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Jack Gannon - der Kriminalreporter: Geschändet & Geächtet

GESCHÄNDET

Eine Frau wird ermordet. Ihre Freundin verschwindet. Kann Reporter Jack Gannon den Fall aufklären?

Der Mord an einer Frau mit gebrochenem Herzen ...
In einem flachen Grab in der Nähe eines Waldes wird eine Leiche gefunden. Bernice Hogan, eine ehemalige Schwesternschülerin mit tragischer Vergangenheit.

... und das unerklärliche Verschwinden ihrer Freundin ...
Jolene Peller, alleinerziehende Mutter, versucht, ein neues Leben für sich und ihren Sohn aufzubauen. Doch sie verschwindet in der Nacht, in der sie sich auf die Suche nach Bernice begibt.

... lassen einen Reporter nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit herausgefunden hat.
Der Fall verfolgt Jack Gannon, den Reporter des Buffalo Sentinel, dessen Schwester vor Jahren ebenfalls verschwunden ist. Er riskiert alles, um das Geheimnis aufzuklären.

GEÄCHTET

Rick Mofinas neuer Jack-Gannon-Thriller: Eine verzweifelte Mutter und ein unerbittlicher Reporter im Fadenkreuz einer tödlichen Verschwörung.

Eine Bombenexplosion in einem Café in Rio …
Zehn Menschen sterben, darunter zwei Journalisten. Waren sie unschuldige Opfer - oder Ziel des Anschlags, weil sie zu viel wussten? Der Reporter Jack Gannon recherchiert den Fall.

Ein Autounfall in Wyoming …
Eine Frau klettert aus dem brennenden Wrack. Sie meint zu sehen, wie jemand ihr Kind aus den Flammen zieht. Doch dann wird sie ohnmächtig - und ihr Sohn verschwindet spurlos.

Eine Karibikkreuzfahrt mit grausigem Ende …
Verzweifelt fahnden die Ärzte nach dem Grund für die Todesqualen eines Passagiers und fördern Unglaubliches zutage: Jemand missbraucht ein Virus aus dem Genlabor - als tödliche Waffe gegen die Menschheit. Und während eine Mutter ihr Kind und Jack Gannon die Wahrheit sucht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit …


  • Erscheinungstag: 10.12.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 992
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765231
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Rick Mofina, Rainer Nolden

Jack Gannon - der Kriminalreporter: Geschändet & Geächtet

DANKSAGUNGEN

Danke, Amy Moore-Benson.

Und vielen Dank an die Bundespolizei von New York.

Ich bedanke mich bei Valerie Gray, Dianne Moggy, Catherine Burke und den fantastischen Lektorats-, Marketings-, Verkaufs- und PR-Abteilungen bei MIRA Books. Außerdem bedanke ich mich bei meinen Freunden im Zeitungsgewerbe für ihre Hilfe und Unterstützung, insbesondere Sheldon Alberts, Büroleiter des CanWest News Service in Washington; Glen Miller, Metro; Juliet Williams, Associated Press in Sacramento, Kalifornien; Bruce DeSilva und Vinnee Tong, Associated Press, New York. Mein Dank gilt ebenfalls Lou Clancy, Eric Dawson, Jamie Portman, Mike Gillespie, den derzeitigen und ehemaligen Kollegen beim Calgary Herald, Ottawa Citizen, den CanWest News, der Canadian Press, Reuters, dem Toronto Star, Globe and Mail und vielen anderen.

Ihr wisst schon, wen ich meine.

Danke auch an Ginnie Roeglin, Tod Jones, David Fuller, Steve Fisher, Lorelle Gilpin, Sue Knowles, David Wright und alle anderen bei „The C. C.“. Verpflichtet bin ich darüber hinaus Pennie Clark Ianniciello, Shana Rawers, Wendi Wambolt und Melissa McMeekin.

Und ein ganz besonderer Dank geht an Laura und Michael.

Außerdem stehe ich in der Schuld von Verlagsvertretern, Buchhändlern und Bibliothekaren, die mein Buch an Sie weiterreichen. Und damit wäre ich bei Ihnen angelangt, dem Leser – dem kritischsten Glied in der Kette dieses ganzen Unternehmens.

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Zeit, denn ohne Sie bleibt ein Buch eine Geschichte, die niemals erzählt wird. Ich hoffe, Ihnen hat dieser Ausflug so gut gefallen, dass Ihr Interesse an meinen früheren und Ihre Neugier auf meine kommenden Bücher geweckt wurde. Ich würde mich über Reaktionen von Ihnen wirklich sehr freuen. Schauen Sie einfach bei www.rickmofina.com vorbei, abonnieren Sie meinen Newsletter – und schreiben Sie mir doch mal.

1. KAPITEL

Das Taxi rollte eine Straße entlang, die am östlichen Stadtrand von Buffalo im Dunkel der Nacht verschwand.

Mit quietschenden Bremsen kam der Wagen neben einem weitläufigen Park zum Stehen.

Ein paar Sekunden lang betrachtete Jolene Peller das undurchdringliche Gebüsch, ehe sie den Fahrer bezahlte.

„Wollen Sie wirklich hier aussteigen?“, fragte er.

„Ja. Können Sie die Uhr abstellen und auf mich warten?“

„Nee. Das war meine letzte Fuhre. Ich muss den Wagen zurückbringen.“

„Bitte! Ich muss unbedingt meine Freundin finden.“

Der Fahrer gab ihr eine Fünfdollarnote zurück und deutete mit dem Kopf auf den Weg. Das Licht seiner Autoscheinwerfer reichte nur ein paar Meter weit.

„Sind Sie sicher, dass Ihre Freundin sich dort aufhält?“

„Ja. Ich muss sie nach Hause bringen. Sie macht gerade eine schwere Zeit durch.“

„Tagsüber ist der Park ja wunderschön, aber Sie wissen doch, was manche Leute nachts dort treiben.“

Das wusste Jolene nur zu gut.

Inzwischen führte sie jedoch ein anderes Leben – wenn man es denn Leben nennen konnte.

„Können Sie nicht ein paar Minuten warten?“, bat sie.

„Das geht alles von meiner Freizeit ab. Außerdem fangen meine Ferien an, sobald ich den Wagen zurückgebracht habe.“

„Bitte!“

„Hören Sie, Miss, weil ich Sie so nett finde, bringe ich Sie wieder nach Hause. Und da ich sowieso dieselbe Strecke zurückfahren muss, schalte ich auch die Uhr nicht ein. Aber ich werde auf keinen Fall hier warten, während Sie da draußen auf der Suche nach Ihrem Problem sind. Also – steigen Sie aus oder kommen Sie mit? Entscheiden Sie sich endlich!“

Doch Jolenes Entschluss stand fest. Sie hatte nur diese eine Nacht, um das Richtige zu tun.

„Ich muss bleiben“, sagte sie.

Der Fahrer zuckte mit den Achseln, und Jolene stieg aus. Das Taxi rollte davon. Die roten Rücklichter verschwanden, und Jolene war allein.

Sie musste es tun.

Als sie den Weg entlangeilte, schweifte ihr Blick über das Lichtermeer der großen Häuser auf den Hügeln der Vorstadt, die etwa eine halbe Meile vom Park entfernt lagen. Wenn sie Bernice erst gefunden hätte, würden sie zu einem Laden an der Straßenecke gehen und ein Taxi bestellen, das sie zu Bernice’ Apartment bringen würde. Von dort wollte Jolene mit einem anderen Taxi zum Busbahnhof fahren, ihre Reisetasche an der Gepäckausgabe abholen und den nächsten Bus nehmen.

Doch erst wenn sie Bernice gefunden hatte.

Sie musste ihre Freundin retten.

Fast hätte sie es heute Nacht schon einmal geschafft. Einen Moment lang hatte sie es jedenfalls geglaubt.

Vor etwa einer Stunde hatten sie in der Stadt in einem Lokal gesessen, wo Jolene auf sie eingeredet hatte.

„Honey, hör endlich auf, dir Vorwürfe zu machen wegen Dingen, für die du überhaupt nichts kannst.“

Tränen waren Bernice übers Gesicht gelaufen.

„Du musst clean werden und deinen College-Abschluss machen.“

„Es ist schwer, Jo. Furchtbar schwer.“

„Ich weiß, aber du musst mit diesem Leben aufhören. Wenn ich es geschafft habe, schaffst du es auch. Versprich mir hier und jetzt, dass du es heute Abend nicht machst.“

„Es tut so weh. Ich habe überall Schmerzen. Ich brauche etwas, um noch einen Tag durchzuhalten. Ich brauche das Geld. Übermorgen höre ich auf.“

„Nein!“

Ein paar Gäste warfen ihnen müde Blicke zu. Jolene senkte die Stimme.

„Du machst dir doch selber nur etwas vor. Versprich mir, dass du dich heute Abend mit niemandem triffst und dass du nach Hause gehst.“

„Aber es tut so weh.“

Jolene ergriff Bernice’ Hände, verschränkte die Finger mit ihren und drückte sie fest.

„Du musst das tun, Honey. Du kannst so nicht weitermachen. Versprich mir, dass du nach Hause gehst. Versprich es mir, ehe ich in den Bus steige und die Stadt verlasse.“

„Okay, Jo, ich verspreche es dir.“

„Schwöre.“

„Ich schwöre, Jo.“

Jolene schloss sie ganz fest in den Arm.

Aber nachdem sie ins Taxi gestiegen und einige Häuserblocks gefahren war, wurde sie auf einmal unsicher. Sie bat den Fahrer umzukehren, damit sie noch einmal nach Bernice schauen konnte.

Natürlich stand sie da. An der Einmündung der Niagara Street, einer finsteren Gasse, wartete sie auf einen Freier. Das Taxi blieb vor einer Ampel stehen. Jolene umklammerte den Türgriff und war im Begriff, aus dem Wagen zu springen und Bernice von der Straße zu zerren.

Aber sie tat es nicht.

Zum Teufel mit diesem Mädchen!

Jolene bat den Taxifahrer, sie zum Bahnhof zu bringen. Für derlei Auseinandersetzungen hatte sie keine Zeit. Jedenfalls nicht im Moment. Heute Abend würde sie nach Florida fahren, wo sie gemeinsam mit ihrem kleinen Jungen ein neues Leben anfangen wollte. Bernice war erwachsen und alt genug, um auf sich selber aufzupassen.

Jolene hatte oft genug versucht, ihr zu helfen.

Und sie hatte sich wirklich sehr viel Mühe gegeben.

Doch mit jedem Häuserblock, an dem sie vorbeifuhr, wuchs ihr Schuldgefühl. Bald verschwammen die Neonlichter vor ihren Augen. Fluchend wischte sie sich die Tränen fort. Mit dem Bild ihrer Freundin im Kopf, die allein an einer Straßenecke stand, konnte sie Buffalo heute Abend unmöglich verlassen. Sie würde sich immer daran erinnern.

Bernice war süchtig. Sie war krank. Sie brauchte Hilfe. Jolene war ihr Rettungsanker.

Und ihre innere Stimme sagte ihr, dass an diesem Abend etwas schrecklich falschlaufen würde.

Der Fahrer knurrte mürrisch, als sie ihn bat, wieder umzukehren. Als sie jedoch die Gasse erreichten, wo Bernice gewartet hatte, war sie bereits mit einem Freier verschwunden.

Jolene hatte ein ungutes Gefühl.

Aber sie wusste genau, wo sie sich aufhielten.

Weiter unten am Fluss.

Schon seltsam, überlegte Jolene jetzt, als sie dem wegfahrenden Taxi hinterherschaute. Tagsüber war der Park ein Erholungsort für ganz normale Menschen, die hier spazieren gingen, joggten oder am Wasser für ihre Hochzeitsfotos posierten.

Und hier ihren Träumen nachhängen konnten.

Die meisten Einheimischen, die ein glückliches und zufriedenes Leben führten, hatten keine Ahnung, dass hier nach Einbruch der Dunkelheit Prostituierte auf ihre Kunden warteten.

Das ist der Ort, an dem man die wirkliche Welt verlässt, wo man seine Würde verliert. Wo jedes Mal, wenn du deinen Körper als Überlebenshilfe benutzt, ein Teil von dir stirbt.

Jolene kannte sich aus. Das war früher auch ihr Leben gewesen, vor dem sie geflohen war, als sie Cody bekam. Er war das wichtigste Argument für sie gewesen, all das hinter sich zu lassen. Sie hatte sich geschworen, dass er keine süchtige Mutter haben würde, die ihren Körper für Rauschgift verkaufte.

Er hatte etwas Besseres verdient.

Genau wie Bernice.

Sie war im Stich gelassen und misshandelt worden, aber sie hatte hart gearbeitet, um es aufs College zu schaffen. Aber auch dort war sie mit Problemen konfrontiert worden, die sie mit Drogen in den Griff zu bekommen versuchte. Doch die Sucht hatte sie nur immer tiefer hinuntergezogen. Das Tragische daran war, dass es nur noch ein paar Monate bis zu ihrem Abschluss als examinierte Krankenschwester gedauert hätte.

Bernice gehörte nicht in dieses Leben.

Pfeif auf den Bus! Jolene würde sie finden und nach Hause bringen, und wenn es das Letzte war, das sie tat. Jolene hatte keine Angst davor, sich nachts in dieser Gegend aufzuhalten. Sie kannte sie gut und wusste sich zu schützen.

Sie hatte ihr Pfefferspray dabei.

Sie erreichte den sandigen Parkplatz. Er war Teil einer ehemaligen Zufahrtsstraße, die zu dem Pfad führte, der sich am Fluss entlangschlängelte. Der Parkplatz war leer.

Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand gewesen war.

Die Grillen zirpten, und Jolene ließ ihren Blick über das Gelände und hinauf zu den Baumkronen schweifen, deren Silhouetten sich gegen einen Dreiviertelmond abhoben. Sie kannte die verborgenen Pfade und abgelegenen Wiesen, wo Drogen genommen, Freier bedient und alle möglichen dunklen Geschäfte getätigt wurden.

Hinter einer Baumgruppe entdeckte sie etwas Chromblitzendes. Es sah aus wie der Kühlergrill eines Wagens, der auf einem weiter entfernten Parkplatz abgestellt war. Ein Lastwagen möglicherweise. Jolene ging näher. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als ein Schrei sie erstarren ließ.

„Nein, um Himmels willen, nein! Hilfe!“

Jolenes Nackenhaare richteten sich auf.

Bernice!

Der Schrei kam aus dem dunkelsten Teil des Parks nahe beim Fluss. Jolene hastete in diese Richtung. Zweige schlugen ihr ins Gesicht und verhakten sich in ihrer Kleidung.

Das Gebüsch war dichter, als sie es in Erinnerung hatte. Da sich ihre Augen noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, lief sie nahezu blind über das hügelige Gelände.

Plötzlich trat sie ins Leere und schlug mit dem Gesicht auf den Boden.

Mühsam kam sie wieder hoch und lief weiter.

Weiter vorne bewegte sich etwas. Schattenrisse im Mondlicht.

Geräusche.

Lautlos griff Jolene in ihre Handtasche. Ihre Finger umklammerten das Pfefferspray.

Eine Ladung in das Gesicht dieses Mistkerls. Ein Tritt in die Weichteile. So etwas hatte Jolene schon früher mit kranken Typen getan, die sie schlagen und würgen wollten.

Sie schluckte hart, bereit zum Kampf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie herauszufinden versuchte, was sie erwartete. Jemand bewegte sich; sie sah die Umrisse eines Körpers.

Bernice? War das ihr Gesicht auf dem Boden?

Ein metallisches Klirren.

Werkzeuge? Was ging da vor?

Unmittelbar neben Jolene explodierte die Luft, als ein aufgescheuchter Vogel aufgeregt in den Himmel flatterte. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, stolperte und stürzte auf trockenes Laub und morsche Zweige.

Sie war nicht verletzt.

Jetzt war es totenstill.

Jemand lauschte.

Jolene rührte sich nicht.

Die Person schien nachzudenken.

Das Blut pochte ihr in den Ohren.

Ein Zweig knackte. Die Person kam näher.

Jolene hielt den Atem an.

Noch näher.

All ihre Sinne waren bis zum Äußersten gespannt.

Mit der Hand tastete sie über den Boden, doch sie konnte ihre Tasche nicht finden. Voller Panik suchte sie auf dem schmutzigen Boden nach ihrem Pfefferspray, bekam einen Stein zu fassen, einen Ast.

Alles Mögliche.

Ihr Puls raste, und sie hielt den Atem an. Nach ein paar qualvollen Sekunden ließ die Anspannung nach. Die Bedrohung schien von einer Windbö, die durch die Baumkronen rauschte, fortgeweht worden zu sein.

Gott sei Dank!

Entschlossen verscheuchte Jolene die letzten Reste ihrer Furcht, um die Suche nach Bernice fortzusetzen, als sie ein greller Blitz mitten ins Gesicht traf.

Blinzelnd hob sie ihre Hand gegen die blendende Helligkeit. Jemand grunzte, ein Schatten zeichnete sich ab. Sie wollten losrennen, doch in diesem Augenblick explodierten zahllose Feuerwerkskörper in ihrem Kopf und schleuderten sie ins Nichts.

2. KAPITEL

Irgendetwas war im Busch.

Als Jack Gannon, Reporter beim Buffalo Sentinel, am nächsten Morgen die Redaktion betrat, spürte er sofort die Hektik, die die Radiogeräte verbreiteten, mit denen der Polizeifunk abgehört wurde.

Sie standen am anderen Ende des Raumes auf einem Schreibtisch und spuckten unentwegt Nachrichten aus.

Hört sich ganz so an, als sei in einem der Parks etwas passiert, überlegte er, als ein Schwall von codierten Nachrichten durch die Stille der ansonsten fast leeren Lokalredaktion drang.

Noch waren nicht viele Reporter zur Arbeit erschienen.

Gannon hatte an diesem Tag keinen Polizei-Bereitschaftsdienst. In dieser Abteilung hatte er vor Jahren seine ersten Erfahrungen gesammelt und sich um Brände, Mordfälle und die alltäglichen Tragödien gekümmert. Damals hatte er gelernt, aus den quäkenden und hektischen Funksprüchen vom Polizeirevier in Buffalo, der Feuerwehr und den Notarzt-Einsatzzentralen die wesentlichen Informationen herauszufiltern – eine Fähigkeit, die er immer noch beherrschte.

Der Sprecher klingt ziemlich gestresst, dachte er, als er weitere Bruchstücke der Durchsagen aufschnappte.

Gerade hatte jemand den Gerichtsmediziner angefordert.

Hoffentlich hatte der Reporter, der den Polizeifunk abhörte, das auch mitbekommen.

Während der vergangenen beiden Wochen hatten die Kollegen von der Themenvergabe Gannon den Rücken freigehalten, damit er einem Tipp über eine vermisste Frau aus Neuengland nachgehen konnte, deren Spur möglicherweise nach Buffalo führte.

Er brauchte nämlich unbedingt eine gute Story.

Deshalb ließen ihn die Mitteilungen aus dem Polizeifunk aufhorchen.

Der Polizeifunk war der Lebensnerv einer Zeitungsredaktion. Und kein Reporter, der etwas auf sich hielt, riskierte es, etwas zu verpassen, das die Konkurrenz aufschnappen könnte – besonders in diesen Zeiten, wo das Anzeigengeschäft einbrach und die Auflagen schrumpften.

Ob schon jemand etwas von dem Notruf mitbekommen hatte?

Über seinen Computerbildschirm hinweg spähte er zum Schreibtisch der Polizeireporter hinüber. Sie machten nicht den Eindruck, als hätten sie zugehört.

„Jeff!“ Er rief nach dem diensthabenden Redakteur, erhielt jedoch keine Antwort.

Gannon durchquerte die Nachrichtenzentrale, die im dreizehnten Stock auf der Nordseite des Gebäudes mit Blick über den Erie-See lag.

Der Raum war leer. Vorboten eines aussterbenden Berufszweigs, dachte er.

Ein paar gelangweilte Onlineredakteure saßen an Schreibtischen, auf denen zahlreiche Notebooks, Kaffeetassen und alle möglichen Utensilien verteilt waren. Schräg von der Decke herab hing eine Reihe von Flachbildschirmen, über die verschiedene Nachrichtenkanäle flimmerten. Der Ton war heruntergedreht.

Nirgendwo war etwas von einem Polizeieinsatz zu sehen.

Vor dem Schreibtisch des Polizeireporters blieb er stehen.

„Was zum Teufel ist hier los?“

Niemand beachtete die Funkgeräte.

Kümmert sich heutzutage kein Mensch mehr um Nachrichten? Was stellen die sich bloß vor, wie wir an unsere Stories kommen?!

Vorige Woche hatte er hier Dienst geschoben. Jetzt war ein anderer Kollege zuständig.

„Jeff!“, rief er zu dem Reporter hinüber, der auf seinem Bildschirm einen Text Korrektur las. „Wer ist heute Morgen für den Polizeifunk zuständig?“

„Carson. Er ist bei den Wasserfällen. Es hieß, ein Kind sei hineingefallen, aber es hat nur seine Jacke in den Fluss geworfen. Und auf dem Rückweg hatte Carson einen Platten.“

„Wer vertritt ihn?“, wollte Gannon wissen.

„Sharon Langford. Aber ich glaube, sie ist mit einem Informanten einen Kaffee trinken gegangen.“

„Langford? Die hasst Polizeigeschichten.“

In diesem Moment erklang aus einem der Funkgeräte eine Fortsetzung der Meldung, die Gannons Interesse geweckt hatte.

„… wiederhole … sie fahren gerade zum Ellicott Creek und zum Park … verstanden.“

Wenn der Gerichtsmediziner angefordert wurde, gab es einen Toten. Es konnte ein natürlicher Tod sein, ein Jogger, der einen Herzanfall erlitten hatte. Es konnte ein Unfall sein, beispielsweise ein Ertrunkener.

Es konnte sich aber auch um Mord handeln.

Gannon beugte sich vor, um den Sender exakter einzustellen, aber die Stimme war bereits verstummt. Fluchend kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. Plötzlich war er wieder der alte Kriminalreporter. Er rief im Polizeirevier von Buffalo an und versuchte, etwas über die Ereignisse am Fluss und im Park herauszubekommen.

„Ich kann Ihnen leider nichts sagen“, wimmelte der Officer ihn ab.

Na gut. Dann würde er es eben in Cheektowaga versuchen.

„Ein paar unserer Leute sind draußen, aber wir leiten die Ermittlungen nicht.“ Der Polizist weigerte sich, konkreter zu werden.

Blieb noch das Polizeirevier von Amherst.

„Wir wissen von nichts.“

Für den Fall fühlt sich offenbar überhaupt keiner zuständig, überlegte er gereizt, während er die Polizei in Ascension Park anrief.

„Wir unterstützen die Kollegen.“

Kollegen unterstützen? Bingo!

„Was ist denn los?“

„Mehr weiß ich auch nicht. Haben Sie es schon im Büro des Bezirks-Sheriffs von Erie County versucht?“, schlug die Polizistin vom Revier in Ascension Park vor.

Ein Vertreter des Bezirks-Sheriffs teilte ihm mit: „Ja, unsere Leute sind da draußen, aber Sie erkundigen sich am besten bei der Bundespolizei.“

Er rief die New Yorker Bundespolizei in den Clarence Barracks an. Ein Polizist namens Felton nahm das Gespräch entgegen und stellte ihn in die Warteschleife, wo er mit Bruce Springsteens „The River“ hingehalten wurde.

Während er dem Song lauschte, betrachtete Gannon die vergilbten Zeitungsausschnitte, die er an die halbhohen Stellwände rund um seinen Schreibtisch geheftet hatte – seine besten Geschichten, Dokumente seines Traums, den er mehr oder weniger beerdigt hatte.

Bis New York City hatte er es nie geschafft.

Er saß noch immer in Buffalo.

Ein Klicken in der Leitung unterbrach Springsteen abrupt.

„Entschuldigen Sie“, meldete sich Felton. „Sie sind vom Sentinel und rufen wegen der Sache am Ellicott Creek an?“

„Genau. Was ist denn da draußen eigentlich los?“

„Wir haben eine Leiche gefunden.“

„Mord?“

„Können wir noch nicht sagen.“

„Mann oder Frau? Wissen Sie, wer es ist und wie alt?“

„Nun mal langsam. Sie sind der erste Anrufer. Unsere Leute von der Mordkommission sind draußen, aber das ist erst mal reine Routine. Mit mehr kann ich im Moment noch nicht dienen.“

„Wer hat die Leiche gefunden?“

„Hören Sie, Kumpel, ich muss Schluss machen.“

Eine Leiche am Ellicott. Eine feine Gegend.

Er musste unbedingt herausfinden, was da los war.

Er stopfte sein Notizbuch in die Gesäßtasche seiner Jeans, griff nach seiner Jacke und warf einen Blick in das mit Glaswänden abgeteilte Besprechungszimmer, in dem die Ressortleiter ihre Frühkonferenz abhielten.

Wahrscheinlich redeten sie mehr über ihre Rente als über Stories.

„Jeff, sag Bescheid, dass ich zum Ellicott Creek gefahren bin.“ Er riss eine Seite aus seinem Notizbuch, auf die er den Ort skizziert hatte. „Schick einen Fotografen los. Wir haben vielleicht einen Mord.“

Und ich habe vielleicht meine Story.

3. KAPITEL

Gannon lief zum Parkplatz des Sentinel, wo sein Wagen stand, ein gebrauchter Pontiac Vibe mit zerkratzter Windschutzscheibe und verbeultem hinterem Kotflügel.

Die Redaktion lag mitten im Zentrum in der Nähe der Scott und Washington Street, nicht weit vom Stadion, in dem die Sabres spielten. Der schnellste Weg zum Tatort führte über die Niagara-Teilstrecke des New-York-State-Zubringers Richtung Norden zum Highway 90.

Den Springsteen-Song immer noch im Ohr, überlegte Gannon, wie es mit seinem Leben weitergehen sollte, während er den Wagen aus der Parklücke rangierte. Er war vierunddreißig, ledig und arbeitete seit zehn Jahren beim Buffalo Sentinel.

Er betrachtete die Stadt, die sich vor ihm erstreckte. Seine Stadt.

Und es gab keine Möglichkeit, ihr zu entkommen.

Schon als Kind hatte er Reporter werden wollen – Reporter in New York City. Fast hätte er es geschafft, mit seiner Sensationsstory über den Absturz eines Flugzeugs in den Erie-See.

Er war für den Pulitzer-Preis nominiert worden und hatte Jobangebote aus Manhattan erhalten.

Doch als er die Auszeichnung nicht bekam, lösten sich die Stellenangebote in Luft auf.

Inzwischen sah es so aus, als würde er es nie bis nach New York schaffen. Vielleicht war er nicht für den Job als Reporter geeignet? Vielleicht sollte er etwas anderes versuchen.

Niemals.

Der Beruf steckte ihm doch in den Genen.

Noch ein Jahr.

Er dachte an das Ultimatum, das er sich beim Begräbnis gestellt hatte.

Noch ein Jahr, um einen Job in New York zu ergattern.

Ansonsten?

Er wusste es nicht. Dieser törichte Traum war alles, was er hatte. Seine Mutter war tot. Sein Vater war tot. Seine Schwester war – nun, sie war verschwunden. Sein Ultimatum saß ihm im Nacken. Das Ultimatum, das er sich selbst gestellt hatte, als die Särge seiner Eltern vor elf Monaten in die Grube gesenkt worden waren.

Die Zeit wurde knapp.

Wer weiß? Vielleicht bin ich gerade unterwegs zu der Story, die ich so dringend brauche, versuchte er sich zu überzeugen, während er sein Fahrzeug zum Tatort am Ufer des Ellicott Creek steuerte, der sich am Rand eines üppig grünenden Parks befand.

Schon von Weitem bemerkte Gannon das flackernde Licht der Streifenwagen, das die Blätter blutig rot färbte.

Uniformierte Beamte drängelten sich neben dem Absperrband. Hinter ihnen erstreckte sich der dichte, waldähnliche Park. Mit unbewegter Miene studierte ein Beamter Gannons Ausweis, ehe er ihn passieren ließ.

„Es ist weiter vorn. Fotos könnt ihr Zeitungsgeier aber für heute vergessen.“

Die anderen feixten.

Gannon zuckte mit den Achseln. Er war in seinem Leben schon an mehr Mordschauplätzen gewesen als dieses Arschloch. Außerdem hatten ihn solche Wichtigtuer noch nie von etwas abhalten können. Wenn überhaupt, bestärkten sie ihn eher noch in seiner Zielstrebigkeit.

Okay, Kumpel, wenn’s hier eine Story gibt, werde ich sie kriegen, dachte er.

Nachdem er rund eine halbe Stunde lang Detectives in Zivil und Gerichtsmediziner in ihren Overalls beobachtet hatte, die in den Park hineinliefen und irgendwann wieder herauskamen, knöpfte Gannon sich einen Ermittler der Bundespolizei vor, der mit einem Klemmbrett zu seinem Zivilfahrzeug eilte.

„Entschuldigen Sie. Jack Gannon vom Buffalo Sentinel. Sind Sie hier der Boss?“

„Nein. Ich assistiere nur.“

„Worum geht’s denn eigentlich?“

Gannon warf einen verstohlenen Blick auf das Klemmbrett. Die Notizen schienen Zeugenaussagen zu sein.

„Wir werden später eine Presseerklärung herausgeben“, wich der Ermittler aus.

„Können Sie mir nicht jetzt schon was erzählen?“

„Wir haben noch nicht viel. Gerade mal ein paar magere Fakten.“

„Ich kaufe alles.“

„Spaziergänger haben heute Morgen die Leiche einer Frau gefunden.“

„Mord?“

„Sieht ganz so aus.“

„Wie alt und welche Hautfarbe hat das Opfer?“, wollte Gannon wissen.

„Ich schätze sie auf Mitte zwanzig. Weiß oder eingeborene Amerikanerin, da sind wir noch nicht sicher.“

„Ist sie schon identifiziert?“

„Nein. Dafür benötigen wir eine Autopsie.“

„Kann ich mit den Spaziergängern reden?“

„Die sind schon nach Hause gegangen. Es war eine sehr verstörende Szene.“

„Verstörend? Wieso?“

„Mehr kann ich nicht sagen. Ich bin hier nicht der Boss.“

„Können Sie mir Ihren Namen sagen oder Ihre Karte geben?“

„Nein, nein. Ich möchte nicht zitiert werden.“

Mehr konnte Gannon nicht aus ihm herausbekommen. Per Telefon übermittelte er seine Informationen unter der Schlagzeile „Grausiger Fund“ für die Internetausgabe in die Redaktion. Inzwischen waren weitere Nachrichtenteams eingetroffen. Lee Watson, Fotograf beim Sentinel, rief Gannon auf dem Handy an.

„Steckst du in einem Zementmischer, Lee?“, fragte Gannon, als er lautes Dröhnen im Hintergrund hörte.

„Ich sitze in einer gemieteten Cessna. Die Redaktion will eine Luftaufnahme vom Tatort.“

Gannon schaute zu dem kleinen Flugzeug hinauf.

„Halte Ausschau nach einer Brandy Soundso“, fuhr Watson fort. „Das ist die Freie, die sie losgeschickt haben, um Fotos von der Umgebung zu machen. Zeig ihr alles.“

Als Brandy McCoy Kaugummi kauend eintraf, führte Gannon die freiberufliche Fotografin sofort von der Pressemeute und den Polizisten, die vor dem Absperrband standen, zu dem Zivilfahrzeug des Ermittlers, mit dem er zuvor gesprochen hatte.

Der Detective war in den Park zurückgegangen. Sein Wagen war leer; nur das Klemmbrett lag auf dem Beifahrersitz. Gannon sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand mitbekam, was er und die Fotografin vorhatten.

„Zoomen Sie da rein und fotografieren Sie die Seiten auf dem Brett. Ich brauche die Infos.“

„Kein Problem.“

Brandys Kinnmuskeln bearbeiteten das Kaugummi, während sie ein paar Aufnahmen schoss und sie Gannon zeigte.

„Prima“, lobte er und schrieb die Informationen in sein Notizbuch. „Kommen Sie. Mein Wagen steht da drüben.“

Zwanzig Minuten später steuerten Gannon und Brandy die Eingangstür des prächtigen Kolonialhauses von Helen Dodd an. Laut den polizeilichen Notizen von den Fotos war sie Immobilienmaklerin. Ihre Freundin Kim Landon besaß eine Kunstgalerie in Williamsville.

Gannon hoffte, dass Brandys Anwesenheit hilfreich sein würde. Kaum älter als ein Teenager, wirkte sie – besonders mit ihrem strahlenden Kaugummi-Lächeln – absolut harmlos.

Die Haustür wurde in dem Moment geöffnet, als sie sie erreichten. Zwei Frauen umarmten sich zum Abschied.

„Entschuldigen Sie“, unterbrach sie Gannon, „ich bin Jack Gannon, und das ist Brandy McCoy. Wir sind vom Buffalo Sentinel. Wir möchten zu Helen Dodd und Kim Landon.“

Die beiden Frauen wechselten einen überraschten Blick.

„Sind Sie das?“

Kim nickte. Helen sah unbehaglich drein. Sie sahen beide so aus, als hätten sie geweint. Aber Gannon würde nicht lockerlassen.

„Können wir mit Ihnen kurz über heute Morgen sprechen?“, bat er.

„Woher haben Sie diese Adresse?“, wollte Helen Dodd wissen.

„Nun, wir waren gerade im Park“, erklärte Gannon. „Wir haben mit Polizeibeamten und Ermittlern gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass Sie die Frau gefunden haben.“

Ein betretenes Schweigen entstand, das von Brandy unterbrochen wurde.

„Das muss schrecklich gewesen sein.“

Wieder nickte Kim.

„Es war schrecklich“, bestätigte sie.

„Darf ich mir Notizen machen?“, fragte Gannon.

„Ich weiß nicht.“ Unschlüssig betrachtete Helen ihre Presseausweise. „Sie wollen das im Sentinel veröffentlichen?“

„Ja. Wir schreiben einen Artikel darüber.“

„Das werde ich im Leben nicht vergessen“, begann Kim. „Zuerst hatten wir gedacht, jemand erlaube sich einen schlechten Scherz. Wenn man so etwas sieht, wird einem erst bewusst, was wirklich wichtig ist. Das war so entsetzlich. Ich meine, Kinder aus der Nachbarschaft spielen in diesem Park.“

„Ich hoffe, sie finden den Schweinehund, der das getan hat“, sagte Helen. „Auf jeden Fall rufe ich die Leute von der Wach- und Schließgesellschaft an, die sich um mein Haus kümmern. Sie sollen es von jetzt an besonders gut im Auge behalten.“

„Können Sie uns erzählen, wie Sie sie gefunden haben?“, bat Gannon.

„Wir gehen jeden Morgen in dieser Gegend spazieren. Dort haben wir es auch entdeckt. Sie“, verbesserte Kim sich. „Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine Puppe, die im Gebüsch lag. Aber als uns klar wurde, was es wirklich war, sind wir nicht näher gegangen.“

„Was haben sie genau gesehen?“, hakte Gannon nach.

„Wir hatten schon öfter gehört, was da draußen nachts los ist. Aber bisher habe ich es nie glauben wollen. Jetzt sind uns zum ersten Mal Kondome und Spritzen aufgefallen“, antwortete Kim.

„Sie lag in einem flachen Grab“, fuhr Helen fort. „Wir haben dunkle Haare gesehen, einen Arm, der in einer Schwimmerpose über einem Kopf lag – als ob sie in die Erde eintauchen wollte.“

Nach dem Gespräch fuhr Gannon Brandy zurück zum Tatort und bat sie, bis zum Abtransport der Leiche zu bleiben.

Er musste zurück in die Redaktion.

Sieht nach einem ziemlich hässlichen Mord aus, überlegte er, als er an seinem Schreibtisch saß. Während er ein Sandwich aus der Cafeteria aß, ging er am Computer die Liste mit den Personen durch, die in der näheren Umgebung und im ganzen Land vermisst wurden, wobei er besonders auf die Suchkriterien „eingeborene Amerikanerin oder weiß“ und „Mitte zwanzig“ achtgab.

Diese Beschreibung passt auf so viele, dachte er. Gab es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen diesem Fall und der vermissten Frau aus Vermont oder Connecticut, deren Fall er recherchierte? Er betrachtete ihre Gesichter und las aufmerksam die Personenbeschreibungen.

War eine von ihnen möglicherweise die unbekannte Tote vom Ellicott Creek? Wer war sie? Und auf welche Weise war sie ums Leben gekommen? Sie war jemandes Tochter; vielleicht auch Ehefrau oder Schwester.

Erinnerungen an seine Schwester Cora schossen ihm durch den Kopf.

Was mochte aus ihr geworden sein?

Darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Er konzentrierte sich wieder auf seine Geschichte.

„Weiß man schon, wer sie ist?“ Tim Derrick, der Ressortleiter, hatte die unangenehme Angewohnheit, sich von hinten an seine Kollegen heranzuschleichen und über ihre Schultern mitzulesen.

„Noch nicht.“

Gannon klickte die letzte Aktualisierung der Ermittler an. Mit seinem Kugelschreiber klopfte er auf die Wörter „unbekannte weibliche Person, Mitte zwanzig“.

„Sie war halb in einem flachen Grab vergraben“, erklärte Gannon.

„Jesus!“, rief Derrick. „Na ja, wir haben gute Luftaufnahmen und die Aussagen von den Spaziergängerinnen. Das wird die Titelgeschichte. Schreib etwa tausend Wörter. Und sorg dafür, dass die Onlineredaktion sie bekommt.“

„Klar.“

Derrick klopfte Gannon auf die Schulter.

„Gute Arbeit.“

„He, Tim. Was ist eigentlich dran an den Gerüchten von den Stellenstreichungen?“

Derrick schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.

„In unserem Job gibt’s doch andauernd solches Gerede.“

Als Gannon ein paar Stunden später letzte Hand an seinen Artikel legte, klingelte das Telefon.

„Hi, Jack, ich bin’s, Brandy.“

„Was tut sich draußen bei Ihnen?“

„Der Gerichtsmediziner hat die Leiche soeben abtransportieren lassen. Ich habe ein paar gute Aufnahmen gemacht und sie an die Fotoredaktion gemailt.“

„Danke. Ich werde sie mir sofort ansehen.“

Nachdem er seine Geschichte zu Ende geschrieben hatte, ging er hinüber zum Redakteur der Spätschicht, der am Schreibtisch von Paul Benning stand, dem für den Nachtdienst zuständigen Bildredakteur. Gemeinsam begutachteten sie Fotos.

„Die sind alle klasse.“ Benning klickte die besten Aufnahmen an, während er seinen Milch-Shake austrank.

Auf einer Luftaufnahme mit außergewöhnlicher Tiefenschärfe erkannte man die leuchtend gelbe Abdeckplane, die wie ein Alarmsignal mitten in einem üppig wuchernden Gebüsch lag.

Auf einem anderen Foto war das Team des Gerichtsmediziners zu erkennen. Mit grimmiger Miene luden sie einen schwarzen Leichensack, der auf eine Bahre geschnallt war, in einen Transporter.

Ein drittes Bild zeigte Helen Dodd und Kim Landon. Ihren Gesichtern war der Schock noch anzumerken. Auf einem weiteren schaute Kim zur Seite, in ihren Augen ein besorgter Ausdruck.

„Geh noch mal zurück zu dem Luftbild“, bat Gannon.

Geräuschvoll sog Benning die Reste seines Shakes durch einen Strohhalm.

„Hast du was entdeckt?“

„Möglich. Kannst du es mal vergrößern?“

Benning tat wie gewünscht.

Ruckartig kam die Abdeckplane näher – und mit ihr ein weißer Fleck an der linken Ecke. Mit jedem Klicken wuchs der Fleck, und schließlich konnte man eine Hand erkennen.

Die Hand des Opfers, die unter der Abdeckplane zum Vorschein kam.

Die Frau streckte sie aus ihrem Grab heraus, als wollte sie dem Betrachter zuwinken und ihn, quasi als letzte Bitte vor ihrem Tod, dazu auffordern, der Welt mitzuteilen, wer das getan hatte.

Damit es nicht wieder passierte.

4. KAPITEL

Etwa sechsunddreißig Stunden später, nachdem die Leiche aus ihrem flachen Grab abtransportiert worden war, fand die Obduktion im Erie County Medical Center auf der Grider Street statt, einer Querstraße vom Martin Luther King Expressway.

Als Todesursache wurde Mord festgestellt.

Mithilfe von Finger- und Zahnabdrücken konnte die Tote als Bernice Tina Hogan, dreiundzwanzig Jahre, aus Buffalo, New York, identifiziert werden. Die genaueren Umstände ihres Todes wurden von der Polizei in einer kurzen Pressemitteilung bekannt gegeben.

Kein Wort über ihr verkorkstes Leben, dachte Gannon, während er einen langen Artikel über sie schrieb. Nachdem ihr Name veröffentlicht worden war, hatten sich einige ihrer früheren Klassenkameraden bei ihm in der Redaktion gemeldet.

„Bernice hatte es nicht leicht gehabt“, erzählte ihm einer ihrer Freunde.

Ihre leiblichen Eltern hatte sie nie kennengelernt. Man hatte ihr erzählt, dass ein wenig Blut amerikanischer Ureinwohner in ihren Adern floss, möglicherweise von den Seneca. Sie war einige Jahre in einem Reservat aufgewachsen. In Allegany oder Cattaraugus, da war sie sich nicht sicher. In ihrem kurzen Leben war Bernice sich vieler Dinge nicht sicher gewesen, berichteten ihre Freunde.

Einige schickten ihm Fotos.

Auf den Bildern, steif und verlegen, ein kräftiges Mädchen mit wenig Selbstvertrauen, missbraucht von ihrem Pflegevater, der auch ihre Pflegemutter geschlagen hatte.

Irgendwie schien sie damit jedoch zunächst klargekommen zu sein. Bernice war gut in der Schule gewesen, hatte anschließend eine Schwesternpflegeschule an der Buffalo State University besucht und kurz vor ihrem Abschluss gestanden, als sie auf einer Party mit Drogen vollgepumpt und vergewaltigt worden war.

„Danach war sie vollkommen verzweifelt. Es sah so aus, als hätte sie sich aufgegeben. Sie begann den Unterricht zu schwänzen“, berichtete eine Freundin.

Bernice war cracksüchtig geworden. Nur wenige Leute wussten, dass sie auf ihrem Weg nach unten in die Prostitution abgerutscht war – ein Weg, der in einem provisorischen Grab unter dem Gestrüpp von Ahornbüschen am Ellicott Creek endete.

Gannon hätte gern mit Bernice’ Familie gesprochen, aber niemand wusste, wer ihre Pflegemutter gewesen war oder wo sie wohnte. Deshalb führte er in den nächsten Tagen zahlreiche Telefongespräche, bis er auf eine Spur stieß.

„Ihr Name ist Catherine Field, aber von mir wissen Sie das nicht“, verriet ihm ein Mitarbeiter des städtischen Sozial- und Wohnungsamtes.

Catherine Field war eine neunundfünfzigjährige, zuckerkranke Witwe, die in einem der älteren Stadtbezirke westlich der Main Street wohnte und von der Wohlfahrt lebte. Gannon war mehrfach zu der angegebenen Adresse gefahren, jedoch jedes Mal vergebens.

Es war nie jemand zu Hause.

Doch so schnell gab er nicht auf. Er würde sie schon noch antreffen.

Vielleicht habe ich heute Glück, überlegte er, als er wieder einmal an dem Haus vorbeirollte, in dem Catherine Bernice großgezogen hatte. Es war ein kleines zweistöckiges Holzhaus, errichtet im Überschwang jener Zuversicht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geherrscht hatte. Jetzt aber, mit der abblätternden Farbe, den fehlenden Dachschindeln und dem verwitterten Windfang vermittelte es eher den Eindruck einer begrabenen Hoffnung.

Die Fensterläden der Nachbarhäuser waren zugenagelt, und auf dem unbebauten Grundstück in der Nähe lungerten einige alte Männer neben einem ausgeweideten Ford Pinto herum und ließen eine Flasche in einer Papiertüte kreisen.

Erinnerungen an seine Schwester kamen ihm in den Sinn, ehe er sich wieder auf seine Geschichte und das Haus konzentrierte, das er im Vorbeifahren aufmerksam betrachtete. Seine Hoffnung wuchs, als er eine Frau im Hinterhof entdeckte.

Dieses Mal parkte er außer Sichtweite einen Block weiter unten und näherte sich dem Haus von einer anderen Straße, die zum hinteren Teil des Grundstücks führte. Eine Frau in den Fünfzigern war mit ihrem Blumengarten beschäftigt, der sich hinter der altersschwachen Veranda erstreckte.

„Catherine Field?“

Sie drehte sich zu ihm um. Die Hoffnungslosigkeit eines harten Lebens hatte tiefe Linien in ihr Gesicht gezeichnet. Unsicher starrte sie ihn aus rot geränderten Augen an.

„Sind Sie Catherine Field, Bernice Hogans Pflegemutter?“

„Wer sind Sie?“

„Entschuldigen Sie.“ Gannon fischte nach seinem Presseausweis. „Jack Gannon, Reporter vom Buffalo Sentinel.

Wie aufs Stichwort wirbelte ein Windstoß einige Seiten der News und des Sentinel auf, die auf einem kleinen Tisch zwischen zwei Stühlen gelegen hatten. Auf dem Tisch standen auch ein Glas und eine halb leere Whiskeyflasche.

„Ich versuche schon seit einiger Zeit, Sie zu erreichen“, sagte er.

„Ich musste mich um die Beisetzung meiner Tochter kümmern.“

„Das tut mir leid. Mein aufrichtiges Beileid. Die Beerdigung wurde nirgendwo angezeigt.“

„Es sollte im engsten Familienkreis bleiben. Mein Bruder besitzt eine Grabstätte auf einem kleinen Friedhof. Sie liegt auf einem Hügel. Von dort aus kann man in einen Apfelgarten sehen.“

„Wo ist sie?“

„Das möchte ich nicht sagen.“

„Verstehe. Kann ich mit Ihnen über Bernice sprechen?“

„Meinetwegen. Ich bin aber nicht gut drauf.“

Sie lud ihn ein, sich auf die Terrasse zu setzen. Einen Drink lehnte Gannon ab. Catherine goss sich selbst einen ein, ließ den Blick über ihren kleinen Garten wandern und begann mit leiser Stimme. Sie erzählte ihm, dass Bernice’ Mutter noch ein Kind gewesen war, vierzehn Jahre alt, als sie ihr Baby zur Adoption freigegeben hatte.

Bernice wurde allerdings niemals adoptiert. Stattdessen reichte man ihren Fall von Amt zu Amt weiter. Catherine und ihr Mann Raife, ein Schreiner, wurden Bernice’ Pflegeeltern, als sie elf war. Da wusste sie bereits, dass sie von ihrer echten Mutter aufgegeben worden war.

„Ich habe sie geliebt und mich immer wie ihre Mutter gefühlt. Aber sie zog es vor, mich Catherine zu nennen, niemals Mom. Ich glaube, das war ihre Art, sich und ihre Gefühle zu schützen, denn sie hatte schon so viele ‚Moms‘ gehabt. Niemand würde wirklich ihre Mutter sein können.“

Nicht lange nachdem Bernice zu ihnen gekommen war, hatte Raife mit dem Glücksspiel und dem Trinken angefangen. Er wurde gewalttätig und missbrauchte Bernice und Catherine. Schließlich verließen sie ihn.

„Für den Rest meines Lebens werde ich es bedauern, nicht mehr getan zu haben, um sie zu beschützen.“

Catherine betrachtete ihr Glas, ehe sie einen Schluck nahm.

„Sie war ein kluges Mädchen. Hat andauernd gelesen. Ich habe mich so für sie gefreut, als sie das Haus verließ, sich ein eigenes Apartment nahm und aufs College ging. Ich war stolz auf sie. Sie hatte ihren Weg gefunden. In einem Sterbehospiz in Niagara Falls hat sie volontiert. Ich wusste, dass sie es schaffen würde. Dann ist diese schlimme Sache passiert.“

„Ihre Freunde haben mir von der Party erzählt.“

„Sie glauben, dass ihr jemand etwas in den Drink getan hat. Sie hat das nie überwunden. Sie hat Drogen genommen, um darüber hinwegzukommen. Weder mit mir noch mit anderen wollte sie darüber reden. Und dann habe ich erfahren, dass sie wegen ihrer Drogenschulden auf die Straße gegangen ist.“

Tränen liefen Catherine übers Gesicht.

„Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen oder mit ihr gesprochen?“

Catherine wischte sich die Tränen ab und nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.

„Vor ungefähr einem Monat hat sie mich angerufen und gesagt, dass sie versuche, clean zu werden und von der Straße wegzukommen. Und dass ihr einige Freunde dabei helfen würden.“

„Hat sie die Namen der Freunde erwähnt?“

Catherine schüttelte den Kopf.

„Sie dürfen nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, in der Zeitung bringen.“

„Aber ich recherchiere für einen Artikel über den Tod Ihrer Tochter. Ich muss es veröffentlichen.“

„Nein. Sie dürfen nichts davon drucken.“

„Catherine, ich habe Ihnen gesagt, dass ich Reporter bin. Ich habe mir die ganze Zeit Notizen gemacht. Diese Tragödie ist längst in der Öffentlichkeit bekannt. Hat Bernice davon gesprochen, dass ihr irgendjemand etwas antun wollte?“

„Ich darf nichts erzählen. Sie haben mir gesagt, dass ich nicht mit der Presse sprechen darf.“

„Wer?“

Catherine stand auf.

„Bitte, Sie dürfen das nicht schreiben. Sie müssen jetzt gehen.“

„Warten Sie – wer hat Ihnen verboten, etwas zu sagen?“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Verraten Sie mir wenigstens, wer Ihnen verboten hat, mit der Presse über den Mord an Ihrer Tochter zu sprechen?“

Sie musterte ihn mit einem langen, durchdringenden Blick.

„Die Polizei.“

5. KAPITEL

Zwei Tage nach der Identifizierung ihrer Leiche prangte Bernice Hogans Foto auf der Titelseite des Sentinel. Ihr schüchternes Lächeln ließ Gannon nicht mehr los.

Die Schlagzeile über dem Bild lautete:

Mord an einer Frau mit gebrochenem Herzen

Der tragische Lebensweg einer Schwesternschülerin

Es war die Geschichte einer bedauernswerten jungen Frau, deren Zukunft sich trotz allem verheißungsvoll anließ. Einer Frau, die ungeachtet der erlittenen Nackenschläge darum bemüht war, ihr Leben anderen zu widmen und ihnen beizustehen. Gannons einfühlsamer Bericht war länger als seine früheren Artikel und enthielt Details, die den meisten Lesern – einschließlich seiner Kollegen bei der Konkurrenz – noch unbekannt waren.

Nicht schlecht, dachte er, während er am Schreibtisch saß und seine Geschichte in der aktuellen Ausgabe und in der Onlineversion noch einmal las.

Tim Derrick schlenderte vorbei. Er trank Kaffee aus einem Becher mit dem Logo der Zeitung.

„Nate gefällt deine Story.“ Derrick deutete zum Eckbüro von Nate Fowler, dem Chefredakteur der Zeitung, in dessen Hand das Schicksal von fünfundsiebzig Journalisten lag. Man brauchte nur seinen Namen zu erwähnen, um sicherzugehen, dass Anweisungen schnell befolgt wurden. Andererseits sorgte er für große Unsicherheit unter den Mitarbeitern.

Fowler war kein Journalist. Er war ein despotischer Bürokrat. Gannon kam mit ihm längst nicht so gut zurecht wie mit den anderen Ressortleitern.

„Hat er sonst noch was gesagt?“, wollte Gannon wissen.

„Er will, dass du dich ausschließlich um diesen Mord kümmerst und dafür sorgst, dass wir die Nase vorn haben. Er meint, wir brauchen solche Knaller, um die Auflage zu steigern und zu überleben.“ Mit einem Augenzwinkern richtete Derrick den Finger wie eine Pistole auf Gannons alte Zeitungsausschnitte, die für den Pulitzer-Preis nominiert worden waren. „Und wenn einer damit ein Tor landen kann, dann bist du’s.“

Gannon teilte seinen Optimismus nicht.

Er brauchte heute eine gute Fortsetzungsgeschichte, aber er hatte ein Problem.

Die New Yorker Bundespolizei leitete die Untersuchungen im Fall Hogan. Er hatte die Namen der Ermittler auf den jüngsten Pressemitteilungen aufmerksam studiert: Michael Brent und Roxanne Esko. Leider kannte er die verantwortlichen Detectives nicht.

Er hatte sie zu erreichen versucht, aber sie reagierten nicht auf seine Anrufe. Natürlich hätte er an ihnen vorbei recherchieren können, aber das hätte bedeutet, von seinen Gewährsleuten zu verlangen, sich ziemlich weit aus dem Fenster zu lehnen, um ihn mit Informationen zu versorgen.

Verlässliche Quellen hatte er praktisch überall: bei den Mordkommissionen von Buffalo, Erie County, Amherst, Cheektowaga, beim FBI, den Zoll- und Grenzbehörden, der Drogenfahndung, beim United States Marshals Service im Justizministerium – bei nahezu jeder Behörde in der Gegend.

Aber von keiner erfuhr er besonders viel.

Vielleicht hing es mit Catherine Fields Bemerkung zusammen, die Polizei habe ihr eingeschärft, nicht mit der Presse zu reden. Zuerst hatte er dem nicht allzu viel Bedeutung beigemessen, denn Detectives baten die Angehörigen von Opfern häufig, nicht mit Reportern zu sprechen, vor allem nicht während der ersten Tage einer Ermittlung.

Doch als er nun am Computer saß und nach einem neuen Aspekt für seinen Artikel suchte, fragte er sich, ob das wirklich ein Grund sein könnte. Er wurde das Gefühl nicht los, etwas zu übersehen.

„Der Fall Hogan wird als Top-Secret-Angelegenheit behandelt“, hatte ihm ein Informant verraten. „Ich habe mitbekommen, dass ein paar Leute, die damit näher zu tun haben, ziemlich schockiert waren über das, was der Typ mit ihr angestellt hat. Es soll wohl alles Vorstellbare überschreiten.“

Von einer anderen Quelle hatte er erfahren, dass weitere Strafverfolgungsbehörden um Unterstützung gebeten worden waren – vielleicht wegen der Gegend, in der sie gefunden worden war, möglicherweise auch aufgrund anderer Schwierigkeiten.

„Ich erzähle Ihnen mal etwas, was noch kein anderer Reporter weiß“, hatte der Informant fortgefahren. „Zurzeit findet eine Konferenz mit einer Menge Polizisten aus allen möglichen Abteilungen statt. Sie tagen schon den ganzen Morgen hinter verschlossenen Türen draußen in den Clarence Barracks.“

Entschlossen griff Gannon nach seinem Jackett.

Er wollte hinausfahren und versuchen, jemanden zum Reden zu bringen.

Die Clarence Barracks, ein unscheinbares einstöckiges Gebäude, lagen auf der Mainstreet im verschlafenen Vorort Clarence östlich von Buffalo. Hier saßen die Beamten der New Yorker Bundespolizei, die für die östliche und nordöstliche Erie County zuständig waren.

Als Gannon eintraf, war die junge Frau an der Rezeption gerade in ein privates Telefongespräch vertieft, wobei sie mit ihrem Kugelschreiber spielte.

„Ich habe schon die ganze Woche ausgeholfen, und ausgerechnet jetzt kommt dieser große Fall … eine Konferenz jagt die andere, es herrscht Hochbetrieb – eine Sekunde mal, Charlene.“ Sie legte die Hand über die Sprechmuschel. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich würde gern mit Michael Brent oder Roxanne Esko sprechen. Ich komme vom Buffalo …

„Sie sind alle in einer Sitzung, dritte Tür rechts.“ Sie deutete mit dem Kugelschreiber in den Flur. „Ich soll alle dahin schicken.“ Dann widmete sie sich wieder ihrem Gespräch. „Wie bitte? Sie ist schwanger? Um Himmels willen. Die wievielte ist das denn jetzt?“

„Aber ich bin vom Buffalo Sentinel.

Ohne auf seine Worte zu achten, zeigte die Empfangsdame mit ihrem Stift unbeirrt in die angegebene Richtung.

„Gehen Sie nur“, forderte sie Gannon auf. „Ist schon in Ordnung. Alle nehmen an der Sitzung teil.“

Er zögerte nur so lange, wie es dauerte, bis die Rezeptionistin den Knopf betätigte, der die Sicherheitstür öffnete. Als er über den Korridor lief, konnte er das Knacken des Fußbodens förmlich hören, denn er bewegte sich auf moralisch dünnem Eis. Nur aufgrund eines harmlosen Missverständnisses war er unversehens in den inneren Kreis geraten, der sich um die Auflösung des Mordes an Bernice Hogan kümmerte. Die Tür zum Konferenzzimmer stand halb offen. Er hörte laute Stimmen.

Wie sollte er sich verhalten?

Er könnte anklopfen, sich vorstellen und um ein Gespräch mit Brent oder Esko bitten. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie ihn fortschicken und ihm sagen würden, er solle in der Lobby warten.

In diesem Moment wurde die Tür ganz geöffnet, und ein Mann, den er nicht kannte, verließ das Besprechungszimmer. Er hatte sein Handy am Ohr. Gannon wandte ihm den Rücken zu und beugte sich über einen Wasserspender, als der Mann ihm entgegenkam und mit lauter Stimme in sein Telefon sprach.

„Sagen Sie Walt, dass es sich bei dem Hogan-Fall um eine verdammt verzwickte Angelegenheit handelt“, rief er in sein Handy. „Es ist kaum zu glauben, in welche Richtung die Ermittlungen derzeit gehen. Sie halten die Angelegenheit fest unter Verschluss. Entschuldigung, aber ich muss zurück.“

Der Mann kehrte ins Zimmer zurück, und Gannon näherte sich langsam der Tür.

Sie war nur angelehnt. Erregtes Stimmengewirr drang auf den Flur hinaus.

„Das glaube ich nicht.“

„Schauen Sie sich doch an, was wir bisher haben.“

„Was Sie bisher haben, sind doch nur Gerüchte, Mike.“

Gannons Atem ging schneller. Durch den Türspalt konnte er einen Teil eines großen Whiteboards erspähen, auf das ein paar Angaben geschrieben waren – Zeiten, Daten, Straßen, Pfeile. Deutlich erkannte er Initialen, die mit einem blauen Filzstift unter der Überschrift „Verdächtige“ notiert worden waren. Eine gespreizte Hand schlug auf die Buchstaben, um ein Argument, das jemand vorgebracht hatte, zu bekräftigen.

„Nach allem, was wir bis jetzt haben, nach allen Spuren, denen wir gefolgt sind, ist dieser Kerl unser Hauptverdächtiger und steht im Mittelpunkt unserer Ermittlungen.“

Die Hand verschwand.

Mit klopfendem Herzen vergewisserte Gannon sich, dass er unbeobachtet war. Dann trat er noch einen Schritt näher und sah die Initialen des Verdächtigen.

K. S.

Wer war das?

„Das ist Blödsinn, Mike, lassen Sie es sich gesagt sein.“

Gannons Blick fiel auf eine Person, die er kannte.

„Wie können Sie da so sicher sein? Wir kaufen Ihnen das jedenfalls nicht ab.“

„Es ist ja noch nicht endgültig. Hören Sie, vor uns liegt noch eine Menge Schwerstarbeit, aber angesichts dessen, was wir haben, deutet alles auf ihn. Er ist der Gesuchte.“

„Lassen Sie mich mal zusammenfassen, um zu sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Aufgrund der Informationen, die Ihnen zwei Crack-Huren von der Niagara Street gesteckt haben, wollen Sie uns ernsthaft weismachen, dass ein Cop, ein dekorierter Detective, Ihr Hauptverdächtiger im Fall Hogan ist?“

Ein Cop?

Gannon erstarrte.

Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

6. KAPITEL

Gannon drehte sich um und schaute in das verdutzte Gesicht der Empfangsdame.

„Gehen Sie denn nicht rein?“, fragte sie ihn. Sie trug einen Stapel Akten, den sie offensichtlich abliefern wollte.

„Nein, ich wollte gerade gehen.“ Er sprach mit unterdrückter Stimme. „Ich muss zurück.“ Er drehte sich um.

„Ich habe ganz vergessen, dass Sie sich eintragen müssen“, rief sie ihm hinterher. „Aber wenn Sie ohnehin schon wieder gehen, ist es wohl egal.“

Gannon dankte ihr mit einer Handbewegung, und sobald er das Gebäude verlassen hatte, begann er, zum Parkplatz zu laufen. Als er den Motor startete, schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Auf der Fahrt rekapitulierte er, was er an Informationen mitbekommen hatte.

Ein Detective war der Hauptverdächtige im Mordfall Bernice Hogan.

Das war eine große Sache. Geradezu gewaltig.

Den Kollegen aus der Nachrichtenredaktion würde er es noch nicht mitteilen. Er musste das für sich behalten, bis die Sache wasserdicht war.

Niemals mehr verkaufen, als man liefern konnte.

Eins nach dem anderen.

Zunächst musste er in Erfahrung bringen, wer hinter den Initialen K. S. steckte und in welcher Abteilung der Verdächtigte arbeitete. Da er keinen Schimmer hatte, um wen es sich handeln konnte, fuhr er als Erstes zur Zentralstelle der öffentlichen Bibliothek von Buffalo und Erie County in der Innenstadt. Das Institut nahm zwei Häuserblocks am Lafayette Square ein.

Er setzte sich an einen der frei zugänglichen Computer und loggte sich in die nach Abteilungen geordnete Datei der städtischen Angestellten von Buffalo ein. Das Polizei-Department von Buffalo war das größte in der gesamten Region.

Fangen wir hier an, überlegte er, während er das Verzeichnis mit den Beamten überflog, deren Nachname mit S begann.

Verflucht.

Sie waren nicht alphabetisch, sondern nach Dienstrang geordnet. Mehr als achthundert Polizisten zu überprüfen würde Zeit kosten. Seite für Seite verschwamm vor seinen Augen, ehe er ein K. S. entdeckte.

Ken Smith. Noch einer. Kim Sailor. Ein weiterer. Kent Sanders. Und noch einer. Kevin Sydowski.

Am Ende standen neun Kandidaten im Polizeirevier von Buffalo auf seiner Liste. Anschließend klickte er die Datei der Angestellten im Sheriff-Büro von Erie County an. Nachdem er vierhundert Namen durchsucht hatte, notierte er drei weitere Namen: Kal Seroudie, Kyle Sawchuk und Keen Sanchez.

Doch es gab noch zahlreiche Polizeiabteilungen, die im Großraum von Buffalo aktiv waren – etwa die von Cheektowaga, Amherst, Hamburg, North Tonawanda, West Seneca und Ascension Park, um nur ein paar zu nennen.

Unermüdlich durchforstete er eine Datenbank nach der anderen.

Mit der Zeit wurde ihm klar, dass er niemals alle schaffen würde. Er hielt inne, um zu überlegen. Bis jetzt hatte er etwa sechzehn Männer gefunden, die infrage kamen, aber es war dennoch die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Er brauchte jemanden, der ihm den Namen bestätigte.

Also versuchte er es auf eine andere Weise.

Er überließ den Computer sich selbst, ging zu einem Fernsprecher und wählte die Privatnummer der Person, die er bei der Konferenz gesehen hatte. Mit diesem Informanten hatte er schon länger nicht mehr gesprochen, deshalb zögerte er zunächst, die Person zu kontaktieren. Aber es stand einfach zu viel auf dem Spiel.

Niemand hob ab.

Er hinterließ eine Nachricht und kehrte zurück in die Redaktionsräume, wo die übliche Mittagshektik herrschte. Reporter telefonierten, hämmerten auf Tastaturen ein oder steckten die Köpfe mit Redakteuren zusammen, um über Artikel zu diskutieren. Gannon hatte sich ein mit Speck, Salat und Tomaten belegtes Sandwich in der Cafeteria besorgt und bahnte sich einen Weg zu seinem Schreibtisch.

„Hi, Jack, was hast du für uns?“ Tim Derrick wedelte mit seinem Klemmbrett, auf dem er die Artikel für die Ausgabe des nächsten Tages notierte. „Ich bin auf dem Weg in die Konferenz. Du stehst mit einer Weiterdrehe bei den Ermittlungen im Fall Hogan auf meiner Liste.“

„Ich warte noch auf Infos. Ich sag dir sofort Bescheid, wenn ich sie habe.“

„Vergiss nicht, Nate erwartet einen Knaller von dir.“

Kaum hatte Gannon sich an seinen Schreibtisch gesetzt, um sein Sandwich zu essen, klingelte sein Telefon. Nachdem er zwei Bissen hastig hinuntergeschluckt hatte, nahm er den Hörer ab.

„Jack Gannon, Buffalo Sentinel.

„Ich habe deine Nachricht bekommen.“

Die Nummer des Anrufers erschien nicht im Display, aber er kannte die Stimme.

„Danke. Ist schon ’ne Weile her“, begann er. „Wie geht’s denn so?“

„Ach, das muss ich dir doch nicht wirklich erzählen. Unkraut vergeht nicht. Und selbst?“

„Ich steh ein bisschen auf dem Schlauch. Du musst mir einen Gefallen tun.“

„Hat es mit Hogan zu tun?“

„Ich habe gehört, sie haben einen Cop im Visier?“

Die Stille dröhnte in seinem Ohr.

„Warum fragst du mich?“, wollte der Anrufer wissen.

„Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht etwas weißt. Ich höre mich überall um.“

Wieder entstand ein längeres Schweigen.

„Hör mal“, begann Gannon erneut. „Ich brauche eine Bestätigung für das, was ich erfahren habe. Ich glaube, die Initialen des Verdächtigen sind K. S., aber mir fehlen noch weitere Einzelheiten.“

Nachdem er eine Weile überlegt hatte, sagte die Person am anderen Ende der Leitung: „Jack, du musst mir garantieren, dass du die Quelle dieser Auskunft unbedingt für dich behältst.“

„Du hast mein Wort.“

„Du erwähnst meinen Namen gegenüber niemandem.“

„Garantiert.“

„Es stimmt. Deine Information ist korrekt.“

Gannon starrte ins Leere. Sein Atem ging schneller.

„Und sie stammt aus dem Kreis der Ermittler?“, hakte er nach.

„Korrekt. Ich war heute bei einer Sitzung dabei.“

„Ich weiß. Wer ist der Polizist?“

„Ein Detective im Polizeirevier von Ascension Park.“

„Verrätst du mir seinen Namen?“

„Karl Styebeck.“

Gannon schraubte die Kappe von seinem Federhalter, suchte eine neue Seite in seinem Notizbuch und begann zu schreiben. Er bekam nicht mehr mit, was im Nachrichtenraum passierte.

Styebeck.

„Den Namen habe ich schon mal gehört“, überlegte Gannon laut.

„Schau mal in deinen Archiven nach. Er ist so was wie ein Held.“

„Bist du absolut sicher, dass wir den Namen in der Zeitung nennen können?“

„Todsicher.“

„Vielen Dank.“

Mit dem Füller zwischen den Zähnen begab Gannon sich im Onlinearchiv des Sentinel auf die Suche. Er klickte sich durch die Dateien sämtlicher Zeitungen in der Region, den Websites des Polizeireviers in Ascension Park und verschiedener Gemeindeverwaltungen.

Kurz darauf hatte er genügend Stoff aus den Regionalzeitungen für eine kurze Biografie gesammelt.

Karl Styebeck war ein vielfach dekorierter Polizist, seit zwölf Jahren im Dienst. Er trainierte Kindersportgruppen, engagierte sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und hielt Vorträge in den Schulen von Ascension Park, in denen er die Kinder vor allzu großer Vertrauensseligkeit gegenüber Fremden warnte. Sonntags besuchte er mit seiner Frau Alice und seinem Sohn Taylor die Kirche. Manchmal sang er im Chor mit.

Der Kerl ist ein Heiliger.

Vor einigen Jahren kam Styebeck von einem Spiel der Buffalo Bills, das er in seiner Freizeit besucht hatte, an einem brennenden Haus vorbei. Er war in das Gebäude gerannt und hatte vier Kinder aus den Flammen gerettet. Ihre Eltern waren in ein Casino bei den Niagara-Fällen gegangen und hatten sie allein zu Hause gelassen. Für seinen Mut erhielt Styebeck eine lobende Erwähnung von seinem Vorgesetzten.

Und jetzt stand er im Verdacht, eine Schwesternschülerin ermordet zu haben.

Diese Information musste Gannon sich von der Bundespolizei bestätigen lassen.

Er rief in den Clarence Barracks an und bat darum, eine dringende Nachricht an Michael Brent, den Chefermittler, weiterzuleiten.

„Worum geht’s?“, fragte der diensthabende Polizist.

„Um eine Information bezüglich des Hogan-Mords.“

„Ich leite Ihre Nachricht an ihn weiter.“

Fünf Minuten später klingelte Gannons Telefon.

„Hier ist Mike Brent von der Bundespolizei New York.“

„Danke, dass Sie mich zurückrufen, Sir. Ich würde gerne Ihre Meinung zu einem Artikel hören, der morgen im Sentinel erscheinen soll und der besagt, dass Detective Karl Styebeck vom Polizeirevier in Ascension Park der Hauptverdächtige im Mordfall Bernice Hogan ist.“

Brents Reaktion war ein eisiges Schweigen, das mehrere Sekunden anhielt.

„Ich kann Ihre Information nicht bestätigen“, antwortete Brent schließlich.

„Ist meine Information falsch?“

Schweigen.

„An Ihrer Stelle würde ich so etwas nicht schreiben. Sie ersparen sich damit eine Menge Ärger.“

„Wie bitte? Entschuldigung, aber ich verstehe nicht recht …“

„Ich kann Ihre Information nicht bestätigen.“

„Aber Sie bestreiten sie auch nicht?“

„Ich denke, wir sollten das Gespräch beenden.“

„Sir, Sie dementieren also nicht, dass Styebeck ein Verdächtiger ist?“

Brent legte auf.

Gannon umkringelte die Aussagen, die er von Brent erhalten hatte, und überlegte. Brent hätte ihn nicht gewarnt, Stillschweigen zu bewahren, wenn seine Informationen falsch gewesen wären. Denn wären sie falsch, hätten sie Brent nicht interessiert, woraus Gannon schloss, dass er mit seinen Erkenntnissen ins Schwarze getroffen haben musste.

Auf keinen Fall würde er auf einer so großen Story sitzen bleiben und riskieren, dass die Kollegen von den Buffalo News ihn abkochten.

Jetzt musste er nur noch eine Person mit seinen Informationen konfrontieren.

Karl Styebeck persönlich.

7. KAPITEL

Karl Styebecks Anschrift und Nummer standen nicht im Telefonbuch. Die meisten Polizisten verzichteten auf einen Eintrag, um ihre Familie nicht zu gefährden.

Gannon hatte eine Idee.

Nachdem er sein Sandwich aufgegessen hatte, griff er zum Hörer und wählte eine interne Nummer.

„Vertriebsabteilung. Sie sprechen mit Ashley.“

„Hi, Ash. Ich bin’s, Jack aus der Redaktion.“

„Jack Gannon?“

Er war ein paarmal mit Ashley Rowe ausgegangen, nachdem er sie bei einer Weihnachtsfeier der Redaktion kennengelernt hatte. Sie hatten sich ganz gut verstanden, aber sie glaubten beide nicht, dass es von Dauer wäre. Also hatten sie sich in aller Freundschaft getrennt. Jedenfalls dachte er das.

„Bist du’s, Ashley?“

„Ja, Jack. Was gibt’s?“

„Kannst du einen Namen für mich herausbekommen? Aus der Abonnentenliste? Styebeck, Karl Styebeck. Karl mit K, und der Nachname lautet S-t-y-e-b-e-c-k.“

„Du weißt, dass es gegen die Firmenpolitik verstößt, die Namen unserer Abonnenten herauszugeben.“

„Das verstehe ich vollkommen. Aber es ist für einen Artikel.“

Gannon hörte einen verärgerten Seufzer und das Klappern der Tastatur.

„Ja, wir haben tatsächlich einen Abonnenten, der so heißt, und die Telefonnummer und Adresse, die ich dir nicht nennen darf, lauten …“

Gannon schrieb mit.

„Ich stehe tief in deiner Schuld“, sagte er.

„Das sehe ich genauso.“

Gannon wählte Karl Styebecks Privatnummer. Eine Frau nahm den Anruf entgegen.

„Tut mir leid, Karl ist im Moment nicht zu Hause.“ Sie klang sehr freundlich. „Er betreut gerade ein Spiel im Franklin Diamond. Soll ich ihm etwas ausrichten?“

„Danke, nicht nötig.“

Gannon hatte ihr nicht gesagt, wer er war.

Er fotokopierte Styebecks Bild, das vor Kurzem in einer Regionalzeitung veröffentlicht worden war, und machte sich auf den Weg nach Ascension Park.

Es war eine gewachsene Mittelklassegegend. Alte Bäume, deren Äste sich über gepflegten Häusern wölbten, säumten die Straßen. Das Franklin-Diamond-Sportzentrum bestand aus einem Spielplatz sowie Basketball- und Tennisplätzen, auf denen reger Betrieb herrschte. Auf den unüberdachten Tribünen rings um das Basketballfeld saßen vereinzelt Eltern, die die Teilnehmer eines Spieles anfeuerten, das in vollem Gange war.

Gannon schlenderte zu den Bänken hinüber, bis er nahe genug war, um die Trainer erkennen zu können. Zufrieden blieb sein Blick am Gesicht von Styebeck hängen. Der Polizist lehnte an einem brusthohen Maschendrahtzaun. Während er die Spieler beobachtete, trank er Mineralwasser aus der Dose.

„Mach schon, Bobbie“, rief er seinem Pitcher zu. „Zeig ihnen, was eine Harke ist.“

Gannon stellte sich neben ihn und wartete, bis die Partie ein wenig ins Stocken geriet. Styebeck zog eine zusammengerollte Spielerliste aus seiner Gesäßtasche, als Gannon ihn ansprach.

„Entschuldigen Sie – Detective Styebeck?“

Tief liegende, scharf blickende Augen in einem Gesicht, das kalt und ruhig war wie die Oberfläche eines gefrorenen Sees, richteten sich auf Gannon. Der Mann war Anfang vierzig und knapp einen Meter neunzig groß, von mittlerer Statur mit einem muskulösen, kompakten Brustkorb und kräftigen Armen. Er trug eine Schirmmütze, ein Baseball-Shirt und Jeans.

„Detective Karl Styebeck?“

Styebeck nickte.

„Jack Gannon vom Buffalo Sentinel.“

„Vom Sentinel? Ihr berichtet doch nie über unsere Spiele.“

„Deshalb bin ich auch nicht hier, Sir.“

Gannon deutete mit dem Kopf auf einen freien Picknicktisch neben einem Baum, knapp dreißig Meter von der First Base entfernt.

„Können wir uns kurz unterhalten?“, schlug Gannon vor.

„Ich bin beschäftigt. Worum geht’s denn?“

„Um Bernice Hogan.“

„Dann zeigen Sie mir mal besser Ihren Ausweis.“

Gannon zog seinen Presseausweis hervor. Styebeck prüfte ihn und gab ihn Gannon zurück, ehe er ihn zu dem Picknicktisch begleitete.

„Was wollen Sie?“ Styebeck verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich möchte eine offizielle Erklärung von Ihnen.“

Gannon hielt ihm sein kleines Aufnahmegerät vors Gesicht.

Styebeck betrachtete den Apparat, ohne eine Miene zu verziehen.

„Sir, ich hätte gern Ihre Stellungnahme zu einem Artikel, den wir morgen veröffentlichen und in dem Ihr Name vorkommt – als Verdächtiger im Mordfall Bernice Hogan.“

Styebecks Augen wurden schmal.

„Was? Soll das ein Witz sein?“

„Ich habe erfahren, dass Sie im Verdacht stehen, Bernice Hogan ermordet zu haben, die Schwesterschülerin, deren Leiche …“

„Ich weiß, wer sie ist. Ich bearbeite den Fall zusammen mit der Bundespolizei. Ich weiß nicht, aus welcher Ecke das kommt, aber Ihre Information ist absoluter Blödsinn.“

„Ich werde Sie wörtlich zitieren, Sir.“

Styebeck zerquetschte seine Mineralwasserdose mit den Fingern. In diesem Moment kamen ihnen zwei Jungen entgegengelaufen, die Trikots mit der Aufschrift Kowalskis Abschleppdienst trugen.

„Trainer, wir sind so weit“, sagte einer der Jungen. „Wer schlägt?“

Styebeck starrte Gannon wütend an.

„T. J. ist dran, Dallas ist komplett.“

„Trainer, Sie bluten.“

Styebeck hatte sich mit dem scharfen Blech in die Finger geschnitten. Blut tropfte zu Boden und hinterließ feuchte Flecken auf der Erde. Gannons Blick wanderte von den dunkelroten Punkten hinauf zu Styebecks Gesicht. Ein eiskalter Ausdruck war in seine Augen getreten.

„Ich bin okay, Jungs. Lasst uns weiterspielen.“

Styebeck hielt inne, beugte sich zu Gannon und senkte die Stimme. „Sehen Sie sich ja vor, Arschloch.“

Styebeck ging zurück zum Spielfeld und ließ Gannon stehen. Der blies die Backen auf und stieß die Luft ganz langsam wieder aus.

Bevor er sich auf den Weg zu seinem Wagen machte, kontrollierte er seine Aufnahme.

Als er beim Sentinel eintraf, griff Tim Derrick gerade nach seiner Aktentasche und übergab das Tagesgeschäft an Ward Wallace, den Spätdienstredakteur.

Gannon gesellte sich zu ihnen und berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte.

„Der Hauptverdächtige im Mordfall Bernice Hogan ist ein Detective, der an den Ermittlungen beteiligt ist.“

Wallace und Derrick wechselten einen Blick.

„Himmel, das ist eine verdammt gute Story.“ Wallace winkte Ed Sikes zu sich, den für die Seite eins verantwortlichen Redakteur. Sie benutzten das verwaiste Büro des Stadtredakteurs für eine improvisierte Konferenz.

Wallace nahm seine Brille ab und klopfte sich damit gegen das Kinn, während andere Kollegen vom Spätdienst zu ihnen stießen.

„Das ist pures Dynamit“, meinte Derrick. „Wie bist du daran gekommen?“

„Ich habe es draußen in den Clarence Barracks aufgeschnappt. Anschließend habe ich’s mir von einem Informanten bestätigen lassen.“

„Wer ist deine Quelle?“, wollte Sikes wissen.

„Die Person ist an der Untersuchung beteiligt. Ich kann den Namen nicht preisgeben.“

„Warum nicht?“

„Weil es so abgemacht ist.“

„Die Vorgehensweise verlangt aber, dass du uns Namen nennst, Jack. Selbst wenn wir sie nicht verwenden“, erinnerte ihn Sikes.

„Ich weiß, aber in diesem Fall geht das bis in den innersten Zirkel hinein. Kommt schon! Ich habe mein Wort gegeben. Auf diese Weise haben wir doch auch die Flugzeug-Geschichte gekriegt. Eine ungenannte Quelle hat uns die Info gesteckt.“

„Aber das hattest du auch schriftlich“, gab Sikes zu bedenken. „Hast du bei diesem Tipp auch etwas auf Papier? Einen Durchsuchungsbefehl? Einen Polizeibericht? Ein Memo?“

„Nein, nicht direkt.“

„Was soll das heißen – nicht direkt?“

„Meine Information ist jedenfalls wasserdicht.“

„Jack, ist die Quelle dieser Information vielleicht ein Polizist?“, wollte Wallace wissen.

„Ja.“

„Von der New Yorker Bundespolizei?“

„Mein Informant ist ein Polizist, der an den Ermittlungen beteiligt ist. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich habe es versprochen.“

„Das ist ein Knaller“, meinte Derrick. „Mit wem hast du sonst noch gesprochen?“

Gannon erzählte es ihnen.

„Jesus.“ Wallace fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Genau so eine Story brauchen wir. Er hat den Ermittler auf Band – und den Verdächtigen.“

„Den mutmaßlichen Verdächtigen“, korrigierte Sikes. Seine dunklen Augen durchbohrten Gannon mit ihrem Blick. „Du vertraust deiner Quelle in jeder Beziehung, Jack? Denn wenn du bei so einer Geschichte danebenliegst, kommt uns das alle sehr teuer zu stehen.“

Gannon schaute in die ernsten Gesichter vor ihm. Auf der anderen Seite der Glasscheibe reckten einige Reporter die Hälse und fragten sich neugierig, was die Kollegen mit den ernsten Mienen wohl zu besprechen hatten.

„Ich stehe zu meiner Geschichte.“

Sikes sah Gannon sehr lange an.

„Wir gehen ein ziemliches Risiko ein.“

„Ich vertraue meinem Informanten vollkommen.“

„Dann schreib es“, forderte Sikes ihn auf. „Ich nehme es auf die Titelseite. Beschafft mir ein Foto von Karl Styebeck.“ Er zeigte mit dem Finger auf Gannon. „Ich hoffe nur, dass du recht hast.“

8. KAPITEL

In einer ruhigen Gegend von Ascension Park saß Karl Styebeck an diesem Abend allein vor seinem Fernsehgerät.

Es war die einzige Lichtquelle in dem dunklen Wohnzimmer. Die flimmernden Bilder ließen die Falten in seinem angespannten Gesicht deutlich hervortreten. Auf dem Daumen kauend, zappte er von Programm zu Programm. Seine Frau kam die Treppe herunter, nachdem sie noch einmal nach ihrem schlafenden Sohn geschaut hatte.

„Um Himmels willen, warum ist es hier denn so dunkel?“ Sie betrat das Zimmer und schaltete eine Lampe ein.

„Lass sie aus, Alice.“

„Warum?“

„Lass sie einfach aus.“

„Na gut, mein Vampir.“ Lächelnd knipste sie die Lampe wieder aus. „Nimmst du dir das nicht ein bisschen zu sehr zu Herzen, Karl?“

„Was?“

„Du hast ein Spiel verloren, und einige Eltern sind sauer. Taylor hat mir erzählt, was im Franklin Diamond passiert ist.“

„Nein. Es war ein gutes Spiel; es hätte so oder so ausgehen können. Niemand war sauer.“

Alice nahm ihre Stickerei zur Hand, die auf dem Sofa lag, und tätschelte seine Schulter.

„Ich brauche hier aber etwas Licht.“ Sie schaltete eine Tischlampe mit schwach leuchtender Birne ein. Er protestierte nicht. „Kannst du dich nicht für ein Programm entscheiden? Ich hasse es, wenn du hin und her zappst. Männer! Fürchterlich!“

Styebeck blieb bei einem Lokalsender hängen, in dem zwischen zwei Werbeblöcken gerade die neuesten Nachrichten gesendet wurden: „Keine neuen Erkenntnisse im Mordfall Bernice Hogan, der ehemaligen Schwesternschülerin von der Buffalo State University.“

„Das ist so eine traurige Geschichte“, bemerkte Alice. „Taylor hat mir erzählt, dass du dich während des Spiels mit einem Mann unterhalten und dabei furchtbar aufgeregt hast.“

„Ach, das war nichts.“

„Hat es mit deiner Arbeit zu tun? Seit einigen Tagen bist du so nachdenklich.“

„Ja, irgendwie schon. Ich hole mir einen Drink. Möchtest du auch was?“

„Ein Glas Wasser wäre mir recht, vielen Dank.“

In der Küche goss Styebeck sich ein großes Glas Orangensaft ein, blieb am Fenster vor dem Spülbecken stehen und starrte grübelnd in den Garten hinaus.

Sofort nach dem Gespräch mit diesem Gannon hatte Styebeck einige befreundete Kollegen vom Handy aus angerufen. Es war seltsam gewesen. Nur wenige hatten Zeit für ein Gespräch, und diejenigen, mit denen er sich unterhalten hatte, waren ihm ausgewichen.

„Stimmt“, bestätigte ihm ein Polizist von Erie County. „Heute hat eine Konferenz mit allen Beteiligten draußen in den Clarence Barracks stattgefunden. Sehr geheime Sache. Mike Brent hat die Sitzung geleitet. Aber du hast nicht viel verpasst. Es gab nur ein paar wilde Mutmaßungen über mögliche Verdächtige.“

„Wurden Namen genannt?“

„Namen? Nein, Karl, Namen standen nicht auf der Tafel. Also, was mich betrifft, Brent ist ein Idiot. Sie haben keinerlei Beweise, und mit der Art, wie er die Sache angeht, wird er den Fall nie aufklären. Tut mir leid, Karl, ich muss Schluss machen.“

Warum hatte man ihn nicht zu dieser Konferenz gebeten?

Zum wiederholten Mal stellte Styebeck sich diese Frage, während er sein Glas leerte.

Warum war er nicht zu dieser Besprechung eingeladen worden?

Er kannte Brent nicht genauer. Vor Kurzem hatte er mit ihm und seiner Partnerin lediglich ein paar Theorien über den Hogan-Mord ausgetauscht. Sie waren zu ihm gekommen, weil er in der Stadt eine Menge Quellen hatte, die ihn mit vertraulichen Informationen versorgten.

Das hatten sie ihm jedenfalls erzählt.

Und dann lauerte ihm dieser Zeitungsfritze mit seinen absurden Unterstellungen auf.

Aus welcher Ecke kam das bloß? Was zum Teufel wusste er?

„Ach Karl, das habe ich ganz vergessen, dir zu erzählen.“ Alice betrat die Küche. Er fuhr zusammen. „Ein Mann hat angerufen und wollte dich sprechen, als du unterwegs warst.“

„Wer denn?“

„Keine Ahnung. Er hat seinen Namen nicht genannt. Er hat auch keine Nachricht hinterlassen, und seine Nummer tauchte nicht auf dem Display auf. Ich dachte, es hätte etwas mit dem Spiel zu tun, und habe ihm gesagt, dass du im Park seist.“

Er erwiderte nichts.

Vermutlich war es Gannon, dachte er. Nun, er machte sich keine Sorgen. Niemals würde der Sentinel eine Story drucken, die allein auf dem Unsinn basierte, mit dem dieser Typ hausieren ging. Unmöglich, dass irgendjemand wusste, was er über den Mord an Bernice Hogan wusste.

„Karl, ist irgendetwas im Busch? In den vergangenen Wochen haben wir ein paar merkwürdige Anrufe bekommen. Und du bist so nervös. Gibt es etwas, das du mir nicht erzählen willst?“

Styebeck wandte seiner Frau den Rücken zu und schaute wieder in den nachtschwarzen Garten, als ob er dort etwas suchte.

„Nein, Alice. Es hat bloß mit der Arbeit zu tun. Es ist alles in Ordnung.“

9. KAPITEL

Jolene Peller tauchte aus dem Nebel der Bewusstlosigkeit auf.

Ein leises, monotones Rattern drang an ihr Ohr, während die Erinnerung und die Wahrnehmung Schritt für Schritt zurückkamen.

Wo war sie? Was war passiert?

Bernice.

Sie hatte ein ungutes Gefühl gehabt und wollte Bernice helfen. Sie war ihr in die Dunkelheit gefolgt, wo sie ihr Flehen gehört hatte.

Bernice’ jämmerliches Betteln, das Durcheinander, dann ein Schrei.

Der Mann.

Jolene hatte ihn in dem Chaos flüchtig erblickt, und er hatte sie gesehen; er schlug sie mit einem gleißenden Licht, blendete sie, hielt sie fest, lief hinter ihr her, jagte sie.

Sie rannte, aber in der Dunkelheit gab es kein Entkommen.

Es war ein Albtraum. Sie hatte einen Albtraum gehabt. Also gut, wach auf.

Wach auf!

ICH BIN WACH!

Jolenes Herz schlug wie wild, als sie sich an die Angst erinnerte, die wie eine gewaltige Welle über ihr zusammengeschlagen war.

Was ging hier vor?

Bernice? Was war mit Bernice passiert?

Was wird mit mir geschehen?

Das Rauschen des Blutes in ihrem Ohr vermischte sich mit dem Dröhnen.

Was war das für ein Geräusch?

Warum geschah das alles?

Warum sie?

Die Luft roch nach altem Holz, alter Pappe und etwas Fauligem. Oh Gott. Oh Gott. Sie zitterte, und ihr Magen drehte sich um. Die Augen hielt sie fest geschlossen, kämpfte gegen die wachsende Panik an, versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren.

Denk nach.

Du bist am Leben.

Du musst hier rauskommen.

Sie lag auf etwas Wattiertem. Eine ekelhaft stinkende Matratze. Auf ihrer Zunge brannte ein höllischer Nachgeschmack, und ihr Kiefer schmerzte. Etwas zwischen ihren oberen und unteren Zähnen zwang sie, den Mund offen zu halten. Es fühlte sich wie ein Ledergürtel an, der so eng um ihren Kopf geschnürt war, dass ihr die Augen brannten.

Sie hob die Hand, um den Druck zu lindern, aber ihre Hände waren mit etwas zusammengebunden, das ihr in die Handgelenke schnitt. Eine Art Fessel.

Atme.

Der Gestank in der Luft war erstickend.

Vergeblich versuchte Jolene, nach der Schnalle an ihrem Hinterkopf zu greifen. Ihre Nase war frei. Wenn sie ruhig blieb, konnte sie atmen.

Traute sie sich, die Augen zu öffnen?

Sie musste es tun.

Okay. In Ordnung. Ganz ruhig. Atme.

Sie öffnete die Augen und sah absolute Schwärze.

Sie hob die Hände vor ihr Gesicht und sah nichts. Es war, als habe sie keinen Körper mehr.

Als sei sie tot.

Sie hatte Angst vor der Dunkelheit.

Angst davor, lebendig begraben zu sein.

Ein Schwindel überkam sie, das Übelkeit erregende Gefühl, sich zu drehen und zu fallen. Ein gedämpftes Wimmern kam aus der Tiefe ihrer Kehle und durchdrang die Stille.

Atme, befahl sie sich. Bleib ruhig.

Du lebst.

Wenn du lebst, kannst du ums Überleben kämpfen.

Sei stark. Heul nicht. Kämpfe.

Die Erde bebte.

Jolene wurde über die Matratze geschleudert. Das Summen, das Zischen und nun das metallische Kreischen wurden lauter.

Was ging hier vor?

Die Welt geriet ins Wanken.

Jolenes dunkles Gefängnis setzte sich in Bewegung und gewann zunehmend an Fahrt.

10. KAPITEL

Am folgenden Morgen verkündete die Titelgeschichte Gannons Sieg an jeder Straßenecke, an der eine Zeitungsbox mit dem Buffalo Sentinel stand.

Seine Exklusivstory lief über sechs Spalten auf Seite eins über dem Bruch. Die Überschrift lautete:

Hoch dekorierter Polizist Hauptverdächtiger beim Mord an Schwesternschülerin

Damit hatte er den Konkurrenten, die Buffalo News, eindeutig abgekocht. Die Kollegen hatten keine einzige Zeile veröffentlicht. Mit einem Anflug von Stolz betrachtete er die Reihe von Zeitungsboxen im Stadtzentrum, während er an einer Ampel auf Grün wartete.

Werde nur nicht übermütig. Ruhm ist eine vergängliche Sache in diesem Geschäft, in dem du nur so gut bist wie deine nächste Story.

Aber ein Cop? Er hatte wirklich mitten ins Schwarze getroffen.

Sein Artikel war das herausragende Ereignis in der Frühausgabe des Sentinel. Sie lag in den Häusern der Abonnenten, in Läden und Zeitungsboxen in ganz Buffalo, Erie, Niagara und acht weiteren Regionen – überall dort, wo der Sentinel der News die schwindende Leserschaft streitig machte. Er war auch der Aufmacher auf der Website des Sentinel, wo sich die meisten Leute heutzutage informierten.

Er hatte einen Volltreffer gelandet. Daran gab’s nichts zu rütteln. Die Radio- und Fernsehsender von Buffalo brachten die Story als Spitzenmeldung; die Nachrichtendienste griffen sie auf.

Es war der Hauptgewinn, den er so dringend brauchte.

Die Ampel sprang auf Grün. Gannon schlängelte sich durch den Berufsverkehr und bog auf den Parkplatz des Sentinel ein. Er war heute besonders früh dran, weil er eine Fortsetzungsgeschichte schreiben wollte. Der Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen bedeutete auch immer, dass sie sich irgendwann mit einer noch größeren Story revanchieren würde.

Diesen Wettkampf würde er nicht verlieren.

Er griff nach einer Zeitung am Empfangstresen in der Lobby, ehe er den Aufzug betrat. Während er allein nach oben fuhr, betrachtete er das Foto von Styebeck, das sympathische Gesicht eines Helden, neben dem eines von Bernice abgebildet war.

Was für ein Herzensbrecher!

Während seiner Zeit als Polizeireporter war er tagtäglich mit Tragödien konfrontiert worden: dem Tod von Kindern, Schießereien in Schulen, Bandenmorden, Bränden, Unfällen, Katastrophen, dem Bösen in all seinen Facetten. Im Laufe der Zeit hatte er sich für solche Ereignisse einen emotionalen Schutzschild zugelegt.

Aber etwas an Bernice Hogans Tragödie berührte ihn zutiefst.

Während er ihr Gesicht betrachtete, schwor er sich, ihr wenigstens im Tod den Respekt zu verschaffen, der ihr im Leben versagt geblieben war.

Der Aufzug hielt an, und er ging in die Küche der Nachrichtenredaktion, um sich einen Kaffee zu holen.

Die beste Folgestory für diese Exklusivgeschichte wäre ein Feature über Styebeck. Er wollte Styebecks Leben schildern, seine Herkunft, wie er zum Polizeihelden und mutmaßlichen Mörder geworden war. Vielleicht sollte er sich mit dem einen oder anderen Profiler über Verbrecher unterhalten, die ein Doppelleben führten.

Er würde einige Tage dafür benötigen, aber es könnte klappen.

„Du bist früh dran.“ Jeffs Blick blieb auf seinen Computerbildschirm geheftet, auf dem er eine Partie Solitär spielte.

„Schon irgendwelche Reaktionen?“

„Tote Hose, Jack. Aber netter Treffer mit dem Cop. Hat Buffalo ganz schön aufgewirbelt.“ Jeff deutete mit einer Kopfbewegung zur Glasscheibe am Ende der Nachrichtenredaktion, wo das Büro des Chefredakteurs lag. „Nate hat schon versucht, dich zu erreichen.“

„Weswegen?“

„Keine Ahnung. Kann nichts Gutes bedeuten. Warte lieber noch eine Minute.“

Was Gannon im Büro sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Nate Fowler zeigte mit dem Finger auf Ward Wallace, der abwehrend die Hände hob. Obwohl ihre Stimmen laut waren, konnte Gannon nicht verstehen, worüber sie redeten. Als Redakteur der Spätschicht kam Wallace nie um diese Zeit in die Reaktion – es sei denn, es gab ein Problem.

Ein ernstes Problem.

„Was ist denn da los?“ Gannon stellte seinen Kaffee ab. „Was macht Wallace hier?“

„Keine Ahnung. Ach ja, und da ist eine Frau, die dich sprechen will. Ich habe ihr gesagt, dass du normalerweise erst später kommst. Sie wartet schon seit einer Stunde am Empfang.“

„Hat sie gesagt, was sie will?“

„Nein. Ich hole sie.“

Gannon überflog seine E-Mails und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Kurz darauf führte Jeff eine Frau von Mitte fünfzig an seinen Schreibtisch.

Sie trug kein Make-up, hatte rot geränderte Augen und unordentliche Haare. Ihr Pullover und ihre Hose sahen ungepflegt aus. In der Hand hielt sie einen dünnen Schnellhefter. Ihre Fingernägel waren abgenagt.

„Sind Sie Jack Gannon, der Reporter?“

„Richtig. Und Sie sind …?“

„Mary Peller. Ich brauche ganz dringend Ihre Hilfe, Mr. Gannon.“

„Nennen Sie mich Jack.“ Gannon räumte einen Stapel Polizeiberichte von einem Stuhl, damit sie sich setzen konnte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Meine Tochter Jolene ist verschwunden.“

„Verschwunden? Wie alt ist sie denn?“ Gannon griff nach einem Notizblock auf einem Stapel Zeitungen und schlug eine neue Seite auf.

„Sechsundzwanzig.“

„Sechsundzwanzig? Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.“

Das, was sie ihm nun berichtete, hatte Gannon schon oft gehört. Jolenes Vater hatte die Familie verlassen, als sie elf war. Als Teenager war Jolene in die Drogenszene und ins Rotlichtmilieu abgerutscht. Vor einem Jahr, als sie beinahe an einer Überdosis gestorben wäre, hatte sie begonnen, in die Kirche zu gehen, und sich entschlossen, wegen ihres dreijährigen Sohnes Cody clean zu werden.

Jolene bekam einen Job in einem Schnellimbiss, belegte Abendkurse und erhielt mithilfe der Arbeitsvermittlung eine Stelle als Junior Managerin in einem Motel in Orlando.

„Jo war überglücklich, weil es ihre Chance war, ein neues Leben zu beginnen. Sie war nicht stolz auf ihre Drogenvergangenheit …“ Mary Pellers Stimme wurde leiser, und sie rang um Selbstbeherrschung. „Wir haben nicht viel Geld, Mr. Gannon. Jo ist vergangene Woche mit dem Bus nach Florida gefahren. Sie wollte erst eine Wohnung finden und dann zurückkommen, um Cody zu holen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Gar nichts?“

„Nicht ein Wort. Sie ist niemals angekommen. Schon seit Tagen sollte sie dort sein. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.“

„Haben Sie die Polizei verständigt?“

„Die Polizei hier, in Florida, Sozialarbeiter. Aber niemand kümmert sich wirklich.“

„Haben Sie schon mal daran gedacht, einen Privatdetektiv zu engagieren?“

„Das kann ich mir nicht leisten.“

Sie reichte ihm den Schnellhefter.

„Ich habe gehofft, dass Sie einen Artikel darüber schreiben könnten. Vielleicht hilft mir das, sie zu finden. Bitte, Mr. Gannon, Sie sind meine letzte Hoffnung.“

Gannon blätterte durch die Mappe. Schöne Fotos von Jolene und Cody, einige Briefe, persönliche Unterlagen, Telefonnummern, Adressen, noch mehr Bilder. Bei einem hielt er inne.

Mein Gott! Auf dieser Aufnahme sieht sie ja aus wie Cora.

Ein Schatten fiel über sie. Als Gannon den Kopf hob, stand Nate Fowler neben ihm.

„Entschuldigen Sie uns bitte, Ma’am“, sagte er und wandte sich an Gannon. „Ich muss Sie in meinem Büro sprechen, und zwar sofort.“

Fowler verschwand.

Gannon schloss Mary Pellers Mappe, gab ihr seine Karte und stand auf.

„Können Sie mir die Unterlagen hierlassen?“

„Natürlich.“

„Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass ich einen Artikel darüber schreibe. Aber ich will’s mir noch mal ansehen. Ich muss jetzt gehen. Ich werde Sie auf jeden Fall anrufen.“

Mary Peller ergriff seine Hand und schüttelte sie.

„Danke. Danke, dass Sie mir zugehört haben.“

„Jeff wird Sie hinausbegleiten.“

Ward Wallace’ Miene ließ keinen Zweifel daran, wie die Stimmung in Nate Fowlers Büro war. Gannon war in eine handfeste Auseinandersetzung hineingeraten.

„Schließen Sie die Tür.“ Nate ließ ein Gummiband um seine Finger schnappen, während er Gannon grimmig musterte.

„Jack, als Chefredakteur dieser Zeitung bin ich im Vorstand zahlreicher Wohltätigkeitsvereine, die eine Menge guter Arbeit für diese Stadt leisten. Wussten Sie, dass Karl Styebeck ebenfalls Vorsitzender von manchen dieser Vereine ist?“

Das wusste er nicht.

„Und wussten Sie, Jack, dass mir heute Morgen diese Tatsache schlagartig einfiel, als mich der Herausgeber aus dem Bett holte, der seinerseits von einem Polizeichef angerufen worden war, der ihm mitteilte, dass Ihre Geschichte falsch ist?“

„Falsch?“

„Er bezeichnete sie als pure Erfindung und verlangt eine Richtigstellung.“

„Sie machen Witze.“

„Lächle ich etwa?“

„Mein Artikel basiert auf Tatsachen.“

„Er hätte verifiziert werden müssen, ehe er in Druck ging. Man hätte mich benachrichtigen sollen.“

„Wir haben bei Ihnen angerufen, Nate“, verteidigte Wallace sich.

„Ich bin gestern Abend mit der Nachtmaschine aus Los Angeles zurückgekommen und habe keine Nachrichten vorgefunden.“ Fowler funkelte erst Wallace, dann Gannon an. „Nennen Sie mir den Namen Ihres Informanten, damit wir die Behauptungen beweisen und dazu stehen können. Andernfalls veröffentlichen wir einen Widerruf.“

Gannon schluckte. Sein Blick wanderte durch Fowlers Büro mit den lobenden Erwähnungen der eingerahmten Zeitungsseiten einschließlich seiner eigenen Pulitzer-Preis-Nominierung. Fotos, die Fowler an der Seite von kommunalen, regionalen und Landespolitikern zeigten. Seine Frau bekleidete eine einflussreiche Position im Bezirksbüro des Staatsanwalts für den Bundesstaat New York. Sein Bruder war mit der Tochter des Herausgebers verheiratet.

Fowler war ein politischer Strippenzieher, und Gannon traute ihm nicht über den Weg.

„Ich kann Ihnen meine Quelle nicht nennen.“

Nate schaute zu Wallace und zurück zu Gannon.

„Habe ich Sie richtig verstanden? Sie können nicht?“

„Bei meinem Informanten steht zu viel auf dem Spiel.“

„Bei Ihnen etwa nicht?“ Fowler musterte ihn finster. „Haben Sie irgendwelche Dokumente, die Ihre Geschichte bestätigen?“

„Nein.“

Nate Fowlers Blick wanderte von Ward Wallace zu Gannon.

„Meine Güte. Also haben wir nichts in der Hinterhand. Keine Garantien, keine eidesstattliche Erklärung, keine Gerichtsunterlagen?“

Gannon schüttelte den Kopf.

„Haben Sie eine Quelle oder nicht, Jack?“

„Ich habe eine Quelle, aber ich kann sie niemandem gegenüber preisgeben. Ich habe mein Wort gegeben. Sie müssen mir vertrauen.“

„Den Teufel werde ich! Als Angestellter dieses Unternehmens sind Sie verpflichtet, Ihre Vorgesetzten über Ihre Informanten zu unterrichten, wenn Sie sich keines Dienstvergehens schuldig machen wollen.“

„Jack“, bat Wallace, „nenne uns doch deine Informanten und wo sie arbeiten.“

„Ich kann nicht. Sie würden mehr als nur ihren Arbeitsplatz verlieren.“

„Arbeitsplatz?“, schnaubte Fowler. „Ich will Ihnen mal was über Arbeitsplätze erzählen, Gannon. Wenn wir jetzt einen Widerruf drucken, dann beschädigt das die Glaubwürdigkeit des Blattes in einer Zeit, in der uns immer mehr Leser davonlaufen. In einer Zeit möglicher Stellenkürzungen. Verstehen Sie, was hier auf dem Spiel steht?“

„Das tue ich. Und ich versichere Ihnen, dass meine Story korrekt ist.“

„Wirklich? Ohne den geringsten Beweis haben Sie ein herausragendes Mitglied unserer Gesellschaft des Mordes bezichtigt. Ein Mann, der hoch angesehen wird, weil er oft genug sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat, ein Mann, der selbstlos Obdachlose unterstützt. Und Sie behaupten in Ihrem Artikel, dass er eine gottverdammte Prostituierte ermordet hat.“

„Einen Menschen. Eine Schwesternschülerin, die in Schwierigkeiten geraten ist – das ist es, was sie war.“

„Eine drogensüchtige Nutte.“

„Meine Geschichte ist wasserdicht. Sie müssen mir vertrauen.“

„Ihnen vertrauen? Vergessen Sie’s.“ Fowler zeigte mit dem Finger auf Gannons Gesicht und dann zur Tür. „Sie sind vorläufig vom Dienst suspendiert.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie brauchen hier nicht mehr zu erscheinen, und zwar ab sofort. Und Sie werden auch nicht mehr bezahlt.“

„Meine Geschichte stimmt, Nate.“

„Nennen Sie mir Ihre Quelle.“

„Das kann ich nicht.“

„Dann verschwinden Sie verdammt noch mal aus meiner Redaktion.“

11. KAPITEL

Als Gannon das Redaktionsgebäude verließ, versuchte er sich darüber klar zu werden, was gerade passiert war.

Das Blut rauschte ihm in den Ohren, während er über den Parkplatz zu seinem Wagen ging. Er stützte sich auf das Dach des Pontiacs und ließ sich Zeit, während er das Verlagshaus betrachtete und über seine Alternativen nachdachte.

Er hatte keine.

Er hatte sein Wort gegeben, seine Quelle niemandem gegenüber zu offenbaren. Nicht einmal gegenüber den Redaktionsleitern. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Angestellte des Sentinel kamen zur Arbeit. Sie winkten ihm zu und ahnten nichts von seinen Schwierigkeiten. Er schaute ihnen hinterher, und Nate Fowlers unheilvolle Worte von Stellenkürzungen verursachten ihm Magenkrämpfe. Schließlich fuhr er los.

Auf dem Weg durch den Verkehr im Zentrum von Buffalo rieb er sich mehrmals mit dem Handrücken über den Mund. Noch immer rauschte das Adrenalin durch seine Adern.

Tatsache war, dass Nate Fowler sich weigerte, seine Geschichte zu glauben. Dieser Mann hatte keinen Respekt vor seinen eigenen Reportern. Die Wahrheit war ihm gleichgültig. Er knickte vor den Politikern ein, und allein deshalb konnte man ihm unmöglich die Namen von Informanten nennen.

Gannon erinnerte sich an den Ratschlag von Sean Allworth, dem Leiter des Washingtoner Büros, als sie vor einem Monat gemeinsam an einer Story gesessen hatten, die niemals gedruckt worden war. Es ging um landesweite und bundesweite Immobilienverträge.

Fowler hatte die Veröffentlichung vereitelt, und bei einem ihrer Telefongespräche hatte Allworth seinem Herzen Luft gemacht.

„Jack, verrate diesem Kerl niemals, wer deine Informanten sind. Er ist eine Schlange. Als ich letztes Jahr diese Geschichte über die Erschließung von Baugelände angeboten habe, musste ich ihm meine Quellen nennen. Eine Woche später hat Fowlers Bruder ein paar Grundstücke in bester Lage gekauft. Die Sache hat zum Himmel gestunken.“

Allworth hatte ihm erzählt, er habe Gerüchte gehört, dass Fowler sich um einen hohen politischen Posten bewerbe und über seine Frau mit einigen einflussreichen Strippenziehern im Hintergrund bestens bekannt sei. „Der würde die Namen deiner Informanten bedenkenlos preisgeben, um Seilschaften zu bilden. Sei bloß vorsichtig.“

Ein angesehener Polizist wie Karl Styebeck konnte Fowler ganz beträchtlich den Rücken stärken, überlegte Gannon, als er vor einem 7-Eleven-Laden hielt.

Okay, er war vom Dienst suspendiert. Und was nun?

Er würde auf eigene Faust an der Geschichte dranbleiben – als Ausgestoßener.

Und wieder ganz von vorn beginnen.

Von einer öffentlichen Telefonzelle aus machte er einen Anruf. Beim dritten Klingeln wurde abgehoben.

„Hier ist Gannon. Hast du heute die Zeitung gelesen?“

„Ja. Eine tolle Geschichte.“

„Wir müssen uns treffen.“

„In Ordnung. Am üblichen Ort. Sagen wir, in einer halben Stunde.“

Er nahm die New-York-State-Schnellstraße in südlicher Richtung nach Lackawanna, der ehemaligen Stahlstadt, die sich mittlerweile auf Windkraftanlagen spezialisiert hatte. Als er sein Ziel erreicht hatte, steuerte er den südlichen Abschnitt des Holy-Cross-Friedhofs an.

Es war einer der größten Friedhöfe der Region mit mehr als hunderttausend Gräbern. Hier lagen auch die sterblichen Überreste jener Menschen, die diesen Teil des Landes mit aufgebaut hatten – Immigranten, die bei der Entstehung des Erie-Kanals geholfen, auf den Dampfschiffen der Great Lakes oder in den Walzwerken gearbeitet hatten.

Ein passender Ort, um Geheimnisse zu begraben, sinnierte er, während er langsam an den Gräbern auf der Ostseite in Richtung „Garten des Trosts“ entlangrollte. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, setzte er sich auf eine Bank in der Nähe einer Ansammlung von Eichen und wartete.

Nach nicht einmal zehn Minuten bemerkte er den vertrauten Chevrolet Impala, der in einiger Entfernung von ihm anhielt. Eine Frau stieg aus und schlenderte in seine Richtung. Sie hatte helle Haut, war etwa so alt wie er, trug ein lavendelblaues T-Shirt, Jeans und marineblaue Slipper. Das kastanienbraune Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden.

Adell Clark, eine ehemalige FBI-Agentin.

Vor zwei Jahren hatte er über einen missglückten Raubüberfall in einer Einkaufspassage in Lewiston Heights geschrieben, bei dem die Täter einen gepanzerten Wagen benutzt hatten. Das FBI hatte einen Tipp erhalten und den Überfall vereitelt. Clark war am Tatort von zwei Kugeln getroffen worden. Sie hatte das Feuer erwidert und zwei der Verdächtigen getötet. Die beiden Brüder aus Philadelphia waren neunzehn und zwanzig Jahre alt gewesen.

Ein paar Tage später hatte Clark sich zu einem Interview bereit erklärt. Er hatte einen Artikel über den Fall geschrieben, und seitdem standen sie in Kontakt.

Sie hatte sich nur langsam erholt. Noch immer steckte eine Kugel in ihrem Rücken, die ihr schmerzhaft zu schaffen machte und sie zwang, langsamer als andere Menschen zu gehen. „Tabletten treiben mich in den Wahnsinn, deshalb nehme ich keine.“ Aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit hatte sie Anspruch auf Schadensersatz, aber die Anträge waren im Dickicht des Behördendschungels stecken geblieben und immer noch nicht genehmigt.

Clark war geschieden und alleinerziehende Mutter eines kleinen Mädchens, das wegen einer seltenen Krankheit teure Medikamente brauchte. Sie lebten in einem siebzig Jahre alten Haus mit zwei Schlafzimmern und undichtem Dach in der Parkview Street in Lackawanna, wo Clark eine Ein-Frau-Privatdetektei betrieb.

Sie brauchte Gannon als Informationsquelle. Und er brauchte sie. So lagen die Dinge.

Vorsichtig ließ Clark sich auf der Bank nieder.

„Also, Jack, erzähl’s mir. Was ist los?“

„Du musst mir bestätigen, dass unsere Information wasserdicht ist, Adell.“

„Das bleibt aber unter uns beiden und den Toten“, erwiderte sie.

„Selbstverständlich.“

„Nachdem sie Bernice Hogans Leiche gefunden hatten, haben die Chefs der Bundespolizei eine Konferenz einberufen, an der die Mordkommissionen von Buffalo, Erie County, Amherst und verschiedene lokale und bundesweite Behörden teilnahmen, darunter die Drogenfahndung, das Bundesamt für Alkohol, Tabak und Schusswaffen, das Zollamt und das FBI.“

„Warum?“

„Sie haben ein Brainstorming mit allen gemacht, die jemals im Zusammenhang mit Prostitution in der Umgebung von Buffalo ermittelt haben“, erklärte sie. „Ich war dabei, weil ich mit der Einwanderungsbehörde Fälle bearbeitet habe, bei denen es um osteuropäische Banden ging, die Prostituierte bei Niagara Falls über die kanadische Grenze in die Staaten geschmuggelt hatten.“

„Und was ist mit Styebeck?“

„Er tauchte als Verdächtiger im Zusammenhang mit einem Fahrzeug auf, das mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde. Übrigens, wie bist du eigentlich an seine Initialen gekommen?“

„Sagen wir einfach, ich habe noch eine andere Quelle“, wich er aus. „Kannst du mir sagen, auf welche Weise Styebeck in die Sache verwickelt ist?“

„Diese Info kam von ein paar Prostituierten. Erst haben sie Bernice mit einer anderen Frau streiten gesehen, dann haben sie mitgekriegt, wie Styebeck sich kurz vor Bernice’ Verschwinden mit ihr unterhalten hat. Das Nummernschild des Wagens wurde von einer Überwachungskamera an einem Gebäude auf der Niagara Street gefilmt. Das Auto war gemietet, und der Autoverleih hat bestätigt, dass Karl Styebeck der Mieter war.“

„Es besteht also kein Zweifel, dass er auf der Liste der Verdächtigen stand?“

„Absolut keinen, nein.“ Sie machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr: „Aber auf der Konferenz haben Styebecks Freunde ziemlich sauer reagiert. Sie meinten, Brent hätte seine Informationen von drogensüchtigen Nutten, weshalb sie nichts wert wären. Styebeck sei vermutlich im Auftrag seiner Kirche oder eines anderen seiner Wohltätigkeitsvereine unterwegs gewesen. Der Kerl wird als Held angesehen und ist offensichtlich außerordentlich beliebt. Jedenfalls scheinen seine Kumpel Rückendeckung zu bekommen bei dem Versuch, Styebecks Rolle als Verdächtiger kleinzuhalten beziehungsweise ihn ganz von der Liste zu streichen.“

„Ziemlich riskant.“

„Das finde ich auch. Vor allem weil ich vor einigen Jahren, als ich mit der Einwanderungsbehörde zusammengearbeitet habe, von meinen vertraulichen Quellen ähnliche Vorwürfe gegen Styebeck gehört habe“, fuhr Clark fort. „Ich habe Styebeck damals zur Rede gestellt und einen ziemlich negativen Eindruck von ihm gewonnen. Held oder nicht, der Kerl hat mir eine Gänsehaut verursacht.“

Clark ließ ihren Blick über die Grabsteine wandern.

„Ob du es glaubst oder nicht, ich wollte dich auch anrufen“, sagte sie.

Sie ließ Gannon einige Minuten Zeit, die Informationen zu verarbeiten.

„Jack, was ist eigentlich los?“

„Ein ziemlich hohes Tier von der Polizei hat heute Morgen den Herausgeber meiner Zeitung angerufen. Sie haben behauptet, meine Story sei erfunden, und verlangen einen Widerruf. Jetzt wollen meine Vorgesetzten von mir die Namen meiner Informanten haben.“

„Hast du sie ihnen gegeben?“

„Nein. Normalerweise hätte ich es schon getan. Schließlich bin ich dazu verpflichtet.“

„Und warum hast du mich geschützt?“

„Ich traue Nate Fowler, meinem Chefredakteur, nicht über den Weg. Es gibt Gerüchte, dass er in der Redaktion Stellen streichen will, um sich dann mit einer üppigen Abfindung zu verabschieden. Vor Kurzem hat mir der Leiter unseres Washingtoner Büros erzählt, dass Fowler sich um ein politisches Amt bewirbt. Vielleicht im Senat oder im Kongress. Ich glaube, wenn ich ihm deinen Namen nennen würde, Adell, würde er ihn an einflussreiche Leute in verschiedenen Strafverfolgungsbehörden weitergeben, um sich bei ihnen lieb Kind zu machen.“

„Und ich müsste mit einer Anklage rechnen.“

„Ich weiß.“

„Ich könnte das Sorgerecht für meine Tochter verlieren, man könnte mir meine Schadensersatzansprüche streichen, die immer noch nicht anerkannt sind. Ich würde alles verlieren.“

„Genau deshalb habe ich deinen Namen nicht genannt.“

„Und was ist passiert?“

„Ich bin vom Dienst suspendiert worden. Ich bekomme kein Gehalt mehr.“

Clark schaute in die Ferne.

„Das tut mir leid, Jack.“

„Muss es nicht.“

„Egal, was die Leute sagen – Styebeck ist ein Verdächtiger. Das ist eine Tatsache. Und die existiert so lange, bis der Verdacht offiziell ausgeräumt ist – oder er angeklagt wird.“

Clark presste die Hände auf die Bank und erhob sich schwerfällig.

„Ich habe schon befürchtet, dass sie Styebeck bei dieser Besprechung nicht genauer unter die Lupe nehmen würden“, sagte sie. „Deshalb habe ich mich schuldig gefühlt.“

„Warum?“

„Als ich damals diese Geschichten über Styebeck hörte, habe ich nichts unternommen. Und jetzt …“ Sie wandte sich ab. „Jack, wenn du die Fotos vom Tatort gesehen hättest und was Bernice Hogans Mörder ihr angetan hat … Ich kann es mir nicht erklären. Verdammt noch mal, ich habe dir geholfen, weil ich glaubte, dass es richtig war.“

Die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen hielt eine Weile lang an.

„Danke, dass du mich geschützt hast.“

Sie berührte seine Schulter, lächelte schwach und ging zurück zu ihrem Wagen.

Gannon sah ihr nach, als sie davonfuhr.

Er blieb alleine im „Garten des Trosts“ zurück, wo Engel aus Stein und die Toten über ihn wachten, während er über seinen nächsten Schritt nachdachte.

Sein Handy klingelte.

„Ich bin’s“, meldete sich Adell Clark. „Ich habe gerade auf WBEN gehört, dass heute um elf eine Pressekonferenz zum Hogan-Mord in den Clarence Barracks stattfindet.“

„Hast du eine Ahnung, worum es genau geht?“

„Nein. Vielleicht sind sie mit den Ermittlungen weitergekommen.“

„Danke, Adell. Ich muss los.“

Auf dem Weg zu seinem Wagen warf Gannon einen Blick auf seine Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er es gerade noch schaffen.

12. KAPITEL

Als Gannon eintraf, drängelten sich auf dem Gelände vor den Clarence Barracks bereits die Übertragungswagen der Fernseh- und Radiostationen, von den Buffalo News über WBEN, Niagara Falls, Batavia und Lockport bis zu diversen Universitätszeitschriften und den Zeitungen der Hor-net-Verlagsgruppe.

Mit einem Gefühl der Verärgerung entdeckte er einen Dienstwagen vom Buffalo Sentinel. Wen hatten sie geschickt? Als er an dem Fahrzeug vorbeilief, warf er einen Blick durch die Scheiben, um einen Hinweis auf die Person zu bekommen. Doch er konnte nichts erkennen. Vergiss es. Außerdem war er auf eigene Faust hier – als Freiberufler.

Er betrat das Gebäude und wandte sich an die Empfangsdame, die den Platz der Kollegin eingenommen hatte, die er kannte.

„Ich komme wegen der Pressekonferenz.“

„Tragen Sie sich hier ein und gehen Sie dann dort entlang“, sagte sie.

Etwa zwei Dutzend Reporter hatten sich in dem kleinen Raum versammelt. Ein Wald von Fernsehkameras auf dreibeinigen Stativen war an der Rückwand aufgebaut. Die Techniker trafen letzte Vorbereitungen, während die Journalisten auf ihren Klappstühlen den neuesten Klatsch austauschten, in Handys sprachen, ihre Blackberries überprüften oder sich Notizen machten.

An der Kopfseite des Raumes saßen drei Männer und eine Frau mit ernsten Gesichtern hinter einem Tisch voller Mikrofone und Aufnahmegeräte.

Bernice Hogan schaute auf die Versammlung herab. Das Foto aus ihrem Personalausweis war vergrößert und an die überdimensionale braune Pinnwand geheftet worden, die hinter den Beamten stand.

Ein paar Hundert Meter von dem Raum entfernt, in dem Gannon nun stand, gab es eine Kirche und die gehobene Nachbarschaft von Serenity Bay mit ihren Architektenhäusern, dem Country Club, Tennisplätzen, Stränden und Anwohnern, die an dem jüngsten Mordfall in der Gegend kaum interessiert waren.

Nur ein paar Meilen westlich dagegen, verborgen in den Parks und Wäldern beim Ellicott Creek, befand sich das flache Grab, in dem Bernice gefunden worden war.

Ein deprimierendes Nebeneinander, dachte Gannon, als er den Blick von dem Bild abwandte und sein Notizbuch aufschlug.

„Fangen wir an“, eröffnete der weißhaarige Mann am Tisch die Konferenz. „Für diejenigen übrigens, die mich nicht kennen – ich bin John Parson, leitender Captain der Einheit A, Zone 2. Links von mir sitzt Lieutenant David Hennesy. Zu meiner Rechten, vom Büro der Untersuchungsbehörde, befinden sich Michael Brent und Roxanne Esko, die die Ermittlungen im Mordfall Bernice Hogan bereits leiten.

Lieutenant Hennesy wird Sie auf den aktuellen Stand der Ermittlungen bringen, und dann werden wir Ihre Fragen beantworten.“

Hennesy gab eine kurze Zusammenfassung des Falls.

„Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir siebenundzwanzig Hinweise erhalten und ermitteln in alle Richtungen. Wichtig sind Zeugenaussagen über einen blauen Truck, einen großen Sattelzug ohne Anhänger, möglicherweise mit einer ungewöhnlichen Beschriftung an der Fahrertür. Er wurde ein paarmal in der Niagara-Lafayette-Gegend von Buffalo gesichtet, und zwar vor dem Mord an Bernice Hogan am Zehnten dieses Monats. Wenn irgendjemand Informationen über ein Fahrzeug hat, auf das diese Beschreibung zutrifft, wird er gebeten, sich mit uns in Verbindung zu setzen.“

Ein Murmeln ging durch den Raum. Notizbücher wurden umgeblättert.

Ein blauer Sattelschlepper. Das war neu.

„Vielen Dank, Dave“, sagte Parson. „Sie können jetzt Ihre Fragen stellen. Ja, Cathy vom Observer.

„Haben Sie noch nähere Informationen zu dem blauen Sattelzug?“

„Der Fahrer soll sich mit Bernice Hogan vor ihrem Verschwinden unterhalten haben. Wir haben allerdings keine Beschreibung des Fahrers, ebenso wenig zum Alter und zum Typ des Trucks. Deshalb wenden wir uns an die Öffentlichkeit.“

„Moment mal.“ Gary Golden, ein Fernsehreporter, hielt eine Ausgabe des Buffalo Sentinel hoch. „Mit allem gebotenen Respekt, aber wir reden hier doch um den heißen Brei herum. Ist Detective Karl Styebeck vom Polizeirevier in Ascension Park Ihr Hauptverdächtiger? Ja oder nein?“

Nach einem allgemeinen Räuspern und einem Blickwechsel zwischen den vier Vertretern der Polizeibehörden beugte Michael Brent sich über das Mikrofon.

„Detective Styebeck steht nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen.“

„Ist er momentan ein Verdächtiger oder es jemals gewesen?“, fragte Gannon von hinten.

Alle Anwesenden drehten sich zu ihm um.

„Er steht nicht im Fokus dieser Ermittlungen“, wiederholte Brent.

„Das ist kein Dementi“, wandte Kip Ramon von den Buffalo News ein.

„Berichte, in denen Karl Styebeck als Hauptverdächtiger dargestellt wird, der im Mittelpunkt der Untersuchungen steht, sind falsch“, beharrte Parson.

„Haben Sie andere Tatverdächtige? Zum Beispiel im Zusammenhang mit dem mysteriösen blauen Sattelzug?“ Die Frage kam von Pete Martinez vom Sentinel.

„Wie Dave bereits sagte, gehen wir derzeit etwa dreißig Hinweisen nach, und wir haben einige vielversprechende Spuren.“

„Ist Karl Styebeck von der Liste der Verdächtigen gestrichen?“, wollte Gannon wissen.

„Diese Frage haben wir bereits beantwortet“, entgegnete Parson.

„Verzeihung, Sir“, hakte Gannon nach, „aber Sie haben diese Frage noch nicht beantwortet.“

„Ist Karl Styebeck verhört worden?“, meldete sich Golden erneut zu Wort.

„Wir werden nicht alle Einzelheiten dieses Falls in der Öffentlichkeit diskutieren.“

„Also haben Sie ihn vernommen?“, bohrte Golden weiter.

„Nächste Frage.“ Parson deutete auf eine Reporterin von einem der Nachrichtensender in Niagara Falls. „Ihre Frage, Loretta.“

„Haben Sie DNA, Fingerabdrücke oder sonstige verwertbare Spuren gefunden?“

„Darüber werden wir hier und jetzt keine Auskunft geben“, erwiderte Parson. „Ich denke, wir machen jetzt Schluss. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.“

Verschiedene Reporter versuchten, letzte Fragen zu stellen. Die Ermittler winkten ab, sammelten ihre Unterlagen ein und verließen den Raum. Als sich die Versammlung auflöste, rief Martinez Gannon etwas zu und deutete nach draußen, wo er mit ihm unter vier Augen reden wollte.

Martinez war ein erfahrener Allround-Reporter, der über alles schreiben konnte, ein gutmütiger Kerl, der mit all seinen Kollegen, inklusive Gannon, bestens zurechtkam. Sie schlenderten zur Rückseite des Gebäudes, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.

„Sie spielen mit dem Feuer, Jack. Sie sind entlassen und tauchen trotzdem hier auf.“

„Ich nehme an, Sie haben gehört, was passiert ist?“

„In einer Redaktion gibt es keine Geheimnisse.“

„Nun, meine Story ist nicht falsch, Pete.“

„Ich werde mir kein Urteil über Sie erlauben“, sagte Martinez. „Ehe Sie kamen, habe ich mit Golden und Ramon von den News gesprochen. Scheint so, als ob niemand weiß, wo Styebeck steckt. Besteht die Chance, dass Sie weitere Informationen mit mir teilen?“

„Ich habe nichts, tut mir leid. Ich bin als Freier hier.“

„Wirklich? Für wen?“

„Ich weiß es noch nicht.“

„Passen Sie auf sich auf. Sie sind persona non grata.“ Martinez sah sich um, trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. „Nate hat wirklich vor, einen Widerruf zu veröffentlichen, wenn Sie Ihren Informanten nicht preisgeben. Das habe ich jedenfalls gehört.“

„Das kann ich nicht tun, Pete.“

Martinez’ Handy klingelte. „Mir ist es schnuppe, was Sie machen. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Martinez schüttelte Gannon die Hand und nahm den Anruf entgegen, während er zu seinem Wagen ging.

Gannon überflog seine Notizen und dachte über die neue Spur in Gestalt des blauen Trucks nach, als ein Schatten über sein Gesicht fiel.

„Sieh mal an, wen haben wir denn hier? Mr. Jack Gannon, die Legende, die fast einen Pulitzer-Preis gewonnen hätte. Endlich lernen wir uns mal persönlich kennen.“

Michael Brent und Roxanne Esko standen neben ihm. Er schaute sich um. Niemand sonst war zu sehen. Esko hielt einen Autoschlüssel und eine Dokumentenmappe in der Hand.

„Interessante Story heute in Ihrer Zeitung“, meinte Brent. „Ungenannte Quellen erzählen die ungeheuerlichsten Sachen. Na ja, wir haben auch einiges gehört.“

Gannon sagte nichts und ließ Brent die Stille füllen.

„Zum Beispiel, dass Sie für Ihre Märchen vom Dienst suspendiert wurden. Möchten Sie was dazu sagen?“

„Ich stehe zu meiner Geschichte. Ich vertraue meiner Quelle. So einfach ist das.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Brent. „Denn weder Sie noch Ihre ‚Quelle‘, wer auch immer das sein mag, haben die geringste Ahnung, was los ist. Sie wissen einen Scheißdreck, Jack.“

Gannon schlug eine neue Seite seines Notizbuchs auf.

„Warum klären Sie mich nicht auf, Detective?“

Brent blickte auf Gannons Notizbuch und dann in sein Gesicht.

„Sie aufklären? Ich glaube, Sie hören schlecht. Habe ich Ihnen bei unserem Telefongespräch nicht empfohlen, sich mit Ihren Märchenerzählungen zurückzuhalten, weil es Ihnen eine Menge Ärger ersparen würde?“

Gannon zuckte mit den Schultern.

„Und wie viel Ärger haben Sie heute schon abgekriegt, Schlaumeier?“

Gannon antwortete nicht.

Brents Kinnpartie wurde hart. Dann entspannte er sich wieder und trat einen Schritt näher zu Gannon.

„Sie sollten sich auf mehr Ärger gefasst machen“, warnte Brent ihn. „Ich werde nämlich herausbekommen, wer Ihre Informanten sind. Und wenn ich das erst mal weiß, werden sie die Konsequenzen dafür tragen, dass sie unsere Ermittlungen behindert haben. Darauf können Sie Gift nehmen.“

13. KAPITEL

Auf der Fahrt zum „Great Lakes Truck Palace“ an der Interstate 90 und Union Road dachte Gannon nicht länger über das unerfreuliche Gespräch mit der Bundespolizei in den Clarence Barracks nach.

Er musste der Sache mit dem geheimnisvollen Sattelzug unbedingt auf den Grund gehen.

Mit seinem kleinen Wagen bahnte er sich einen Weg über das Gelände, vorbei an gigantischen Sattelschleppern mit zischenden Bremsen und schwarz qualmenden Dieselmotoren. Vor dem Büro des Geschäftsführers Rob Hatcher stellte er sein Auto ab.

„Ich helfe Ihnen gerne, wenn ich kann. Es ist ein Skandal, was mit diesem Mädchen passiert ist“, hatte Hatcher am Telefon gesagt.

Gannon hatte ihn nach der Pressekonferenz angerufen. Er kannte ihn, seitdem er ihn für einen Artikel über schwere Lkw-Unfälle interviewt hatte.

Hatcher klickte unentwegt mit seinem Kugelschreiber, während er Bernice Hogans Foto im Sentinel betrachtete, der auf der Theke lag. Gannon beobachtete ihn stumm.

„Sie glauben wirklich, dass es ein Polizist getan hat?“

„Er ist zumindest ein Verdächtiger.“

„Na ja, zwei Ermittler von der Bundespolizei sind vor drei oder vier Tagen hier gewesen. Sie baten uns, einen blauen Truck ausfindig zu machen.“

„Haben sie gesagt, warum?“

„Nein, sie haben nicht viel geredet.“

„Haben sie irgendwelche Fragen zu diesem Mann gestellt?“ Gannon klopfte auf Karl Styebecks Foto in der Zeitung.

„Nein.“

„Was haben sie denn über den blauen Sattelschlepper erzählt?“

„Nicht viel. Nur dass der Truck eine ungewöhnliche Schrift und eine außergewöhnliche Signatur auf den Türen haben soll.“

„Wie sieht die aus? Sind sie konkreter geworden? Könnte es vielleicht ein Schild sein?“

Hatcher zuckte mit den Schultern.

„Sie haben sich nicht festgelegt. Wir sollen uns nur bei ihnen melden, wenn wir einen Sattelzug sehen, auf den die Beschreibung zutrifft.“

„Es ist eine ziemlich allgemeine Beschreibung.“

„Ich weiß.“ Hatcher lachte glucksend und deutete mit dem Kopf auf das Gelände. „Wir haben da draußen ungefähr dreißigtausend Quadratmeter, mein Lieber. Das hier ist eines der größten Unternehmen im Westen des Bundesstaates New York. Sieben- bis achthundert Trucks kommen innerhalb von vierundzwanzig Stunden vorbei. Mit diesem Sattelzug ist es wie mit der Nadel im Heuhaufen. Aber wir haben ein Auge drauf.“

„Sagen Sie mir Bescheid, wenn sich irgendetwas tut?“

„Das kann ich machen.“

Gannon verließ den „Truck Palace“ und verbrachte den Rest des Tages auf Recherchetour in den Straßen. Er besuchte Coffeeshops im Stadtzentrum, Hotels und Taxistände und versuchte, von Kellnerinnen, Pförtnern und Taxifahrern etwas Neues über den Mord an Bernice Hogan zu erfahren.

Irgendwann schickte Adell Clark ihm eine SMS:

Zu Deiner Information: Tatort wird bis zum Abend vermutlich freigegeben.

Das ist was für später, dachte er beim Betreten von Kupinski’s Diner. Stan Kupinski, ehemaliger Koch bei der Marine, betrieb ein preiswertes Schnellrestaurant in einer Querstraße der Niagara Street. Es hatte rund um die Uhr geöffnet und erfreute sich großer Beliebtheit bei Arbeitern und Sozialhilfeempfängern.

Der Geruch von gebratenem Speck und Kaffee stieg Gannon in die Nase, als er sich an einen Tisch setzte. Sein Blick wanderte über den schachbrettartig gefliesten Boden, die Hocker mit Chrombeinen vor dem abgewetzten Tresen und die Schachteln für die Gerichte zum Mitnehmen, die sich bis unter die Decke türmten.

Er bestellte ein Club Sandwich, und kurz darauf schlug Kupinski mit seinem Pfannenwender an eine Glocke und platzierte einen Teller mit seiner Bestellung auf dem Brett in der Durchreiche. Lotta, die korpulente Kellnerin – die Stammgäste nannten sie „Volle Lotte“ –, stellte die riesige Portion vor Gannon hin. Er bat sie, sich zu ihm zu setzen und mit ihm über den Mord zu reden. Offenbar hatte er damit einen Nerv bei ihr getroffen, denn sie folgte seiner Aufforderung, ohne zu zögern.

„Ich habe tatsächlich was über dieses Mädchen gehört“, erzählte Lotta. „Und zwar, wie sie sich in der Nacht, in der sie zum letzten Mal gesehen wurde, mit einem anderen Mädchen gestritten hat.“

Gannon hob die Augenbrauen und zog sein Notizbuch aus der Tasche.

„Wissen Sie, worüber sie gestritten haben?“

„Ich glaube, es ging ums Weggehen oder so ähnlich“, antwortete Lotta und stibitzte eine Bratkartoffel.

„Haben Sie das der Polizei gesagt?“

„Im Gegensatz zu Ihnen sind die nicht hier gewesen, um Fragen zu stellen.“

„Kennen Sie das andere Mädchen?“

Lottas Ohrringe gerieten in Bewegung, als sie den Kopf schüttelte.

„Ich kann mich ja mal umhören“, erbot sie sich.

„Danke.“ Gannon drückte Lotta eine Fünfdollarnote in die Hand. „Ich würde sie nämlich gerne finden.“

Es wurde allmählich spät, aber eine Sache wollte Gannon noch versuchen.

Eines hatte er bei seinen zahlreichen Recherchen gelernt: Man durfte sein Thema nie aus den Augen verlieren. Jede noch so unbedeutende Kleinigkeit konnte den entscheidenden Durchbruch bedeuten. Daran musste er auf dem Weg zu Ascension Park denken, als er die Straße suchte, in der Karl Styebeck wohnte.

Stybecks Haus war ein gepflegtes Gebäude im Kolonialstil mit einer Doppelgarage. Weit zurückgesetzt von der Straße, lag es mitten auf dem Grundstück und wirkte wie isoliert von seiner Umgebung.

Gannon parkte mehrere Häuser entfernt und beobachtete es aus dem Rückspiegel, während er über den Fall nachdachte.

Wieso betrachtete die Polizei Styebeck inoffiziell als Verdächtigen, ohne es in der Öffentlichkeit zuzugeben? Woher kam der Druck, seinen Artikel zu widerrufen?

War dies das Heim eines Monsters?

Moment mal.

Das Garagentor schwang auf, und Karl Styebeck stieg in einen der beiden Wagen, eine Limousine, und fuhr los.

Gannon startete den Motor seines Vibe und folgte ihm in angemessener Entfernung.

14. KAPITEL

Karl Styebeck hatte beschlossen, nicht tatenlos in dieser Krise zu verharren.

Alles stand auf dem Spiel.

Jack Gannons Artikel in der Morgenausgabe des Sentinel war wie eine Bombe in seinem Haus eingeschlagen und hatte seine Frau und seinen Sohn zutiefst schockiert.

Alice hatte das Gesicht in den Händen vergraben.

„Oh mein Gott, Karl. Das kann doch nicht wahr sein!“

Taylor, sein zwölfjähriger Sohn, war verängstigt. „Dad, warum weint Mom?“

Styebeck bemühte sich um Schadensbegrenzung.

„Das ist ein Irrtum“, beschwichtigte er seinen Sohn. „Dieser Gannon hat etwas verwechselt. Ich helfe bei den Ermittlungen. Das, was er da geschrieben hat, stimmt hinten und vorne nicht. Ich werde das richtigstellen, das verspreche ich dir.“

Taylor, der seinen Dad anbetete, schien sich damit zufriedenzugeben. Trotzdem ließ Alice ihn nicht in die Schule gehen. Später nahm sie ihren Mann zur Seite.

„Was ist dran an der Geschichte?“ Sie musterte ihn mit einem durchdringenden Blick. „In den vergangenen Wochen hatten wir ständig diese merkwürdigen Anrufe. Du bist in letzter Zeit nervös und deprimiert und wälzt dich im Schlaf hin und her. Sag mir jetzt sofort, ob du irgendetwas mit dem Mord an dem Mädchen zu tun hast. Sag es mir, Karl!“

Was hätte er ihr sagen sollen?

Hilflos stand er vor seiner Frau und versuchte zu verdrängen, was er war und woher er stammte.

„Ich schwöre dir, ich habe diese Frau nicht umgebracht.“

Alice suchte in seinem Gesicht nach einem Hinweis auf eine Lüge oder Täuschung. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nichts dergleichen finden konnte.

Die Anrufe und E-Mails von Freunden, die ihr ihre Unterstützung zusicherten, hatten ihr im Laufe des Tages ein wenig von ihrer Angst genommen. Auch die Mitarbeiter von den Wohltätigkeitsverbänden und sozialen Hilfsvereinen, in denen Styebeck sich engagierte, sprachen ihnen Mut zu.

Dazu kam, dass die Bundespolizei bei einer Pressekonferenz an diesem Morgen den Wahrheitsgehalt von Gannons Artikel infrage gestellt hatte. Und Styebecks Vorgesetzter hatte ihm den Rücken gestärkt, indem er ihn angerufen und aufgefordert hatte: „Halt durch, Karl. Da haben offenbar ein paar Leute ziemlich aneinander vorbeigeredet.“

Die Polizeigewerkschaft bot juristische Unterstützung an, die er jedoch ablehnte. Er brauchte sie nicht. Doch von dem Urlaub, der ihm noch zustand, nahm er einige Tage.

Er würde sich selbst um die Sache kümmern. Und zwar auf meine Weise, schwor er sich, als er vor einer Ampel auf Grün wartete.

Die Nacht war hereingebrochen, während er quer durch die Stadt zum Delaware-District fuhr, einer der teuersten Gegenden von Buffalo. Hier standen Villen, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erbaut worden waren.

Er stellte das Auto ab und ging zum Seiteneingang eines großen viktorianischen Herrenhauses, wo er klingelte. Nate Fowler öffnete die Tür.

„Danke, dass Sie mich zu Hause empfangen, Nate.“

„Das ist doch selbstverständlich. Treten Sie ein. Hier entlang.“ Fowler führte ihn in einen Raum mit einem Kamin, einer Standuhr und Bücherregalen, die bis zur Decke reichten. „Kann ich Ihnen etwas anbieten – Kaffee oder etwas anderes?“

„Nein, danke. Es wird auch nicht lange dauern.“

„Ich versichere Ihnen, dass alles, was in diesem Raum besprochen wird, nicht nach außen dringt.“

„Wie ich heute Morgen bei unserem Telefongespräch schon gesagt habe, hat mir Ihr Reporter, dieser Gannon, aufgelauert. Ich hatte versucht, Sie zu erreichen, ehe der Artikel veröffentlicht wird.“

„Ich war auf Dienstreise. Es ist für uns beide dumm gelaufen. Ich entschuldige mich bei Ihnen.“

„Diese Geschichte hat mir und meiner Familie sehr geschadet, Nate.“

„Das kann ich mir vorstellen – bei Ihrem hervorragenden Ruf.“

„Sie wissen, dass ich vertrauenswürdige Informanten habe. Wenn solche Gerüchte erst einmal in die Welt gesetzt sind, beeinträchtigen sie die Ermittlungen. Dinge werden falsch ausgelegt, dringen an die Öffentlichkeit, und aus Fiktionen werden Fakten. Die Wahrheit ist: Ich unterstütze die Bundespolizei bei den Ermittlungen im Mordfall Hogan. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein Reporter auf der Suche nach einer guten Story dazu neigt, übers Ziel hinauszuschießen.“

„Das kommt vor, ja.“

„Sie müssen mir glauben, dass ich überhaupt nichts mit dem Mord zu tun habe. Allein der Gedanke ist absolut lächerlich.“

„Heute hat die New Yorker Bundespolizei öffentlich zu unserem Artikel über Sie Stellung bezogen. Und angesichts der Umstände, unter denen er veröffentlicht wurde, glaube ich, dass ein Widerruf und eine Entschuldigung mehr als angebracht sind.“

„Vielen Dank.“

„Außerdem werden wir die Quelle dieser rufschädigenden Informationen ausfindig machen. Ich denke, das würde Ihnen bestimmt helfen.“

Erleichterung zeichnete sich auf Styebecks Miene ab.

„Es wäre wirklich sehr hilfreich.“

„So etwas haben Sie nicht verdient, Karl. In den Augen der Bewohner dieser Stadt sind Sie ein Held. Viele Menschen bewundern Sie. Die Wohltätigkeitsarbeit mit Ihnen macht mir sehr viel Spaß, und ich möchte unsere gute Beziehung weiterhin pflegen.“

Styebeck wollte gerade gehen, als eine Frau den Raum betrat und seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Karl, das ist meine Frau Madeline. Sie arbeitet im Büro des Staatsanwalts.“

„Wir sind uns bei diversen Gelegenheiten schon begegnet.“ Styebeck schüttelte ihr die Hand.

„Ich habe Karl gerade versichert, wie viel mir die Bekanntschaft mit ihm bedeutet, Maddy“, erklärte Fowler.

„Er hält in der Tat sehr viel von Ihnen, Detective.“ Sie lächelte. „Hat er Ihnen schon erzählt, dass er das bei der Benefizveranstaltung in dieser Woche ausdrücklich erwähnen wird?“

„Nein. Das weiß ich sehr zu schätzen.“

„Wissen Sie …“, Fowler legte eine Hand auf Styebecks Schulter, als er ihn zur Tür begleitete, „… aber das ist bitte absolut vertraulich. Ich überlege, ob ich für ein öffentliches Amt kandidieren soll. Ich wüsste gern, ob ich auf Ihre Unterstützung zählen kann.“

„Nun ja …“ Styebeck zögerte. „Also, eigentlich kümmere ich mich nicht viel um Politik.“

„Ich verstehe Sie vollkommen, Karl“, erwiderte Fowler. „Ich bitte Sie auch nicht darum, irgendwo ein Wort für mich einzulegen oder irgendwelche Kontakte zu knüpfen. Denken Sie einfach nur mal drüber nach. Ich meinerseits werde dafür sorgen, dass diese unangenehme Geschichte so schnell wie möglich aus der Welt geschafft wird.“

„Das wäre sehr wichtig für mich.“

„Natürlich wäre es das Naheliegendste, Jack Gannon zu entlassen“, fuhr Fowler fort.

„Jetzt, da Sie es erwähnen – ich wollte dieses Thema ebenso wenig ansprechen wie eventuelle juristische Schritte.“

„Gut. Nur damit Sie es wissen – ich kann ihn nicht feuern. Gannon ist ein Kandidat für den Pulitzer-Preis und einer meiner besten Reporter. Ich hätte ihn schon einmal fast verloren. Er ist Reporter mit Leib und Seele. Seine Kündigung würde sich negativ auf das Blatt auswirken und mir eine Menge Ärger mit der Journalistengewerkschaft einbringen – gerade jetzt, wo wir darüber nachdenken, die Zeitung eventuell zu verkaufen. Das bleibt aber unter uns.“

„Selbstverständlich.“

„Ich habe Gannon diesen Fall weggenommen und ihn vorläufig beurlaubt. Wenn er jetzt noch einen Fehler macht, ist er erledigt. Damit dürfte er Ihnen nicht mehr in die Quere kommen. Wie klingt das, Karl?“

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