pizza direkt aus dem Karton oder gebratenes Hühnchen aus einem Pappeimer essen würde. Janya war sich sicher, dass das Essen wie die Verpackung nach Pappe schmecken musste. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie jemand, der zumindest in Indien geboren worden war, so etwas ertragen konnte.

Obwohl Janyas Familie immer einen Koch gehabt hatte, hatte Janyas Mutter darauf bestanden, dass ihre Tochter wenigstens die Regeln und die Genauigkeit der klassischen indischen Küche kennenlernte. Sie hatte gelernt, nur die frischesten Gewürze zu kaufen und zu mahlen. Sie zu braten, bis ihr Aroma sich entfaltet hatte. Eine Platte mit verschiedenen Gemüsesorten anzurichten, die in Geschmack und Beschaffenheit so vielfältig waren, dass Fleischesser nicht dahinterkamen, dass gar kein Fleisch gereicht wurde. Sie wusste, wie man Mehl und Joghurt mischte, um chapati herzustellen. Und sie wusste, wie sie das Fladenbrot dann in der tawa, einer speziellen eisernen Pfanne, backen musste, wobei sie die Ecken immer wieder löste, bis das Brot sich aufblähte wie ein Ballon.

Rishi konnte ein chapati nicht von einer Tortilla unterscheiden. Und es war ihm egal. Janya wusste, dass sie sich um ihn kümmern musste, also versuchte sie es, weil es von ihr erwartet wurde.

Als Rishi an diesem Abend nach Hause kam, beendete Janya gerade die Vorbereitungen für ihr Essen. Sie war mit einem Amerikaner verheiratet. Sie hatte seine Essgewohnheiten lange genug studiert, um zu wissen, dass er lieber Pommes frites als Reis und lieber Maiskolben als Linsen mochte. Als strenge Vegetarierin würde sie niemals Fleisch zubereiten, doch Janya bemühte sich, ihn zufriedenzustellen, indem sie amerikanische Rezepte ausprobierte.

Rishi zog sich wie immer an der Tür die Sandalen aus. „Ich bin zu Hause, Janya.“ Jeden Abend sagte er diese Worte, als hätte er Angst, sie könnte nicht bemerken, dass er nach Hause gekommen war.

Sie begrüßte ihn, und er schlang auf eine sehr amerikanische Art und Weise seine Arme um sie. Sie stand nahe bei ihm, zwar nicht entspannt, aber sie wich auch nicht zurück.

„Erzähl mir von deinem Tag“, sagte Rishi und hielt sie immer noch in seinen Armen.

„Nach dem Gebet.“

Janyas Großeltern waren gläubige und traditionelle Hindus gewesen. Von ihnen hatte sie die Rituale, die Andacht und die Gebete, die Feste und die Rollen der vielen Gottheiten gelernt, die die Seiten des einen wahren Gottes darstellten. Ihre Eltern bezeichneten sich als kulturelle Hindus, die an vielen Traditionen festhielten, einige Ansichten akzeptierten, aber sie nicht zu verbissen sahen.

Janya war eher ein Freigeist. Sie war von katholischen Nonnen erzogen worden, und ihre Eltern hatten sie nie entmutigt, sich auch mit Klassenkameraden mit buddhistischem oder muslimischem Hintergrund anzufreunden. Daher hatte sie gelernt, die Gemeinsamkeiten in allen Religionen zu sehen, die Wahrheit in allen und die Konsequenzen, wenn Menschen dem zu wenig Aufmerksamkeit schenkten, an was zu glauben sie verkündeten. In ihrem Zuhause aber war sie entschlossen, an den grundlegenden Traditionen ihrer Kindheit festzuhalten. Sie war so weit von ihrem geliebten Indien entfernt, und sie wollte sich nicht noch weiter entfernen.

In einem hinduistischen Haushalt gab es – egal, wie ärmlich die Verhältnisse waren – einen besonderen Ort für die Gebete, den Raum für die puja, der manchmal nicht mehr als eine Zimmerecke war. Das Strandhaus war so klein, dass Janya befürchtet hatte, den Altar ebenfalls in einer Zimmerecke aufbauen zu müssen. Doch als Rishi ihr den Schrank für die Mäntel an der östlichen Seite des Wohnzimmers gezeigt hatte, war ihr klar gewesen, dass das der Platz für die Gebete sein würde. Nicht besonders aufwendig, nicht angefertigt nach den Vorschriften und Ansprüchen derjenigen, die gehorsam jede von Menschen gemachte Regel befolgten. Aber nichtsdestotrotz ein Platz, an dem sie sich daran erinnern konnten, wer sie waren und woran sie glaubten.

Nun öffnete sie die Tür, und zum Vorschein kam eine kleine Plattform, auf der ein blauer Sari ausgebreitet war. Darauf stand die puja-Schale, in der sich Dinge für das Gebet befanden und in der eine Statue von Krishna stand. Sie hatte das Innere des Schranks dunkelrot angemalt, den Rahmen mit silberner und goldener Farbe und mit Blumenmustern verziert, die sie noch aus ihrer Heimat kannte.

Während Rishi wartete, entzündete sie den Docht einer kleinen Öllampe aus Messing und einen Weihrauchräucherkegel. Schließlich stellte sie als Opfergabe Wasser aus einer Kanne, die sie schon vor den Essensvorbereitungen gebracht hatte, und ein Schälchen mit frisch gekochtem Reis vor den Altar.

Sie machte einen Schritt zurück. Sie falteten die Hände, und Rishi trug die vertrauten Gebete vor, auf die sie sich geeinigt hatten. Er war noch immer ein wenig unsicher, weil Gebete in dem Haushalt, in dem er aufgewachsen war, nur selten gesprochen worden waren. Sie beendeten die Zeremonie, und Janya legte Krishna schließlich Blumen zu Füßen. Später würde sie mit einer der Blüten die Flamme der Lampe löschen, wie ihre Mutter es immer getan hatte.

Als sie fertig waren, folgte Rishi Janya in die Küche. „Kennst du die Bedeutung des Wortes ‘light’?“ Rishi buchstabierte es. „In diesem Land sagen wir ‘light’ zu etwas, das nicht dem Original entspricht – eine abgespeckte Version sozusagen. Also praktizieren wir in diesem Haus ‘Hinduismus light’.“

„Wünschst du dir vielleicht etwas Aufwendigeres?“, fragte sie.

Er lachte. „Nein, ich bin zufrieden. Aber deine Mutter und dein Vater werden es wohl nicht sein, wenn sie zu Besuch kommen.“

Das war ein Spielchen zwischen den beiden. Rishi sprach vom Besuch ihrer Eltern, als könnte es tatsächlich eines Tages mal so sein. Sie war sich nicht sicher, warum er das tat. Entweder wollte er, dass sie auch daran glaubte, damit ihr Heimweh nach ihrer Heimat und ihrer Familie nicht übermächtig wurde. Oder – und das war genauso traurig – er wollte glauben, dass er eine ganz normale Ehe führte, in der die Schwiegereltern sich genauso freuten, dass er ihr Schwiegersohn war, wie er, sie in seinem Leben zu haben.

Natürlich entsprach beides nicht der Wahrheit.

Sie rührte in dem Topf mit den gebackenen Bohnen, die sie zu Reis und einem Teller mit Rohkost reichen wollte. „Es ist noch nicht ganz fertig. Möchtest du vielleicht schon einen kleinen Snack?“

Rishi machte den Kühlschrank auf und starrte hinein, als hätte er nie gedacht, dass sich so etwas darin befinden könnte. Als ihr Ehemann bei seinem Onkel und seiner Tante hatte leben müssen, waren ihm nur wenige Freiheiten zugestanden worden. Und sich selbst etwas zu essen zu nehmen, wenn er hungrig war, hatte nicht dazugehört.

Janya fand das traurig. Rishi war der geliebte Sohn gewesen, bis seine Eltern bei dem Giftgasunfall in Bhopal ums Leben gekommen waren. Seine Mutter und sein Vater, die für die Gewerkschaft gearbeitet hatten, die die Arbeiter in der Fabrik der Firma Union Carbide vertreten hatte, hatten sich Sorgen um die zunehmend schlechter werdenden Sicherheitsbedingungen gemacht und ihren kleinen Sohn zu seiner Tante nach Delhi geschickt. Am Ende des Jahres hatten sie zu ihm kommen wollen. Doch noch ehe sie Bhopal für immer hatten verlassen können, waren ihre schlimmsten Befürchtungen eingetreten, und Rishi war zum Waisen geworden.

Rishi sagte oft, er sei gesegnet gewesen, einen Onkel gehabt zu haben, der ihm ein Zuhause in Amerika geboten hatte. Aber Janya war sich nicht immer sicher, ob es ein Segen gewesen war. Ihr kam Rishi manchmal wie eines der bettelnden Kinder auf den Straßen von Mumbai vor, die um Aufmerksamkeit und Beachtung flehten. Hungrig nach Liebe, schamlos, ja sogar ängstlich. Manchmal glaubte sie, dass er nur in den Kühlschrank sah, um sicherzugehen, dass das Essen noch immer da war und dass er ungehinderten Zugang dazu hatte.

Sie hielt ihren Mann nicht für besonders hübsch. Rishi war nur wenige Zentimeter größer als sie, dünn, aber mit einem muskulösen Körper. Irgendwie schien dieser Körper mit sich selbst im Widerspruch zu stehen, hielt niemals still, war niemals wirklich ausgewogen in seinen Bewegungen. Rishis Nase ragte hervor, und ein Schnurrbart ließ sie nur noch größer wirken. Er hatte lange, kräftige Augenbrauen über seinen runden Augen. Wenn er lächelte, stachen seine großen, perfekten Zähne aus seinem bronzefarbenen Gesicht hervor.

Rishi war ein netter Mann und dankbar für alles, was er hatte. Oft mahnte sie sich, dass sie sich glücklich schätzen konnte, jemanden geheiratet zu haben, der sie nicht schlecht behandelte. Und dass sie sich glücklich schätzen konnte, keine kritische Schwiegermutter zu haben oder einen Schwiegervater, der darauf bestand, dass sein Sohn und seine Schwiegertochter vor ihm krochen wie Sklaven. Rishis Tante und Onkel hatten kein Interesse daran, Teil ihres Lebens zu werden. Obwohl sie sich in Orlando zur Ruhe gesetzt hatten, waren sie seit der Hochzeit vor acht Monaten erst ein Mal zu Besuch gekommen. Das Apartment, in dem Janya und Rishi damals gewohnt hatten, hatte sie nicht beeindruckt. Sie waren nur eine Nacht geblieben und am nächsten Morgen gleich zu einem ausgedehnten Besuch bei ihrem richtigen Sohn in Fort Lauderdale aufgebrochen.

Jetzt konnte sie es nicht länger ertragen, ihren Mann in den Kühlschrank starren zu sehen. Sie ging an ihm vorbei und nahm einen der Fruchtsäfte heraus, die sie in dem Spezialitätengeschäft gekauft hatte. Während er zusah, füllte sie den Saft in ein Glas mit Eiswürfeln und reichte ihm das Getränk. Dann widmete sie sich wieder den Vorbereitungen fürs Essen.

„Hattest du einen schönen Tag?“, erkundigte er sich.

„Nicht so gut, wie er hätte sein können.“ Sie nahm einen Löffel voll Bohnen und gab sie auf einen Teller, um sie zu probieren. Das Rezept stammte aus einem amerikanischen Frauenmagazin, doch wie immer fehlte dem Gericht der Geschmack. Sie begann, das Gericht abzuschmecken und Gewürze hinzuzufügen, während sie sich unterhielten.

„Bist du in der Stadt gewesen?“, fragte er.

„Der Bus kam pünktlich.“ Sie zählte auf, was sie alles erledigt hatte.

„Dann hast du alles geschafft, was du dir vorgenommen hast. Und das macht dich nicht glücklich?“ Er klang ehrlich interessiert. Rishis Ansicht nach war eine abgehakte Liste von Dingen, die man erledigen musste, so gut wie ein Tag in Disney World – womit er alles verglich.

Über den Tod zu reden, wenn sie gerade das Essen vorbereitete, schien Janya kein gutes Omen zu sein, obwohl sie sich bemühte, nicht abergläubisch zu sein. Trotzdem erzählte sie ihm kurz, was passiert war und welche Rolle sie bei den Geschehnissen des Tages gespielt hatte.

Schließlich beendete sie ihren Vortrag. „Es war sehr traurig. Er ist allein gestorben. Niemand war bei ihm, und niemand hat ihm geholfen. Niemand wusste überhaupt, dass er gestorben war, bis wir gekommen sind. Fremde kümmern sich um seinen Leichnam. Läuft es in diesem Land so?“

„Nein, normalerweise ist es so, dass die Menschen im Krankenhaus sterben, wo sie von Maschinen umgeben sind und von Schwestern gepflegt werden, die sie nicht kennen.“

Sie erschauderte.

„Es tut mir leid, das klingt jetzt schlimmer, als es ist“, sagte Rishi. „Oft ist auch die Familie dabei, wenn jemand stirbt. Und die Ärzte und Schwestern geben sich Mühe, damit die Menschen in Würde gehen können.“

Sie fühlte sich nicht besser. Wenn sie einmal sterben würde, wünschte sie sich die Menschen an ihrer Seite, die sie liebten. Sie wollte nicht allein und ungeliebt in einem Krankenhausbett sterben. Und sie wollte ganz sicher nicht so enden wie Herb Krause, der darauf hatte warten müssen, von den Menschen entdeckt zu werden, die ihn zu Lebzeiten nicht beachtet hatten.

„Das Thema hat dich aufgewühlt“, sagte Rishi.

Wie viele Menschen in seinem Fach war er nicht besonders gut darin, Gefühle zu verstehen, aber heute Abend gab er sich Mühe, ihr entgegenzukommen. Sie war dankbar und doch auch traurig, dass es ihn solche Anstrengungen kostete.

Darshan, der Mann, den sie beinahe geheiratet hätte, hätte sofort verstanden, wie sie sich fühlte.

Sie versuchte, es Rishi zu erklären. „Ich wünschte, ich hätte mehr für ihn getan, als er noch gelebt hat. Er schien ein netter Mann zu sein …“ Sie biss sich auf die Unterlippe, beschloss jedoch weiterzusprechen. „Und einsam, Rishi. Wir hätten uns mehr für sein Leben interessieren können.“

Rishi wirkte verwirrt. „Wie kommst du darauf, dass er das gewollt hätte?“

„Weil er ein Mensch war, der niemanden hatte, der sich Sorgen um ihn machte.“

„Was ist mit seiner Familie?“

„Ich weiß nicht, ob er eine Familie hat.“

„Das wusste ich nicht.“

„Aber das ist doch der springende Punkt, oder? Dass wir es nicht wussten. Dass wir keinen Versuch unternommen haben, es herauszufinden.“

„Du bist nur aufgewühlt, weil du ihn gefunden hast. Das würde niemanden kaltlassen. Aber du warst nicht für sein Glück verantwortlich.“

„Wer war es denn dann?“ Sie sah ihn an und platzte heraus: „Ich habe mich entschlossen, mich um seine Pflanzen zu kümmern.“ In dem Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, wünschte sie sich, sie hätte sie nicht gesagt. Rishi würde sie nicht verstehen. Und sie wollte ihm nicht alles erklären müssen.

„Er hatte Pflanzen?“

Verärgert, weil er so wenig um sich herum wahrzunehmen schien, klang ihre Erwiderung schroffer, als sie es wollte. „Wie kannst du das übersehen haben? Die Pflanzen stehen überall in seinem Garten. In vielen, vielen Übertöpfen.“

Einen Augenblick lang schwieg er. Sie wartete darauf, dass er ihr sagte, dass es nicht ihre Aufgabe sei, dass es dem toten Mann egal sei, ob sich jemand um seine Pflanzen kümmerte, und dass es keinen Grund für sie gebe, diesen Fremden um Vergebung zu bitten.

Er schwieg noch immer, als sie das Essen auf den Tisch stellte und er sich auf den Stuhl in der Ecke setzte. Er schwieg, bis er seinen Teller halb leer gegessen hatte – auch wenn seine Miene sich nach einigen Bissen verändert hatte und er aussah, als würde er sehr intensiv über irgendetwas nachdenken.

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