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Joan Didion und wie sie die Welt sah

Als Buch hier erhältlich:

»Didion dafür zu kritisieren, dass sie über Kleidung schreibt, ist, als würde man sich beschweren, dass Hemingway über das Angeln schreibt.«

Evelyn McDonnell über Joan Didion – Essayistin, Stilikone und wichtigste Chronistin ihrer Zeit

Stell dir vor, du betrittst die Welt von Joan Didion und plötzlich wird alles ein bisschen cooler, witziger und nachdenklicher. Genau das passiert, wenn wir das Buch von Evelyn McDonnell aufschlagen. Die amerikanische Journalistin hat sich an die Fersen ihres Vorbilds geheftet: Joan Didion, Meisterin der scharfen Beobachtungen, Essayistin, Stilikone und wichtigste Chronistin ihrer Zeit.

So wie Didion 1975 Absolventen einer kalifornischen Hochschule riet: »Stürzt euch hinein in den Aufruhr der Welt«, stürzt McDonnell sich in Didions Welt und nimmt uns mit auf einen faszinieren Roadtrip, der in Didions Heimat Sacramento beginnt und uns über Los Angeles, Malibu, Manhattan, Miami und Hawaii zu ihren literarischen Topoi, stilistischen Sternstunden und persönlichen Schlüsselmomenten führt.

Schreiben war für Joan Didion mehr als nur eine Berufswahl, es war eine Mission – wer sie war, warum sie war, wie sie war. »Joan Didion und wie sie die Welt sah« ist eine Einladung, von ihr nicht nur Schreiben, sondern fürs Leben zu lernen: Skepsis, Scharfsinn, Selbstachtung, Stil.

»Erinnere dich, wie es war, du zu sein: Nur darum geht es immer.«

– Joan Didion, »Gedanken über das Notizbuch« (1966)

Dieses Buch ist mehr als eine Biografie, denn Evelyn McDonnell gelingt das Unmögliche: Uns daran zu erinnern, was es für Joan Didion bedeutete, Joan Didion zu sein. Und wie gerne wir wären wie sie.


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907199
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Den J & J meiner Welt,
John und Judy.
Ich liebe dich, Dad.

Und meiner Agentin Sarah Lazin,
die mich bereits seit drei Jahrzehnten begleitet.
Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben.

© Shutterstock/ArtKio

Erinnere dich, wie es war, du zu sein …

– Joan Didion, »Gedanken über das Notizbuch« 1

© Julia Armstrong-Totten

Joan Didion um 1943.

1
GOLD

Die meisten von uns erinnern sich gut an ihren ersten Didion-Moment: ein Artikel, ein Buch, ein Foto oder ein Zitat, das uns dazu brachte, mehr über diese orakelhaft wirkende Schriftstellerin wissen zu wollen. Vielleicht war es eines dieser Bilder von Julian Wasser: eine ernst dreinblickende Frau in einem langärmeligen Kleid, die an ihrer Corvette Stingray lehnt und in ihrer rechten Hand mit gespreizten Fingern eine Zigarette hält. Und du hast dich gefragt: »Ist das eine Autorin? Dann will ich auch eine sein.« Oder du warst 1979 als sinnsuchender Jugendlicher auf den Spuren der Beatniks unterwegs nach San Francisco, als deine Mutter dir die Essaysammlung Slouching Towards Bethlehem (1968; dt.: Stunde der Bestie) zuschickte mit der Empfehlung, sich den titelgebenden Artikel durchzulesen, in dem Didion mit der Hippie-Manie von Haight-Ashbury aufräumt. 1 Vielleicht hast du auch einfach nur die berühmte erste Zeile aus ihrem Buch The White Album (1979; dt.: Das weiße Album) gelesen – »Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben« 2  –, zustimmend genickt und den Bleistift gespitzt.

Dieses Zitat zählt zu den bekanntesten von Didions zahlreichen literarischen Juwelen und wohl auch zu den vieldeutigsten. Einerseits ist es eine Einladung: Durch den Gebrauch der ersten Person Plural – »wir« – wird das Publikum einbezogen und ermächtigt. Wir alle sind Geschichtenerzählerinnen und -erzähler, so die Botschaft, und wir alle verfügen über das existenzielle Menschenrecht – so grundlegend wie Nahrung, Wasser und Zuflucht –, unsere Geschichten zu erzählen. Didions Einbeziehung ihrer Leserschaft, verbunden mit ihrer Offenheit über sich selbst, ist ein Akt radikaler Großzügigkeit. Indem sie ihre eigene Geschichte erzählt, ermutigt sie uns zum Erzählen der unseren.

Doch der Essay ist, wie so viele ihrer Schriften, auch eine Anklage gegen das Potenzial der Erzählung, die Realität zu begrenzen und zu verzerren – eine Anklage, von der sich Joan selbst nicht ausnimmt. Sie ermächtigt und ermahnt uns: Geschichten können lügen. »Wir leben voll und ganz, besonders wenn wir Schriftsteller sind, indem wir nicht zu vereinbarende Bilder nach einer bestimmten Erzählweise einrichten und nach den ›Vorstellungen‹, mit denen wir die wechselnde Phantasmagorie unserer tatsächlichen Erfahrung einzufrieren gelernt haben« 3 , schreibt sie in Das weiße Album. Das Erzählen war zugleich ihre Kunst und ihr Feind.

Wir leben in einer Zeit der Abwägungen darüber, wer wie und warum Geschichten erzählen darf. Didion sah sich diesem Abgrund als junge Frau am Beginn ihrer Karriere und in der Zeit ihrer Familiengründung gegenüber, und die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Auflösung beschrieb, war ihre wie auch unsere Rettung. »Ich musste mein Leben lang gegen meine eigenen Sorgen ankämpfen, gegen meine eigenen falschen Vorstellungen, meine eigenen verzerrten Wahrnehmungen«, erklärte sie 1975 in einer Rede vor Absolventen der University of California Riverside. »Ich musste sehr hart arbeiten, mich unglücklich machen, mich von bequemen Vorstellungen verabschieden, um gesellschaftliche Realitäten zu verstehen. Mir ist, als hätte ich mein gesamtes Erwachsenenleben in einem tiefen kulturellen Schockzustand verbracht. Ich wünschte, damit wäre ich allein, aber das bin ich nicht.«

Viele ihrer Grundideen formulierte Didion zunächst in derlei Reden vor jüngerem Publikum, meist an Universitäten. Dies ist einer der Gründe, warum ihr Vermächtnis für ganze Generationen so transformativ war. Sie hat uns, im wahrsten Sinne, direkt angesprochen, ihre eigenen Erfahrungen an uns weitergegeben. »In dieser Welt zu leben, erfordert einen Willensakt, und darüber möchte ich heute reden«, erklärte sie in Riverside. »In der Welt zu leben, damit meine ich, sie wirklich zu erkennen versuchen, sie sich anzusehen, Verbindungen herzustellen. Und das ist nicht einfach, es gehört Arbeit dazu. Man muss sich selbst immer wieder bloßlegen, alles Gesehene genau erforschen, sich befreien von dem, was uns verblendet.«

Ihr Rat lautete: »Stürzt euch hinein in den Aufruhr der Welt.«

Mit ihrer journalistischen Arbeit und ihrem ersten Roman Run River (1963; dt.: Menschen am Fluss) begann Joan Didion in den 1960er-Jahren, die amerikanische Literaturlandschaft neu zu gestalten, indem sie die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser weg vom Osten und hin zur untergehenden Sonne über dem Pazifik lenkte. Natürlich gab es noch andere große kalifornische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, mit und nach ihr, doch die Art, wie diese Frau das echte Leben im Westen dokumentierte, hatte etwas Neues, Fesselndes, Umwälzendes. Sie schrieb über die Welt, die sie kannte – die Flüsse, Freeways, Berge, Filmstars, das Meer, Orchideen –, und zwar mit einem solchen Blick fürs Detail und musikalischen Gehör, einer derartigen Mischung aus Verständnis und Skepsis, dass wir uns an ihre Schauplätze versetzt sahen. Im Laufe ihrer siebenundachtzig Lebensjahre schrieb Joan Didion fünf Romane, Hunderte Aufsätze, von denen viele gesammelt in Buchform vorliegen, zahlreiche Drehbücher und ein Bühnenstück. Sie war eine vielfotografierte literarische Berühmtheit und Modeikone. Ihr Tod am 23. Dezember 2021 löste eine Welle an Würdigungen nicht nur von anderen Autorinnen und Autoren, sondern auch von Schauspielern, Musikerinnen, Filmemachern, Künstlerinnen, Persönlichkeiten aus der Politik sowie seitens ihrer Fangemeinde aus. Selbst diejenigen, die ihr kritisch gegenüberstehen, achten ihr Können und ihr Vermächtnis.

Didions Werke waren oft zutiefst persönlich; sie bekannte darin ihren Wahnsinn, ihre Trauer, ihre Schuld, ihre Liebe, ihr Versagen. Und dennoch hatte sie etwas Enigmatisches. Sie war sehr zurückhaltend und behielt ihr Privatleben für sich. In ihren Werken öffnete sie Fenster in ihre Welt, doch die Türen hielt sie stets verschlossen. Die Schlüssel, so scheint es, nahm sie mit sich, als sie starb. Nach Joan Didions Tod stürzte ich mich in den Aufruhr ihrer Welt. Es war ein Ort, den ich zu kennen meinte, doch ich hatte noch so viel zu lernen.

Meine eigene Didion-Geschichte ist eine der gewöhnlicheren: Auf dem College las ich »Some Dreamers of the Golden Dream« (dt.: »Sie träumen vom Goldenen Traum«), Joan Didions 1966 erschienenen Artikel über einen Mordfall in San Bernardino. Ich hatte damals eines der an meiner Schule angebotenen Journalismus-Seminare belegt, und als Grundlage diente uns die Anthologie The New Journalism, herausgegeben von Tom Wolfe. Normalerweise hatte ich nicht viel übrig für Krimis, aber »Sie träumen vom Goldenen Traum« war keine gewöhnliche Detektivgeschichte. Didions Thema war nicht etwa der Mord an sich, sondern das Inland Empire (ein ziemlich pompöser Name für einen östlichen Außenbezirk von Los Angeles). Das Rätsel, das Didion zu lösen versuchte, war nicht, ob Lucille Miller ihren Ehemann umgebracht hatte, indem sie ihren VW Käfer mitsamt Gordon »Cork« Miller im Inneren in Brand setzte (das stand, wie wir in der Erzählung erfahren, außer Frage). Was die Schriftstellerin eigentlich beschäftigte, ging weit über das Thema einer misslungenen Ehe hinaus.

An welcher Stelle hatte der Traum versagt?

Der goldene Traum. Der kalifornische Traum. Der amerikanische Traum. Der Traum und dessen Scheitern bestimmt einen Gutteil von Didions Werk. Sie mochte das Golden Girl aus dem Golden State sein, das den literarischen goldenen Traum lebte, doch sie erkannte auch die Dunkelheit und Gefahr der Minen. »Dies ist eine Geschichte über Liebe und Tod im Goldenen Land, und sie beginnt mit dem Land selbst« 4 , lautet der erste Satz von »Sie träumen vom Goldenen Traum«. Kein klassischer Aufmacher, aber einer der bekannteren Anfangssätze in amerikanischen Briefen, der auch der erste Satz in diesem Buch sein könnte.

Didions Traum war von Schrecken gezeichnet, umrissen von schwarzen Schatten – eine Chiaroscuro-Studie. »Die Mitte hielt nicht mehr« 5 , warnte die Queen des California Noir vor dem Wandel der Zeiten in ihrem 1967 erschienenen Artikel über Haight-Ashbury, »Stunde der Bestie«. Eine Anlehnung an die Worte des irischen Dichters William Butler Yeats über den Ersten Weltkrieg; an Didions eigenem Horizont drohte der Vietnam-Konflikt. Im dritten Akt ihres Lebens gab ihre Mitte tatsächlich nach – ihr Mann, der Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem sie vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war, und ihre neununddreißigjährige Tochter Quintana Roo Dunne starben innerhalb von zwanzig qualvollen Monaten und ließen Joan mit siebzig Jahren als Alleinstehende in New York City zurück. Nicht länger die Träumerin im goldenen Land, sondern eine Fremde in einem fremden Land.

»Die Idee vom Golden Dream zieht sich durch ihr gesamtes Werk«, meint Steffie Nelson, die nach ihrem Umzug von New York in den amerikanischen Westen von Didions Einfluss auf die dortige Literaturszene so beeindruckt war, dass sie eine Anthologie zu diesem Thema herausgab, Slouching Towards Los Angeles: Living and Writing by Joan Didion’s Light. »Sie erkennt dieses Potenzial – oder wie sie es nennt, den Schimmer –, aber bei dem Golden Dream geht es um Kalifornien. Die Vorstellung von einem Kalifornien der Möglichkeiten faszinierte sie, ob es nun um die Pioniere geht, die die Prärie durchqueren, um in den Westen zu gelangen, oder um aufstrebende Filmsternchen, die nach Hollywood wollen.«

Mit Pionieren und Filmsternchen kannte Didion sich aus. Sie war, genau wie vier Generationen ihrer Familie vor ihr, gebürtige Kalifornierin. Diese tiefe Verwurzelung war ein wesentlicher Teil ihrer Identität. Bereits in der achten Klasse setzte sie dieser Verwurzelung ein schriftliches Denkmal: »Diejenigen, die nach Kalifornien kamen, das waren nicht die Selbstgefälligen, Glücklichen und Zufriedenen, sondern die Verwegenen, die Rastlosen und Mutigen. Sie unterschieden sich sogar noch von denen, die sich in anderen Staaten im Westen niederließen. Sie waren nicht auf der Suche nach Heimat und Sicherheit, sondern nach Abenteuer und Geld«, schrieb sie, eine frühe Skepsis gegenüber Herrschaftsansprüchen zum Ausdruck bringend. Die Worte stammen aus ihrer Abschlussrede an der Arden School, die sich damals, im Jahr 1948, noch am landwirtschaftlichen Ostrand von Sacramento befand und heute eine öffentliche Bildungseinrichtung ist, eingebettet in ein Netz aus Taco Bell, Kaiser Permanente und Big 5 Sporting Goods.

Oft wird fälschlicherweise angenommen, Didion stamme aus Los Angeles. Und tatsächlich lebte sie vierundzwanzig Jahre lang in unterschiedlichen Gegenden der Stadt und dokumentierte sie mit so feiner Sympathie wie keine anderen Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor ihr. Doch die Geschichte beginnt mit dem Land. Geboren und aufgewachsen ist Didion in der Hauptstadt Sacramento, die im Norden des landwirtschaftlich geprägten Central Valley und damit zugleich in der Mitte des Bundesstaates liegt. In dieser Landschaft, grün und ständig wechselnd durch den Zusammenfluss zweier Flüsse, zwischen der schneebedeckten Gebirgskette Sierra Nevada – wo viele derjenigen, die sich ansiedeln wollten, auf der Reise gen Westen den Tod fanden – und dem Küstengebirge, das zur Heimat der Weingärten und Universitäten werden sollte, ließen sich Didions Vorfahren nieder.

Der Friedhof Matthew Kilgore Cemetery liegt im östlichen Randbezirk von Sacramento, auf dem Land der ehemaligen Kilgore Ranch, wo sich heute eine typische zersiedelte Vorstadt namens Rancho Cordova erstreckt. An einem feuchtheißen Morgen im Juni 2022 sitze ich zusammen mit Jeanne Didion Huggins und John Didion, zweien der insgesamt sieben Kinder von Robert »Bob« Eldridge Didion, dem Bruder von Joans Vater Frank »Sonny« Reese Didion, unter einer Eiche. Das Blätterdach bietet ein wenig Schutz vor der berüchtigten Hitze des Central Valley, die um die Mittagszeit an die 38 Grad erreicht. Die beiden, die ihre Cousine immer noch »Joanie« nennen, erzählen mir die Geschichte der nur fünfzehn Meter weiter begrabenen Kilgore-Vorfahren. Winzige Eicheln fallen hin und wieder auf unseren Picknicktisch, während sie mir das gebundene Buch zeigen, das die Aufzeichnungen eines dieser Vorfahren von der Durchquerung der Sierra Nevada zum goldenen Land enthält.

»Viele, die nach Kalifornien kamen, haben Tagebuch geführt, es war eine so große Unternehmung«, erzählt Huggins. »Ihnen war durchaus bewusst, dass sie an einem historischen Abenteuer teilnahmen. Ich weiß nicht, ob man in meiner Generation noch zu so etwas in der Lage gewesen wäre.« In der geneigten Handschrift des Tagebuchs, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, erkenne ich einen Vorläufer von Joans Notizbüchern, von denen ich eines erst vorgestern in der Joan-Didion-Sammlung der University of California, Berkeley, durchgeblättert habe.

1850, im selben Jahr, in dem Kalifornien zum Bundesstaat wurde, erlangte Sacramento als erste Stadt Kaliforniens den Status einer selbstständigen Kommune. Bevor ein Schweizer Hochstapler namens Johann August Sutter die mexikanische Regierung 1839 davon überzeugte, ihm knapp 20 000 Hektar Land nahe der Mündung des American River in den Sacramento River zu übertragen, war das Gebiet von den Maidu, Patwin Wintun und Miwok bevölkert, die in dieser launenhaften Umwelt über das nötige Improvisationstalent verfügten und deren Ernährung auf dem Kleinsten basierte, das die Natur zu bieten hatte: Eicheln. Die indigenen Stämme versuchten nicht, das Land zu kultivieren oder zu kontrollieren; sie befolgten die Gesetze des Wassers und wussten, dass die Natur auf ihre eigene Art Nahrung bereitstellte: weiche Proteine umhüllt von einer harten Schale mit lustigen kleinen Hütchen.

Doch die Siedler hatten andere Pläne. Im Jahr 1840 errichtete Sutter hier ein typisch europäisches rechteckiges Fort. Einen Krieg gab es nicht, einmal abgesehen von der Invasion in bewohntes Land. Heute bildet Sutter’s Fort einen State Park im Herzen von Sacramento, der regelmäßig von Schulkindern besucht wird, die in den alten Steinöfen Plätzchen backen und auf demselben Grund und Boden wandeln, auf dem einst indigene Menschen in Sklaverei leben mussten. Auch Didion muss bei einem dieser Ausflüge dabei gewesen sein – wie in ihrer passionierten Abschlussrede deutlich wird, war ihre Verbindung zur Besiedlung der Stadt für sie eine Quelle kindlichen Stolzes. Sutter war ein gewiefter Kapitalist, der sich immer auf die Seite derer schlug, die das Sagen hatten: erst der mexikanischen Regierung, dann der Vereinigten Staaten von Amerika. Sutter’s Fort nahm eine wichtige Stellung westlich der Bergpässe ein, durch die immer mehr Wagenzüge kamen. Als Tor für Einwandernde bot das Fort einer wachsenden Anzahl von Siedlerinnen und Siedlern, darunter auch Didions Vorfahren, Unterkunft und Versorgung.

Aus dem Rinnsal wurde ein stetiger Zustrom. 1848 entdeckte der Zimmermann James Marshall, der für Sutter eine Mühle am South Fork des American River baute, etwas Glitzerndes im Wasser. Er kratzte an dem gelben Stein. Er war weich. Danach gab es für die Maidu, Patwin Wintun und Miwok keine Hoffnung mehr.

Der Golden State trägt seinen Namen nicht nur dank der Art, wie das Licht auf die Pazifikküste fällt, dank der goldgelben Mohnfelder oder der Farbe der von der endlosen Sommersonne gebleichten grasbewachsenen Hügel. Das Edelmetall Gold ist das offizielle Staatsmineral von Kalifornien. »Heureka«, das griechische Wort für »Ich habe es gefunden« und der Überlieferung nach Marshalls Ausruf, als er die Goldklumpen als solche erkannte, steht auf Kaliforniens Siegel, seit es im Jahr 1849 entworfen wurde. Innerhalb von vier Jahren nach Marshalls Entdeckung stieg die Zahl der sich ansiedelnden Menschen im Staat von 14 000 auf 250 000 an, während die indigene Bevölkerung vertrieben und vernichtet wurde. Die Siedler kamen des Goldes wegen und blieben des Wetters, des Lichts, der Blumen wegen.

Der goldene Traum war ein Traum vom Gold.

Als Erwachsene begriff Joan Didion diese Ursprungsgeschichte ziemlich gut. Tatsächlich wurde Expansionismus, der Gedanke des sogenannten »Manifest Destiny«, zum zentralen Thema ihrer Arbeit. Wie mir David Rieff, der Sohn der berühmten Schriftstellerin Susan Sontag, erklärte, war »das amerikanische Imperium eines ihrer großen Themen. Sie hatte es durchschaut. In mancherlei Hinsicht war Joan immer eine Insiderin. Das amerikanische Establishment war ihr Material.«

Ihr Thema war das Inland Empire.

Ihr Thema war das American Empire.

Im Jahr 1948, ein Jahrhundert nach Marshalls Heureka-Moment und in einer Schule, die nur eine kurze Joggingrunde vom Niederlassungsort ihres Ururgroßvaters Matthew Kilgore entfernt war, schwelgte Didion in ihrer »Pionier«-Vergangenheit. Deren Ursprung verortet sie in der als »Mother Lode« oder Hauptader bezeichneten erzreichen Sierra-Nevada-Region, wo »tagsüber Gold gegraben und nachts getanzt wurde«, wie sie in ihrer Abschlussrede schrieb. Mit ihren dreizehn Jahren war ihr mehr an der Lektion über harte Arbeit gelegen als über die Enteignung von Gütern und Land. »Wie leicht wäre es, sich zurückzulehnen und das Resultat der Vergangenheit zu genießen. Aber das dürfen wir nicht. Wir dürfen nicht innehalten und uns zufriedengeben. Wir müssen unserem Erbe gerecht werden, nach Besserem und Höherem für Kalifornien streben.«

Joans Abschlussrede ist uns bekannt, weil sie einen Auszug davon in Where I Was From (2003; dt.: Woher ich kam) veröffentlichte, dem Buch, worin sie ihre eigene Vereinnahmung der Golden-State-Narrative rigoros auseinandernimmt. Worin sie nach Besserem und Höherem strebt, indem sie mit dem Mythos vom Erbe aufräumt.

Was ich mitunter am meisten an Joan Didion bewundere, ist ihre Fähigkeit, sich der Zufriedenheit entgegenzustellen. Zuzuhören. Sich zu verändern. Woher ich kam, nicht Woher ich komme. Jedes ihrer Worte ist mit der Präzision einer Maschine gewählt.

Joan Didion wurde am 5. Dezember 1934 im Mercy Hospital in Sacramento geboren. Es war der Höhepunkt der Großen Depression. Sie war das erste Kind von Frank und Eduene, ihr Bruder James (auch Jim oder Jimmy genannt) kam fünf Jahre nach ihr auf die Welt. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in bescheidenen Häusern in den zentral gelegenen Vierteln Curtis Park und Poverty Ridge (ein Name aus den Anfangszeiten Sacramentos, bevor die Wohngegend von komfortablen zweistöckigen Häusern dominiert wurde). Eichen, Weiden, Eukalyptusbäume, Kiefern und Platanen säumen die breiten, überwiegend im Raster angelegten Straßen. Mit Ausnahme von ein paar Jahren während des Zweiten Weltkriegs, in denen ihr Vater als Buchhalter für die Armee an verschiedenen Orten der Vereinigten Staaten stationiert war, wuchs Joan hier, in der als »City of Trees« bekannten Stadt auf.

»Ich bin in Sacramento geboren und habe den Großteil meines Lebens in Kalifornien verbracht. Ich lernte schwimmen im Sacramento und American River, bevor die Staudämme gebaut wurden. Ich lernte Autofahren auf den Deichen des Sacramento River«, schreibt sie in Woher ich kam. Sie besuchte öffentliche Schulen und ging in die Bücherei im Stadtzentrum zum Lernen. 1953 verließ sie die Stadt, um für vier Jahre an der University of California, Berkeley, zu studieren, und zog anschließend nach New York, wo sie acht Jahre lang bei Zeitschriftenverlagen arbeitete. Sie kehrte nach Kalifornien zurück und lebte vierundzwanzig Jahre lang als Schriftstellerin in L.A., bevor sie wieder nach New York ging, wo sie die letzten dreiunddreißig Jahre ihres Lebens verbrachte. Auch wenn sie nach dem Studium nie wieder in Sacramento wohnte, kehrte sie doch regelmäßig dorthin zurück, um an Feiertagen oder Geburtstagen ihre Eltern zu besuchen, bis Frank und Eduene irgendwann im hohen Alter mit Jim nach Carmel zogen.

Der 2017 erschienene Film Lady Bird von Greta Gerwig erzählt die Geschichte einer kreativen, rastlosen jungen Frau, gespielt von Saoirse Ronan, die Sacramento verlassen möchte und sich heimlich für ein Studium an der Ostküste bewirbt. Der Film beginnt mit einem Didion-Zitat: »Wer von kalifornischer Genusssucht spricht, hat noch nie Weihnachten in Sacramento verbracht.«

Als Erwachsene kehrte Didion auch zum Schreiben hierher zurück, und zwar in das große Haus in Fair Oaks, in das ihre Eltern während ihrer Teenagerjahre gezogen waren. Der Ort lag damals noch am östlichen Stadtrand und bildet heute einen vornehmen Außenbezirk zwischen der Arden School und dem Kilgore Cemetery. Als ich einmal dort vorbeifuhr, sah ich ein paar Häuser weiter eine Schar wilder Truthähne umherziehen. Wildtiere auf den Rasenflächen sind hier kein ungewöhnlicher Anblick. An dem Tag, an dem ich Robert Weidner, Didions Freund aus Unizeiten, in seinem Haus nördlich von San Francisco besuchte, stand draußen in der Einfahrt ein Reh mit zwei Kitzen, als ich gerade fahren wollte. Das eine sah uns noch eine Weile neugierig an, bevor es zu seiner Familie davonsprang.

Eines schönen nachmittags im Sommer nach Didions Tod fuhr ich über den Pacific Coast Highway nach Trancas, dem Stadtteil von Malibu, in dem sie von 1971 bis 1978, mit Ende dreißig und Anfang vierzig, gewohnt hatte. Orte waren ihr beim Schreiben nicht bloß Schauplätze, sondern vielmehr Persönlichkeiten, deren Einfluss auf Menschen und Ereignisse sie lebhaft schilderte. Auch die Epochen ihres eigenen Lebens lassen sich anhand von Orten einteilen – Zeit und Raum bilden eine Einheit. Von all ihren Wohnorten – Sacramento, Berkeley, Manhattan, Portuguese Bend, Franklin Avenue, Brentwood Park, wieder Manhattan – ist mir Trancas der Inspirierendste, Verlockendste. Hier wohnte sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einem Haus auf einer Klippe, zwischen dem Pacific Coast Highway und dem Ozean. Ein südkalifornisches Leben wie aus dem Bilderbuch: das Meer, Prominente, ein Sportwagen und eine kleine Gruppe kreativer Freunde, darunter ein gutaussehender Handwerker namens Harrison Ford. (Halten Sie hier einen Moment inne und stellen sich vor, wie der künftige Han Solo in Ihrer hippen Malibu-Hütte beim Reparieren herumwerkelt.) Als berühmte Schriftstellerin und Journalistin bekam Didion Besuch von Nachrichtensendern, die sie mit dem rauschenden Meer im Hintergrund interviewten. Das große Wohnzimmer hatte rote Terrakotta-Fliesen, weiße Wände, eine Redwood-Decke und eine zum Meer ausgerichtete Glaswand. Das hereinfallende Sonnenlicht, erklärte sie, sei so hell gewesen, dass sie nach und nach all ihre Stühle in dunkle Ecken verschoben hätten.

»Sie lebten dort einfach in ihrer eigenen Szenerie und Szene, jeder war da«, erzählt Katrina van den Heuvel, Chefredakteurin der US-amerikanischen Zeitschrift The Nation. Deren Mutter, die Schriftstellerin Jean Stein, mietete 1973 – dem Jahr der Watergate-Verhandlungen – ein Haus in Trancas. Joan und Jean besuchten einander, was sie für den Rest ihres Lebens beibehielten. »Sie waren an der frischen Luft und aßen mit Blick aufs Wasser.«

Malibu ist sowohl eine millionenschwere Strandvillenoase von Film- und Musikstars als auch ein Paradies für Surfer und Surferinnen, die ihre Freizeit zwischen Van und Wellen verbringen. Ganze Abschnitte der felsigen Küste sind für die Allgemeinheit nicht zugänglich, obwohl das Bundesgesetz und zahlreiche Gerichtsurteile den öffentlichen Zutritt zum gesamten Küstenbereich garantieren. Der aus Michigan stammende Architekt John Lautner baute hier einige seiner beeindruckendsten Häuser, Betongebilde mit Felswänden im Wohnzimmer. Doch es gibt auch genügend Stellen, wo einfache Leute wie ich mit den Füßen ins Wasser können: den für seine legendären Surfspots bekannten Zuma Beach oder kleinere öffentliche Strände wie El Sol und El Matador. Von hier bis Big Sur gibt es zahlreiche Küstenabschnitte, an denen man einfach zwischen der Straße und dem Pazifik halten und von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang surfen kann.

In Songs der 1970er-Jahre wird dieser idyllische Lebensstil romantisiert: »Ventura Highway« von America (1972) (»Where the days are longer/The nights are stronger/Than moonshine«), »Summer Breeze« von Seals and Crofts (1972) (»Blowin’ through the jasmine in my mind«) und »It Never Rains in Southern California« von Albert Hammond (1972) (»But girl, don’t they warn ya/It pours, man it pours«). Das beliebteste Spielzeug junger Mädchen in meinem Alter – Quintanas Alter – war die Malibu-Barbie: eine sonnengebräunte, blonde Modepuppe mit schickem Outfit und Strand-Van.

Mir ist klar, dass all das – Strände, Glamour, Berge, Brandung – ein kalifornisches Klischee darstellt: überdeterminiert, romantisiert, privilegiert. Dennoch nimmt diese Topografie eine wichtige Rolle im Mythos meiner eigenen Kindheit ein: Es ist ein Ort, der mich nachhaltig geprägt hat. Eine meiner ersten Erinnerungen ist eine Fahrt entlang dieser Küstenstraße, mit meinem Bruder, meinen Eltern und Jackie, einer alleinstehenden, sportlichen, abenteuerlustigen Frau am Steuer, die, wie ich später erfahren sollte, Mums lesbische Freundin war. Während Jackie den zweispurigen Freeway entlangkurvte, streckten Brett und ich den Kopf aus dem Fenster wie zwei Hunde und atmeten die Sommerluft ein. Diese Fahrt war für mich ein Erlebnis reiner, unbändiger Freude, ein damals für uns allzu seltenes Gefühl. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir von L.A. in eine Kleinstadt in Wisconsin. Meine Erinnerung an diese Küstenfahrt muss von einer frühen Rückkehr an meinen Geburtsort stammen, zur selben Zeit, da die Didion-Dunnes nach Trancas zogen. Malibu ist mein verlorenes Paradies, mein goldener Traum. »Wenn ich Sorgen habe, denke ich ans Meer«, notierte sich Joan 1970 während der Arbeit an ihrem Roman Play It As It Lays (dt.: Spiel dein Spiel) über eine Frau, die durch Südkalifornien fährt.

Als ich als Erwachsene nach Malibu zurückkehre, Jahrzehnte älter als meine Eltern damals in diesen Hundstagen, sind die Glücksgefühle sofort wieder da. Ich nehme die Kurven des Pacific Coast Highway, spüre das Salz auf der Haut, den Wind im Haar. Trancas liegt im nördlichsten Teil von Malibu. Nach Santa Monica sind es über dreißig Kilometer, bei starkem Verkehr bestenfalls eine Stunde Fahrtzeit. Weit genug, dass sich die Didion-Dunnes (wie sie genannt wurden) ins Beverly Wilshire einmieteten, wenn sie beruflich nach L.A. mussten. Die Atmosphäre hier draußen am Fuße der Santa Monica Mountains ist eher ländlich als städtisch und dürfte der Frau, die an Flüssen und Dämmen aufgewachsen ist, vertraut gewesen sein. Das hiesige Einkaufszentrum, ein Gebäudekomplex aus Holz, in dem Joan ihre Einkäufe erledigte und Neuigkeiten mit den Nachbarn austauschte, trägt den Namen Trancas Country Market, wobei die angebotenen Waren allerdings nur für ziemlich gut Betuchte erschwinglich sind. Die Geschichte beginnt mit dem Land.

Ich halte beim El Pescador State Beach, einem staatlich geschützten Strand etwa einen Kilometer vor Didions Haus in Trancas. Auf dem Parkplatz stehen nur ein paar wenige Autos. Ein kurzer Fußweg führt hinunter zum Strand. Das Wasser ist aquamarin, der Sand weiß, der Himmel azurblau. Es ist ein relativ windstiller Sommertag und das Meer zwar etwas wärmer als in meinem Wohnort San Pedro, aber doch ziemlich frisch, als ich in eine Welle eintauche. Es ist schwer zu beschreiben, wie unglaublich friedlich und schön die kalifornische Küste sein kann: Meer und Himmel sind unendlich weit und blau, frei von Verschmutzung, Lärm, Negativität. Wir sind ein Dutzend Leute in der kleinen Bucht, die zu beiden Seiten von zurückhaltend anmutenden, exotischen Häusern eingefasst ist, die, obwohl sie den öffentlichen Blick herausfordern, ihn dennoch zu vermeiden suchen. Wenn Sie Natur lieben, so wie ich, so wie Joan – die von sich behauptete, dass sie das Wohnen mit Meerblick immer geliebt hat –, ist es eine wahre Idylle.

Dennoch sollte Joan Didion ihr Paradies verlassen, erst für Tage und Wochen, dann für immer. Sie suchte ihren Jackpot in der journalistischen Erkundung fremder Orte, Menschen und Kulturen. Sie war eine kleine Frau mit enormer intellektueller Neugier, die sie zu Abenteuern fernab von Sacramento führte. Sie interviewte The Doors und Joan Baez, schrieb Drehbücher für Barbra Streisand und Al Pacino. Im Amerika der 1960er-Jahre stellte sie sowohl die Polizei als auch die Gegenkultur an den Pranger. Sie wohnte der Sektion von Leichen in Miami bei. Im kriegszerstörten El Salvador kamen die Toten erst gar nicht bis ins Leichenschauhaus: Sie sah sie halb von Tieren gefressen auf den Straßen verwesen oder am Fuß von Berghängen liegen. In Hawaii schaute sie zu, wie eine Familie im Punchbowl Crater, dem Krater eines erloschenen Vulkans, ihren in Vietnam gefallenen Sohn beisetzte. Sie durchbrach die oberflächliche Rhetorik von Gerichtsverhandlungen von Riverside, Kalifornien, bis New York City. Sie nahm es mit Königen und Königsmachern auf: Ronald Reagan, Bill Clinton, George W. Bush, Dick Cheney, Martha Stewart. Als viele publizistisch Tätige in als Patriotismus getarntes Schweigen verfielen, machte sie darauf aufmerksam, wie die Bush-Regierung die Anschläge vom 11. September dazu nutzte, ihre reaktionäre Agenda von Kriegstreiberei und Zensur durchzusetzen. Zugleich pries sie den Sieg des Schönen über das Banale, ob in der Kunst von Georgia O’Keeffe und Robert Mapplethorpe, den Werken von Ernest Hemingway und Elizabeth Hardwick oder den Orchideen von Amado Vazquez, ihrem Freund aus Malibu.

Didion gelang es, Ereignisse zu durchschauen und zu einem tieferen, oft unbeständigen Kern vorzudringen – und zwar nicht, indem sie viele Fragen stellte, sondern durch Abstand und Beobachtung. »Sie konnte wirklich zuhören!«, erzählte mir 2022 der Fotograf Julian Wasser, dessen Didion-Aufnahmen das studentische Wohnheimzimmer so mancher aufstrebender Autorin schmücken und für ihn selbst eine berufliche Goldader darstellten, wenige Monate vor seinem Tod. »Sie hat nicht geredet, sondern beobachtet.« Die Fähigkeit, mit der eigenen Umgebung zu verschmelzen, um eine Szene genau zu betrachten, war einer der Schlüssel zu Didions Erfolg. Wie sie in der Einleitung zu ihrer ersten Aufsatzsammlung, Stunde der Bestie, schrieb: »Mein einziger Vorteil als Reporterin ist, dass ich von so kleiner Gestalt bin, von so unaufdringlichem Wesen und in geradezu neurotischer Weise um Worte verlegen, dass die Leute eher vergessen, wie sehr meine Gegenwart ihren persönlichen Interessen zuwiderläuft.« 6

Die Rache der Introvertierten.

In Tom Wolfes The New Journalism (1973) wurde Didion als nur eine von zwei Frauen erwähnt (die andere war Barbara Goldsmith). Wolfe verkündete in der Einleitung, dass die in seinem Buch genannten Autoren »den Roman als Spitzenreiter unter den literarischen Gattungen vom Thron stoßen und damit erstmals seit einem halben Jahrhundert einen Richtungswechsel in der amerikanischen Literatur einläuten«. Doch dies war in erster Linie eine Revolution der weißen Männer; ein neuer Journalismus, der sich vom alten in nichts unterschied. Zwar wurde mit Genreüberschreitungen und immersiver Berichterstattung experimentiert, doch der Journalismus der 1960er war im Grunde eine Männerparty. Indem sie über Verbrechen, Bürgerkrieg, Drogen, Politiker und Rockstars berichtete, ebnete Didion den Weg für Schriftsteller, für Kalifornier und für Frauen.

Didion hatte ein sicheres Gespür für die feinen Details, ein Gehör für das perfekte Zitat. 1967 fuhr sie nach San Francisco, um dahinterzukommen, was es mit all den jungen Leuten auf sich hatte, die ihre Heimat verließen und zu Tausenden in den Stadtteil Haight-Ashbury pilgerten. Man sprach vom »Summer of Love«, doch Didion begegnete der Szene mit einem essenziellen journalistischen Werkzeug: Skepsis.

Statt einfach nur in Ämtern und Pressestellen tätige Personen zu interviewen (was sie durchaus auch tat), begab sie sich an die Treffpunkte und in die Wohnungen der jungen Leute, die dem neuen Lebensstil auf der Spur waren. Dieses Eintauchen in das tatsächliche Leben der Individuen anstelle des Rückgriffs auf bestehende Ansichten oder Interviews läutete tatsächlich eine neue Form von Journalismus ein. »Als ich in jenem Spätfrühling 1967 das erste Mal nach San Francisco kam, wusste ich nicht einmal, was ich dort herausfinden wollte, und so sah ich mich einfach eine Zeitlang um und schloss ein paar Freundschaften« 7 , schrieb sie. Über Wochen hinweg spielte sie Mäuschen.

Das Resultat, »Stunde der Bestie«, ist ein Bravourstück der altbekannten Schreibregel »Show, don’t tell« (Zeigen statt Erzählen). Joan umreißt immer neue Szenen mit Musikern, Künstlerinnen, Polizisten, Veranstaltern, jungen Leuten und den Kindern junger Leute, die sich unter anderem in einem Verhörraum, einem Ort namens Warehouse und bei einem Konzert von Janis Joplin mit Big Brother and the Holding Company abspielen. Didion erklärt nicht, sie beschreibt, und zwar oft in einem Bewusstseinsstrom, der einen LSD-Trip nachzuahmen scheint: »Sie sind alle hübsch, zwei haben noch Babyspeck, und eine tanzt allein mit geschlossenen Augen« 8 , beschreibt sie die Mädchen, die mit den Rockbands abhängen. Sie lässt ihre Objekte auch selbst zu Wort kommen. »Seit ein paar Monaten hab ich jetzt ’ne Alte, vielleicht macht die mir was Besonderes zum Abendessen, und ich komm drei Tage lang spät nach Haus und sag ihr, ich hab ’ne andere gevögelt, na ja, vielleicht schreit sie ’n bisschen rum, aber dann sag ich: ›So bin ich halt, Baby‹, und dann lacht sie und sagt: ›So bist du, Max.‹« 9

»Stunde der Bestie« ist zugleich einfühlend und erschreckend: ein Bild der Gegenkultur nicht als Revolution, sondern als Dissolution. Joan stürzte sich in den Aufruhr der Welt, sah sich alles genau an und schrieb es auf.

In dem 2017 erschienenen Dokumentarfilm Joan Didion: The Center Will Not Hold (dt.: Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten) beschreibt Didion das Heureka-Erlebnis bei ihrem Interview mit Susan. Die Fünfjährige trug weißen Lippenstift und war im »High-Kindergarten«, wie das Kind es ausdrückte. Susan war auf einem LSD-Trip.

Dies war der journalistische Jackpot, die Enthüllung, die Didion für die vielen Wochen geduldiger Beobachtung entlohnte und das düstere Fundament hinter der fadenscheinigen »Love and Peace«-Rhetorik bloßlegte.

»Es war reines Gold«, erzählt Joan den Filmmachern mit einer Geste ihrer langen dünnen Arme, die von Altersflecken übersät sind, und ein kleines Lächeln erhellt das vertraute, mittlerweile von Falten gezeichnete Gesicht. »Für solche Momente lebt man, wenn man an etwas schreibt.«

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NOTIZBUCH

Joan Didions Korrespondenz mit der Welt begann im Alter von fünf Jahren. Das staubige Haus in dem ruhigen Viertel von Sacramento beherbergte zwar ihren Körper, doch ihr ruheloser Geist war unterwegs zu fernen Orten. Als sich ihre Mutter um Joans kleinen Bruder kümmern musste und ihr nicht mehr die gewohnte Aufmerksamkeit schenken konnte, drückte sie, die ehemalige Bibliothekarin, ihrer Großen kurzerhand einen Schreibblock in die Hand, »mit dem vernünftigen Vorschlag […], ich solle aufhören zu quengeln und lieber lernen, mich zu amüsieren, indem ich meine Gedanken aufschrieb« 1 , wie sich Didion später in »On Keeping a Notebook« (1966; dt.: »Gedanken über das Notizbuch«) erinnert. Und so begann Joan Didion zu schreiben.

Ihr erster Eintrag in jenem ersten Notizbuch war eine kurze Geschichte, worin die Protagonistin in der Arktis einschläft und erfriert, nur um in der Sahara aufzuwachen und dort in der Mittagshitze zu sterben. Wie Didion selbst bemerkte, zeigt dieser erste Versuch im fiktionalen Schreiben »einen gewissen Hang zum Extremen, der mich bis ins Erwachsenenleben verfolgt hat« 2 . Die fünfjährige Didion hatte ihre großen Reisen noch vor sich. In ihrer Heimatstadt Sacramento, wo die Temperatur im Sommer regelmäßig an die vierzig Grad erreichte und die Regenfälle im Winter den Sacramento und American River über die Ufer treten lassen konnten, müssen ihr Tundra und Wüste als verlockende, wenn auch gefährliche Alternativen erschienen sein. Die eigenen Gedanken niederzuschreiben, wurde für sie mehr Berufung als Zeitvertreib. Im Laufe der folgenden acht Jahrzehnte sollte Didion eine der angesehensten Stimmen ihrer Generation werden, bekannt vor allem für ihre besondere Fähigkeit, über Orte zu schreiben.

Ich stelle mir die Hand vor, die den Stift hielt: lange, ausdrucksstarke Finger, helle Haut, manikürte Nägel. Didion hatte eine geneigte Handschrift, in der die Buchstaben nicht immer verbunden waren. Hier und dort verrät eine Lücke im Wort, dass sie dort, nur ganz kurz, den Stift abgesetzt hat – um dann den Schreibfluss wieder aufzunehmen. Sie schrieb meist mit Tinte, manchmal mit Bleistift, in ihren Briefen mit leicht kursiver Schrift und herrlich geschwungenen Ps, Qs, Ds, Js und Rs: eine unverkennbare Handschrift, die in ihren vielen Briefen und Dankeskarten gut lesbar ist, in ihren eigenen Notizen, Aufzeichnungen und Revisionen getippter Manuskriptseiten eher weniger.

Joan Didion schrieb und schrieb. Worte wurden immer und immer wieder überarbeitet. Ein Blick in die ersten Entwürfe ihrer großen Werke – Stunde der Bestie, Das weiße Album, Miami, After Henry (1992; dt.: Nach Henry / Sentimentale Reisen) – macht demütig; zugleich ist es beruhigend, den Vorgang aus Imagination, Selbstzweifel, Kürzung und Überarbeitung vor Augen zu haben. Die Worte sind nicht perfekt geordnet aus Joan Didions Kopf hervorgesprungen und fein säuberlich auf dem Papier gelandet. Ganze Passagen sind gestrichen. Didions Sorgfalt wird ersichtlich im Endprodukt. Dahin zu kommen, kostet Zeit und Arbeit: Notizen machen. Abtippen. Getippte Seiten mit roter Tinte, blauer Tinte oder auch mit Bleistift redigieren. Wieder abtippen. Und das Ganze von vorn.

Es ist zugleich einschüchternd und inspirierend, ihre Unterlagen durchzusehen. 3 IHRE Unterlagen. Die handgeschriebenen Notizen, die immer neu abgetippten Entwürfe. Auf linierten gelben Seiten. Auf Grußkarten. Auf cremeweißem, blauem und gelbem Schreibmaschinenpapier. Auf der Rückseite von Visitenkarten, Umschlägen und Wiedergabelisten von Flugzeug-Entertainment-Systemen. Notieren. Revidieren. Auf den Punkt bringen. Ein so vertrauter und doch so eindrucksvoller Prozess. Der breite linke Rand ihrer getippten Seiten, das knittrige Velinpapier. Seiten mit rechteckigen Ausschnitten. An andere Seiten geheftete Ausschnitte getippter Notizen. Ein ständiges Überlegen. Überarbeiten. Der Prozess hinter dem vertrauten Resultat. Der Blick hinter die Kulisse.

Ein ausgeschnittener Zeitungsartikel über das Massaker auf den Jungferninseln. Ein abgeschriebenes Pablo-Neruda-Gedicht über die Müdigkeit, laut Didions Anmerkung aus einem Esquire-Magazin von 1974. Ein Stück Notizpapier mit zwei handgeschriebenen Sätzen: »Ich habe mir immer gewünscht, unter Wasser zu leben« und »Wenn es mir nicht gut geht, denke ich ans Meer«. Ein Brief mit maschinengeschriebenen Anmerkungen von ihrem geliebten Herausgeber Henry Robbins: »Schau dir doch bitte die ersten Absätze auf S. 23 nochmal genauer an.« Anmerkungen von »JGD«, ihrem Mann John Gregory Dunne: »Sie sollte die Zigarette eher abklopfen als ausdrücken.« Hier und da ein brauner Fleck am Papierrand: Kaffee? Cola? Bourbon?

Die Sätze entwickelten sich. In Spiel dein Spiel, Didions zweitem, 1970 erschienenen Roman, geht es um eine Schauspielerin, Maria, die einen Nervenzusammenbruch erleidet. Ein früher Handlungsentwurf beschreibt Marias erste Filmrolle wie folgt: »Sie spielt eine junge Surferin, die das Surfen aufgibt und ihre Noten verbessert, nachdem sie von den Mitgliedern einer Motorradgang vergewaltigt wurde.« Diese Hintergrundgeschichte wird in den folgenden Entwürfen immer weiter reduziert bis zur veröffentlichten Version: »Ein Mädchen, das von den Mitgliedern einer Motorradgang vergewaltigt wurde.« Warum? Die Anmerkungen bieten keine Erklärung für diese Kürzung der Geschichte. Was war die Ausgangsidee und warum wurde sie geändert? Bestrafte Didion das Mädchen dafür, dass es lieber surfen ging als zur Schule? Oder kritisierte sie diese Art sexistischer Hollywood-Klischees? Erschien ihr die Kritik aussagekräftiger, wenn sie prägnant und somit generalisiert war? Bei Didion wurden keine Worte verschwendet, man verdiente sie sich.

Pauschale Antworten oder offensichtliche Substantive vermied Didion gewissenhaft. Um den »Schimmer« zu definieren, der laut ihrem 1976 erschienenen bahnbrechenden Essay »Why I Write« (dt.: »Warum ich schreibe« 4 ) die Bilder in ihrem Kopf umrahmt, ging sie eher noch näher heran, statt herauszuzoomen. Nie die einfache Erklärung wählen. Oder wie Jim Morrison, eine der bekanntesten Personen, die sie zum Gegenstand ihres Schreibens machte, sang: Break on through to the other side.

Unter den Notizen zu Spiel dein Spiel befindet sich ein abgerissener linierter Zettel. Darauf steht oben unterstrichen der Name »Maria«. Die ersten zwei Sätze sind schwer zu lesen – »Als kleines Mädchen …«, lautet der Anfang –, doch der letzte Satz ist klar erkennbar: »Es ist schlimm, an der Westküste Amerikas deprimiert zu sein.«

Seit dem Tag, an dem ihre Mutter ihr den Notizblock schenkte, verspürte Didion »den Zwang […], Dinge aufzuschreiben« 5 . Im Laufe der Jahre beschrieb sie Hotelpapier, Manuskriptränder, und ja, Notizbücher. Tagebücher waren das nicht. »Wer ein Notizbuch führt, ist von einer ganz anderen Sorte«, schrieb sie 1966. »Der Sinn meines Notizbuches war also nie und ist es auch heute nicht, ein akkurates Tatsachenprotokoll dessen zu haben, was ich getan oder gedacht habe. Das wäre ein völlig anderer Impuls, ein Instinkt für die Wirklichkeit, um den ich andere zuweilen beneide, den ich aber nicht besitze.« 6 Vielmehr brachte sie Gedanken, Zitate, Vorstellungen zu Papier. Sie hielt fest, was in ihrem Kopf geschah, nicht die Realität. »Erinnere dich, wie es war, du zu sein: nur darum geht es immer.« 7

Joan Didion war eine wahre Schriftstellerin, eine Meisterin ihrer Kunst. Es ist kaum verwunderlich, dass ihr Tod am 23. Dezember 2021 im Alter von siebenundachtzig Jahren eine ganze Welle an Nachrufen, Ehrungen, Tweets und Memes ausgelöst hat, gefolgt von der unvermeidlichen Gegenreaktion. Sechs Monate nach ihrem Tod war Didion auf den Titelseiten drei verschiedener Zeitschriften erschienen (The Atlantic, Alta und Document). Sie hatte ganze Generationen dazu inspiriert, zu genauen Beobachtern der Welt, unerbittlichen Reporterinnen, unsentimentalen Kritikern, innovativen Erzählerinnen und peniblen Stilisten zu werden. Sie verfasste Memoiren, Drehbücher, Literatur und Essays und war Mitbegründerin des literarischen Journalismus. Obwohl sie Gedichte liebte und in ihren eigenen Werken gern zitierte – allen voran das titelgebende Yeats-Gedicht in Stunde der Bestie –, verfasste sie selbst, soweit mir bekannt ist, nur ein Gedicht, und zwar für Dunnes Buch Vegas. Den größten Erfolg erreichte sie in ihrem dritten Akt mit dem Memoir-Bestseller The Year of Magical Thinking (dt.: Das Jahr magischen Denkens), das 2005 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, und sie blieb solange schriftstellerisch tätig, bis sie durch ihre Parkinsonerkrankung ihrer Bewegungs- und Sprechfähigkeit beraubt war.

Andere Autorinnen und Autoren bewundern Didion für ihren sprachlichen Ausdruck, der zugleich originell und präzise war. Selbst die, die ihre politische Haltung hinterfragen, erkennen ihre künstlerische Fähigkeit an. Jedes Wort hat seinen Grund und jeder Grund sein Wort, und sie alle sind unvergleichlich und unverkennbar Didion. Noch dazu verband sie ihre Worte zu einem musikalischen Fluss, der ebenso mitreißend wie kontrolliert ist. »Grammatik ist ein Klavier, das ich nach Gehör spiele, denn in dem Jahr, da die Regeln erklärt wurden, habe ich wohl in der Schule gefehlt«, erklärte sie in »Warum ich schreibe«. »Was ich von Grammatik verstehe, ist allein ihre grenzenlose Macht. Durch eine Veränderung der Satzstruktur verlagert sich die Bedeutung dieses Satzes so klar und eindeutig, wie die Position einer Kamera die Bedeutung des fotografierten Objekts verändert.«

Doch die Verehrung Didions unter Schreibenden ist mehr als nur Idolatrie: Sie inspiriert zur Nachahmung. Auch wenn ihre politischen Ansichten manchmal durch Privilegien verblendet scheinen, auch wenn sie cool bleibt, wenn andere kochen: Wie hätte man sich nicht wünschen sollen, Joan Didion zu sein? Ihren Status als globaler Literaturstar und zeitlose Stilikone erlangte sie nicht etwa durch schamlosen Ausverkauf ihres unfehlbaren Talents, sondern weil sie ihre Sache einfach so gut beherrschte. Wer hätte gedacht, dass man sich mit einem überragenden Intellekt und einem Gespür für Worte eine Corvette Stingray und ein Haus am Strand verdienen konnte? Nun, nach Didion wusste jeder, dass es geht.

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