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Irische Ballade

Nur zu gern nimmt die 23jährige Peggy die Einladung ihrer Tante an, einige Wochen auf dem ehemaligen Familiencottage in Irland zu verbringen. Sie hofft, dort ein wenig Ruhe für sich und ihren an Autismus leidenden Sohn Kieran zu finden. Doch schon bald schlägt nicht nur das Land ihrer Vorfahren Peggy in ihren Bann, sondern auch der unzugängliche Finn O'Malley. Der ehemalige Arzt kommt nicht über den tragischen Tod seiner Frau hinweg, an dem er sich die Schuld gibt ... Peggy bemüht sich vergeblich um den attraktiven Mann - bis es ihre eigene, fast hundert Jahre zurückliegende Geschichte ist, die die beiden einander unvermutet näher bringt. Ein zärtlicher Roman um die schicksalhafte Begegnung zweier Menschen, die über Kontinente hinweg füreinander bestimmt sind.


  • Erscheinungstag: 10.04.2006
  • Seitenanzahl: 656
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862782987
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

1923

Castlebar, County Mayo

Mein lieber Patrick,

so viele Jahre schon sind wir durch so viele Meilen getrennt, teurer Bruder. Dabei waren die McSweeneys doch über die Jahrhunderte immer eine traute Familie, in der jeder den anderen gut kannte und niemand sich einsam fühlen musste. Denn was sonst war von Bedeutung? Was kann wichtiger sein als die Familie, das Land und die Kirche? Alles andere ist wie die Butter auf dem Brot, lediglich eine zusätzliche Freude, doch nicht die eigentliche Nahrung des Lebens.

Nun sind die Unseren wie Schiffsballast an weit voneinander entfernten Küsten verstreut. Du in Ohio, unsere geliebten Schwestern in Australien, in Nova Scotia und im Grabe. Wir sind alt, die letzten Verbliebenen und durch weit mehr als nur Meilen getrennt. Jetzt kennen wir uns kaum noch. Die neue Fotografie, die man in St. Brigid’s für dich hat anfertigen lassen, habe ich erhalten, und ich danke dir dafür. Aber was ist mit dem jungen Mann geschehen, den ich kannte, dieser hoch gewachsene Bursche, der sich so aufrecht hielt? Wo ist der Priester geblieben, dessen Augen Feuer sprühten und der voller Lebenskraft voranschritt? Hat er den Weg eingeschlagen, auf dem ich mich selbst auch befinde? Diesen Pfad, der nur zu einem Ziel führt?

Ich kann mir dich einfach nicht als alten Mann vorstellen, mein lieber Patrick. Du zelebrierst die Messe lediglich an Feiertagen, nimmst nur noch selten die Beichte ab, liest jeden Tag stundenlang und denkst nach?

Woran genau denkst du nun in deiner freien Zeit, mein Bruder? An die Jahre, die du hinter dir hast? An die grüne Insel deiner Geburt? An unsere so sehr geliebte Heimaterde, auf der die McSweeneys nie wieder etwas anbauen werden?

Vielleicht, wenn ich geheiratet hätte, könnte ich Besseres mit meiner Zeit anfangen. Ich hätte Enkelkinder und Urenkel, die ich stolz auf meinen Knien schaukeln würde. Stattdessen, ohne jegliche Nachfolger, denke ich nun an die Familie, aus der ich komme, an dich und Ciara und Selma, an die liebe Una, die nur so kurze Zeit unter uns weilte. Nicht einer davon mit einem eigenen Spross, doch einer stolzen Reihe von verblichenen Vorfahren.

Noch immer erinnere ich alles, auch wenn ich mich bereits in der letzten Phase meines Lebens befinde. Ich höre die Lieder und das Lachen, rieche das duftende Brot im Steinofen, vernehme das Blöken der Schafe auf unseren Weiden. Auch diesen kleinen Kerl sehe ich vor mir, der an meinen Röcken zupfte und mit seiner lispelnden Kinderstimme die Gebete aufsagte. Der sich aus Angst vor dem Butzemann hinter verschlossenen Türen versteckte, wenn über den Sümpfen von Mayo der kalte Nebel aufstieg.

Wie glücklich kann ich mich schätzen, dass ich diese Erinnerungen besitze, die mir Trost spenden. Welch ein Segen für uns alle, aus einer so wunderbaren Familie zu kommen. Das, mein lieber Patrick, kann uns niemand mehr nehmen. Egal wie viele Jahre uns nun schon trennen, Du und all unsere Lieben werden immer in meinem Herzen sein.

Deine Schwester,

Maura McSweeney

1. KAPITEL

Peggy Donaghue vermied es nach Möglichkeit, den Parkplatz des Whiskey Island Saloon zu benutzen. Was nicht gerade einfach war, weil der direkt vor ihrem Haus lag. An Tagen, wo sie keine Lücke auf der Straße fand, nutzte sie notgedrungen die reservierte Stelle in der Nähe des Hintereingangs und hastete von dort zur Küchentür. Sie war nicht abergläubisch. Doch man musste das Schicksal auch nicht herausfordern.

Es sei denn, die Umstände verlangten es.

Der junge Mann direkt hinter ihr räusperte sich. „Ganz schön stürmisch, Miss D. Sie brauchen nicht hier draußen zu bleiben. Es wird schon nichts passieren, ich versprech’s Ihnen.“

Peggy strich sich das lange kastanienbraune Haar zurück und drehte es zu einem Pferdeschwanz, damit ihr die Strähnen nicht ins Gesicht wehten. Über die Schulter blickte sie zu dem großen, schlaksigen Jungen, der sich offensichtlich unwohl in seiner Haut fühlte und ihr nicht in die Augen sah. Das konnte sie verstehen. Josh hatte zum ersten Mal ein Auto gestohlen. Und er hoffte, genauso wie Peggy, dass der Besitzer das Verschwinden seines brandneuen Honda Civic nicht bemerkte.

„Ich vertraue dir, Josh. Und sogar denen da.“ Peggy deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung einer Gruppe von vier Jugendlichen, die gerade an dem Auto klebte wie die heiße Butter am Pierogi Spezial vom Freitagsmenu des Saloons. „Aber ich bleibe hier, für den Fall, dass sie mich brauchen.“

„Nick hat sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Wenn er so drauf ist, kriegt er nichts mit. Er wird’s nicht erfahren.“ Joshs Tonfall verriet, dass er sich nicht ganz so sicher war, wie er behauptete.

„Er hat wahrscheinlich jede Menge zu tun, bevor er wegfährt.“ Peggy entdeckte eine wohlbekannte Gestalt, die zwischen den Reihen von geparkten Wagen auf sie zukam. Die schlanke Rotblonde war unverwechselbar – und gehörte zur Familie. „Oh, oh, man hat uns erwischt“, sagte sie in ihrer besten Jimmy-Cagney-Imitation. „Jetzt droht uns der Galgen, Scarface.“

Joshs bleiche Wangen röteten sich. „Ich muss abhauen. Winston wird dafür sorgen, dass alles funktioniert. Falls Nick doch was merkt, verschwinde ich lieber …“

Peggy winkte ihn weg. „Geh schon. Ich höre mir den Vortrag allein an.“

Josh war die Erleichterung anzusehen, und er machte sich davon. Dabei vermied er, Peggys älterer Schwester zu begegnen, indem er an der hinteren Autoreihe vorbeischlich und sich seinen Weg über verstreute Plastikbeutel und Zeitungspapier aus einem umgekippten Abfallcontainer bahnte.

Casey Donaghue Kovats stellte sich neben Peggy und beobachtete einen Moment die Gruppe von Jugendlichen, die eine Reihe von Feuerwerkskörpern an der hinteren Stoßstange von Niccolo Andreanis Wagen befestigte. Der silberfarbene Civic war in der Nähe des Hintereingangs zum Saloon geparkt, sodass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte.

„Du lässt zu, dass die Kids Feuerwerkskörper ans Auto hängen? Hast du nicht beim Notfalldienst gearbeitet, um zu wissen, wie gefährlich die Dinger sind?“

„Kein Hallo, wie geht’s, ist es nicht ziemlich windig heute‘?“

„Peggy, bist du verrückt geworden?“

„Feuerwerkskörper sind gefährlich, ja. Das sind aber nur Knallfrösche, und die können nicht mehr Schaden anrichten als Blechbüchsen oder alte Schuhe.“

„Megan wird einen Anfall kriegen.“

„Das hoffe ich doch. Wir haben uns ganz schön viel Mühe gegeben.“ Peggy winkte einem der Jugendlichen zu, ein hübscher Afro-Amerikaner mit sorgfältig frisierten Rastalocken, der eine Rolle Klebeband über das Handgelenk geschoben hatte. „Winston, kannst du bitte mal Casey davon überzeugen, dass Nicks Auto nicht in die Luft geht?“

Der Junge verließ seinen Posten, von dem aus er die Aktion überwacht hatte, und kam zu den beiden Schwestern herüber. „Echt, Miss K. Da passiert nichts, wird nur ein bisschen krachen.“

Casey sah immer noch nicht überzeugt aus. „Ich vertraue ja deinen Fähigkeiten, Winston, wirklich, aber was ist, wenn – ich weiß, die Chancen sind gering –, was ist, wenn was schief geht?“

„Kann nicht. Wir haben’s gestern ausprobiert.“

„Gestern?“, fragte Peggy erstaunt. Davon hatte sie nichts gewusst.

„Ja, bei einer Hochzeit. Da unten in der Baptistenkirche.“

„Bekannte von dir?“

Winston zuckte mit den Schultern. „Hab dabei jedenfalls ne Menge gelernt. Zum Beispiel sollte man die Knallfrösche nicht an dieselbe Stoßstange binden wie die Luftballons, wenn man nicht unbedingt eine riesen Sauerei veranstalten will.“

Peggy unterdrückte ein Grinsen. „Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, dass ein Meister am Werk ist.“

Winston verschwand schnell wieder, um seinen Job zu Ende zu führen, als er Caseys genervten Blick sah. „Ich begreife sowieso nicht, warum Nick seinen Wagen ausgerechnet vor dem Saloon stehen lässt.“

„Macht er auch nicht. Josh hat das Auto vor einer halben Stunde hergebracht. Nick weiß noch nichts davon.“

„Und wie kommt er dann in die Kirche?“

„Ich dachte, er könnte laufen. Ist doch nur ein paar Häuserblocks entfernt.“

Ein heftiger Windstoß warf Peggy fast um, sodass sie gegen Casey prallte und im gleichen Moment Zweifel an ihrem Vorschlag bekam. Der Himmel wurde immer dunkler, und Sturm kam auf. Bei der Wettervorhersage für den heutigen Frühlingstag war am Morgen noch von leichtem Wind und eventuell aufkommendem Regen die Rede gewesen. Aber schließlich lebten sie in Cleveland. Sicher war nur, dass es Wetter gab. Wie genau es sich nun entwickelte, wusste nur Gott allein.

„Ich würde ihm ja meinen Wagen leihen, aber ich hab keinen mehr“, sagte Peggy.

„Musst du mich daran erinnern, dass du morgen ans andere Ende der Welt fährst? Als wenn ich nicht schon so ständig daran denken würde.“

Peggy ging nicht auf diese Bemerkung ein. „Jon könnte Nick ja zur Kirche fahren. Rufst du ihn an und fragst?“

Jon war seit knapp einem Jahr mit Casey verheiratet und bot seine Hilfe an, wann immer er konnte. „Es macht ihm bestimmt nichts aus. Wenigstens wird er bei diesem Sturm nicht von der Straße geweht. Jon kann selbst auf sich aufpassen.“ Casey lächelte. Peggy fiel auf, dass Casey das in letzter Zeit ziemlich oft tat. Grinste zu jeder passenden Gelegenheit und lächelte geheimnisvoll, auch wenn es keinen offensichtlichen Grund gab. Die Ehe tat ihr gut.

Peggy und Casey waren vor über zwei Jahren in ihre Heimat zurückgekommen, zwei verlorene Seelen auf der Suche nach einem Platz zum Unterkriechen. Jetzt war Peggy Mutter eines Jungen, Casey hatte ihren besten Freund geheiratet, und Megan, die den Familien-Saloon führte, würde nun ebenfalls bald Ehefrau.

Das, was zunächst wie ein dreifaches Happy End klang, war es natürlich nicht. Nicht ganz. Jede der drei Schwestern hatte noch immer mit handfesten Problemen zu kämpfen, doch Peggy wollte nicht darüber nachdenken. Jedenfalls im Moment nicht. Heute gehörte der Tag allein Megan.

„Erinnerst du dich daran, wie wir das letzte Mal so auf dem Parkplatz gestanden haben?“, fragte Casey, als hätte sie erraten, was in Peggys Kopf vorging. Die beiden Schwestern hatten schon immer Peggys Gedanken lesen können.

„Ja, wir wurden mit Waffen bedroht. Und Niccolo hat uns gerettet. Jetzt heiratet er unsere Schwester. Schon merkwürdig, wie sich die Dinge entwickeln, was?“

„Ich hab schon mal reingesehen. Unglaublich, was sie da drinnen gemacht haben.“

Mit „sie“ war die Donaghue-Familie gemeint – und alle in Cleveland, die dazugehörten oder – gehören wollten. Eine beachtliche Ansammlung von Freunden und Familienangehörigen war heute Morgen erschienen, um den Saloon zu putzen und auszuschmücken, in dem nach der Trauungszeremonie in St. Brigid’s der Empfang stattfinden sollte.

Peggy sah auf die Uhr. „Ich muss noch tausend Sachen erledigen, bevor Kieran aufwacht.“ In seinem alltäglichen Lebensrhythmus war Peggys kleiner Sohn pünktlicher als eine Atomuhr.

„Du hast immer noch vor, ihn mit einem Babysitter oben in der Wohnung zu lassen?“

„Er wird sich da wohler fühlen. Es ist für alle am besten so.“

„Der alte Saal sieht großartig aus. So wie früher in unserer Kindheit, wenn Mom Empfänge für die Hochzeiten in der Familie organisiert hat. Megan wird es bestimmt gefallen.“

Peggy dachte da anders. Irgendwann würde ihre älteste Schwester Megan bestimmt dankbar, ja womöglich auch sehnsüchtig an diesen Tag zurückdenken. Aber heute bemerkte sie wahrscheinlich gar nichts. Allen Anzeichen nach zu urteilen, absolvierte Megan die ganze Trauungszeremonie und den Empfang anschließend wie eine Verurteilte, die gerade dazu verdonnert worden war, den Rest ihres Lebens als Barkeeperin zu verbringen.

Casey grinste. „Na gut, vielleicht ist sie nachher ein bisschen nervös, und es könnte sein, dass ihr dieses und jenes Detail entgeht …“

„Komm schon, wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn sie nur wie im Wachkoma durch die Gegend läuft. Ich wunder mich, warum die beiden nicht durchgebrannt sind.“

„Sie wollte kein schlechtes Vorbild sein.“

„Für wen?“ Im gleichen Moment, wo Peggy es ausgesprochen hatte, war ihr bereits klar, für wen. „Für mich? Hat sie Angst, wenn sie durchbrennt, dass ich es ihr irgendwann nachmache?“

„Zum Teil schon.“

„Unglaublich.“

„Und ich denke, Nick wollte eine richtige Hochzeit haben“, fügte Casey dazu, bevor Peggy sich weiter darüber auslassen konnte. „Und dass seine Kids dabei sind. Denen gefällt so was, auch wenn sie es niemals zugeben würden.“

Bei den besagten Kids handelte es sich um eine Gruppe Jugendlicher, von denen einige gerade ohne Rücksicht auf Verluste Niccolos Auto dekorierten. Zusammen waren es über ein Dutzend gefährdete, aber im Grunde liebenswürdige Heranwachsende, die zu einer Organisation mit dem Namen „Stein auf Stein“ gehörten. Niccolo Andreani, der den Laden schmiss, war Leiter, Gründer und Mädchen für alles.

„Also veranstaltet Megan diese Hochzeit hauptsächlich für die anderen?“

„Sie will nicht darüber reden, es ist also nur meine Vermutung. Aber du weißt, dass sie völlig fertig ist, seit sie Nicks Heiratsantrag angenommen hat. Sie betet ihn an, deshalb wird sie es wohl kaum bereuen. Ich glaube einfach, dass sie nicht so gern im Mittelpunkt steht. Am zufriedensten ist sie ja, wenn sie bei allen anderen aus dem Hintergrund die Fäden ziehen kann.“

„Na, es wird Zeit, dass sie mal drankommt, ob es ihr gefällt oder nicht.“ Peggy sah auf ihre Uhr. Es war zehn, um eins fand die Trauung statt. „Was steht denn bei dir noch auf dem Programm heute Morgen?“

„Ungefähr tausend Sachen, bevor ich Megan beim Ankleiden helfe, inklusive Friseurtermin.“

„Also ich hab ungefähr ein Dutzend mehr. Dann muss ich mich umziehen, Kieran fertig machen …“

„Und packen.“

„Ich hab alles so weit fertig. Tante Dee kam heute Morgen und hat unsere Koffer mitgenommen. Ich kann also heute Abend nach dem Empfang alles saubermachen, ohne dass sie mir im Weg stehen. Megan hat wegen des Apartments schon eine Anzeige aufgegeben.“ Peggy versuchte eine Diskussion über ihre bevorstehende Abreise zu vermeiden. Es hatte bereits Dutzende derartiger Auseinandersetzungen gegeben, alle vergeblich, seit sie angekündigt hatte, für ein Jahr nach Irland zu gehen. „Ich werde mich besser gleich in Bewegung setzen. Kieran muss wirklich jeden Moment aufwachen …“

Ein heftiger Windstoß riss sie fast von den Füßen, und diesmal prallte sie mit voller Wucht gegen Casey. Peggys Aufschrei wurde von einem ohrenbetäubenden Krachen begleitet. Zuerst hatte sie gar nicht mitbekommen, was passiert war. Dann drehte sie sich ängstlich zum Wagen um und sah das Desaster.

„Alles weg vom Auto! Sofort!“ Wie auf Kommando rannten die beiden Schwestern los. „Der Baum …!“

Winston und seine Crew waren nicht gerade zimperlich, aber sie wussten, wann man sich besser in Sicherheit brachte. Instinktiv stoben sie auseinander, als es von dem riesigen Ahornbaum, unter dem Niccolos neuer Civic parkte, Blätter regnete. Ein lautes Kratzen ertönte, als würde ein Riese seine Fingernägel über eine überdimensionale Tafel ziehen. Dann beobachtete Peggy entsetzt, wie der mächtige Baum in zwei Teile zerfiel.

Mit einem donnernden Krachen, gefolgt von einem metallischen Quietschen, fiel die eine Hälfte auf Niccolos Wagen und zerdrückte Dach und Motorhaube. Die andere Hälfte des Baumes verharrte noch bedrohlich schwankend in der Luft. Nicks Auto sah aus wie ein zerquetschtes Sandwich, das man aus der Schultasche eines Teenagers gefischt hatte.

Peggy überprüfte hektisch die Anzahl der Jugendlichen. Der Baum war gerade noch langsam genug gestürzt, um den Kids die Flucht zu ermöglichen. Sie waren mit dem Schrecken davongekommen.

„Keiner ist verletzt“, bemerkte sie. Dann wiederholte sie den Satz noch mal als Frage und bekam von allen die Bestätigung, dass ihnen nichts passiert war. Winston scheuchte die Gruppe ans andere Ende des Parkplatzes, wo sie aufgeregt durcheinander schrien und auf den Wagen zeigten.

„Er hat den Saloon nicht getroffen“, stellte Casey mit zittriger Stimme fest. „Aber die Küchentür können wir ohne Hilfe nicht mehr öffnen. Die Tür geht nach außen auf und ist vom Baumstamm blockiert.“

„Wen interessiert denn jetzt die Tür?“, rief Peggy gegen den immer stärker tobenden Sturm. „Was ist mit Nicks Wagen? Wie bringen wir’s ihm bei? Und womit sollen die beiden in die Flitterwochen fahren?“

„Na ja … sie können sich mein Auto für die Reise ausleihen. Jon und ich kommen solange mit einem aus, bis sie wieder zurück sind.“

„Bleibt immer noch, es ihm beizubringen.“

„Ja? Und wann genau?“

Peggy überlegte. Sie handelte von den Schwestern sonst immer am rationalsten, aber im Moment war sie nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. „Würdest du denn so was kurz vor deiner Hochzeit erfahren wollen?“

„Besser nicht.“

„Können wir die Kids dazu bringen, den Mund zu halten?“

Casey blickte über die Schulter zurück, und ein Windstoß fegte ihr die Haare ins Gesicht. „Winston wird dafür sorgen. Außerdem war es sicher seine Idee, den Wagen hierher zu bringen. Ich wette, er möchte sein Geständnis so lange wie möglich rausschieben.“

Die Familienmitglieder und Freunde kamen aufgeregt durch den Vordereingang aus dem Saloon gestürzt.

„Beim Heiligen Patrick! Wir sollten besser den Baumdienst rufen!“, schrie jemand.

„Holt einen Abschleppwagen!“

„Jeder vernünftige Mensch würde den Empfang abblasen“, bemerkte Casey.

Peggy begann zu zittern, als ihr klar wurde, wie viel Glück alle gehabt hatten. „Du hast es ja schon festgestellt. Der Hintereingang ist blockiert. Von Rechts wegen müssten wir den Laden schließen.“

Casey legte Peggy den Arm um die Schulter. „Das ist das Gute an den Donaghues. Keiner von den Gästen wird uns anzeigen.“

„Meinst du, wir könnten den Parkplatz der Stadt überschreiben und die Familie ein für alle Mal davon befreien?“

Zwei Stunden später starrte Megan Donaghue in den hohen Standspiegel des Kleiderschranks in Caseys Schlafzimmer. Eine schlecht gelaunte Frau in einem schlichten elfenbeinfarbenen Seidenkleid blickte ihr entgegen. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich dazu hab überreden lassen können. Ich sehe ja aus wie ein Lampenschirm.“

„Du siehst fantastisch aus“, sagte Casey, die auf dem Fußboden hockte. „Und an diesem Kleid gibt es kein bisschen Flitter. Wenn es noch einfacher wäre, könnte man ja glatt Slip dazu sagen.“

„Ich sollte ein Kostüm tragen. Das Problem ist nur, dass ich im Kostüm wie ein Pinguin aussehe. Wieso hast du nur diese Beine und Peggy so herrliches glattes Haar und ich …“ Sie brach ab. „Gar nichts. Aber auch nicht das Geringste.“

„Offensichtlich ist Nick der Meinung, dass du das ausgleichende Element bist. Und wenn du jetzt nicht ruhig stehen bleibst, landet meine Nähnadel aus Versehen irgendwo, wo sie nicht hingehört.“

Megan kannte ihre Schwester, deshalb hielt sie still. Außerdem schien Casey heute Morgen ungewöhnlich gereizt. Sie wollte das Schicksal lieber nicht herausfordern. „Vielleicht ist das ja nur so ein Moment. Du weißt schon, vielleicht sind wir da einfach reingerutscht und immer tiefer hineingeraten, bis er irgendwann nicht mehr wusste, wie er sich wieder rausmanövrieren soll. Womöglich hat er versucht, mir zu sagen, dass er mich nicht heiraten will, und ich hab nicht hingehört.“

„Megan, Niccolo hat dich zwei Jahre klang bekniet, ihn zu heiraten. Du wolltest nie was davon wissen. Dann hast du irgendwann keine Ausreden mehr gehabt, und hier bist du.“ Casey stach die Nadel in den Teil des Saums, der noch nicht umgenäht war.

Megan starrte ihr Spiegelbild an. Sie hatte gehofft, dass wenigstens an ihrem Hochzeitstag eine sinnliche Rothaarige mit einladendem Gesichtsausdruck und vollen Brüsten dort zu sehen sein würde. Mit richtigen Brüsten, die ihren Ausschnitt ausfüllten, verführerisch und vielversprechend. Stattdessen stand dort eine ziemlich kleine, schmale Figur mit einem ovalen Gesicht. Zugegeben, an diesem Gesicht war eigentlich nichts auszusetzen: Die bernsteinfarbenen Augen waren groß, ihr Ausdruck offen. Und die hellroten Locken hatte Caseys Friseur mehr oder weniger in Form gebracht.

„Was findet er denn bloß an mir, Casey? Ich meine, Nick ist ein gut aussehender Mann. Schließlich bin ich ja nicht blind. Einige würden ihn sogar als unwiderstehlich bezeichnen. Ich hab einen Push-up-BH angezogen, die Wimpern getuscht, und trotzdem ist meine erotische Ausstrahlung gleich null.“

„Megan, bitte frag ihn nicht während der Flitterwochen, was er an dir findet, okay? Das tötet nur die Leidenschaft, womöglich lacht er sich noch halb tot deshalb.“

„Warum tu ich das denn?“ Megan zupfte eine widerspenstige Locke zurecht. Man hatte sie regelrecht in diese Hochzeitsboutique zerren müssen, bevor sie sich dann für das einfachste Kleid, das dort zu finden gewesen war, entschieden hatte. Allerdings hatte sie niemand dazu überreden können, einen Schleier zu tragen. Dafür zierte nun ein Zweig mit orangefarbenen Seidenblüten ihr kurzes Haar und drohte an einen unbekannten Ort zu verschwinden, wenn sie weiterhin so den Kopf schüttelte.

„Lass mal sehen.“ Casey schnitt den Faden ab und lehnte sich zurück, um ihre Schwester zu betrachten. „Warum du das machst? Vielleicht weil du ihn liebst, obwohl du selbst absolut keine Liebe verdient hast?“

„Sehr komisch, Case.“

„Wenn es keine Liebe ist, womöglich ja einfach guter Sex? Oder brauchst du etwa jemand, der die Leitung repariert, wenn das Wasser tropft?“

„Ich weiß, wie man einen Wasserhahn dicht macht.“

„Dann also doch Sex.“

„Dafür muss man nicht heiraten.“

„Dann sag du’s mir.“

„Ich mach das alles mit, weil Nick mit dem einfachen Zusammenleben nicht glücklich war. Er glaubt an Liebe und Heirat.“ Megan blickte verärgert auf die falsch sitzende Haarlocke und zupfte sie noch einmal energisch zurecht.

„Also ein Romantiker?“

„Er war Priester.“ Megan holte einmal tief Luft und atmete langsam aus. „Er ist immer noch tief religiös. Es hat ihm nie besonders gepasst, dass wir einfach so zusammen wohnen. Er braucht Gelübde und den Segen der Kirche.“

„Du machst es demnach nur ihm zuliebe.“ Casey stand vom Boden auf und ging zum Schrank, um ihr eigenes Kleid herauszuholen. „Gratuliere. Du bist ja die reinste Märtyrerin. Die Kirche reserviert für Leute wie dich einen extra Platz im Himmel.“

Megan wartete schweigend, bis ihre Schwester Shorts und T-Shirt abgelegt und Slip und Strumpfhose angezogen hatte. Casey schlüpfte in ihr Brautjungfernkleid und drehte ihr den Rücken zu. „Kannst du mal den Reißverschluss zumachen?“

Megan tat ihr den Gefallen. Die feurigrote Seide hatte fast die Farbe von Caseys Haar, das ihr normalerweise in fülligen Locken auf die Schulter fiel, heute jedoch in einem französischen Zopf mit eingeflochtenem zarten Seidenband gebändigt war.

Alle drei Donaghue-Schwestern hatten rotes Haar, doch ansonsten sahen sie sich nicht besonders ähnlich. Peggy, mit ihrem ovalen Gesicht und den großen bernsteinfarbenen Augen, konnte man als makellose Schönheit bezeichnen. Ihre Gesichtszüge waren feiner geschnitten als die ihrer Schwestern, und sie besaß einen sehr weiblichen Körper, besonders seit ihrer Schwangerschaft.

Casey sah eher interessant aus als schön, doch sie brachte ihre unregelmäßigen Züge, das helle Haar und ihre schmale Modelfigur durch aufregende, ausgefallene Kleidung und raffiniertes Make-up gut zur Geltung. Casey erregte immer großes Aufsehen.

Und dann Megan. Die sensible, zurückhaltende Megan, die sich in ihren Khakihosen und einem grünen Polohemd am wohlsten fühlte, wenn sie im Saloon der Familie arbeitete. Heute kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, das Verkleiden spielte. Ein besonders unbeholfenes kleines Mädchen.

„Das ist das Problem“, sagte Megan schließlich. „Ich tu’s nicht nur für Nick. Ich glaube auch an die Ehe. Zumindest theoretisch.“

„Als wir noch Kinder waren, hast du nicht gerade viele glückliche Paare um uns herum als Beispiel gehabt. Und du hattest zu viel mit uns zu tun, um irgendwas anderes mitzubekommen.“

„Mom und Rooney waren zeitweise glücklich.“

„Ja, sicher, wenn er nicht gerade unter Halluzinationen litt. Dann ist Mutter gestorben, und er drehte vollkommen durch und verschwand in unbekannte Sphären. Alles blieb an dir hängen.“

„Es gibt eine Menge glücklicher Ehen in der Familie. Sieh dir doch Tante Deirdre und Onkel Frank an.“

Casey ging zum Spiegel, um ihr Make-up zu überprüfen. „Du warst so sehr damit beschäftigt, dein Revier zu verteidigen, dass du nicht darauf achten konntest.“

Casey hatte wohl Recht. Rooney, ihr Vater, hatte die Familie verlassen, als Megan erst vierzehn gewesen war. In den folgenden Jahren hatte sie ihre ganze Kraft aufgebracht, um den Familien-Saloon am Laufen und ihre Geschwister zusammenzuhalten. Dass sie von ihrem Vater verlassen worden war, hatte tiefe Narben bei ihr hinterlassen. In der ersten Zeit war Niccolo derjenige gewesen, der es zu spüren bekam.

„Ich hab ziemlich darunter gelitten, ich weiß“, sagte Megan. „Aber das Schlimmste ist überwunden. Ich bin jetzt ein großes Mädchen. Mir ist auch klar, warum Rooney abgehauen ist. Und ich bin froh, dass wir ihn wiederhaben – mehr oder weniger jedenfalls. Er konnte eben nicht anders.“

Casey sah sich zu ihr um. „Wenn sich jeder Gesunde solche Mühe gäbe wie Rooney, würde die Welt sicher anders aussehen.“

„Es geht nicht darum, ob ich genug glückliche Ehen als Beispiel habe oder nicht“, platzte Megan schließlich heraus, „es ist die eine, die ich sehe. Deine. Das macht mir in letzter Zeit Sorgen.“

„Wie meinst du das?“

„Du und Jon. Ich weiß nicht, wie ihr das schafft. Ihr beide seid so glücklich wie noch nie. Bei euch sieht es so aus, als bräuchtet ihr euch nicht mal dafür anzustrengen.“

„Jon und ich waren schon in der Highschool befreundet.“ Casey zog Megans Kleid vorn am Ausschnitt ein wenig nach unten und gab ihrer Schwester einen Klaps auf die Hand, als die es wieder hochziehen wollte. „Aber was hat das denn mit euch zu tun? Du liebst Nick. Du magst ihn. Wo ist das Problem? Du hast doch, was du brauchst, oder?“

„So wie du es sagst, klingt es einfach, aber das ist es nicht. Ich nehme die Ehe nicht so leicht wie du und Jon. Das geht mir bei allem so, ich hab diese Gelassenheit nicht. Ich glaube, Nick geht es genauso.“

„Jeder muss was dafür tun, dass eine Ehe gut läuft. Vielleicht sieht es bei mir und Jon einfach aus, aber ich kann dir sagen, dass wir auch ein paar ziemlich harte Auseinandersetzungen hatten.“ Caseys Augen begannen zu leuchten. „Und so manchen fantastischen Versöhnungssex.“

„Was ist, wenn ich alles gebe, was ich kann, und es am Ende trotzdem nicht reicht? Du machst doch manchmal Eheberatung, oder?“

Casey, seit Kurzem Leiterin einer Wohltätigkeitsorganisation, die im West Side Sozialarbeit leistete, zuckte die Schultern. „Das ist nicht mein Spezialgebiet.“

„Ist denn diese Angst normal?“ Megan biss sich auf die Lippe, dann fiel ihr ein, dass sie Lippenstift trug. „Ein Wort genügt, und ich mache einen Satz zur Tür und haue ab.“

„Und was wäre dann? Was wartet denn da draußen auf dich so Aufregendes?“

„Ich möchte nicht versagen.“

„Und was ist, wenn doch?“

Megan dachte kurz nach. „Dann würde ich sterben. Ich darf es nicht versauen. Wenn ich heirate, dann für immer. Aber woher soll ich denn wissen, wie ich es richtig mache?“

Casey legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern. „Megan, du trägst nicht allein die ganze Verantwortung. Ihr seid zwei, schon vergessen? Und ich kenne kein Paar, das vielversprechender ist als ihr. Ihr werdet es ganz bestimmt schaffen. Eines Tages wirst du dir einen Tritt dafür verpassen, dass du mir das hier alles erzählt hast.“

Auf dem Flur ertönten Schritte, und die Tür flog auf.

Peggy stürzte herein. „Hey, Megan, du siehst sagenhaft aus! Einfach umwerfend. O je, ich heule gleich.“

„Das lässt du besser sein. Wage es ja nicht.“

„Ich muss mich umziehen.“ Peggy ging zum Kleiderschrank. „Ich bin spät dran, weil ich dem Babysitter noch Anweisungen geben musste. Für meinen Friseur war keine Zeit mehr, aber bei dem Sturm macht das sowieso keinen Unterschied. Wenn ich die Haare nach hinten nehme und mit den Schmuckkämmen feststecke, könnte es gehen. Außerdem gucken ja eh alle nur auf Megan.“

„O Gott, ich werde heiraten.“ Megan bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Hört mal, eine von euch nimmt meinen Platz ein, okay?“

Peggy zog ihr Kleid aus Megans Schrank. Es war genauso einfach geschnitten wie Caseys, nur in Waldgrün. „Ich würde Nick gern heiraten. Meinst du, ihm fällt der Unterschied auf?“ Sie zog ihr T-Shirt aus und schlüpfte in das Kleid. „Ich sag ihm einfach, du hättest es dir anders überlegt. Es wird ihm schon nichts ausmachen.“

„Oder ich tu’s“, fiel Casey ein. „Dann können sich Jon und er nachts vor meinem Bett duellieren.“

Megan hatte das Gefühl, wenn sie noch einmal tief durchatmete, würde sie hyperventilieren. „Ich kann mich nicht drücken, was?“

„Wenn doch, dann hat der Plain Dealer‘ eine Superstory.“ Peggy stellte sich mit dem Rücken zu Casey, damit sie ihren Reißverschluss hochzog. „Irgendeine Nachricht von Rooney?“, fragte sie Megan.

Megan hatte lange gebraucht, bis sie die Krankheit ihres Vater verstehen und akzeptieren konnte. Irgendwann in den zwei Jahren, seit er wieder zur Familie zurückgekehrt war, hatte sie eingesehen, dass sie ohne eine einfache Diagnose auskommen und die Tatsache hinnehmen musste, dass Rooney nicht wie andere Männer war. Er hatte inzwischen viel für seine Gesundheit getan, doch die Jahre und seine Alkoholabhängigkeit forderten ihren Tribut.

Aber Rooney war zumindest nicht mehr heimatlos, so wie damals, als Megan noch eine Jugendliche gewesen war. Jeden Abend kam er zum Dinner und zum Schlafen in Niccolos Haus in Ohio City, der Nachbarschaft von West Side Cleveland. Er trank keinen Alkohol mehr, und er nahm Medikamente, die ihm halfen, klarer zu denken. Manchmal war er verwirrt, doch seine Töchter erkannte er meist. Er hatte einen großen Teil ihres Lebens versäumt, jetzt lernte er sie auf seine eigene Art wieder kennen.

„Ich habe ihn heute Morgen an die Hochzeit erinnert“, erwiderte Megan. „Er war früh auf.“

„Was hat er gesagt?“

„Irgendwas Unverständliches, aber er schien nicht überrascht zu sein und wusste noch, worum es ging. Kommt er, was meinst du?“

„Er weiß, wo St. Brigid’s ist“, sagte Peggy. „Da findet er auch hin. Da bin ich mir sicher.“

„Megan, gib dich damit zufrieden, dass er sich daran erinnert hat, okay?“, warf Casey ein. „Er weiß, wer du bist und dass du heute heiratest. Bestimmt will er auch kommen, egal ob er’s letztendlich schafft. Vor einem Jahr, als Jon und ich geheiratet haben, wusste er nicht mal mehr meinen Namen.“

Megan war klar, wenn sie ihren Vater suchen und ihn ins Auto setzen würden, geriete er in Panik. Sie dachte stattdessen lieber an das, was sie selbst in der Hand hatte. „Ich könnte immer noch nach Botswana oder auf die Kanarischen Inseln fliehen. Welche, ist mir egal.“

Peggy stellte sich neben ihre Schwester und beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. Dann trat sie einen Schritt zurück und wischte den Lippenstift von Megans Wange. „Wie wär’s stattdessen mit der Kirche? Du hast doch gar keinen Reisepass.“

„Doch, hab ich. Darum habe ich mich gekümmert.“

„Aber kein Ticket.“

„Es gibt zu jeder vollen Stunde einen Flug nach Botswana.“

„Von Hopkins? Wenn du Glück hast, bekommst du gerade mal einen Flieger nach New York.“

„Das würde auch reichen.“ Megan richtete sich gerade auf. „Du glaubst wohl, ich mache Scherze.“

„Ich glaube, du stirbst vor Angst“, entgegnete Casey. „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag noch mal erlebe, an dem du’s zugibst. Also, gehen wir jetzt zur Kirche, oder soll ich allen sagen, du wärst ein bedauernswerter Angsthase?“

„Dumme Frage.“ Megan wirbelte herum und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Eigentlich war der Anblick gar nicht so schlecht wie befürchtet. Sie sah aus wie … eine Braut. „Lasst uns aufbrechen.“

Casey zuckte die Schultern. „Du bist so verdammt durchschaubar.“

2. KAPITEL

Niccolo war froh, dass Megan sich nicht für ein traditionelles Hochzeitskleid entschieden hatte. Dann hätte er nämlich einen Smoking tragen müssen, und er befürchtete sowieso schon, dass sein selten benutzter Anzug am Ende der Zeremonie von Schweiß triefte. In der St. Brigid’s war es nicht gerade besonders heiß, aber er war besonders nervös.

„Josh, komm mal kurz her.“ Er winkte dem Jungen, der sich gerade bemühte, eine Gruppe von drängelnden Teenagern zu einer Bank in der vorderen Reihe zu führen.

Josh übergab die Gruppe an Tarek, ein anderer Jugendlicher, der eine ordentlich gebügelte Hose mit Sportjackett und glänzenden Schuhen trug. Tarek hatte Niccolo erklärt, dass er noch nie in einer christlichen Kirche gewesen sei, und sich eine detaillierte Liste der erforderlichen Kleidung geben lassen, bis hin zur konservativen Krawatte.

„Wo bleibt Winston?“, erkundigte sich Niccolo bei Josh, als er zu ihm in die Vorhalle kam. „Er könnte helfen, sie zusammenzuhalten.“

Josh sah ihm nicht in die Augen. „Ach, der ist noch nicht da. Musste heute Morgen noch was erledigen.“

Winston, Josh, Tarek und alle anderen Kids auf der vordersten Bank gehörten zu den Steinen. „Stein auf Stein“ war aus einer Hand voll Jugendlichen der Nachbarschaft entstanden, die Niccolo beim Renovieren eines alten Hauses in Ohio City zugesehen hatten. Inzwischen war es eine gemeinnützige Organisation, in der Heranwachsende eine Grundausbildung für Zimmerhandwerk und Klempnerarbeit erhielten, um alte Häuser umbauen zu können. Die Reparaturarbeiten und Renovierungen waren zweitrangig neben den wirklichen Fähigkeiten, die die Mitglieder erlernten: Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein, eine Sache zu Ende führen zu können und etwas für die Gemeinschaft zu tun. Die Steine bewegten sich nur in kleinen Schritten, aber sie bewegten sich vorwärts.

Niccolo hatte das Gefühl, von seinem Kragen erwürgt zu werden. Er zerrte daran. „Kannst du sie so lange im Zaum halten, bis der Empfang anfängt?“

„Aber klar, sie werden schon auf mich hören“, versprach Josh. Niccolo zweifelte nicht daran.

Josh war Niccolos größter Erfolg. Obwohl die meisten Steine-Kids aus einigermaßen intakten Elternhäusern kamen, hatte Josh nicht so viel Glück. Er war vor zwei Jahren zu Niccolo gezogen, um den Wutanfällen seines betrunkenen Vaters zu entfliehen, und seitdem schnell aufgeblüht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gute Schulnoten, und sein Selbstbewusstsein wuchs. Inzwischen redete er schon überzeugt vom College. Niccolo war sicher, dass er es schaffte.

„Siehst du diesen großen Typen am Ende der zweiten Reihe?“ Niccolo zeigte nach vorn. „Der mit dem schwarzen Haar und der hübschen Frau in Blau neben sich?“

„Hmm.“

„Das ist mein Bruder Marco.“

„Der sieht ja aus wie du. Warum hat er dich nie besucht?“

Niccolo überlegte, wie er die hässliche Wahrheit einigermaßen nett ausdrücken könnte. „Meine Familie war nicht gerade glücklich darüber, dass ich das Priesteramt aufgegeben habe. Marco hat mir Schützenhilfe geleistet …“ Er bemerkte, dass Josh nicht begriff. „Er hat versucht, den anderen verständlich zu machen, dass die Veränderung richtig für mich war. Besonders meinen Eltern und Großeltern, die noch leben.“

„Verstehe. Er will sich nicht mit ihnen überwerfen, indem er herkommt, während er noch dabei ist, sie zu bearbeiten.“

Niccolo gefiel es, wie Josh die Situation in Worte fasste. Er hatte ein gutes Gespür für psychologische Zusammenhänge.

„Du hast es erkannt. Aber er ist heute hier, und ich möchte gern, dass er eine Nelke für sein Revers bekommt.“ Niccolo zeigte auf Joshs. „Die gleiche wie du. Bringst du ihm eine?“

„Klar. Cool.“ Josh nahm eine Ansteckblume aus der weißen Floristen-Schachtel, die neben Niccolo stand. „Kommt sonst noch jemand? Ich meine, von deiner Familie?“

Als Niccolo daraufhin den Kopf schüttelte, sah er ihn erstaunt an. „Können sie Megan nicht leiden?“ Natürlich konnte sich Josh das überhaupt nicht vorstellen, da er Megan praktisch anbetete.

„Ihnen würde sicher keine gefallen, für die ich mich entschieden habe. Mach dir keine Gedanken darüber. Marco ist hier. Das ist ein Anfang.“

„Sogar in guten Familien benehmen sie sich verrückt, was?“ Josh schien dieser Gedanke zu gefallen. Er grinste vor sich hin, als er ins Hauptschiff zurück und den Gang entlang zu seinem Platz ging.

„Was machst du denn hier?“

Niccolo drehte sich um, als sein Trauzeuge durch die Tür kam. Jon Kovats, Caseys Mann, trug ebenfalls einen dunklen Anzug, nur sah es bei Jon vollkommen natürlich aus. Er war ein attraktiver Rechtsanwalt mit klaren Gesichtszügen, die seinen Klienten Vertrauen einflößten, und einem unerschütterlichen, festen Blick, der seinen Kontrahenten eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Musst du dich nicht bis zum Beginn der Zeremonie irgendwo mit Pater Brady verstecken?“, fragte Jon.

Niccolo wollte ihm nicht gestehen, dass er, nachdem Jon ihn am Nebeneingang abgeliefert hatte, in den Narthex geschlichen war, um zu beobachten, wer kam. Er hatte gehofft, dass seine Eltern sich hatten erweichen lassen und doch erschienen, auch wenn er es Josh gegenüber nicht erwähnt hatte.

„Ich musste ein bisschen frische Luft schnappen“, erwiderte er, „und nachsehen, ob hier draußen noch irgendwas gemacht werden muss.“

„Nick, du kannst ruhig eine Weile mal verschnaufen. Überlass uns die weiteren Einzelheiten. Dafür sind wir ja da.“

„Hast du irgendwas von Casey gehört?“

„Irgendwas?“

Niccolo zerrte erneut an seinem Kragen. Er hatte vor Jahren den steifen Priesterkragen gegen ein weiches Flanellhemd getauscht. Krawatten fühlten sich ungewohnt an. „In letzter Zeit, meine ich. In der vergangenen halben Stunde.“

„Kein Wort. Warum? Sie hilft Megan mit ihrem Kleid. Ich bin sicher, dass sie nicht viel Zeit hatte.“ Jon runzelte die Stirn. „Du hast Angst, dass Megan kneift, oder was?“

„Das ging mir kurz durch den Kopf. Es könnte wirklich sein, dass sie nicht kommt.“

„Megan hält ihre Versprechen. Und zwar bis zur Besessenheit. Das habt ihr gemeinsam.“

Jon kannte beide zu gut. Niccolo musste grinsen, doch dann wurde er sofort wieder ernst. „Sie hat Angst, dass sich danach alles ändert. Dass ich womöglich eines Morgens aufwache und feststelle, ich hab einen Fehler gemacht, aber ein zu guter Katholik bin, um es zuzugeben.“

„Megan? Sie mit ihrem starken Selbstbewusstsein? Das kann ich kaum glauben.“

„Starkes Selbstbewusstsein, ja. Aber sie weiß nicht, wie man eine Ehe anpacken soll. Und Megan kann es nicht leiden, wenn sie sich einer Sache nicht sicher ist.“

„Nur Megan? Oder du auch?“

Niccolo wunderte sich nicht über diese verständnisvolle Frage. In den zwei Jahren, die er Jon kannte, waren sie sehr enge Freunde geworden, und Jon war ein Meister darin, Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

„Ich war noch nie verheiratet, aber ich bin entschlossen, mir die größte Mühe zu geben“, erwiderte Niccolo.

„Nun mal langsam. Nicht zu viel Mühe, sonst habt ihr ja gar keinen Spaß miteinander. Das ist kein Job, sondern eine Beziehung.“

„Sie hat das Beste verdient. Hundert Prozent. Zweihundert.“

„Sie verdient einen Mann, der sich wohl fühlt.“

Als Bewegung am Haupteingang entstand, blickte Niccolo hinüber. Ein vornehm wirkender Mann mit silbergrauem Haar führte seine etwas füllige, aber attraktive Begleiterin durch die Tür. Niccolo erstarrte, dann sah er Jon an und räusperte sich. „Kommst du mal bitte mit? Ich möchte dir meine Eltern vorstellen.“ Er warf noch einen Blick nach vorn. „Und meinen Großvater.“

Jon kannte Niccolo gut genug, um die Tragweite dieser Worte zu verstehen. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Glaubst du an Vorzeichen?“

„Ich bin zu katholisch, um nicht daran zu glauben.“

Megan hatte keine Limousine gewollt. Dazu sah sie nicht die Notwendigkeit, denn sie verspürte wenig Lust, solchen Wirbel zu veranstalten, und weigerte sich, so viel Geld dafür auszugeben. Weder sie noch Nick würden irgendwann reich werden. Es gab bessere Verwendungsmöglichkeiten für ihre Dollars.

Mit der Familie hatte sie auch nicht mitfahren wollen und Jons Angebot, sie in dem feuerroten Kabriolett eines Freundes zu chauffieren, abgelehnt, so wie alles andere auch, bis auf die einfachste Lösung. Sie, Peggy und Casey würden zusammen in Caseys Wagen zur Kirche fahren.

Sie hatte nur nicht mit einem kaputten Reifen gerechnet.

Jetzt standen die Schwestern vor Caseys Haus und starrten auf die Bescherung.

„Auf den Straßen liegen von dem Sturm überall Schutt und Trümmerreste. Wahrscheinlich bin ich auf dem Rückweg vom Saloon irgendwo drüber gefahren“, bemerkte Casey.

„Ja, zum Beispiel über eine Eisenbahnschiene. Der Reifen ist platt wie eine Flunder.“

„Und ich hab mein Auto verkauft“, sagte Peggy. „Onkel Den hat mich hierher gefahren.“

„Na fantastisch.“ Megan trat gegen die traurigen Reste des Reifens, was eher ihren elfenbeinfarbenen Pumps schadete. „Ich nehme an, keiner von euch beiden hat vor, den zu wechseln?“

„In diesem Kleid?“ Casey blickte an sich herunter. „Auf keinen Fall.“

„Wir rufen ein Taxi“, schlug Peggy vor.

„Wir sind nicht in Manhattan. Nick wird inzwischen jemand anders geheiratet haben, bis hier eins kommt.“ Megan tat erneut gegen den Reifen, ohne Rücksicht auf ihre Schuhe. „Vielleicht ist noch einer im Saloon. Casey, kannst du mal nachfragen?“

Casey wühlte in ihrer Handtasche nach dem Handy und rief in der Kneipe an. Die anderen beiden standen schweigend daneben und warteten, bis ihre Schwester den Kopf schüttelte und das Mobiltelefon wieder ausschaltete. „Es ist ein Wunder. Sie sind alle pünktlich zur Hochzeit. Alle außer uns. Jon ist bereits mit Nick hingefahren, und ich wette, er hat sein Handy ausgeschaltet.“ Um sicherzugehen, tippte sie noch ein paar weitere Nummern ein, aber niemand meldete sich.

„Kennst du deine Nachbarn?“ Megan blickte sich um. „Du musst doch schon mit irgendjemandem bekannt sein.“

Casey wandte den Kopf nach links. „Die sind weggefahren.“ Dann nickte sie zur rechten Seite. „Ich kümmer mich um ihre Post.“ Sie deutete mit einer weiteren Kopfbewegung zum Haus gegenüber auf der anderen Straßenseite. „Die befinden sich leider auf der falschen Seite in einem von Jons Fällen und haben vor, in eine Gegend zu ziehen, die sicherer ist. Das Haus daneben steht leer.“

Megan dachte angestrengt nach, während sie sich umsah. Casey und Jon hatten eines von Niccolos Ohio-City-Renovierungsprojekten gekauft. Das Haus, ein Backsteingebäude im Neokolonialstil mit klassischen Verzierungen passte perfekt zu dem berufstätigen Paar. Und das Beste war, dass es nur vier Blocks von Niccolos Haus in der Hunter Street entfernt stand.

„Okay, dann lasst uns losgehen. Wir holen Charity.“

Ihre Schwestern stöhnten auf. Megans klappriger Chevy war für seine Macken bekannt und deshalb aus Spaß Wohlfahrt, Charity getauft worden. Die „Wohlfahrt“ beginnt immer erst zu Hause, hieß ein gängiger Witz unter ihnen. Doch so richtig komisch war das nie.

„Habt ihr einen besseren Vorschlag?“, wollte Megan wissen.

„Na gut, mal sehen, ob Charity sich bei Nick wie zu Hause fühlt. Wenn nicht, sind vielleicht deine Nachbarn hilfreicher als Caseys“, sagte Peggy. „Dann mal los.“

Megan lief in ziemlichem Tempo voraus. Ihre Schwestern blieben hinter ihr zurück, doch sie ging nicht langsamer, denn schließlich hatte sie jetzt etwas Wichtiges zu erledigen. Sie hatte Niccolo versprochen, ihn zu heiraten, und es war zu spät, um die Hochzeit noch auf elegante Art abzublasen.

Die Schwestern wanderten schweigend weiter, drei Frauen in langen, flatternden Seidenkleidern und mit im stürmischen Wind umherwehenden Haaren.

„Oh mein Gott, es wird regnen!“, kündigte Casey einen Block von Nicks Haus entfernt an. „Himmel, ich hoffe wirklich, wir kommen ins Auto, bevor es losgeht.“

Megan marschierte weiter. „Der Regen sollte sich besser zurückhalten!“

Sie bogen in die Hunter Street ein, und Megan konnte Charity bereits am Ende der Straße vor Niccolos – ihrem – Haus sehen. „Ich bete, dass sie fährt!“

„Das muss man sich echt im Kalender anstreichen“, bemerkte Casey. „Megan betet.“

„Ich möchte betonen, dass ich mich mit Gott gut verstehe. Muss ich ja wohl, wenn ich in der Kirche heirate.“

„Na jedenfalls manchmal. Ist Pater Brady ohnmächtig geworden, als du zu ihm in den Beichtstuhl gekommen bist?“

„Pater Brady ist netter als ihr und in Bezug auf meine Seele offensichtlich auch optimistischer.“ Megan wagte nicht, auf die Uhr zu sehen. Sie waren sehr spät dran, und es würde noch eine Menge Zeit in Anspruch nehmen, um an sich die ganzen Verwüstungen vom Sturm wieder in Ordnung zu bringen.

Gerade als sie am Auto ankamen, fielen die ersten Tropfen, aber Charity startete sofort, als sie den Schlüssel das erste Mal in der Zündung drehte.

„Glaubst du an Vorsehung?“, fragte Peggy, als sie neben Megan in den Wagen stieg.

„Das muss ich doch, als richtige Irin.“

Megan hielt mit Charity in der zweiten Reihe am Bürgersteig, aber sie stellte den Motor nicht aus. Der kleine Parkplatz war offensichtlich voll besetzt und erschien ihr auch zu weit von dem Eingang entfernt, den sie benutzen wollte. An der St. Brigid’s gab es eine Nebentür gleich hinter dem Altarraum, die zu einer Treppe führte. In der ersten Etage befand sich eine Kammer, in der sich die Bräute normalerweise umziehen konnten – und jetzt wünschte sie sehnsüchtig, sie hätte davon Gebrauch gemacht. Einmal dort oben und fertig, könnte sie über eine andere Treppe in den Narthex gelangen und dann den Gang nach vorn auf Niccolo und Pater Brady zugehen.

Wirklich Pech, dass sie ihre Wanderausrüstung nicht mithatte.

„Wir schaffen’s.“ Sie holte tief Luft. „Ich lasse den Schlüssel stecken. Hier wird sie dann bestimmt einer klauen. Und wenn sie dann merken, was sie ergattert haben, werden sie sie irgendwo an einem netten, sicheren Plätzchen abstellen, wo ich sie wiederfinden kann.“

„Wir sind immer noch fünfhundert Meter von der Tür entfernt“, sagte Casey vom hinteren Sitz.

„Es nieselt doch nur.“

Peggy fuhr mit den Fingerspitzen über die beschlagene Windschutzscheibe. „Weißt du was? Du lebst schon zu lange hier in dieser Gegend. Für jeden anderen ist das ein echter Regenguss. Und soweit ich weiß, wirst du nicht gern nass.“

„Megan“, ließ Casey sich von hinten hören. „Kein Mensch wird Charity stehlen, aber wenn du hier stehen bleibst, wirst du abgeschleppt.“

Charity wählte diesen Moment, um abzusaufen und zu verstummen.

„Sieht aus, als wäre die Entscheidung jetzt gefallen, und ich zahle lieber die Abschleppgebühr, als zu meiner eigenen Hochzeit zu spät zu kommen.“

„Wenigstens bist du inzwischen entschlussfreudiger, Megan“, bemerkte Casey.

Megan sagte nichts darauf. „Könnt ihr beide da auch allein reingehen?“

Peggy hatte unter dem Sitz einen Schirm gefunden. Sie hielt ihn Megan entgegen. Es war eine traurige Ausgabe dieser Spezies, aber noch immer zu gebrauchen. „Geh du schon mal vor. Das Wetter wird immer schlimmer. Ich versuche, dieses Monster wieder zu starten.“

„Ich geh nicht ohne euch durch den Kirchengang. Ihr müsst mich stützen.“ Nach langem Hin und Her, wer sie denn den Gang entlangführen sollte, hatte Megan Casey und Peggy gebeten, als ihre Begleitung vorauszugehen. Es gab ein Dutzend Männer in der Familie, die sie gern geführt hätten, aber sie wollte, dass ihre Schwestern es taten. Der Mann, der normalerweise für diese Aufgabe vorgesehen war, konnte es nicht machen.

Megan schätzte die Entfernung und die Stärke des Regens. „Was soll ich opfern? Meine Pumps oder die Strumpfhose?“

Peggy beugte sich nach vorn. „Ich hab noch eine als Reserve mitgebracht.“

Megan zog die Schuhe aus und öffnete die Tür. „Wir sehen uns drinnen.“ Sie spannte den Schirm auf und rannte auf Strümpfen über den Rasen auf den Seiteneingang zu. An der Tür klappte sie den Schirm zusammen und schüttelte sich mit geschlossenen Augen wie ein Spaniel, dass die Tropfen flogen. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie ihr zukünftiger Ehemann an.

„Nick!“ Sie hielt sich die Hand aufs Herz. „Was machst du denn hier?“

„Mich vergewissern, ob du mich auch nicht am Altar sitzen lässt.“

Sie starrte ihn an. Der dunkle Anzug betonte seine breiten Schultern, das schwarze Haar und den sorgfältig gestutzten Bart. Mit der dunklen Haut und den Gesichtszügen eines römischen Kriegers, erschien er ihr wie das perfekte Ziel aller Wünsche.

„Du solltest mich nicht so sehen.“

Er lächelte. „Ich erinnere mich an unseren ersten Abend. Du auch?“

Im Moment war sie nicht mal sicher, ob ihr überhaupt noch ihr eigener Namen einfallen würde. Sie sah ihn an, diesen wundervollen, männlichen, gut aussehenden Typ, der sein Leben mit ihr verbringen wollte.

„Du hast mich nach einem Arbeitstag zu dir eingeladen“, sagte er. „Und du warst ziemlich erledigt. Deshalb hast du geduscht, während ich in der Küche saß. Dann kamst du mit nassen Haaren wieder. So ähnlich wie jetzt. Und ich war platt vor Verlangen.“

„Platt?“

„Na ja, im übertragenen Sinn. Wahrscheinlich wohl eher das Gegenteil, nehme ich an.“

Sie lachte. „Das hab ich ganz vergessen.“

„Ich steh also drauf, wenn ich dich so nass sehe. Na ja, und trocken auch. Einfach nur dich zu sehen.“

„Ach Nick.“ Am liebsten wäre sie ihm in die Arme gefallen. Stattdessen nahm sie ihren Rock und hielt ihn sich vom Körper ab wie ein kleines Mädchen im Petticoat. „Bist du sicher, dass du das durchziehen willst? Ich bin ja nicht gerade der beste Fang.“

„Eine Garantie bekommt man nie, aber ich glaube, du bist eine gute Anlage.“

„Ich befinde mich in grässlichem Zustand. Mein Kleid ist klatschnass, mein Wagen wird vermutlich abgeschleppt, und ich habe mir meine Strumpfhosen zerrissen.“ Sie fuhr sich hektisch übers Haar. „Und jetzt ist diese verdammte Orangenblüte auch noch verschwunden.“

„Gut. Du siehst für mich vollkommen aus.“ Er holte kurz Luft. „Obwohl meine Mutter und mein Vater noch mehr beeindruckt sein dürften, wenn du dir Schuhe anziehst.“

„Sie sind da?“

Er nickte.

Diesmal fiel sie ihm doch in die Arme. Casey und Peggy kamen gerade, als sie sich wieder voneinander lösten.

„Peggy hat Charity geparkt. Wir …“ Casey verstummte, als sie Niccolo erblickte. „Aber ganz schnell raus hier“, sagte sie gespielt entrüstet. „Warte da, wo du als Bräutigam warten sollst. Das gibt sonst Unglück.“

Er grinste nur.

„Jetzt geh schon!“ Casey gab ihm einen Schubs. „Sag der Organistin, sie soll noch mal eine Runde Jesus bleibet meine Freude‘ spielen. Gib uns zehn Minuten.“

„Fünf.“

„Sieben. Geh jetzt!“

„Bis bald …“ Megan sah ihm hinterher. An der Tür drehte sich Nick um und warf ihr einen Luftkuss zu.

„Megan!“ Casey packte sie an den Schultern und schob sie zur Treppe.

Nach zehn Minuten waren sie fertig, Strumpfhose gewechselt, die Haare mehr oder weniger trocken. Megan betrat die Eingangshalle, flankiert von ihren Schwestern. Durch die offene Tür konnte sie sehen, dass Nick, Jon und Pater Brady das Kirchenschiff bereits durch den Haupteingang betreten hatten. Die Orangenblüten saßen wieder ordentlich an ihrem Platz – Casey hatte sie zu Beginn ihrer Wanderung in Sicherheit gebracht und gut verwahrt –, und sogar Megans Schuhe glänzten. Sie war bereit.

„Meinst du, Rooney hat’s in die Kirche geschafft? Ob er hier irgendwo ist?“ Megan stellte sich in den Türrahmen. Nach und nach drehten sich die Köpfe in ihre Richtung.

„Er hatte es vor“, erwiderte Peggy.

Die ersten Takte von Beethovens Ode an die Freude ertönten im vorderen Kirchenschiff. Megan hatte die Organistin bekniet, das Stück ein bisschen schneller zu spielen, damit die Wanderung nach vorn nicht so lange dauerte. Jetzt hörte sich die wohlbekannte Melodie für sie an wie eine Auswahl aus den anstrengendsten Sequenzen der gesammelten Aerobicübungs-Videos von Richard Simmons. Schwitzen bis zum Martyrium. Nachdem sich alles so lange verzögert hatte, wollte die arme Frau sicher so bald wie möglich Feierabend machen.

„Okay, wir gehen zusammen rein. Lauft nicht zu schnell und lasst mich nicht zurück.“ Megan holte tief Luft. „Dann mal los.“

„Ich hab dich lieb“, sagte Casey, und Peggy wiederholte ihre Worte.

Megan stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. „Geh einfach los, okay?“

Sie liefen zum Mittelgang hinüber. Fast gleichzeitig erhoben sich die versammelten Gäste von ihren Sitzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Megan eine Gestalt, die auf den Mittelgang zukam. Dann, als hätte er die Geste bereits stundenlang geprobt, trat Rooney Donaghue auf sie zu, das Hemd ordentlich zugeknöpft, sauber und frisch rasiert, und bot ihr mit einem Lächeln den Arm.

3. KAPITEL

Die Donaghue-Schwestern waren nicht sentimental, aber trotzdem musste Peggy während der Zeremonie die Tränen zurückhalten. Megan strahlte, als sie auf Nick zuging, um ihm ihr Ja-Wort zu geben, und obwohl Peggy in ihrem Leben nicht oft in die Kirche gegangen war, berührten sie die bekannten Weisen der Hochzeitsmesse. Doch am meisten bewegte sie der Anblick ihres Vaters, wie er seinen rechtmäßigen Platz an der Seite der ältesten Tochter einnahm.

Dieses rührende Bild vor ihren Augen zerplatzte in dem Moment, als sie die Tür zum Whiskey Island Saloon öffnete.

„Eismaschine hat den Geist aufgegeben.“ Barry, der Barmann, schob sich an ihr vorbei zum Ausgang. „Muss Eis besorgen.“

„Ich …“

„Und die Musiker sagen, sie brauchen mehr Platz für ihr Equipment, als du für die Band vorgesehen hast“, rief er über die Schulter zurück. „Deshalb hab ich die Tische da vorn weggeräumt. Allerdings sind jetzt nicht mehr genug da …“

„Ich …“

„Und in ganz Cleveland sind Bäume umgestürzt, es besteht also kaum Hoffnung, dass heute noch eine Firma kommt, um den Stamm vor der Tür abzusägen. Wir haben den Platz um den Kücheneingang herum mit einem Seil abgesperrt, damit keiner neben dem halben Baum parkt, der noch in der Luft hängt. Aber wir können das Auto nicht abschleppen, bevor …“ Seine Stimme war nicht mehr zu hören, als er im Wagen verschwunden war und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.

Peggy fragte sich, welche Erklärung sie Niccolo und Megan bloß geben sollte, wenn der Zeitpunkt ihrer Abreise kam und Caseys Fahrzeug – wenn der Reifen bis dahin repariert war – statt des Hondas am Bürgersteig auf sie wartete.

„Peggy?“ Jemand packte sie mit kräftigen Armen und schob sie herein. Sie sah zu Charlie Ford auf, einem ihrer treuen Stammgäste. „Die Bäckerei hat gerade angerufen. Die Torte ist fertig, aber sie haben das Potpourri oder so ähnlich vergessen.“

„Petit Four. Ich dachte, sie hätten das vielleicht schon in die Küche gestellt.“ Sie fühlte Panik aufsteigen. Die Gäste wollten sicher etwas Süßes essen, bevor die Torte angeschnitten wurde.

„Sie meinten, dass sie das schnell noch erledigen würden. Kein Grund zur Sorge.“

„Die haben gut Reden.“

Charlys Augen leuchteten. Sein einziger Sohn lebte in New York, und die Belegschaft und Stammkunden des Whiskey Island Saloon waren seine Ersatzfamilie in Cleveland. „Und Greta meint, sie würde kündigen, wenn sie noch einen einzigen Kohl füllen muss.“

Greta war Megans geschätzte Küchenhilfe und ihrer Meinung nach eine sagenhafte Köchin, genauso auch eine loyale Angestellte. „Das sagt sie immer. Noch was?“

„Kieran ist vor etwa einer Stunde ins Bett gebracht worden, und der Babysitter ist gegangen. Das Babyfon liegt bei Greta in der Küche.“ Das war so mit Peggy verabredet gewesen. Der Babysitter musste noch andere Pflichten erledigen, und sie hatten sich auf diesen Kompromiss geeinigt, da man sich auf Kierans regelmäßigen Schlafrhythmus verlassen konnte. Die ältere Frau gehörte zu den wenigen Personen außerhalb der Familie, die bereit waren, sich ab und zu um den Jungen zu kümmern. Wie angenehm es war, ihren Sohn für ein paar Stunden der Obhut von jemand anderem zu überlassen. Das würde ab morgen nicht mehr möglich sein.

Aber so hatte sie es beschlossen.

Charlie klopfte Peggy auf die Schulter. „Hast du den schon gehört, vom irischen Priester, der wegen überhöhter Geschwindigkeit auf der Euclid Avenue gestoppt wird? Also, der Polizist riecht die Alkoholfahne vom Pater und bemerkt die leere Weinflasche auf dem Boden, deshalb muss er ihn zur Rede stellen. Pater, haben Sie getrunken?‘ fragt er. Nur Wasser, mein Sohn‘, erwidert der Priester. Da zeigt der Polizist auf die Flasche. Und was ist das hier, Pater?‘ Der Priester wirft die Arme hoch. Jesus, Maria und Josef! Er hat’s schon wieder getan!‘“

Sie stöhnte. „Charlie, du bist die größte Nervensäge.“

Er grinste und mischte sich wieder unter die immer zahlreicher werdenden Gäste.

Peggy ging sofort in die Küche. Greta kommandierte eine Gruppe von Cousinen und Stammgästen, die das Essen auf Platten anrichteten und es für den Empfang nach draußen zur Bar trugen. Hinter sich hörte Peggy die Vordertür ständig auf- und zugehen, und sie wusste, innerhalb kürzester Zeit würde es im Saloon aussehen wie am St. Patrick’s Day.

„Alles in Ordnung hier?“

Greta sah auf, ihr rundes Gesicht glänzte vor Schweiß. „Hast du gewusst, dass Nicks Familie Essen mitbringt?“

Bevor Peggy sie in der Kirche gesehen hatte, war ihr nicht einmal bekannt gewesen, dass Nicks Familie überhaupt anwesend sein würde.

Greta wedelte mit der Hand nach hinten zu einem Stahltresen an der hinteren Wand. „Haufenweise davon. Sie haben’s vor der Hochzeitszeremonie hier abgeladen. Seine Mutter hat mir noch Anweisungen gegeben, als wüsste ich nicht, wie man Essen aufwärmt. Warum hat mir das keiner gesagt? Ich hab eine ganze Woche gekocht.“

„Kein Mensch wusste, dass sie kommen, Greta. Tut mir Leid. Aber ich kann dir garantieren, dass alles gegessen wird, was du vorbereitet hast. Bis zum letzten Krümel, und danach werden sie noch die Teller ablecken.“

„Ein Manicotti, von dem du träumst. Würste und Paprika. Bouletten!“ Greta verzog das Gesicht. „Und alles gut gelungen.“

Peggy umarmte sie kurz. „Ehrenwort. Von den Donaghues wird jeder so viel essen, wie er wiegt, darauf kannst du zählen.“

„Wehe, wenn nicht!“

„Keine Geräusche von oben?“

„Kein Pieps, und das Babyfon ist die ganze Zeit angestellt.“

„Sag mir sofort Bescheid, wenn doch was kommt.“ Peggy hörte das charakteristische Plopp eines Sektkorkens und rannte raus in den Saloon hinter die Bar. „Sam, wer hat gesagt, du sollst die schon öffnen?“

Sam Trumball, ein weiterer treuer Stammgast, grinste sie schief an. Er war ein kleiner Mann mit chronischem Durst, der jeden Fremden innerhalb von zehn Sekunden dazu brachte, ihm einen Drink zu spendieren. „Jemand hat mich darum gebeten, ich weiß nicht mehr genau, wer.“

Es gab gerade genug Sekt für eine gute Runde von Toasts auf das Paar, bevor die Torte angeschnitten wurde. Davor mussten die Gäste sich mit dem exzellenten Wein, den Niccolo ausgesucht hatte, Barrys Mixgetränken und dem besten Guinness von Cleveland zufrieden geben.

„Keine weitere Flasche“, warnte sie ihn. „Nicht, bevor ich es dir gesagt habe. Sonst wird es nicht reichen.“

„Ich dachte nur, ich prüfe nach, ob er die richtige Temperatur hat.“ Er hielt die Flasche hoch. „Möchtest du mal kosten?“

„Aber nur ein Glas, Sam, nicht mehr. Den Rest bring dann bitte …“ Sie drehte sich um und zeigte auf einen Mann und eine Frau. „… zu den beiden da hinten. Das sind meine Tante Deirdre und mein Onkel Frank.“

Er schien enttäuscht, nickte aber.

Der Wind draußen tobte immer lauter, und Peggy sah auf die Uhr im Saloon. „Ich hoffe, dass alle es hierher schaffen, bevor der Sturm richtig losgeht. Es regnet, dann hört es auf, dann regnet es wieder …“

„Frühling in Cleveland.“ Sam zuckte die Schultern.

„Na ja, wenn erst mal alle hier sind, ist es ja egal.“ Sie blickte zur Tür, als Jon und Casey hereinkamen, gefolgt von einer Gruppe entfernter Verwandter.

Casey entdeckte sie und zeigte hinter sich, während sie ihr mit Zeichensprache signalisierte: „Sie kommen.“ Peggy verstand sofort. „Die Hochzeitsgesellschaft wird gleich eintreffen“, sagte sie zu Sam. „Denk dran, keine knallenden Korken, bevor ich das Zeichen dazu gebe. Versprochen?“

Casey bahnte sich einen Weg zur Bar, als Peggy sie zu sich winkte. „Wo ist Kieran?“

„Der schläft oben. Das Babyfon ist in der Küche.“

„Hier sind eine Menge Leute, die dir ihre Hilfe angeboten haben, Peggy.“

„Kieran braucht keine Menge Leute, Casey. Er benötigt nur Ruhe und meine volle Aufmerksamkeit.“

„Du weißt, dass du jederzeit hier wieder willkommen bist, sollte sich der Trip nach Irland als Flop rausstellen, nicht? Keiner wird dir vorhalten, dass er’s ja gewusst hätte.“

Die Tür wurde erneut geöffnet, und diesmal kamen Megan und Niccolo, angeführt von Rooney. Hinter ihnen zeigten sich die Familienmitglieder von Niccolo. Peggy wusste sofort, dass es sich um die Andreanis handelte, da sie die einzigen unbekannten Gesichter im Saloon waren.

„Benehmen sie sich auch anständig?“, fragte sie Casey. „Ich meine, Nicks Familie?“

„Sie sind entzückend. Seine Mom ist ein bisschen reserviert, so als wäre sie nicht ganz von der Sache überzeugt, aber die anderen sind fantastisch. Und erzählen können die. Mit den Geschichten, die ich auf dem Weg von Pittsburgh hierher gehört habe, könnte man ein Buch füllen. Vielleicht sind die Italiener und die Iren ja irgendwie verwandt? Sie werden sich jedenfalls mit allen gut verstehen.“

„Und wie geht es Rooney?“

„Er ist hier, sagt das nicht alles? Und es sieht so aus, als hätte ihn Tante Deirdre unter ihre Fittiche genommen. Sie wird dafür sorgen, dass er was zu Essen bekommt, unterhalten wird und nichts trinkt.“

Megan schob sich zu ihren Schwestern durch. Auf ihrem Weg wurde sie von allen umarmt und geküsst. „Andere Leute haben einen netten, ruhigen Empfang“, stöhnte sie. „Ein Dinner am Tisch. Kammermusik …“

Wie auf ein Zeichen begann die Keltische Band zu spielen – der Leadsänger war ein Cousin zweiten Grades mütterlicherseits. Sofort verdoppelte sich der Lärmpegel.

„Andere Leute amüsieren sich nicht dermaßen!“ Peggy umarmte sie. „Geht es dir gut?“

„Wir mussten am anderen Ende der Straße parken. Onkel Den meinte, der Parkplatz wäre schon voll und es gebe nicht mal mehr eine Lücke für das Hochzeitspaar.“

Im Stillen dankte Peggy dem Bruder ihrer Mutter und vermied es, Casey anzusehen, aus Angst, dass sie sich verraten könnte. Sie fragte sich nur, wie lange es dauern würde, bis jemand in Gegenwart von Megan oder Nick den umgestürzten Baum erwähnte.

„Wer hat denn diese ganzen Leute eingeladen?“, rief Megan.

„Du natürlich!“

„Niccolos Familie wird spätestens jetzt denken, er hat in ein Irrenhaus eingeheiratet!“

Peggy sah an Megan vorbei zu der Ecke, in der sich die Andreanis zuerst versammelt hatten. Doch dort standen sie nicht mehr. Sie hatten sich unter die anderen Gäste gemischt und machten den Eindruck, als würden sie sich glänzend unterhalten. Sogar Mrs Andreani, die ein kleines, schwarzhaariges Mädchen auf dem Arm trug, schien lockerer geworden zu sein. Sie begegnete Peggys Blick und lächelte vorsichtig.

Als die Band gerade zwischen zwei Stücken eine kurze Pause machte, hörte Peggy, wie Greta nach ihr rief. „Oh, oh, ich gehe besser diesem Geräusch nach, wahrscheinlich ist Kieran eben aufgewacht.“

„Was wirst du denn mit ihm machen?“, wollte Megan wissen.

„Ich bringe ihn für einen Moment runter und sehe, wie er es packt. Wenn es ihm zu laut und chaotisch ist, nehme ich ihn wieder mit hoch. Es gibt genug Leute, die abwechselnd mal nach ihm sehen.“ Peggy drängelte sich Richtung Küche, aber bevor sie dort anlangte, wurde sie von ihrer Tante Deirdre aufgehalten.

„Ich kann es kaum fassen, dass du morgen wegfährst.“

Peggy liebte ihre Tante. Deirdre Grogan war Rooneys Schwester, und sie und ihr Mann Frank hatten Peggy zu sich genommen, nachdem ihre Mutter gestorben und Rooney verschwunden war. Gleichzeitig hatte sich Deirdre trotz ihres Wunsches, das volle Sorgerecht für das Mädchen zu übernehmen, Megans Bedürfnis gegenüber, ein Mitspracherecht für die Belange ihrer kleinen Schwestern zu bekommen, sehr einfühlsam gezeigt. Es war für Deirdre nicht einfach gewesen. Sie war nett und geduldig, aber absolut gegen Peggys Entscheidung gewesen, mit Kieran nach Irland zu gehen.

„Ich mag diese Farbe“, bemerkte Peggy in der Hoffnung, das Thema wechseln zu können. Deirdre war immer sehr dezent, teuer und geschmackvoll gekleidet. Heute trug sie ein olivgrünes Leinenkostüm, das ihr Haar, früher einmal in der gleichen Farbe wie Caseys, aber inzwischen weniger feurig, gut zur Geltung brachte.

„Bist du sicher, dass du es dir nicht anders überlegen willst, meine Liebe? Was weißt du denn letztendlich über diese Frau? Wer von uns hat schon irgendwas über sie gehört? Und wie können wir uns denn um Kieran kümmern, wenn du dich irgendwo in unbekannten Gefilden aufhältst?“

Peggy wusste, dass ihre Tante sich wirklich Sorgen machte, denn Deirdre war sonst immer sehr tolerant. Vor zwei Jahren, als Peggy ihr eröffnet hatte, dass sie schwanger sei und nicht beabsichtige, den Vater des Kindes zu heiraten, hatte sich Deirdre lediglich erkundigt, wie sie ihr helfen könne.

„Ich weiß genug über Irene Tierney, um die Reise zu riskieren“, erwiderte Peggy. „Sie klang sehr warmherzig und angenehm, und sie brennt darauf, auch nur einen winzigen Teil ihrer Familie aus Amerika kennen zu lernen. Bis vor zwei Monaten hat sie nicht gewusst, dass wir existieren.“

„Aber kommt dir das alles nicht merkwürdig vor? Sie ist über achtzig? Und sie hat dich übers Internet gefunden?“

„Ihr Arzt hat dafür gesorgt, dass sie einen Computer mit Internetanschluss bekommt, damit sie sich die Zeit vertreiben kann, wenn sie nicht aus dem Haus kommt. Auf diese Weise ist sie trotzdem mit der Außenwelt verbunden. Sie kann nicht mehr so oft raus. Und ich finde, es ist wundervoll, dass sie geistig so beweglich und interessiert ist und uns aufgespürt hat.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was sie will.“

Peggy blickte zur Küche hinüber, wo Greta an der Tür stand und zur Treppe zeigte. Peggy machte ihr ein Zeichen, dass sie die Nachricht empfangen hatte. Sie wurde jetzt nervös, die ganz natürliche Reaktion einer Mutter, die wusste, dass sie von ihrem Kind gebraucht wurde. „Ich muss Kieran holen. Wir können später reden.“

Deirdre blickte sie zerknirscht an. „Kann ich helfen? Soll ich denn vielleicht …“

„Nein, aber vielen Dank. Amüsier dich. Ich bin gleich mit ihm unten.“

Peggy fügte nicht dazu, dass sie vorhatte, sich Zeit zu lassen. Es gab ein Dutzend Familienangehörige, die sie im Laufe des Abends abfangen und über ihr ungewöhnliches Vorhaben zur Rede stellen würden, Tausende von Kilometern zu fliegen, um im ländlichen Irland bei einer Frau zu leben, die sie nicht kannte. Sie war nicht sehr erpicht darauf, jetzt einem von ihnen zu begegnen.

Der Luft in dem winzigen Apartment im oberen Stockwerk, das im späten Frühjahr normalerweise stickig war, hatte der starke Wind am Nachmittag gut getan. Peggy wusste schon, bevor sie die Schlafzimmertür geöffnet hatte, dass Kieran auf die dünne Gardine neben seiner Krippe starren würde. Obwohl das Fenster nur ein paar Zentimeter offen stand, flatterte der leichte Stoff mit jedem Windstoß, und Kierans Blick war sicher von dieser Bewegung angezogen. Er würde vielleicht sogar die Hand hin und her bewegen, um das Wehen des Vorhanges nachzuahmen. Wenn sich keine Gardine rührte, kein Uhrpendel hin und her schwang, kein Deckenventilator kreiste, dann hatte sie schon beobachtet, wie er mit dem Blick seiner Hand folgte, die er langsam vor und zurück bewegte, und das für eine Stunde, gebannt und beruhigt durch diese monotone, sinnlose Bewegung, während sie besorgt daneben saß.

Wenn sie nur diesem Mysterium, das Kieran Rowan Donaghue darstellte, auf die Spur käme.

Sie öffnete die Tür und fand ihre Vermutung bestätigt. Kieran war wach, aber er hatte sich nicht aufgesetzt. Ohne einen Laut von sich zu geben, lag er da und schwang seine Hand im gleichen Rhythmus vor und zurück, in dem sich der Vorhang bewegte. Wenn Kieran in der Lage war, Glück zu empfinden, dann fühlte er sich in Momenten wie diesen am glücklichsten. Allein mit sich, mit niemandem, der etwas von ihm wollte, niemand, der seine volle Aufmerksamkeit forderte oder, noch schlimmer, Zuneigung. Niemand, der ihn aus seiner Isolation, die er suchte, herausholen wollte.

„Kieran?“

Er drehte sich nicht um, aber das wunderte sie auch nicht. Gehört hatte er sie trotzdem. Das merkte sie daran, wie sich sein kleiner Körper versteifte und die Hände aus dem Takt kamen. Sein Mund verzog sich, und er gab einen gequälten Laut von sich, wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde.

„Schätzchen, ich bin es, deine Mommy. Wie geht es meinem Kieran-Jungen?“ Langsam ging sie auf sein Bett zu. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihn zu sehr zu drängen, seine eigene Welt zu verlassen. Es war noch nicht so lange her, dass die Familienmitglieder über Kierans „Sensibilität“ gescherzt hatten. Er würde sicher Künstler werden, ein Poet oder Musiker, ihr Kieran. Er wäre ein Träumer, der jüngste Donaghue. Er sehe die Welt mit anderen Augen, erlebte sie mehr von innen, ursprünglicher als die meisten anderen Kinder.

In diesen glücklichen Tagen, bevor die Krokusse und ersten Narzissen sich gezeigt hatten und dieser Frühling in Cleveland durch die Diagnose Autismus zu Peggys Albtraum geworden war.

„Kieran“, sagte sie leise. „Kie-ran.“

Schließlich wandte er sich zu ihr um. Auf seinem kleinen Engelsgesicht lag ein unglücklicher Ausdruck. Die weichen rotblonden Löckchen umrahmten seinen rosigen Teint. Seine blauen Augen leuchteten hell wie Sterne, aber was immer sich dahinter verbarg, das war Kierans Geheimnis.

„Deine Mommy ist hier“, wiederholte sie säuselnd. „Mommy liebt dich, und sie ist hier bei dir. Mommy wird nicht weggehen, mein Schatz. Kieran, mein Liebling.“

Er hob nicht den Arm. Lächelte nicht. Sein Körper, der im Schlaf so weich und schmiegsam gewesen war, hatte sich versteift. Dann drehte er das Gesicht wieder weg, hin zum geöffneten Fenster und der wehenden Gardine, und begann zu summen.

4. KAPITEL

So weit hatte Megan überlebt. Es war wie ein Geschenk für sie gewesen, dass Rooney an ihrer Seite erschienen war. Nie hätte sie erwartet, am Arm ihres Vaters den Gang nach vorn zu gehen, dem Mann entgegen, den sie liebte und der dort auf sie wartete. Niccolos Lächeln und Pater Bradys geduldige Stimme hatten ihr dann geholfen, die Zeremonie zu überstehen.

Und jetzt würden ihr hoffentlich Champagner und Guinness dabei behilflich sein, den Rest des Empfangs hinter sich zu bringen.

„Mein Wagen hat sich verabschiedet“, rief ihr Niccolo ins Ohr.

Für einen kurzen Moment verstand sie nicht, was er meinte. Der Civic war fast neu. Wenn er jetzt schon nicht mehr lief, war das ein schlechtes Omen.

„Ich glaube, jemand hat ihn weggeschafft, um ihn zu dekorieren“, fuhr er fort.

Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, der Fluch der Rothaarigen. Nach dem Empfang wollten sie und Niccolo nach Drummond Island im Michigan See zum Cottage eines Verwandten aufbrechen. Sie hatte sich eigentlich eine friedliche Fahrt, ohne großes Aufsehen zu erregen, vorgestellt.

„Wir halten am besten bei der ersten Autowaschanlage“, kündigte sie an.

Er grinste. Sie konnte sich nicht erinnern, Niccolo jemals glücklicher gesehen zu haben. Manchmal fragte sie sich, wie sie so jemanden wie ihn überhaupt verdient hatte, diesen Mann, der zu ihr gehalten hatte während ihrer Phase des Zweifelns, der Ängste und Neurosen.

„Ich würde dem Sturm gern ausweichen“, sagte Niccolo, „aber ich fürchte, wir fahren direkt rein.“

„Regnet es schon wieder? Vielleicht brauchen wir ja keine Autowäsche.“

„Es gießt in Strömen. Ich bin ja an dieses merkwürdige Wetter gewöhnt, aber das ist wirklich der Wahnsinn.“

Casey schob sich mit einem Teller voller Leckereien durch die Meute und reichte ihn Megan. „Du hast noch keinen Bissen zu dir genommen. Das hier ist sagenhaft. Sowohl die Andreanis wie die Donaghues haben sich übertroffen.“

Megan stellte plötzlich fest, dass sie langsam am Verhungern war. „Und Nick?“ Aber sie hätte sich keine Gedanken machen müssen. Im gleichen Moment sah sie, wie Jon ihn zur Bar schleifte, damit er sich seinen Teller füllte. Niccolos Bruder Marco half ihm dabei.

„Amüsierst du dich?“, wollte Casey wissen.

Megan tauchte gerade in das köstlichste Manicotti ein, das sie je gekostet hatte. Sie fragte sich, ob Mrs Andreani ihr wohl das Rezept verraten würde. Aber dazu müssten sie sich erst noch besser kennen lernen, wenn sie bedachte, dass Niccolos Mutter ja noch bis vor wenigen Stunden nicht einmal ihre Existenz zur Kenntnis hatte nehmen wollen.

„Nennt man so was amüsieren?“, fragte Megan zurück.

„Du hast doch Spaß, oder?“

Einer ihrer Cousins blieb mit einem voll mit Guinness beladenen Tablett neben ihr stehen, und Megan nahm sich einen Halben, während sie wieder mit Glückwünschen überschüttet wurde. „Wie soll ich denn essen und das gleichzeitig halten?“

„Ich nehm’s solange.“ Casey griff nach dem Bier.

„Mir geht’s ganz gut“, erwiderte Megan schließlich.

„Alle freuen sich so, dass du Nick geheiratet hast.“

Megan hätte nie gedacht, dass der Donaghue-Clan einen so außerordentlichen Geschmack besaß. „Nick meint, sein Auto wäre verschwunden?“ Sie beobachtete ihre Schwester. „Casey? Ich glaube, dieser Gesichtsausdruck gefällt mir gar nicht.“

„Was hat Nick genau gesagt?“

„Dass ihn wahrscheinlich jemand geholt hat, um ihn zu schmücken.“

„So was machen die Leute doch bei Hochzeiten, oder?“

„Du weißt doch sicher mehr darüber.“

„Es gibt gute und schlechte Momente, um über Überraschungen zu reden.“

„Und es gibt gute und schlechte Überraschungen.“

Die Band begann gerade „Cockles and Mussels“ zu singen, und über ihrem Kopf flatterte der weiße Tüll im Zugwind, als jemand die Eingangstür öffnete. „Ich hoffe doch wirklich, dass das keine schlechte wird“, fuhr sie lauter fort, um den Lärm zu übertönen. „Sag mir einfach, was ihr mit dem Wagen angestellt habt: Seife auf den Scheiben, Schuhe an der Stoßstange, was auch immer schnell wieder beseitigt werden kann, sobald wir außer Sichtweite sind.“

Peggy erschien mit Kieran auf dem Arm. „Wer ist außer Sichtweite?“

Megan zog sich das Herz schmerzhaft zusammen, wie immer, wenn sie ihren Neffen sah. „Hallo, Kiddy.“

Sie versuchte möglichst leise zu sprechen, auch wenn sie dabei kaum noch zu verstehen war. Kieran reagierte empfindlich auf jede Art von Lärm oder Durcheinander, und jetzt, inmitten dem Trubel, sah er sie an wie eine Fremde, obwohl Megan ihn so oft gefüttert, auf den Knien gewiegt und auch seine Windel gewechselt hatte.

Nach der Geburt war er vollkommen normal erschienen. Noch während seiner Säuglingszeit hatte Peggy ihre medizinische Ausbildung begonnen, und der Kleine war liebevoll von den anderen Familienmitgliedern versorgt worden, die sich nur zu gern um ihn gekümmert hatten, während Peggy studierte. Aber egal wie viel Zeit sie mit ihm verbrachten, Kieran schien sie nie wiederzuerkennen.

Peggy strich ihm mit den Fingerspitzen die rotblonden Locken zurück. „Versuch doch mal Hallo zu sagen“, bat sie Megan.

„Hallo“, begrüßte sie ihn.

Kieran starrte sie an, sein Engelsgesicht war ausdruckslos, dann blickte er auf einen Punkt hinter ihr. Megan drehte sich um, weil sie sehen wollte, was sein Interesse geweckt hatte, und entdeckte die Reflexion ihres wehenden Tüllschleiers im Spiegel hinter der Bar.

„Hallo“, sagte sie noch einmal.

Kieran achtete nicht auf sie. Er schien von der Bewegung hinter ihr wie hypnotisiert. Gerade als sie von etwas anderem sprechen wollte, grinste er schief und streckte die Hände nach dem Spiegel aus. „Hal-lo.“

Peggy machte ein enttäuschtes Gesicht. „Na ja, besser als gar nichts.“

„Er ist noch nicht mal zwei“, bemerkte Casey. „Jungs fangen erst später an zu sprechen als Mädchen.“

„Aber die meisten Jungen kennen den Unterschied zwischen tanzenden Lichtreflexen im Spiegel und ihrer Lieblingstante“, entgegnete Peggy gelassen. „Nun, das wird sich ändern. Wenn du ihn das nächste Mal siehst, wirst du von seinen Fortschritten überrascht sein.“

Megan wollte schon widersprechen. Am liebsten hätte sie ihre Schwester geschüttelt, damit sie Vernunft annahm. Nachdem Peggy von Kierans Krankheit erfahren hatte, hatte sie ihr Medizinstudium unterbrochen, sich vielleicht für immer von ihrem Lebenstraum verabschiedet, um sich voll und ganz ihrem Sohn zu widmen. Jetzt nahm sie Kieran mit nach Irland, um dort bei einer entfernten Cousine zu wohnen, von deren Existenz die Familie bis vor zwei Monaten nicht einmal etwas gewusst hatte. All das, um ihn irgendwie zu einem „normalen“ Kind zu erziehen.

Unglücklicherweise war Peggy die einzige Donaghue, die damit den richtigen Kurs zu verfolgen glaubte.

„Er kommt mir ziemlich forsch vor, dafür, dass um ihn herum so ein Chaos herrscht“, bemerkte Casey.

Megan wusste, dass Casey die Unterhaltung in andere Bahnen lenken wollte, und sah ein, dass es eigentlich auch egal war. Peggy hatte ihren Entschluss gefasst, und jede Diskussion war zwecklos.

„Ich versuche mal, ob er was isst, dann gehe ich mit ihm hoch in sein Zimmer, damit er ein bisschen Ruhe hat. Zum Tortenessen kommen wir dann wieder runter.“

Megan und Casey beobachteten, wie sie sich langsam ihren Weg Richtung Bar bahnte.

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie nach Irland zieht“, bemerkte Megan.

„Iss deinen Teller leer. Die Band spielt sich schon warm und bringt bald was Fetziges zum Tanzen, das heißt natürlich, dass du dran bist.“

Megan stöhnte auf. „Du kannst sie nicht davon abbringen?“

„Sie spielen umsonst, schon vergessen?“

„Gib mir das Guinness, bitte.“

Oben setzte Peggy den Jungen mit einer Decke und einer Menagerie von Stofftieren auf den Wohnzimmerteppich. Ihr Apartment war einfach, aber praktisch. Und das Beste: Die bescheidene Miete wurde durch ihren Anteil am Gewinn der Kneipe beglichen. Der Whiskey Island Saloon befand sich seit seiner Entstehung vor mehr als einem Jahrhundert im Besitz der Familie Donaghue. Die drei Schwestern waren gleichberechtigte Partnerinnen, und obwohl im Moment Megan dafür sorgte, dass die Getränke flossen und das warme Essen nicht ausging, leisteten Peggy und Casey auch ihren Beitrag.

„Morgen werden wir mit dem Flugzeug reisen“, erzählte sie ihrem Sohn.

Er blickte nicht auf. Monatelang, vor den vielen Tests, die Kierans Problem genau auf die Spur kommen sollten, hatte sie sich Sorgen gemacht, ob der Kleine nicht richtig hören konnte. Auf Autismus war sie damals nicht gekommen, deshalb war sie auf die Diagnose auch nicht vorbereitet gewesen.

Der Tag, an dem sie von der Krankheit ihres Sohnes erfahren hatte, würde für immer in ihrem Gedächtnis haften bleiben.

„Autistische Störung“, hatte der Spezialist unbeteiligt gesagt, als spreche er von einer Erkältung. „Eine gemäßigte Form, nehmen wir an, obwohl es etwa nicht so einfach festzustellen ist, wie man denken könnte. Es gibt wirklich ein weites Spektrum, Miss Donaghue. Normalerweise können die Betroffenen Emotionen anderer Menschen nicht verstehen. Sie haben Probleme mit der Sprache und Kommunikation, und oft fixieren sie einen Gegenstand oder beobachten Bewegungen. Die Prognose hängt von vielen Faktoren ab. Der Schlüssel ist eine rechtzeitige Behandlung. Aber ich muss Sie warnen, der Aufwand an Zeit und Kosten kann enorm sein.“

Peggy ließ sich neben Kieran auf dem Boden nieder und setzte sich in den Schneidersitz. „Wir werden ganz hoch in die Luft steigen, mitten in die Wolken. Und ich werde die ganze Zeit bei dir sein. Nur Mommy und Kieran.“

Er zupfte an den Filzaugen eines Teddybärs. Nie hielt er seine Stofftiere im Arm und knuddelte sie. Stattdessen suchte er eine Stelle zum auseinander pflücken und konnte sich lange Zeit ununterbrochen damit beschäftigen, bis er müde wurde und sich nur noch hin und her wiegte.

„Dann werden wir in Irland ankommen“, redete sie weiter. „Und Mommy wird ein Zimmer für dich bei der Cousine Irene einrichten. Da haben wir Spielzeug und Spiele, und du wirst viel lernen. Da bin ich ganz sicher. Und wenn wir nach Cleveland zurückkommen, kannst du sprechen und auch jemanden ansehen und …“

Er blickte auf. Die Gardinen am Wohnzimmerfenster raschelten und erweckten seine Aufmerksamkeit. „Hal-lo.“

Sie zog ihn an sich, obwohl er bei ihrer Berührung leise wimmerte. „Du wirst jede nur erdenkliche Chance bekommen“, sagte sie entschlossen. „Und wenn ich deshalb bis zum Mars fliegen müsste!

Vier der Steine-Kids entdeckten ein unberührtes Tablett mit Guinness und verdrückten sich damit in den Lagerraum, um ihre Privatparty zu veranstalten. Casey erwischte sie noch vor Niccolo und konfiszierte den schwer erkämpften Schatz.

Marco, seine Frau Paula und deren zwei Töchter zeigten eine Dia-Show an einer der Saloonwände mit Fotos von Niccolo als kleinem Jungen. Um dem in nichts nachzustehen, fesselte dafür Onkel Den eine Gruppe von Bewunderern mit einer Geschichte nach der anderen über die drei Schwestern, als sie noch klein gewesen waren.

„Um Himmels willen, lasst uns bloß endlich mit den Toasts beginnen“, stöhnte Megan. „Noch viel mehr von der Sorte werde ich nicht überleben.“

„Kopf hoch“, sagte Peggy. „Du heiratest nur einmal.“

„Kannst du nicht Kieran und Tante Dee runterholen? Ihr müsst alle anwesend sein, wenn wir die Torte anschneiden.“ Peggy hatte Kieran vor einer Stunde oben im Apartment gelassen. Jetzt saß Deirdre bei ihm und verabschiedete sich.

„Meinst du wirklich, es ist so weit?“

Niccolo gesellte sich zu ihnen. „Wisst ihr, wenn wir jemals vorher diese ganzen Andreanis und Donaghues in einen Raum gepackt hätten, wären wir wahrscheinlich zu ängstlich gewesen, unsere Gene zu vermischen. Könnt ihr euch vorstellen, dass unsere Kinder beide Anlagen mitbekommen?“ Er schüttelte den Kopf.

Megan konnte sich überhaupt nicht vorstellen, mit ihm ein Baby zu haben. Sie wusste, dass Niccolo am liebsten sofort Nachwuchs bekommen würde. Zögernd hatte sie zugestimmt, irgendwann Kinder einzuplanen, aber nicht in nächster Zukunft. Die Ehe an sich würde zunächst einmal genug Prüfungen und Schwierigkeiten bereithalten.

„Kannst du schon mal alle in den hinteren Teil des Saloons bitten?“, fragte sie ihn. „Ich glaube nicht, dass ich noch mehr von dem hier überstehe.“

„Du hast doch Spaß.“ Er lehnte sich vor und küsste sie. Sofort begannen einige zu klatschen.

„Ich würde gern hier wegkommen, bevor es dunkel wird“, sagte sie lächelnd.

„Nicht gucken, aber es ist doch schon den ganzen Nachmittag dunkel.“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ich werde sie zusammentreiben. Aber glaub nicht, dass das hier bald ein Ende hat.“

„Von mir aus können sie bis in die Puppen feiern, aber wir beide verschwinden, sobald die Torte serviert ist.“

„Leere Versprechen.“ Er zwinkerte Peggy zu, bevor er sich davonmachte, um die Gäste zur Hochzeitstorte hinüberzulocken.

Megan sah zu, wie Niccolo seine Aufgabe erstaunlich schnell bewerkstelligte. Auf ihren Vorschlag hin hatten sie die Torte im hinteren Teil des Saloons präsentiert. Vorhin hatte sie versucht, in die Küche zu gelangen, um sich davon zu überzeugen, dass alles fertig zum Anschneiden und Servieren war, aber man hatte sie hinausmanövriert. Den ganzen Tag war eine Verschwörung im Gang gewesen, um sie so weit wie möglich von der Küche fern zu halten.

Als wenn sie versucht hätte, ihren eigenen Hochzeitsempfang an sich zu reißen.

Casey gesellte sich zu ihnen. „Ist es schon so weit? Kannst du denn Kieran runterholen?“, fragte sie Peggy.

„Vielleicht, nachdem er jetzt ein bisschen Ruhe gehabt hat. Aber ich kann nicht garantieren, dass er keinen Wutanfall bekommt.“

„Den kriegen alle Zweijährigen mal ab und zu“, sagte Megan. „Du hast sicher auch deinen Anteil gehabt.“

„Du solltest dich daran gewöhnen, dass er nicht einfach irgendein Zweijähriger ist, Megan“, entgegnete Peggy. „Alles andere hilft ihm nicht weiter.“

Megan wusste, dass ihre Schwester Recht hatte. Zuerst war es Peggy selbst schwergefallen, die Krankheit ihres Sohnes zu akzeptieren, aber schließlich hatte sie sich darauf eingestellt. Megan befand sich immer noch in der Phase der Verdrängung. „Ich liebe ihn. Ich liebe dich. Ich will keinen von euch beiden verlieren.“

Peggy küsste sie auf die Wange. „Das wirst du auch nicht. Ich hole ihn jetzt.“

„Und ich helfe Nick“, sagte Casey. „Er hat es fertig gebracht, dass sich alle in Bewegung setzen. Womit hat er denn nur alle dazu verlocken können, so schnell zum hinteren Teil des Saloons zu gehen? Mit Torte oder Champagner, was meinst du?“

Megan befand sich nur wenige Meter von Niccolo entfernt, als das Gebäude zu beben begann. Einen kurzen Moment dachte sie, die Band hätte ihre Lautsprecheranlage aufgedreht, um sich die Aufmerksamkeit der Gäste zu sichern. Aber der Krach klang nach mehr als ein paar lautstarken Bässen, eher schon wie ein Schnellzug, der durch die Mauern raste.

Erneut wurde der Saloon erschüttert. Eine Frau schrie auf, und Megan registrierte den alarmierten Gesichtsausdruck der Gäste um sie herum. Dann, als sie Niccolo entdeckte, der sich durch den Pulk von Leuten zu ihr vorkämpfte, schwankte der Boden ein weiteres Mal, das Getose wurde ohrenbetäubend, und plötzlich krachte die Vorderfront des Hauses nach innen.

Viele schrien auf, als ein weiteres Zittern durch das Gebäude ging. Gläser an der Bar fielen scheppernd zu Boden, und ein Loch von der Größe eines Kinderplanschbeckens öffnete sich zu ihrer Linken. Gips rieselte herunter, dicht gefolgt von Wasser. Der Krach und das Beben endeten.

„Megan!“ Niccolo zog sie in seine Arme, als er zu ihr durchgedrungen war. „Alles in Ordnung bei dir?“

„Was …“ Sie konnte kaum atmen und schnappte nach Luft. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, und sie klammerte sich an ihn. Alle um sie herum schoben sich hektisch an ihr vorbei zum anderen Ende des Raumes.

„Immer mit der Ruhe. Es ist alles okay.“ Er strich ihr übers Haar, aber seine Hand zitterte.

Endlich konnte sie wieder normal durchatmen. „Was …“

„Ein Tornado, er hat einen Teil des Daches runtergerissen. Verdammt, wir sind Idioten. Keiner hat auf die Sturmwarnungen gehört. Ich …“

„Nick!“ Casey kam zu ihnen gestürzt. „Wo ist Jon?“

Niccolo ließ Megan los. „Er war im hinteren Teil. Ich muss sehen, was für Schaden entstanden ist. Und meine Familie suchen.“

Megan folgte ihm. Sie wusste, dass er überprüfen wollte, ob jemand noch immer im vorderen Raum gewesen war und sich beim Einsturz der Mauer verletzt hatte. Der Anblick, der sich ihr bot, raubte ihr fast erneut den Atem. Das Dach über dem vorderen Viertel des Gebäudes war heruntergestürzt und hatte den Eingang vollkommen verbarrikadiert. Der Schutt, der sich davor auftürmte, war hüfthoch. „O mein Gott!“

Casey zog sie schnell zur Seite. „Bleib weg da, geh bloß nicht näher ran.“

Jon tauchte neben ihnen auf. „Geht nach hinten, wo die anderen sind. Bitte. Es ist sicherer.“

„Und wenn jemand …“ Megan wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

„Die meisten waren schon hinten und haben sich um die Torte versammelt. Wenn wir Glück haben … Helft uns einfach, den Rest der Gäste nach hinten zu bringen. Wir zählen alle einzeln durch. Macht ihr das mal?“

Jon hatte Recht. Dicke Staubwolken schwebten im Saloon und erschwerten die Sicht. Aber nichts deutete daraufhin, dass sich irgendjemand gerade ganz vorn befunden hatte, als die Mauer eingebrochen war.

Casey begleitete bereits ein paar Gäste nach hinten. Einer von den Steine-Kids hielt sich den Kopf, aber Megan stellte fest, dass er sich nicht schwer verletzt hatte und ohne Hilfe gehen konnte. Eine von Marcos Töchtern blutete an der Wange, jedoch nicht besonders stark. Niccolos Mutter hatte den Arm um ihren Vater gelegt und stützte ihn. Als Megan sich umdrehte, sah sie, wie Peggy sich mit der Tür zum Apartment abmühte, und ihr fiel ein, dass Kieran mit ihrer Tante dort oben war.

Inmitten des ganzen Chaos schaffte es Peggy schließlich, die Tür aufzureißen, und sie verschwand im Treppenaufgang. Im hinteren Teil des Hauses schien man sicher zu sein, aber was, wenn dies nicht für den ersten Stock zutraf? Was war, wenn die obere Etage, die praktisch auf dem Saloondach saß, weggefegt worden war? Das Apartment befand sich im hinteren Teil, aber …

Megan stolperte vorwärts und zeigte einem Großonkel, der etwas desorientiert schien, den Weg. Als sie sicher sein konnte, dass er in die richtige Richtung lief, ging sie zum Aufgang, der zum Apartment hoch führte.

„Peggy?“ Sie rief nach ihrer Schwester, während sie die Treppe hochstieg. Die Stufen schienen sicher zu sein. Oben sah alles aus wie immer. „Peggy! Tante Dee!“

Die Tür am letzten Treppenabsatz stand offen. Megan gelangte ohne Weiteres zum Apartment und fand dort Peggy und ihre Tante vor, die sich verängstigt umarmten. Kieran schreiend dazwischen.

„Gott sei Dank.“

„Das Schlafzimmer ist ein Trümmerhaufen“, sagte Deirdre beherrscht. „Die Fensterscheibe ist zerbrochen, überall liegt Glas. Aber Kieran und ich waren hier.“

„Lasst uns runtergehen. Wir können durch die Küchentür nach draußen. Der Vordereingang ist ein Albtraum.“

„Nein, wir kommen hinten nicht durch“, sagte Peggy. „Der hintere Ausgang ist blockiert.“

Megan wusste, dass sie nicht klar denken konnte, aber jetzt war sie vollkommen durcheinander. „Woher weißt du das? Du bist doch direkt nach oben gegangen.“

„Heute Morgen ist ein Baum gegen die Hintertür gestürzt, Megan. Direkt auf Nicks Wagen. Wir haben seinen Civic da hinten geparkt, um ihn zu schmücken. Und der alte Ahornbaum ist genau auf sein Dach gekracht. Keiner wollte euch was sagen, bevor wir’s nicht unbedingt mussten. Wir wollten euch nicht das Fest verderben …“

„Ich denke mal, das habt ihr nicht.“

„Tut mir Leid.“

Im Moment schien der Verlust des Wagens belanglos. „Nicks Auto wird wohl nicht das einzige in Cleveland sein, das in dem Sturm zu Schaden gekommen ist. Geht es Kieran gut?“

„Er hat eben Angst. Wir haben alle Angst.“ Peggy küsste ihn aufs Haar.

„Tante Dee?“

Deirdre richtete sich gerade auf. „Lasst uns runtergehen. Hast du deinen Onkel gesehen?“

Megan versuchte sich zu erinnern, ob sie Onkel Frank irgendwo begegnet war. „Nein. Tut mir Leid. Aber es scheint sich keiner ernsthaft verletzt zu haben.“ Sie dachte an das eingestürzte Dach vor dem Saloon und was sich darunter befinden könnte. „Nick und Jon haben gerade alles überprüft, als ich nach oben kam.“

„Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich runtergehen.“ Deirdre klang jetzt nicht mehr so ruhig, und Megan vermutete, dass ihr langsam bewusst wurde, was passiert war.

Sie gingen zur Treppe, Megan zuerst, Peggy mit Kieran direkt hinter ihr, gefolgt von ihrer Tante.

Niccolo wartete am Treppenabsatz schon auf sie und sah erleichtert aus, als sie erschienen. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand unter dem Schutt begraben ist“, sagte er leise. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich einer so dicht an der Stelle aufgehalten hat. Ein paar Leute sind durch herumfliegenden Putz verletzt worden. Ein paar Kratzer und Prellungen, aber nichts Lebensgefährliches. Wir zählen gerade alle durch.“

„Nick, es gibt keinen Ausgang.“ Megan trat zur Seite, um Peggy und ihre Tante vorbeizulassen. „Ein Baum blockiert die Küchentür.“

„Hat Jon mir schon erzählt.“

„Vielleicht ist es besser, wenn wir so lange hier drinnen bleiben, bis die Feuerwehr uns befreit. Da draußen muss es genauso schlimm sein wie hier. Heruntergefallene Stromleitungen, umgestürzte Bäume. Wenn keiner von uns ernsthaft verletzt wurde …“

„Megan, ein paar Leute meinen, sie hätten Gas gerochen.“

Wieder schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich so schnell verängstigen ließ.

„Immer ruhig“, sagte er, als er bemerkte, dass sie keine Luft zu bekommen drohte. „Ganz locker lassen, denk nicht ans Atmen …“

Sie gab sich die größte Mühe. Dann ließ das Schwindelgefühl nach, und sie konnte wieder atmen. „Warum sind wir denn so dumm? Wir hätten doch das Radio anschalten müssen. Wie kommt es, dass uns keiner gewarnt hat?“

Nick erwiderte nichts darauf und begann ihre Möglichkeiten aufzuzählen. „Wir kommen vorne nicht raus. Das Dach ist zu unsicher. Wenn wir anfangen, den Schutt wegzuräumen, könnte noch mehr runterfallen und jemanden ernsthaft verletzen oder vielleicht sogar umbringen.“

„Wir haben vor zwei Jahren nach dem Autodiebstahl eine Stahltür in der Küche angebracht. Die können wir unmöglich aufbrechen, nicht mit dem Wagen und dem umgestürzten Baum davor.“

„Gibt es irgendwelche weiteren Ausgänge? Irgendwas, von dem ich nichts weiß?“

Sie dachte angestrengt nach. Es waren nirgends Fenster an den Gebäudeseiten. „Das Küchenfenster?“

„Zu klein für die meisten von uns, und außerdem blockiert. Der Baum hat volle Arbeit geleistet.“

Jetzt verstand sie auch, warum niemand sie in die Nähe der Küche gelassen hatte.

„Zur Not könnten wir die kleineren Kinder da rauslassen“, fuhr sie fort.

Megan hatte sich oft vorgestellt, ein Panoramafenster über dem Arbeitstisch zu haben. Ständig hatte sie sich geschworen, es eines Tages einzubauen, auch wenn der Ausblick nicht gerade atemberaubend war und sie ein paar Stützbalken würde einbauen müssen. „Die Feuerwehr ist bestimmt schon unterwegs“, sagte sie.

„Ich fürchte, so schnell sollten wir nicht mit denen rechnen. Wir sind garantiert nicht der einzige Fall.“

„Im Dach ist ein riesiges Loch.“

„Keine Hilfe.“

„Der Gasgeruch wird doch nicht schlimmer, oder? Selbst wenn irgendwas undicht ist, wird es sich verteilen.“

„Ich möchte es lieber nicht rausfinden.“

„Ist die Telefonleitung …“

„Tot. Und bisher scheint kein Handy zu funktionieren. Der Sendeturm ist womöglich zusammengebrochen, oder das System ist überlastet, weil alle telefonieren.“

Jon gesellte sich zu ihnen. „Rooney ist verschwunden.“

Megan sah zu Niccolo. „Bist du ihm vor Kurzem begegnet? Erinnerst du dich? Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte ihn Tante Dee unter ihre Fittiche genommen, aber die war oben bei Kieran, als der Tornado einbrach.“

„Er war mit Onkel Frank zusammen“, sagte Jon.

„Ist Onkel Frank …“

„Ihm geht es gut. Aber er hat Rooney nach dem Tornado aus den Augen verloren.“

„Waren sie im vorderen Teil?“

„Nein, hinten. Er ist bestimmt in Sicherheit, aber einfach verschwunden.“

„Wird sonst noch jemand vermisst?“, erkundigte sich Niccolo.

„Nicht dass wir wüssten. Es sei denn, jemand war hier, den niemand kannte.“

Megan dachte hektisch nach. „Wo könnte Rooney hingegangen sein?“

„Oben?“, schlug Jon vor.

„Nein, da kommen wir gerade her. Vielleicht versteckt er sich irgendwo. In der Küche oder hinter der Bar?“

„Haben wir alles abgesucht.“

„Abstellraum?“

„Auch.“

„Der Keller“, sagte Megan. „Hat einer denn im Keller nachgesehen?“

Die Tür befand sich – unpraktischerweise – in der Speisekammer. Der Keller war klein, feucht und unfreundlich und wurde nur zur Lagerung von Bierfässern oder zeitweise für Konserven benutzt.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er da runtergegangen ist“, sagte Jon. „Weiß er denn überhaupt noch, wo der Keller ist? Ich jedenfalls nicht.“

„Es ist nicht so leicht nachzuvollziehen, an was er sich erinnert und an was nicht. Aber der Saloon war für lange Zeit sein Leben. Er kennt hier jeden Winkel.“

„Ich werde es mal überprüfen.“ Jon wandte sich ab, aber Megan hielt ihn zurück.

„Nein, lass mich das machen.“

„Ich komme mit“, sagte Nick sofort.

„Solltest du nicht mit Jon hier bleiben und abchecken, was man tun könnte?“

„Es dauert ja nur einen Moment.“

Sie drängten sich durch den Pulk von Gästen Richtung Küche. Megan war beeindruckt, wie ruhig sich alle verhielten. Sie hörte leises Weinen, und einige husteten wegen der staubigen Luft, aber keiner brach in Panik aus. Sie tröstete einige von ihnen, so gut sie konnte, und versprach, dass sie bald eine Lösung für das Problem hätten. Als sie in der Küche ankam, bemerkte sie sofort den alten Ahornbaum vor dem Fenster, die schweren Äste wie Arme nach oben in den Himmel ausgestreckt. Greta und eine Küchenhilfe warteten auf sie.

„Ich hab keine Ahnung, warum diese Scheibe noch ganz ist, aber so ist es“, bemerkte Greta. „Sollen wir das Glas rausbrechen?“

„Noch nicht.“ Megan konnte sich nicht vorstellen, dass jemand auf diesem Weg nach draußen käme. Vielleicht wäre es groß genug für ein kleines Kind. Aber niemand wusste, was einen da draußen erwartete. Im Moment war es besser, alle zusammenzuhalten. „Greta, warst du die ganze Zeit hier? Seit dem Tornado?“

„Ich bin kurz danach in den Saloon gerannt. Wie alle. Um zu sehen, was passiert ist.“

„Du hast nicht beobachtet, wie Rooney hier reinkam, oder?“

„Ich hab nicht darauf geachtet.“ Greta klang zerknirscht, so als würde sie sich vorwerfen, nicht die ganze Zeit während des Unglücks die Nerven behalten zu haben.

Megan kämpfte gegen aufkommende Panik an. „Ich rieche Gas“, sagte sie. „Ziemlich schwach, aber es ist da.“

„Der Herd ist ausgeschaltet. Und ich habe die Sparflamme gelöscht“, sagte Greta. „Das war das Erste, wonach ich gesehen hab, als ich wieder hier reinkam.“

„Wir werden die Heizung überprüfen, wenn wir unten sind, aber die ist ziemlich neu, oder?“, fragte Niccolo.

„Vom letzten Winter.“

„Dann sollte sie eine Sicherheitsschaltung haben. Das ist wahrscheinlich nicht der Auslöser.“

„Lass uns nach Rooney sehen. Eins nach dem anderen.“ Megan legte Greta die Hand auf die Schulter. „Du hältst hier die Stellung, ja?“

„Wir haben saubere Handtücher und auch Wasser. Damit werden wir den Leuten so gut wir können helfen.“

Megan ging zur Speisekammer. Der Keller wurde so selten genutzt, dass die Tür teilweise mit Lebensmittelkisten voll gestellt war, um jeden Zentimeter des Raumes auszuschöpfen. Für den Saloon hatte sie schon immer mehr Stauraum benötigt. Jetzt war das aber wohl das kleinste Problem.

„Ich nehme an, dass er hier durchkommen konnte, ohne was zur Seite zu schieben“, sagte sie und zeigte auf die Kartons. „Wenn er hier rübergestiegen ist, die Tür ein Stück geöffnet und sich durchgequetscht hat.“

„Der Strom ist ausgeschaltet, da unten gibt es also kein Licht.“

„Wir haben immer ein paar Taschenlampen auf einem Regal im Treppenaufgang. Ich geh nie ohne eine da runter, weil ich zu viel Angst hab, bei Stromausfall im Dunkeln dazustehen.“

„Wir werden kurz nachsehen.“

„Ich hatte vor, unsere Versicherungssumme zu erhöhen“, bemerkte Megan, während sie zusammen ein paar Kisten beiseite schoben, sodass die Tür ein Stück weiter aufging. „Ich hab einfach nie genug Zeit gehabt, um mich mit unserem Versicherungsvertreter zusammenzusetzen.“

„Denk jetzt nicht an so was.“

„Ich wette, als du geschworen hast, in guten wie in schlechten Tagen zu mir zu halten, hast du nicht daran gedacht, dass der Allmächtige da oben dich so bald wegen des letzten Teils beim Wort nimmt.“

„Megan, das hier ist der erste Teil. Es ist ein Wunder, dass niemand dabei umgekommen ist. Wenn der Wirbelwind uns direkt getroffen hätte, wäre das gesamte Gebäude mit uns allen weggeflogen. Wir haben wahrscheinlich nur den winzigsten letzten Ausläufer mitbekommen.“

Da musste Megan ihm wirklich zustimmen. Es war nicht übertrieben, das als Wunder zu bezeichnen, besonders wenn die Feuerwehr schnell zu Hilfe kam und den Ausgang frei räumte.

Sie drängte sich vor ihn. „Lass mich lieber zuerst gehen. Ich kenne die Räumlichkeiten. Die Taschenlampe werde ich im Dunkeln finden.“

„Ich sehe Licht da unten.“ Nick trat zur Seite.

Megan war erleichtert. Licht hieß, dass Rooney im Keller war. Sie fürchtete nur, dass sie ihn in schlechter Verfassung vorfanden.

Sie tastete die Wand nach dem Regal ab, wo gewöhnlich die Taschenlampen lagen, und griff nach einer, die sie anknipste, um den Weg zu beleuchten. „Rooney!“, rief sie. „Keine Angst. Nick und ich kommen runter und holen dich.“

Sie stieg die Stufen hinab und hielt den Lichtstrahl nach vorn gerichtet, so dass Nick ebenfalls sehen konnte. Als sie halb unten waren, erblickte Megan ihren Vater schon, der mit den Fäusten gegen eine Holzwand hämmerte. Rooney war ziemlich schmal und – wie sie feststellen musste – blasser als gewöhnlich. Sie fragte sich, ob er tatsächlich glaubte, dass er mit seinem Leichtgewicht etwas an der Mauer des Saloons ausrichten konnte.

„Er muss in Panik sein“, flüsterte sie Niccolo zu. Sie ging schneller und hoffte, dass ihr frisch gebackener Ehemann trotzdem noch genug sehen konnte. Unten stellte sie sich neben Rooney.

„Hey, Rooney, ist schon gut. Die Feuerwehr wird bald eintreffen. Dann holen sie uns hier raus. Aber du solltest mit Nick und mir hochkommen und nicht allein hier unten bleiben.“

Rooney drehte sich um und musterte sie. Er sah nicht so aus, als wäre er besonders ängstlich. Eigentlich machte er eher den Eindruck, als fühlte er sich durch ihre Einmischung gestört. „Hier irgendwo.“

Megan wusste oft nicht, was ihr Vater genau meinte. Es hatte mal Phasen gegeben, als fast alles, was er sagte, für sie ein Rätsel gewesen war. In der letzten Zeit allerdings hatten die ganzen Veränderungen in seinem Leben sich positiv auf seine Konstitution ausgewirkt. Es gab richtige Gespräche zwischen ihnen, bei denen sie sich gegenseitig auch tatsächlich verstanden. Sie fürchtete nur, im Moment würde es weniger erfreulich ablaufen.

„Ja, du bist hier“, sagte sie. „Aber es wäre besser, wenn du nach oben kämst.“

Er sah sie an, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen. „Kein Ausgang.“

„Jetzt vielleicht nicht, aber die Feuerwehr …“

„Kein Ausgang da.“ Er schüttelte den Kopf und zeigte nach oben. Er blickte sie fast verärgert an, weil sie ihn nicht verstand.

„Nein, aber es wird bald einen geben.“

Er wandte sich wieder um und hämmerte mit den Fäusten gegen die Wand. Megan erinnerte das an einen Gefangenen, der gegen seine Zellentür schlug. „Rooney, das wird uns kaum helfen. Komm mit nach oben, ja?“

„Suchst du was?“, mischte sich Niccolo jetzt ein.

Megan wünschte, er würde sich da raushalten. Sie befürchtete, dass er Rooney noch mehr durcheinander brachte. „Nick, ich …“

„Hier irgendwo.“ Rooney ging ein kleines Stück weiter und fuhr fort, gegen die Wand zu schlagen.

„Megan, er hat keine Angst. Er sucht was“, sagte Niccolo. „Kannst du dir vorstellen, was?“

„Ich glaube nicht, dass …“

„Hört …“ Rooney hörte kurz auf zu klopfen und begann dann von Neuem.

Megan wurde nervös. Es gefiel ihr nicht, dass sie so lange von den anderen getrennt waren. Vielleicht hatte inzwischen jemand die Feuerwehr erreicht. Sie wollte wissen, ob schon Hilfe unterwegs war. Sich vergewissern, wie es ihren Gästen ging. „Rooney, ich kann nichts hören! Bitte komm mit hoch.“

„Es klingt hohl.“ Niccolo nahm ihren Arm. „Tu, was er sagt, und hör genau hin.“

„Und was ist, wenn es hohl klingt? Wer weiß denn, warum …“ Sie beendete den Satz nicht, weil sie wusste, dass es ja doch keinen Sinn hatte, etwas zu sagen.

„Was ist dahinter?“, fragte Nick.

Rooney grinste. „Gefängniszeit.“

Megan sah Niccolo an und schüttelte den Kopf. Er erwartete zu viel von Rooney.

„Gefängniszeit?“, wiederholte er. „Gefängnis für wen?“

Rooney begann jetzt an einer der Holzlatten zu ziehen, versuchte sie mit den bloßen Händen von der Wand zu entfernen, mit Händen, die nicht gerade für diese Arbeit geeignet waren.

„Für wen?“, wiederholte Nick.

Rooney trat offensichtlich frustriert einen Schritt zurück. „Werkzeug. Hammer könnte reichen.“

„Was finden wir, wenn wir die Holzlatten entfernen?“, wollte Niccolo von ihm wissen.

„Nick, bitte, lass es doch sein“, flehte Megan.

„Gefängniszeit“, sagte Rooney. „Für Schmuggler.“

Megan blickte ihren Vater verwundert an. „Schmuggler?“

Rooney grinste wieder. „War ich noch nicht geboren.“

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