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Jagd nach einem Schatten

Samuel Ben Nissim Abul Farag ist ein blitzgescheiter Junge, Sohn und ganzer Stolz des Rabbi Nissim. Durch kuriose Umstände landet er in einem Konvent, wechselt vom Judentum zum Katholizismus und nimmt an der Priesterweihe einen neuen Namen an: Guglielmo Raimondo Moncada. Er wird nach Rom bestellt und zelebriert 1481 die Karfreitagsmesse vor Papst Sixtus IV. Dann aber begeht der Priester „einen schwerwiegenden Fehler“. Er muss fliehen und taucht erst Jahre später wieder auf; diesmal als Flavio Mitridate, der den jungen Pico della Mirandola unterrichtet. – Ein Fundstück, wie geschaffen für Andrea Camilleri, der seine Faszination für die geheimnisvolle Figur nahtlos auf den Leser überträgt.


  • Erscheinungstag: 23.07.2018
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010974
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

 

Eins

 

Vom breiten Tisch mitten im großen Raum, dessen Platte aus dunklem Massivholz sich unter dem Gewicht dickleibiger Bücher mit speckigen, vom häufigen Gebrauch abgestoßenen Einbänden und schwerer, vielarmiger Kandelaber schon senkt, nimmt Nissim eine elegante kleine Ampulle, die eine trübe gelbe Flüssigkeit enthält und mit einem Stückchen Kaktusfeigenblatt verschlossen ist, hebt sie mit fast priesterlichem Gebaren in die Höhe und legt sie dann behutsam in die zur Schale geformten Hände seines Sohnes Samuel. Nissims Gesichtsausdruck ist feierlich, wie immer, wenn er Riten zelebriert.

«Sei ja vorsichtig, das ist allerfeinstes Glas. Einmal kräftiger geatmet, schon zerbricht es. Du gibst sie Donna Virginia Frangipani, aber nur ihr selbst direkt in die Hand. Weißt du, wo ihr Palazzo ist? Natürlich weißt du das. Donna Virginia wartet schon drauf, du brauchst dem Pförtner nur zu sagen, dass du der Sohn von Rabbi Nissim bist. Und nicht vergessen, sag ihr, sie soll fünfzehn Tropfen nehmen, bevor sie sich schlafen legt, drei Stunden nach Sonnenuntergang.»

Samuel knöpft sein Hemd auf, er trägt es an diesem Morgen zum ersten Mal, und schiebt die Ampulle zwischen den Stoff und die Haut, nach unten rutschen wird sie nicht, das verhindert der Strick, der ihm die Hose um den Bauch zusammenhält.

Jetzt hält Nissim ein rechteckiges Kästchen aus Holz in der Hand. «Das hier bringst du Don Ramunno Scalìa. Ihm sagst du: drei Prisen Pulver dreimal am Tag einatmen, aber auf nüchternen Magen. Und komm schnell zurück, lungere nicht herum, wie du’s sonst immer tust.»

Samuel stopft sich das Kästchen in die Hosentasche, während sein Vater die Tür öffnen geht, die von dem großen Raum direkt auf die Gasse hinter dem Haus führt. Dies ist der Eingang für die Christen unter den Kunden, weil er eine gewisse Diskretion gewährt. Samuel tritt auf die Gasse hinaus, biegt um die Ecke und geht an der Hauswand entlang bis zur Hauptstraße. Durch das Fenster sieht er Miriam, seine Mutter, am Herd. Er ruft ihr einen Gruß zu, Miriam hebt den Kopf.

«Wohin gehst du?»

«In den Ort.»

«Und der Ring?»

Richtig, auf dem neuen Hemd, das das alte mit dem zerschlissenen Kragen endlich ersetzt hat, fehlt noch der kleine Ring aus gelbem Stoff, den alle Juden, auch Frauen und Kinder, tragen müssen, wenn sie die Giudecca verlassen, damit sie nicht mit Christen verwechselt werden. Die Geldstrafen sind sehr hoch.

Samuel geht durch die vordere Eingangstür ins Haus zurück, durchquert das winzige leere Vorzimmer, kommt zu seiner Mutter.

«Ich näh ihn dir rasch an», sagt Miriam, die schon Nadel und Faden bereithält. «Dauert nur eine Minute. Wenn du dann zurück bist, näh ich ihn richtig fest. Du brauchst das Hemd nicht ausziehen.»

 

Samuel ben Nissim Abul Farag ist erst fünfzehn, doch außer Hebräisch, das sie manchmal in der Familie und mit Freunden sprechen, hat er auch schon Griechisch, Latein, Chaldäisch und Aramäisch gelernt. Im Judenviertel wird allerdings fast nur Arabisch und Sizilianisch gesprochen. Samuel besitzt eine außergewöhnliche Begabung für Sprachen und das Studium der Geschichte, Sitten und Gebräuche anderer Völker. Spät in der Nacht, wenn alle schlafen, erklärt Nissim ihm außerdem flüsternd die schwierigen, geheimnisvollen Schriften der Kabbala, das Merkavah, die Vision des Ezechiel und das Sefer ha-Sohar, doch vor allem spricht er mit ihm über die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets und die zehn Sephiroth oder uranfänglichen Zahlen, deren Kombinationen Gott benutzt hat, um die Welt zu erschaffen. Im Anfang war nicht das Wort, im Anfang waren das Wort und die Zahl. Seither sind die Dinge und die Ursachen für die Dinge und die Folgen der Dinge alle schon aufgeschrieben, müssen aber alle noch entschlüsselt werden.

Er ist größer als die Jungen seines Alters, sein rabenschwarzes Haar kräuselt sich wirr, die leicht krumme Nase berührt fast die vollen, sinnlichen Lippen. Seine Augen sind recht groß, die Pupillen glühen wachsam und unruhig wie zwei kleine wilde Tiere, die immerzu auf der Hut und in Bewegung sind. Mager ist er, seine Rippen kann man einzeln zählen, und dem bisschen Fleisch über seinem kräftigen Knochenbau fehlt es an Festigkeit, auf den Hüften neigt es schon jetzt dazu, schlaff zu werden. Seine Haut ist milchweiß, die Sonne Siziliens konnte ihm nur das Gesicht goldbraun färben.

Nissim, ein außerordentlich gebildeter und sehr geschätzter Rabbiner, der sich jedoch nicht zu schade dafür ist, den Christen gutbezahlte Wundertränke zu verkaufen, deren Rezepte er einem schon fast zu Staub zerfallenen arabischen Papyrus entnimmt, hat kistenweise Talg und ganze Schläuche voller Öl verbraucht, um all sein Wissen an den Sohn weiterzugeben, in den er insgeheim die Hoffnung auf Erlösung setzt. Samuel wird ein großer Gelehrter werden, daran zweifelt Nissim nicht, sein Geschöpf wird eines Tages der Stolz und die Speerspitze eines verachteten, heimatlosen, verleumdeten und verhöhnten Volkes werden. Samuel selbst weiß, und manch einer hat es ihm auch schon gesagt, dass er bei weitem der intelligenteste Junge in Caltabellotta und vielleicht ganz Sizilien ist. Doch niemand kann wissen, dass er außerdem alle anderen, ohne Ansehen des Alters, an Gerissenheit übertrifft.

Während seine Mutter ihm den Ring aufs Hemd näht, denkt Samuel zum ersten Mal über dieses Zeichen der Andersheit nach, das er immer gut sichtbar auf der Brust tragen muss. Was für ein saublöder Einfall! Was für ein fauler Zauber! Wie kann ein bunter Stofffetzen irgendeinen echten Unterschied kennzeichnen? Der wirkliche Unterschied zwischen zwei Menschen sitzt allenfalls in ihren Köpfen, ihren Gedanken, aber doch nicht in Abzeichen, Fahnen, Uniformen oder Ringen aus Stoff. Solche Dinge kann man je nach den Umständen, den Situationen wechseln. Schwieriger ist es, die Gedanken eines Mannes in andere Bahnen zu lenken, aber auch das ist möglich.

Jedenfalls ist das alles kein Problem. Die Christen wollen ihn anders? Er wird sie nicht enttäuschen.

 

Die Giudecca liegt außerhalb des Ortes, getreu dem Befehl von Kaiser Friedrich, der seit Jahrhunderten befolgt wird, auf halbem Weg zwischen Borgo Sant’Anna und Caltabellotta. Ein Haufen kleiner Häuser, höchstens ein Stockwerk hoch, mit Wänden aus Trockenmauern und behelfsmäßigen Türen, die nur nachts geschlossen werden, eins ans andere gedrängt, als könnten sie nicht allein gerade stehen und müssten sich gegenseitig stützen. Die Hauptstraße teilt das Viertel in zwei Teile, sie ist so eng, dass eine Kutsche kaum hindurchkommt. Die zwei Schritt breiten Gässchen bilden ein Spinnennetz. Nissims Haus, eins der wenigen mit einem Obergeschoss, liegt zum Glück direkt an der Hauptstraße, die Sonne beleuchtet es auf ihrer täglichen Bahn von allen Seiten. Wenn Samuel seine Eltern beim Besuch eines Verwandten oder einer befreundeten Familie begleiten muss, fühlt er sich schon bald dem Ersticken nahe, wird unruhig und empfindet bei der Zeremonie des Abschieds große Erleichterung wie jemand, der endlich wieder atmen kann, nachdem ihm lange die Luft abgeschnürt wurde. Dreihundert Juden leben hier, das sind viele, wenn man bedenkt, dass Caltabellotta trotz seiner zwei großen Kastelle, seiner reichgeschmückten Kirchen und prächtigen Häuser weniger als dreitausend Einwohner zählt.

Und wegen der drangvollen Enge ist man nicht nur gezwungen, zu Hause leise zu sprechen, damit die Nachbarn nichts hören, es gibt auch keinen einzigen Juden, der über Wohl und Wehe seiner zweihundertneunundneunzig Glaubensbrüder nicht bestens Bescheid weiß.

Vielleicht liegt es daran, dass Samuel nie Kleiner, Jungchen oder naar, Junge, genannt wurde, sondern alle stets seinen Namen ausgesprochen haben, Samuel, sogar mit einem Hauch Respekt.

Er geht langsam durch die Hauptstraße, die Sonne steht schon hoch, die meisten Vorübergehenden tragen den Tallit über den Schultern, den Gebetsmantel mit Fransen, den sich die Rabbiner, wenn sie Christen begegnen, zum Zeichen der Missachtung über den Kopf ziehen. Alle Werkstätten sind geöffnet. In der von Matteo Granina, dem Schuhmacher, drängen sich sogar viele Kunden aus Caltabellotta, und Andrang herrscht auch bei Salomone Pujades, dem Tischler, der robuste und elegante Möbel herstellt. Die Christen verachten die Juden, aber sie scheuen nicht davor zurück, mit ihnen gute Geschäfte zu machen.

Jetzt liegt das Judenviertel hinter ihm. Doch fünfzig Meter vom letzten Haus entfernt steht noch eins, ein einsames Haus, das denen des Judenviertels aufs Haar gleicht. Es gehört Moisè Tranchina, dem Schmied, der zum Christentum konvertiert ist. Seine ehemaligen Glaubensbrüder wollten nicht, dass er weiterhin in ihrer Mitte lebt, er sollte zu den Christen ziehen. Doch die Christen lehnten ihn ab, weil sie nicht an die Aufrichtigkeit seiner Bekehrung glaubten, darum hat Moisè sich sein Häuschen in einem Niemandsland gebaut. Er selbst ist auch langsam zu einem Niemand geworden, er hat fast keine Kunden mehr.

 

Jetzt wandert Samuel über die Felder. Das Land rings um Caltabellotta gilt den Christen als von Gott gesegnet, doch Samuel weiß, dass der einzige Gott, der diesen Boden fruchtbar machen kann, der Fluss Verdura ist. Mit seinen üppig strömenden Wassern nährt er Weingärten und Obstplantagen, Orangen- und Zitronenhaine.

Samuel kann den nahen Wechsel der Jahreszeiten auf Anhieb an den Gerüchen erkennen, die im ersten Morgengrauen von den Äckern herangeweht werden, dem Duft von Jasmin, Pfirsichblüte, reifen Trauben … Vorausgesetzt, der Wind steht günstig.

Ja, das ist ein Problem, immer günstigen Wind zu haben. Doch was muss man wissen, um sich selbst so steuern zu können, dass man immer auf der richtigen Seite des Windes steht?

Die Sonne brennt, Samuel holt ein großes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und knotet es sich um den Kopf. Dieses Stück Wegs geht es steil bergan. Eine Reihe Karren und Maultiere kommt aus Caltabellotta herunter, es sind die Bauern auf der Rückkehr aus dem Ort, in den sie am frühen Morgen hinaufgefahren sind, um Obst, Gemüse und Eier zu verkaufen. Eingehüllt in eine Staubwolke, ziehen sie vorüber. Samuel bleibt stehen, um ihnen Platz zu machen. Auf dem ersten Karren sitzt ein fetter Bauer, ein unter den Stößen der Räder zitternder Fleischberg, auf der Stirn einen Kranz aus dicken Schweißtropfen. Als er auf Samuels Höhe ankommt, starrt er ihn einen Moment lang aus wässrigen Augen an, dann spuckt er ihm wortlos einen grünlichen Auswurf auf den Fuß. Samuels Gesicht bleibt vollkommen reglos, in seinem Körper bewegt sich kein Muskel. Er wartet, bis die ganze Reihe vorüber ist, bevor er weitergeht.

Nach dreihundert Metern gibt es eine Abzweigung, einen schmalen Pfad. Samuel schlägt ihn ein und bleibt nach etwa hundert Schritten an einer Kurve stehen. Unter ihm liegen in einem kleinen Tal etwa dreißig Häuschen, ganz ähnlich denen des Judenviertels. Hier leben in bitterer Armut die wenigen Nachkömmlinge jener Araber, die einst als königliche Herren, als stolze Herrscher über diese Gegend das wunderbare Kastell Rocca delle Querce erbauten, Qal’at-al-Ballut, das dem Städtchen seinen Namen gab. Doch die Häuschen wirken unbewohnt.

Samuel sammelt alle Luft, die er in den Lungen hat, legt die Hände an den Mund und schreit: «Allallù!»

Dreimal wiederholt er den Ruf. Dann sieht er seinen Freund Hakmet aus einem Häuschen treten, der sofort die Arme hebt und ihm zuwinkt. Samuel macht ein Zeichen, er solle zu ihm kommen, wartet aber nicht auf ihn.

Er geht den Pfad zurück, nimmt wieder die Straße hinauf in den Ort, der fast tausend Meter hoch liegt. Als die ersten Häuser in Sicht kommen, biegt er links ab. Hier führt ein Ziegenpfad zu einem Dutzend natürlicher Grotten, sie dienen Hirten und Vagabunden manchmal als nächtlicher Unterschlupf. In der Luft liegt der angenehme Duft des Zitronengrases, ein Zeichen, dass es hier einen unterirdischen Wasserlauf gibt. Genüsslich atmet Samuel den Duft ein, dann tritt er in die erste Grotte, wo es sehr kühl ist, weil sie zur Hälfte aus einer Art Becken mit klarem, eiskaltem Wasser besteht. Er setzt sich auf einen Stein, nimmt die Ampulle, zieht den Stopfen ab, leert sie zur Hälfte auf dem Boden aus und füllt sie mit dem Wasser aus dem Becken. So wird der Wundertrank, den sein Vater für Donna Virginia Frangipani zubereitet hat, keine Wirkung haben.

Wenn sein Vater in dem großen Raum seiner alchimistischen Experimente einen Kunden empfängt, findet Samuel immer eine Gelegenheit, heimlich zu lauschen.

Donna Virginia hat Nissim um ein Heilmittel gegen ihre Unfruchtbarkeit gebeten, sie braucht es unbedingt, weniger weil sie ein Kind bekommen will, als um einen Erben zu haben, denn sie ist in eine komplizierte Erbschaftsangelegenheit verwickelt. Samuel tut es leid um Nissim, der wahrscheinlich eine reiche Kundin verlieren wird, aber warum noch einen Christen in die Welt setzen, noch einen Judenbespucker?

Er zieht das rechteckige Kästchen aus der Hosentasche, das er Don Ramunno Scalìa übergeben soll, und öffnet es. Es ist bis zum Rand mit einem sehr feinen, weißen Pulver gefüllt.

Es soll Don Ramunno helfen, seine mit dem Alter dahingeschwundene Manneskraft zurückzugewinnen. Unter Seufzen und Hüsteln hat der Alte Nissim zu verstehen gegeben, dass er sich in die fünfzehnjährige Tochter eines Dieners verguckt hat, der bereit ist, sie ihm für wenig Geld zu überlassen. Samuel kramt am Grund seiner Hosentasche nach einem runden Döschen, füllt es mit einem Teil des Pulvers für Don Ramunno, verschließt es und steckt beide Behälter wieder zurück an ihren Platz.

Dann steht er auf, zieht sich nackt aus und steigt in das Becken. Das Wasser reicht ihm bis zur Brust, es lässt ihn erschauern. Langsam beugt er die Knie, bis sein Kopf unter Wasser verschwindet. Es ist eine Art Ritual geworden, jedes Mal, wenn er Gelegenheit hat, in diese Wanne zu steigen, versucht er, so lange er kann, unter Wasser zu bleiben. Und er weiß, dass seine Widerstandskraft von Mal zu Mal wächst, es ist mühsam, aber sie wächst. Er will es schaffen, so lange unterzutauchen, bis der Mangel an Luft in seinen Lungen zum Vorzimmer des Todes geworden ist. Zu gerne würde er ausprobieren können, wie sich der Tod anfühlt. Natürlich nur für ein paar Minuten. Keuchend, mit einem dumpfen Schmerz in den Ohren taucht er auf und sieht Hakmet vor sich stehen.

«Was soll ich machen?», fragt der Freund.

«Zieh dich aus. Ich hab ein bisschen Zeit.»

Hakmet nimmt die rote Schärpe ab, die alle Araber um die Brust gewickelt tragen müssen, um sich von den Christen und den Juden zu unterscheiden, dann zieht er sein Hemd aus und steht mit nacktem Oberkörper da. Er dreht sich um und lässt langsam seine Hose sinken. Er weiß, dass Samuel den Anblick seiner Hinterbacken genießt, wenn sie, fest wie unreife Früchte, nach und nach erscheinen. Dann steigt er in die Wanne, hebt die Arme.

Samuel streicht ihm mit der Hand übers Gesicht, die Brust, den Bauch und weiter unten, als wüsche er ihn.

«Dreh dich um.»

Hakmet gehorcht. Samuel fährt mit den Handflächen Zentimeter für Zentimeter über seinen Körper. Eine langsame, endlose Liebkosung.

«Bück dich.»

Hakmet stützt die Hände auf den Rand der Wanne, krümmt den Rücken. Samuel stellt sich hinter ihn, hält ihn an den Hüften.

 

Er hat seine Runde beendet, hat die Ampulle und das Kästchen abgeliefert, doch statt den Rückweg einzuschlagen, geht Samuel zum Laden von Salvatore Indelicato, dem Kräutermann, der das rechte Heilmittel gegen jedes Leiden hat, von der Fallsucht bis zum Dreitagefieber, vom Zahnweh bis zum Durchfall. Samuel tritt auf die Ladenschwelle, drinnen sind zwei Kunden, er geht besser nicht hinein. Da hebt Salvatore die Augen und entdeckt ihn in der Tür. Samuel geht zurück auf die Piazzetta und versteckt sich hinter einem Tor, von wo aus er den Ladeneingang ungesehen beobachten kann. Nach einer Weile sieht er einen der beiden Kunden herauskommen, schließlich verschwindet auch der andere.

Samuel schießt hinter dem Tor hervor, läuft über die Piazzetta, kommt keuchend im Laden an.

«Hier bin ich», ruft Salvatore aus dem Hinterzimmer.

Wenige Minuten später ist Samuel schon wieder draußen. Jetzt hat er ein paar schöne Münzen in der Tasche, Indelicato hat sie ihm für das Döschen mit dem Pulver gegeben, das er von der für Don Ramunno Scalià bestimmten Ration abgezweigt hat. Diese Geschäfte mit dem Kräutermann macht Samuel schon seit einigen Jahren.

Auf dem Grund des versiegten Brunnens in Cirinnà liegt ein Ledersäckchen unter einem Haufen Steine, und darin steckt bereits eine hübsche Summe. Aber sie reicht nicht für das, was er vorhat.

Es ist spät geworden, sein Vater wird mit ihm schimpfen. Wenn er den Ort so schnell wie möglich verlassen will, müsste er die linke Straße voller Verkaufsstände und lärmender Fuhrwerke nehmen, doch in diesem Moment erspäht er aus dem Augenwinkel einen reglosen Schatten vor dem Laden von Salvatore Indelicato. Instinktiv spürt er, dass er beobachtet wird, doch er wagt nicht, sich umzudrehen. Sein Herz klopft schneller. Ob endlich der Zeitpunkt jener so lang ersehnten zufälligen Begegnung gekommen ist? Wenn es so ist, darf sie freilich nicht in dieser viel zu bevölkerten Straße stattfinden, jemand aus dem Judenviertel könnte ihn sehen. Also biegt er in eine menschenleere, enge Gasse ein, die in vielfachen Windungen stetig bergab führt. Er geht sehr langsam, damit der andere, vorausgesetzt, es ist der Richtige, Zeit genug hat, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen, doch vom anderen Ende her. Plötzlich lächelt er, sein Schritt wird schneller. Er hat richtig geraten, jetzt wird die Begegnung unvermeidlich sein. Nur noch wenige Meter vor ihm steigt schnaufend ein etwas zu beleibter Karmeliterpater die Gasse hinauf. Es ist Frate Arrigo, er hat Moisè Tranchina bekehrt, außerdem zwei andere Juden, die es jedoch vorgezogen haben, weit wegzuziehen. Oft sieht man ihn in der Nähe des Judenviertels auf Beute lauern wie eine Krähe, immer bereit, sich auf einen Juden zu stürzen, der gerade einen schwierigen Moment durchlebt, den Tod eines geliebten Menschen, eine Beleidigung (wie kommt er eigentlich an diese Informationen?), und sich an ihn zu krallen wie ein Blutsauger, um ihm bis zur völligen Erschöpfung vom Trost des christlichen Gebets zu sprechen, ihn von der Notwendigkeit der Bekehrung zu überzeugen. Samuel drückt sich an eine Hauswand, um ihn vorbeizulassen.

Doch der Frate bleibt stehen, lächelt ihn an. Sein Gesicht ist rosig und gutmütig. «Endlich!», sagt er.

«Warum?», fragt Samuel, Erstaunen heuchelnd.

«Bist du Samuel ben Nissim?»

«Ja.»

«Ich will dich schon seit langem treffen.»

«Mich?»

«Ja, dich.»

«Und was will Vossia von mir?» Er weiß ganz genau, was der Frate von ihm will.

«Ich möchte mal in Ruhe und allein mit dir reden.»

«Aber ich will nicht mit Vossia reden.» Während er das sagt, dreht er ruckartig den Kopf zur Seite, als könnte er den Anblick des Mannes nicht mehr ertragen. Den Preis erhöhen, eine Grundregel, die alle befolgen, da gibt es keinen Unterschied zwischen den Religionen.

Frate Arrigos Lächeln wird breiter. «Ich könnte dich für die Zeit bezahlen, die du durch mich verlierst …»

Das ist Musik in seinen Ohren. Der Frate ist in die Falle gegangen, die Regel hat funktioniert. Samuel wartet, dass sein Gegenüber jetzt sagt, wie viel er ihm geben will, doch der Frate schweigt. Nach einer Weile spricht er. «Ich kenne Nissim, deinen Vater. Wir plaudern manchmal ein bisschen. Ein anständiger Mensch, rechtschaffen und ehrlich.»

Wieder verstummt der Mönch. Was hat sein Vater damit zu tun? Wenn er wüsste, dass sein Sohn mit Frate Arrigo spricht …

«Ich glaube, er wäre zu Tode betrübt, wenn ich ihm verrate, was sein Sohn treibt», setzt Arrigo wieder an.

«Was treibe ich denn?», fragt Samuel herausfordernd.

Er zeigt es nicht, aber er ist sehr unruhig geworden. Ihm kommt ein schrecklicher Verdacht. Weiß der Frate womöglich von seiner Beziehung zu Hakmet? Jude und Sodomit bedeutet den sicheren Scheiterhaufen.

«Salvatore Indelicato ist ein guter Christ, der oft zur Beichte geht», fährt Frate Arrigo fort, während er Samuels Blick sucht.

Jetzt hat er verstanden. Der Frate weiß, dass er dem Kräutermann einen Teil der Wundermittel seines Vaters verkauft. Das ist zwar gefährlich, aber weit weniger als die Anschuldigung, die er befürchtet hat. Der Frate zwingt ihn zu einer Entscheidung. Aber war es nicht genau das, was er wollte, ein Treffen mit ihm? Und wenn er nicht sofort einen Verdienst herausschlagen kann, na wenn schon. Er will antworten, aber der Frate kommt ihm zuvor.

«Hast du eher vormittags oder nachmittags Zeit?»

Jetzt weiß er, dass er ihn in der Hand hat. Und so ist es. «Vormittags. Aber ins Kloster oder in die Kirche kann ich nicht kommen.»

«Das weiß ich doch. Wir können uns im Schuppen hinter dem Haus von Moisè Tranchina treffen, wo er sein Eisen lagert. Bist du einverstanden?»

«Ich bin einverstanden.»

«Dann erwarte ich dich morgen um die Mittagszeit», sagt der Frate und geht weiter.

Gut, dann hat er vorher noch Zeit, um Hakmet zu sehen.

 

In den Brunnen von Cirinnà hinabzusteigen ist eine langwierige Angelegenheit. Zuerst muss die am Fuß des großen Olivenbaums vergrabene Seilrolle ausgegraben werden. Wenn die Rolle sichtbar herumläge, bekäme jemand, der vorübergeht, sicher Lust, sie mitzunehmen. Es könnte aber auch Schlimmeres passieren, nämlich dass diesem Jemand einfällt, das Seil zu benutzen, um sich in den Brunnen hinabzulassen und nachzusehen, was am Grund liegt. Ist das Seil ausgegraben, muss ein Ende fest um den kräftigen Stamm eines Apfelbaums nahe beim Brunnen geknotet werden, dann kann der Abstieg beginnen, indem man sich an den Steinen der Brunnenwand abstützt. Am Grund muss der Haufen Steine beiseitegeräumt, das Ledersäckchen geöffnet, das am Vormittag verdiente Geld hinzugefügt und dann jeder einzelne Schritt in der umgekehrten Richtung gemacht werden. Wobei man auf keinen Fall vergessen darf, alle Spuren des Besuchs sorgfältig zu beseitigen. Spuren beseitigen. Immer. Das hat ihn die Verfolgung seines Volkes gelehrt. Und nicht nur die Spuren von Schritten.

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