×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Kirschkuchen am Meer«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Kirschkuchen am Meer« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Kirschkuchen am Meer

Als Buch hier erhältlich:

Eine jahrelange unglückliche Liebe an der Nordsee und ein ungewöhnliches Happy End – der neue Sommerroman von Bestsellerautorin Anne Barns

Zeit für Kuchen und Meer

Völlig unerwartet taucht eine Fremde auf der Seebestattung von Maries Vater auf, zu dem sie selbst in den letzten Jahren kaum noch Kontakt hatte. Niemand scheint sie zu kennen. Es gibt nur einen Hinweis zu dieser Frau, und der führt nach Norderney. Mit zwiespältigen Gefühlen, aber festentschlossen das Geheimnis zu lüften, das Marie hinter dem Erscheinen dieser Frau vermutet, fährt sie von Hooksiel aus auf die beschauliche Nordseeinsel. Und wirklich: Zwischen Dünen und Meer lernt Marie ihren Vater hier noch einmal neu kennen. Es kehren Erinnerungen zurück an warmen Kirschkuchen und Sommertage voller Genuss, Sonne und Glück.

Auf zauberhafte Weise schafft es Anne Barns, die Düfte und Genüsse guter Küche einzufangen


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674195

Leseprobe

1. Kapitel

Der Duft von Erdbeeren steigt in meine Nase. Einen Augenblick beobachte ich die leise vor sich hin blubbernde Masse im Topf, bevor ich zum Kochlöffel greife und sie umrühre. Heute habe ich mich für die klassische Variante entschieden, Marmelade pur – aus prallen Früchten und Zucker.

In den letzten Tagen haben die Erdbeeren noch mal ordentlich Sonne getankt und ihr wundervolles Aroma entfaltet. Auf der Arbeitsplatte steht noch eine weitere volle Schüssel. Die Ernte war reichlich. Ich greife nach einer besonders dunkelroten Frucht, stecke sie in den Mund und schließe genussvoll die Augen. An irgendwas erinnert mich der intensiv süße Geschmack. Er hat eine besondere Note. Ich nasche noch eine zweite, komme aber nicht darauf.

Die Sommermonate waren mir schon immer die liebsten. Es ist die Zeit für Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren – und es ist Zeit mit Oma. Ich werfe einen Blick aus dem Küchenfenster in den Garten, wo Oma die Pflanzen nach den letzten versteckten Früchten absucht. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich sehe, wie sie ein kleines Steinchen quer über die Beete schmeißt, um eine freche Dohle zu verscheuchen, die auf dem Gartenzaun sitzt und sie von dort beobachtet.

Die Vögel haben beim Graben nach fetten Maden den Rasen verwüstet. Seitdem befindet sich Oma mit den frechen Biestern auf Kriegspfad. Aber bisher sind alle Versuche fehlgeschlagen, sie loszuwerden. Sie haben sich durch Vogelscheuchen und Flatterband nicht vertreiben lassen. Also hat Oma neuen Rasen gepflanzt und ihn mit einem Netz abgedeckt. Dohlen sind intelligent, sagt Oma. Sie hofft, dass die Vögel bald einsehen, dass bei ihr nichts mehr zu holen ist und weiterziehen. Doch noch sieht es mir nicht danach aus.

Die Titelmelodie von »Drei Nüsse für Aschenbrödel« reißt mich aus meinen Gedanken, meine Schwester ruft an. Das Smartphone liegt auf dem Küchentisch, nur ein paar Schritte entfernt. Ich laufe schnell rüber, nehme das Gespräch an und sage: »Hi, ich koche gerade Marmelade, ich habe nur zwei Minuten«, während ich wieder zurück zum Herd gehe.

»Dauert nicht lang«, sagt Lena. »Kannst du Oma bitte mal fragen, wie der Ort hieß, in den sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern geflüchtet ist, nachdem sie aus dem Sudetenland vertrieben wurden? Ihr könnt ja gleich mal zurückrufen.«

»Troppau!«

»Nein, dort wurde Oma geboren«, erklärt Lena. »Und nach dem Krieg mussten sie die Stadt verlassen, wie alle Deutschen.«

Seit Lena schwanger ist, interessiert sie sich brennend für unsere Familiengeschichte. Bisher habe ich mir darüber ehrlich gesagt nicht sehr viele Gedanken gemacht, aber ich finde es schön, dass Lena sich nun damit auseinandersetzt und ich dadurch interessante Details aus der Vergangenheit erfahre.

»Okay, ich frag nach«, sage ich. Genau in dem Moment piept die Zeitschaltuhr, die vier Minuten Kochzeit sind um. »Aber erst mal muss ich mich um die Marmelade kümmern. Tschüss, bis dann«, verabschiede ich mich und lege auf, ohne auf eine Antwort zu warten.

Ich schalte die Herdplatte aus, fülle die heiße Masse durch einen Trichter in die vorbereiteten Gläser und schraube die Deckel darauf.

Gerade als ich dabei bin, die letzten Marmeladenreste zum Sofortnaschen aus dem Topf zu kratzen und in ein kleines Schüsselchen zu füllen, kommt Oma in die Küche.

»Ich habe noch jede Menge Erdbeeren gefunden, zumeist kleine, aber die sind ja häufig am besten.« Oma holt tief Luft. »Das riecht herrlich.«

»Finde ich auch!« Ich halte Oma den Löffel hin.

»Sehr gut!«, sagt Oma, nachdem sie probiert hat. »Ich mag den leichten Karamellgeschmack.«

»Karamell?« Ich mopse mir eine Erdbeere aus Omas Korb, nasche sie und sage: »Du hast recht, da wäre ich von selbst nicht draufgekommen.«

Oma lächelt schelmisch und stellt ihre Ausbeute auf die Arbeitsplatte neben die Schüssel mit den restlichen Erdbeeren. »Stand in der Sortenbeschreibung. Die alten waren mir nicht aromatisch genug. Deswegen habe ich dieses Jahr mal neue gepflanzt. Wenn man es weiß, schmeckt man es heraus.« Sie zeigt auf meine Gläser. »Drehst du sie nicht um?«

»Ich habe sauber gearbeitet und sie kochend heiß abgefüllt. Außerdem habe ich 3:1-Gelierzucker benutzt, da ist so viel Konservierungszeug drin, da passiert nichts.«

»Hm«, macht Oma. Sie kocht Marmelade immer schon 1:1 mit ganz normalem Zucker. Konservierung braucht sie nicht, aber mir ist das Ergebnis einfach zu süß. Sie stellt den Korb auf den Tisch, wäscht sich die Hände und holt zwei Teller aus dem Schrank. »Der Striezel steht im Schlafzimmer auf der Kommode. Ich koche Kaffee.«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich gehe los und bestaune kurz darauf den perfekt geformten Hefezopf. Wie immer hat Oma ihn mit einer glänzenden Schicht Puderzuckerglasur überzogen und viele kleine Mandelblättchen darauf gestreut.

Als ich zurück in die Küche komme, füllt Oma gerade das Kaffeepulver in den Porzellanfilter. Eine Maschine hat sie nicht. Sie brüht von Hand. Ich hole Frischkäse aus dem Kühlschrank und sitze nur Sekunden später erwartungsvoll am Tisch.

»Mach schon, schneid an«, sagt Oma und gießt heißes Wasser auf das Pulver. Sofort erfüllt der Duft von Kaffee den Raum und vermischt sich mit dem der süßen Erdbeeren.

»Eine dicke Scheibe Hefezopf, darauf eine Schicht Frischkäse, die von selbst gekochter Marmelade getoppt wird. Es gibt wohl kaum was Besseres!« Ich seufze wohlig auf, bevor ich mir genussvoll den ersten Bissen genehmige.

Oma lächelt mich an. Dass sie vor zwei Wochen siebenundsiebzig geworden ist, sieht man ihr nicht an. Vor ein paar Monaten hat sie sich die Haare richtig kurz schneiden und färben lassen. Aber nicht etwa in einem Ton, der ihrem früheren Naturhaar entsprechen würde. Nein, Oma hat uns alle mit ihrem neuen Look überrascht. Ihr gepflegter dunkelblond gefärbter Bob ist einem frechen Kurzhaarschnitt in einem strahlenden Weiß gewichen. Der passt super zu ihrem leicht gebräunten Teint und den blauen ausdrucksvollen Augen. Falls für den nächsten Bond-Film eine neue M gesucht werden würde, könnte Oma sich glatt dafür bewerben. Ein bisschen erinnert sie mich immer an Judy Dench. Auch im echten Leben wäre Oma eine gute Geheimagentin. Sie mustert mich durchdringend und fragt schließlich: »Was machen eigentlich deine Weiterbildungspläne?«

»Erst mal auf Eis gelegt«, antworte ich. »Das passt momentan zeitlich einfach nicht.« Ich nippe an meinem Kaffee. »Ach ja, Lena hat gerade angerufen. Sie hat gefragt, wohin ihr nach dem Krieg von Troppau aus geflüchtet seid.«

Oma geht auf den Themenwechsel ein. »Nach Urbach, bei Menteroda«, erzählt sie, »in Thüringen. Wir saßen mehrere Tage lang in einem Zug mit zweiundfünfzig Waggons. Er hat auf der Strecke an verschiedenen Bahnhöfen angehalten und immer sind Leute ausgestiegen.« Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf. »Ich war damals drei Jahre alt und kann mich nicht mehr erinnern. Aber meine Schwester hat viel mit mir über die Zeit gesprochen. Wir haben die erste Nacht in einem Tanzsaal geschlafen, der mit Stroh ausgelegt war. Danach sind wir in einem Zimmer auf einem Bauernhof untergekommen. Meine Mutter hat die Nächte mit einer Decke auf dem Boden verbracht, wir drei Kinder haben uns das Bett geteilt. Meine Schwester war damals zehn Jahre alt, mein Bruder war sieben.«

»Davon hast du noch nie erzählt«, sage ich. »Wie lange habt ihr dort gelebt?«

»Ein paar Monate. Von dort aus sind wir weitergezogen in die nächste größere Stadt, nach Mühlhausen. Und als ich dann erwachsen war, bin ich mit deinem Opa rüber in den Westen.«

»Dann bist du sozusagen zweimal geflüchtet«, stelle ich fest.

Oma nickt. Ihr Blick schweift zum Fenster und hinaus in den Garten. »Aber am Ende habe ich mein Zuhause doch noch gefunden.«

»Das ist schön.«

»Ja«, sagt Oma. »Es ist wichtig zu wissen, wo man hingehört.«

Da meldet sich Aschenbrödel wieder. »Du bist aber ungeduldig. Ich habe Oma gerade gefragt. Der Ort heißt Urbach.«

»Ist Oma jetzt gerade in der Nähe?«, fragt meine Schwester.

An ihrer Stimme erkenne ich sofort, dass irgendwas nicht stimmt. »Sie sitzt mir gegenüber, was ist los?«

»Papa ist gestorben, vor zwei Tagen. Ilonka hat mich gerade angerufen und hat es mir gesagt.«

»Was? Wie?«, bringe ich mühsam hervor.

»Es ist wohl während des Abendessens passiert. Er hat sich verschluckt, hat gehustet und ist plötzlich in sich zusammengesackt. Sein Herz hat versagt. Es hat einfach aufgehört zu schlagen.«

Meins klopft gerade laut von innen gegen meine Brust, als wollte es ausbrechen. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie könnte ich auch? Unser Vater wäre in drei Wochen sechzig geworden. Da stirbt man doch nicht einfach so.

Unfähig noch ein weiteres Wort zu sagen, drücke ich Oma mein Handy in die Hand, stehe auf, gehe rüber ins Wohnzimmer, rolle mich auf der Couch zusammen und schluchze in das Kissen, das ich mir vor das Gesicht halte.

Es dauert nicht lange, bis Oma sich zu mir setzt. »Komm her, Schatz. Es tut mir so unendlich leid.« Sie zieht mich in ihre Arme.

Oma fühlt sich weich und sehr vertraut an. Sie riecht nach warmer Vanille, wie das Parfum, das sie schon seit Ewigkeiten benutzt und sich jedes Jahr wieder zum Geburtstag schenken lässt. Lange hält sie mich einfach nur fest, bis ich mich einigermaßen gefangen habe.

»Ich hätte nie gedacht, dass mich das so treffen würde«, sage ich. In den letzten Jahren bestand der Kontakt zwischen meinem Vater und mir aus genau zwei Telefonaten im Jahr, an seinem und an meinem Geburtstag. Und ich habe ihm auch nur gratuliert, weil Lena deswegen jedes Jahr extra dafür bei mir vorbeigekommen ist, damit wir das gemeinsam durchziehen.

»Er ist dein Vater, es ist ganz normal, dass du da traurig bist«, erklärt Oma.

»Ich bin nicht traurig.« Ich schnaufe kurz durch und richte mich auf. »Die Nachricht hat mich einfach überrumpelt.«

Oma lächelt sanft und reicht mir ein Stofftaschentuch.

»Wo hast du das denn so schnell hergezaubert?«, frage ich und greife zu.

»Aus der Schublade neben den Geschirrhandtüchern«, erklärt Oma und streicht mir eine Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, aus dem Gesicht.

»Was hat Lena noch gesagt?«

»Dass die Beisetzung in drei Tagen und wohl auf See stattfinden wird. Du sollst sie anrufen, wenn es dir besser geht.«

Auf See? Ohne Vorwarnung schießen mir wieder Tränen in die Augen. Ich habe meinen Vater drei Jahre lang nicht gesehen. Und jetzt soll ich mich auf einem Schiff von seiner Asche verabschieden?

»Ilonka will uns da doch bestimmt nicht dabeihaben«, erkläre ich und schnäuze in das Taschentuch. »Was sagt denn Lena dazu? Und was soll das mit der Seebestattung? Wie ist Ilonka denn auf so eine Idee gekommen?« Ich schniefe noch einmal in das Tuch. »Und überhaupt … Wenn Papa schon vor zwei Tagen gestorben ist, warum informiert sie uns dann erst heute? Also, ich geh da auf keinen Fall hin. Lena darf mit ihren Vorwehen doch auch überhaupt keine längeren Strecken Auto fahren. Auf ein Schiff darf sie erst recht nicht. Und allein steh ich das nicht durch. Erstens werde ich sehr schnell seekrank und zweitens wird mir schon schlecht bei dem Gedanken, die olle Hexe wiederzusehen.«

»Na!«, sagt Oma streng.

»Ist aber wahr«, maule ich. »Du weißt doch, wie sie ist. Die böse Stiefmutter in Aschenbrödel wäre die Paraderolle für sie gewesen.« Lena und ich waren schon als Kinder überzeugt davon, dass die neue Frau unseres Vaters einst Patin für die Figur im Film gestanden hatte. »Was mach ich denn jetzt?«

»Mit deiner Schwester sprechen«, schlägt Oma vor. »Sie hat gesagt, du sollst dich melden, wenn du dich einigermaßen gefangen hast.«

Ich atme tief durch. »Die Arme, ausgerechnet jetzt. Die Aufregung ist gar nicht gut für sie. Und erst recht nicht für die Kleine im Bauch.«

Oma streichelt mir über den Arm. »Das wird schon. Lena ist stark, das weißt du doch.«

»Ja, da hast du recht, aber auf Dauer geht das auch nicht gut.« Meine Schwester war schon immer der Fels in der Brandung für alle. Und genau deswegen sorge ich mich um sie. Sie will es nicht wahrhaben, aber ich bin überzeugt davon, dass die Vorwehen ein Zeichen dafür sind, dass auch sie einfach mal überfordert ist.

»Ich fahre zu ihr«, erkläre ich mit fester Stimme.

»Bist du denn dazu in der Lage?«, fragt Oma.

»Ja.« Von Oberhausen bis nach Duisburg ist es nicht sehr weit. Und um die Mittagszeit ist nicht viel Verkehr. Ich stehe auf. »Eine knappe halbe Stunde, länger brauche ich doch nicht. Das bekomme ich hin.«

»Dann begleite ich dich.«

Ich überlege einen Moment. »Das ist lieb von dir, Oma, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass es ganz gut ist, wenn Lena und ich erst mal allein sind. Außerdem hast du doch genug zu tun. Wir sind noch gar nicht mit der Marmelade fertig.«

»In Ordnung«, sagt Oma. »Aber den Wagen lässt du stehen. Ich zahl dir ein Taxi.«

»Quatsch! Das ist doch viel zu teuer«, entgegne ich. »Ich fahre vorsichtig.«

Doch Oma lässt sich nicht beirren. Sie holt ihre Geldbörse und hält mir kurz darauf einen Fünfzig-Euro-Schein hin.

Da ich weiß, dass Widerspruch zwecklos ist, Oma im Grunde genommen recht hat und ich nicht genügend Bargeld bei mir habe, greife ich zu. »Das Geld bekommst du aber auf jeden Fall zurück.«

»Papperlapp«, sagt Oma.

»Was ist mit Mama? Weiß sie es schon?«

Oma schüttelt den Kopf. »Lena wollte damit warten, bis eure Mutter Feierabend hat. Sie arbeitet heute bis um vier. Ich geh dann gleich rüber und sag es ihr.«

»Das ist gut.« Meine Mutter wohnt nur zwei Straßen von Oma entfernt, gemeinsam mit Peter, den sie fünf Jahre nach der Scheidung von meinem Vater geheiratet hat. Anders als Ilonka, hat er Lena und mich sofort ins Herz geschlossen – und wir ihn. Er hat die Rolle des Vaters übernommen, den wir nie hatten.

2. Kapitel

Keine zehn Minuten später sitze ich im Taxi und schreibe eine Nachricht an meinen Freund Marc.

Habe gerade erfahren, dass mein Vater gestorben ist. Bin jetzt auf dem Weg zu Lena. Könntest du mich später bei ihr abholen?

Nur ein paar Sekunden später ruft Marc an, doch ich drücke das Gespräch weg und entscheide mich für eine weitere Nachricht.

Kann gerade nicht reden, sonst fange ich wieder an zu heulen, tippe ich, und blinzele die Tränen weg, die sich prompt ankündigen.

Ich schniefe, ziehe das frische Taschentuch, das Oma mir mitgegeben hat, aus der Hosentasche und tupfe mir die Tränen weg.

Als der Taxifahrer kurz zu mir rüber sieht, lächle ich ihn schief an. »Sorry.«

»Kein Problem, weinen Sie nur, Tränen reinigen das Herz«, sagt er. Seinem Akzent nach scheint er Osteuropäer zu sein. Eigentlich steht mir der Sinn nicht nach einer Unterhaltung, aber ich mag seine Stimme, die dunkel und weich klingt.

»Das ist ein schöner Gedanke.«

»Leider nicht meiner, ich habe ihn von Dostojewski geklaut.«

»Das wusste ich nicht.« Ich betrachte ihn etwas genauer. Sein dunkles volles Haar ist mit vielen grauen Strähnen durchzogen, sein Gesicht markant, unter den buschigen Augenbrauen blitzen leuchtend graue Augen. In einem Actionfilm wäre er die perfekte Besetzung für einen etwas in die Jahre gekommenen Polizisten, schießt es mir durch den Kopf, und zwar einer von der guten Sorte.

»Kommen Sie aus Russland?«

»Wegen Dostojewski?« Er schüttelt den Kopf. »Aus Ungarn.«

»Da kommt mein Ur-Urgroßvater her«, erzähle ich. »Aber woher genau weiß ich nicht.« Lena hat es mir letztens erzählt, ganz begeistert darüber, dass wir ungarische, aber auch österreichische Wurzeln haben, von denen wir bisher nichts wussten.

Der Taxifahrer lächelt verschmitzt. »Vielleicht sind wir miteinander verwandt.«

»Ja, vielleicht …« Auf einmal fühle ich mich unbeschreiblich müde. Ich lehne meinen Kopf gegen die Autoscheibe. »Tut mir leid, aber heute bin ich nicht sehr gesprächig.«

»Jetzt haben Sie sich schon das zweite Mal entschuldigt, seitdem Sie eingestiegen sind. Meine Frau sollte sich ein Beispiel an Ihnen nehmen«, feixt der Mann und zaubert mir tatsächlich wieder ein kleines Lächeln ins Gesicht. Trotzdem schweige ich den Rest der Fahrt. In den letzten Monaten gab es viele schlechte Nachrichten. Ich hatte so gehofft, dass nun erst mal nichts Schlimmes passiert und wir uns einfach nur auf die Geburt von Lenas Tochter freuen dürfen. Und jetzt das! Ich schaue aus dem Fenster und betrachte die Gegend, die an uns vorüberzieht. Als wir am Landschaftspark in Duisburg vorbeifahren, denke ich an Marc.

Hier hat er letztes Jahr Anfang Dezember bei einem Spaziergang spätabends um meine Hand angehalten. Zu dem Zeitpunkt hat es geschneit. Die Lichtinstallation hat nicht nur das stillgelegte Hüttenwerk, sondern auch die dicken Schneeflocken in bunten Farben leuchten lassen. Der Anblick war einmalig schön.

Ich drehe den Verlobungsring an meinem Finger.

Marc hat meinen Vater nie kennengelernt. Wir haben immer mal wieder darüber gesprochen, ob wir ihn zu unserer Hochzeit einladen oder nicht. Ich habe darüber nachgedacht, vorher persönlich bei ihm vorbeizufahren, um die unausgesprochenen Konflikte zu klären. Dazu ist es jedoch nie gekommen, genauso wenig wie zu unserer Hochzeit, für die wir bisher noch keinen Termin festgelegt haben, obwohl der Antrag jetzt schon über sieben Monate her ist.

Warum muss nur alles immer so kompliziert sein?

Als wir von der Autobahn abfahren, blitzt kurz das Bild meines Vaters in meiner Erinnerung auf, jung, schlank, mit vollem Haar und einem schelmischen Lächeln im Gesicht. Er hat uns in den ersten Jahren nach der Trennung jedes Mal für die zweite Hälfte der Sommerferien abgeholt. Auf der Fahrt saß ich neben Lena auf dem Doppel-Beifahrersitz seines VW-Busses – knapp dreihundert Kilometer lang, bis wir in Hooksiel angekommen sind, wo unser Vater sich gemeinsam mit Ilonka eine neue Existenz aufgebaut hatte. Den Bus hat er die meiste Zeit nur mit einer Hand gelenkt, denn in der anderen hielt er ununterbrochen eine qualmende Zigarette.

Viel geredet haben wir während dieser Fahrten nicht. Dazu lief die Musik viel zu laut. A little bit of Monica in my life, a little bit of Erica by my side, a little bit of Rita is all I need, ertönt es in meinem Kopf.

Lou Begas »Mambo No 5« war mal das absolute Lieblingslied meines Vaters. Er war zwar sehr unmusikalisch, das hat ihn aber nicht daran gehindert, das Lied ständig laut vor sich hin zu trällern.

Wie alt war ich damals?, überlege ich, aber da halten wir auch schon an. Wir stehen vor Lenas Haus. Bei geöffneten Fenstern kann man von hier die Autos hören, die über die Autobahn rasen. Lena behauptet immer, das würde sie an das Rauschen des Meeres erinnern und sie beruhigen. Ich bewundere meine Schwester dafür, dass sie aus allem versucht das Beste zu machen. Bei mir funktioniert das nicht. Es ist die A42, die den Krach verursacht, mal mehr, mal weniger, je nachdem aus welcher Richtung der Wind weht.

»Stimmt so«, sage ich, meine Gedanken unterbrechend und drücke dem Taxifahrer die fünfzig Euro in die Hand. Die acht Euro Trinkgeld hat er sich verdient.

»Danke schön.« Ein letztes Mal lächelt er mich an. »Kein Mann ist es wert, dass eine so schöne Frau wie Sie ihm eine Träne nachweint.«

Unter normalen Umständen würde ich ihm recht geben. »Mein Vater ist gestorben«, erkläre ich mit brüchiger Stimme. Und obwohl ich die letzten Jahre so gut wie keinen Kontakt zu ihm hatte und immer noch unbeschreiblich wütend auf ihn bin, tut es jetzt, wo ich es ausspreche, verdammt weh.

»Das ist natürlich etwas anderes. Dann ist es richtig, dass Sie um ihn weinen«, höre ich den Taxifahrer wie durch Watte sagen.

Mehr als ein Nicken bekomme ich nicht mehr hin, bevor ich aussteige, die Tür zufallen lasse und zum Abschied noch einmal die Hand hebe.

An der frischen Luft atme ich ein paarmal tief durch, bevor ich zum Haus gehe, den Klingelknopf betätige und warte. Lena öffnet nicht. Ich schelle ein weiteres Mal, gleich mehrmals hintereinander. Gerade als ich zum Handy greifen will, um sie anzurufen, tut sich endlich was.

»Bin gleich da«, höre ich meine Schwester rufen. Und kurz darauf steht sie auch schon vor mir. »Ach, Marie, du bist es, warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, fragt sie. Ihre Augen sehen verweint aus, ihre Nasenflügel leuchten rot in ihrem viel zu blassen Gesicht.

Ich gehe die drei Treppenstufen nach oben und schließe meine Schwester fest in die Arme. Dabei stelle ich mich etwas seitlich zu ihr, da der dicke Bauch uns im Weg ist.

»Eine spontane Entscheidung«, sage ich. »Oma hat mir ein Taxi spendiert.«

»Das ist gut.«

Lena löst sich von mir und geht vor mir her durch den Flur, eine Hand auf den Bauch gelegt, mit der anderen stützt sie ihren Rücken. »Ich fühl mich wie eine Ente, die watscheln auch so.«

»Bald hast du es ja geschafft! Nur noch drei Wochen.«

Lena seufzt. »Ich zähle die Tage!«

In der Küche schaltet sie ihren Kaffeevollautomaten ein, holt zwei Tassen aus dem Schrank und stellt sie unter die Maschine. »In der großen Keksdose sind Sommerwölkchen, heute Morgen frisch gebacken.« Sie streicht sich durch das kurze blonde Haar. »Und hol bitte auch eine laktosefreie Milch aus dem Buffetschrank. Sie steht im unteren Regal neben dem Apfelsaft.«

»Du bist wie Oma«, stelle ich mal wieder fest. Lena hat die gleiche Art, sanft und dennoch bestimmend. Ihr Leben hat sie voll im Griff. Meine Schwester ist ein Organisationstalent, sie überlässt nichts dem Zufall. Und seit Oma sich für ihren neuen Look entschieden hat, ist auch die äußerliche Ähnlichkeit noch offensichtlicher geworden.

Lenas Augen sind blau, so wie Omas, ihr Gesicht ist eher kantig, das Kinn breit. Sie ist groß und schlank, trotz ihres kugelrunden Bauches, den sie vor sich herträgt. Ich bin genau vier Zentimeter kleiner, dafür um einige Kilo schwerer, meine Augen sind grün, mein Haar ist braun, mein Gesicht eher herzförmig. Und anders als meine Schwester habe ich weder mein Gewicht noch mein Leben im Griff.

Ich hole, wie Lena mir aufgetragen hat, die Milch, reiche sie ihr, stelle die Keksdose auf den Tisch und hebe den Deckel ab. Sofort strömt mir der frische Geruch von Zitrone entgegen.

»Das Rezept hast du super hinbekommen, die schmecken grandios«, sagt Lena. »Es sind die perfekten Plätzchen für den Sommer.«

»Findest du?« Da ich nicht warten kann, stibitze ich eins aus der Dose, breche es in der Mitte durch und begutachte es einen Moment. Es sieht perfekt aus, nicht zu trocken, außen knusprig und innen schön weich.

»Ich habe etwas von deinem selbst gemachten Zitronensirup anstatt Honig genommen«, erklärt meine Schwester, »wie du gesagt hast.«

»Gut.« Lena hat recht. Die Dinger schmecken genial. Dafür habe ich aber auch lange rumexperimentiert, bis ich sie so hatte, wie ich sie mir vorgestellt habe: saftig, süß und gleichzeitig herrlich zitronig.

Keine zwei Minuten später sitzt Lena bei mir. Sie löffelt die fest aufgeschäumte Milch aus ihrer Tasse direkt in den Mund. Ich hingegen rühre meine unter, bis sie sich gut mit dem Kaffee vermischt hat. Auch bei Kleinigkeiten unterscheiden wir uns. Dass wir Schwestern sind, merkt man uns auf den ersten Blick nicht an.

»Wie ist die Marmelade geworden?«, fragt Lena.

»Richtig lecker«, antworte ich. Bisher hat keine von uns beiden unseren Vater erwähnt. Ich habe Angst, es auszusprechen und mich dem zu stellen, was danach kommt. Lena geht es wahrscheinlich ähnlich. Wir trinken unseren Kaffee und alles scheint wie immer. Wenn da nicht Lenas verweinte Augen wären.

Sie ist es, die schließlich das Schweigen bricht. »Weißt du, was echt gruselig ist? Wir haben uns endlich für einen Namen entschieden.« Sie streicht über ihren Bauch. »Die Kleine soll Liv heißen. Das haben wir vorgestern Abend entschieden. Etwa zur gleichen Zeit hat Papas Herz einfach aufgehört zu schlagen.«

»Liv, wie das Leben.« Prompt füllen sich meine Augen mit Tränen.

Meine Schwester hält mir eine Papierserviette hin.

»Oma hat richtig schöne Taschentücher aus Stoff«, erkläre ich.

Auch Lenas Augen werden feucht. »Ich weiß«, sagt sie. »Hat sie doch schon immer. Und gebügelt sind sie auch.«

»Das stimmt.« Ich tupfe mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Gut, dass du gerade bei Oma warst. Ich wollte es dir eigentlich nicht am Telefon sagen und bis heute Abend warten. Dann hätte Julien mich zu dir fahren können. Aber mein Muttermund zwickt heute schon den ganzen Tag und außerdem habe ich gedacht, du solltest es doch besser gleich erfahren.«

Die Ärztin hat meiner Schwester Ruhe verordnet. Genaugenommen hätte Lena auch nicht backen dürfen. Aber es fällt ihr enorm schwer, nichts zu tun zu haben.

»Willst du dich lieber hinlegen?«, frage ich. »Wir können rüber ins Wohnzimmer gehen. Die Couch ist doch viel bequemer als die Holzstühle hier.«

»Gute Idee«, erklärt meine Schwester und steht sofort auf. »Aber ich muss vorher noch mal kurz ins Bad.« Sie seufzt. »Die Kleine liegt auf meiner Blase. Der ständige Harndrang macht mich fast wahnsinnig. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Schwangerschaft so dermaßen anstrengend sein kann.«

»Dafür wirst du bald deine wundervolle Tochter in den Armen halten.«

Ich schaue meiner Schwester einen Moment lang nach, wie sie durch den Flur zum Gäste-WC geht, bevor ich unsere Tassen, die Sommerwölkchen, zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf ein Tablett stelle und es rüber zum Couchtisch trage. Gerade als ich es absetze, klingelt Lenas Handy, das dort liegt.

»Das ist Julien. Geh ran«, ruft meine Schwester.

»Hallo, Lieblingsschwager, hier ist Marie«, sage ich, nachdem ich das Gespräch angenommen habe. »Lena ist im Bad, sie kommt gleich.«

»Schön, dass du da bist.« Julien atmet einmal tief durch. »Ich habe nach der großen Pause nicht mehr auf mein Handy gesehen und die Nachricht eben erst gelesen. Mein herzliches Beileid.«

Ich schlucke und räuspere mich. »Danke.«

»Kannst du so lange dableiben, bis ich zurück bin? Ich versuche eine Vertretung für die letzten beiden Stunden zu organisieren und fahre dann sofort los.«

»Na klar, ich bin eben erst gekommen. Lass dir Zeit, ich bleib hier«, sage ich. In dem Moment betritt meine Schwester den Raum. »Da kommt Lena. Sie legt sich jetzt auf die Couch und ruht sich aus.«

»Das ist vernünftig, pass bitte gut auf sie auf. Sie übernimmt sich gerne.«

»Ich weiß, deswegen bin ich hier.«

Ich warte, bis meine Schwester es sich bequem gemacht hat, und reiche ihr das Telefon.

»Nein, es geht schon … Quatsch, das musst du nicht, wir kommen klar …« Lena sieht zu mir. »Ja, Marie bleibt ganz sicher hier, bis du da bist.« Sie lächelt mich an und ich nicke. »Außerdem haben wir gerne ein bisschen Zeit für uns. Nein, mach dir keine Gedanken, kümmere du dich um deine Schüler … Okay, bis später, ich dich auch.« Meine Schwester legt auf. »Er bleibt bis Unterrichtsschluss um drei. So gegen vier ist er hier.«

»Dann haben wir ja noch etwas Zeit für uns.« Ich setze mich auf das L-Stück der Couch. »Und jetzt bitte alle Einzelheiten. Was hat Ilonka erzählt?«

»Nicht viel«, sagt Lena. »Sie hat angerufen und mich mit den Worten begrüßt, sie habe keine gute Nachricht für mich. Papa sei vorgestern gestorben, beim Abendessen. Er habe gehustet. Danach sei sein Kopf auf die Brust gesackt und er sei tot gewesen. Dann hat sie mir gesagt, dass es eine Seebestattung in Hooksiel geben wird – für den Fall, dass wir uns von ihm verabschieden wollen würden. Und dass sie Mama heute eine Trauerkarte mit der Anschrift und der genauen Uhrzeit geschickt habe, aber es für richtig hielt, dann doch wenigstens vorher bei uns anzurufen, da sie sich nicht sicher war, ob wir noch Kontakt zu unserer Mutter hätten.«

Mir fehlen die Worte. Ich schaue Lena an und weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

Sie lacht leise. »So wie dir ging es mir eben auch. Ich bin mir nicht sicher, was mich mehr geschockt hat, die Nachricht über Papas Tod oder die Abgebrühtheit dieser schrecklichen Frau.«

»Wie hast du reagiert?«, frage ich.

»Ich habe Danke gesagt und hab aufgelegt.«

»Du hast dich bedankt?« Obwohl die Geschichte eigentlich sehr traurig ist, muss ich plötzlich lachen.

Und auch Lena grinst breit. »Der Schock hat mein Gehirn ausgeschaltet.«

»Kann ich gut verstehen.« Ich schüttele den Kopf. »Unfassbar. Wie kommt sie darauf, wir könnten keinen Kontakt mehr zu Mama haben?«

»Keine Ahnung, weil wir ja auch keinen mehr zu Papa hatten vielleicht. Oder aber einfach aus Boshaftigkeit, du weißt doch, wie sie tickt.«

»Allerdings!«

»Ich habe mich dann auf die Couch gelegt und erst mal Rotz und Wasser geheult«, erzählt Lena. »Jetzt fühle ich mich wie gerädert und irgendwie …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Ach, ich weiß auch nicht, ich bin einfach nur platt.«

»Geht mir ähnlich. Nachdem ich Oma mein Handy in die Hand gedrückt habe, habe ich erst mal geheult. Jetzt im Moment fühle ich mich eigenartig leer.« Ich horche einen Moment in mich hinein. »Vermissen werde ich ihn wohl nicht«, erkläre ich. »Immerhin hatte ich genug Zeit, mich daran zu gewöhnen, dass er keine Rolle mehr in unserem Leben spielt. Und auf die blöden Telefonate an den Geburtstagen hätte ich eigentlich auch verzichten können. Das hört sich jetzt vielleicht hart an, aber im Grunde genommen wird sich nichts ändern, oder? Außer dass ich mir keine Gedanken mehr darüber machen muss, ob ich ihn zu meiner Hochzeit einlade – falls die überhaupt irgendwann mal stattfinden sollte.«

»Das wird sie«, sagt Lena. »Die Frage ist nur, wie lange du noch warten willst – und ob es Marc sein wird.«

Ich kneife ihr in den Fuß. »He, das war frech!«

Lena seufzt. »Dein Beziehungschaos lenkt mich von der Tatsache ab, dass unser Vater gestorben ist.« Sie rückt sich das große Couchkissen zurecht und richtet sich etwas auf. »Wirst du zur Beerdigung am Donnerstag gehen? Ich schaff das auf keinen Fall.«

»Seebestattung«, korrigiere ich sie. »Und ohne dich geh ich da nicht hin.«

»Tut mir leid, aber das Risiko ist mir einfach zu groß. Jetzt sind es nur noch drei Wochen bis zur Geburt. Und abgesehen von der ganzen Aufregung, halte ich das körperlich nicht durch.«

»Weiß ich doch«, sage ich. »So war das auch gar nicht gemeint. Ich würde dir verbieten, dir das in deinem Zustand zuzumuten. Es ist nur so, dass ich da absolut nicht dabei sein will. Außerdem glaube ich, dass wir dort eh nicht erwünscht sind. Ilonka wollte uns nicht in der Nähe haben, als Papa noch gelebt hat. Du kannst davon ausgehen, dass sie uns jetzt erst recht nicht sehen will.«

Meine Schwester schweigt einen Moment, bevor sie sagt: »Wenn ich gesundheitlich dazu in der Lage wäre, würde ich hinfahren. Das wird ein Abschied für immer, Marie. Papa wird dich nie wieder anrufen. Nimm Marc mit, der begleitet dich doch bestimmt.«

Ich schüttele den Kopf. »Am Donnerstag hat Marc das Vorstellungsgespräch. Und da muss er unbedingt hingehen. Es wird Zeit, dass er wieder anfängt zu arbeiten.«

»Vielleicht kann er es verlegen?«

»Nein, auf keinen Fall!«, entscheide ich. »Das ist wichtig für ihn.«

Doch Lena lässt nicht locker. »Denk noch mal in Ruhe drüber nach«, schlägt sie vor. »Nicht, dass du deine Entscheidung irgendwann bereust.«

»Ich hasse Beerdigungen«, sage ich.

»Da bist du ganz sicher nicht die Einzige. Aber es ist eine Seebestattung«, kontert Lena. »Hast du eben selbst gesagt.«

»Schlaumeier!« Ich kneife ihr noch einmal fest in den Zeh.

»Im Ernst, Marie. Überleg dir das noch mal. Nicht, dass du das irgendwann bereust.«

»Na gut, ich denke drüber nach«, lenke ich ein, auch wenn ich mir jetzt schon sicher bin, dass ich mir das nicht antun werde.

»Braves Mädchen«, sagt meine Schwester, gähnt laut und dreht sich auf die Seite.

»Bist du müde?« Ich rutsche die Couch nach oben. Im ausgezogenen Zustand ist sie breit genug für zwei. Jetzt, da Lena hochschwanger ist, ist es zwar doch etwas eng, aber wir passen trotzdem noch nebeneinander. Ich kuschele mich an den Rücken meiner Schwester und lege meine Hand auf ihren prallen Bauch.

»Liv ist wach«, sagt Lena und schiebt meine Hand ein wenig höher. »Spürst du sie? Immer wenn ich ruhig werde, macht das kleine Monster einen auf Krawall. Am schlimmsten ist es nachts. Sobald ich schlafen will, wird ihr langweilig und sie macht sich bemerkbar.«

»Sie hat ordentlich Power!« Die Kleine tritt oder boxt kräftig von innen gegen meine Hand. Das Gefühl ist unbeschreiblich schön. »Der Name Liv passt zu ihr.« Ich drücke meine Hand noch ein klein wenig fester gegen Lenas Bauch. Dabei kommt mir plötzlich unser Vater wieder in den Sinn. Er mochte kleine Kinder. »Weißt du was? Irgendwie ist es sehr schade, dass Liv ihren Großvater nie kennenlernen wird.«

»Ja, das finde ich auch. Papa wusste noch nicht einmal, dass ich schwanger bin. Ein paarmal hatte ich ernsthaft vor, ihn anzurufen und es ihm zu erzählen. Aber Ilonka ist manchmal ja auch an sein Handy gegangen. Bei dem Gedanken, sie könnte das Gespräch annehmen, bekam ich jedes Mal richtiggehend Beklemmungen. Und einfach nur eine SMS oder Mail wollte ich nicht schreiben.«

»Versteh ich gut. Aber es ist schon komisch, dass das alles bis heute nachwirkt, oder? Jetzt bin ich dreißig Jahre alt, du bist dreiunddreißig und beide haben wir immer noch einen Heidenrespekt vor dieser Frau. Woran liegt das nur? Sie kann uns doch jetzt nichts mehr antun.«

»Die Seele hat eben ihr eigenes Tempo«, nuschelt meine Schwester. »Das sind irgendwelche Kindheitsmuster, die sich tief eingebrannt haben. Aber es wird echt langsam Zeit, sich von ihnen zu verabschieden.« Sie gähnt. »Ich bin müde.«

Nur kurz darauf ist sie eingeschlafen.

Lenas Haar duftet nach Apfelshampoo. Die Sorte haben wir als Kinder oft benutzt. Und es riecht heute noch genauso wie damals. Lena hat es vor ein paar Wochen für sich wiederentdeckt. Obwohl unsere Eltern sich haben scheiden lassen und unser Vater dann eine schreckliche Frau geheiratet hat, hatten wir eine recht glückliche Kindheit, denke ich. Und dass wir das vor allem Oma und unserer Mutter zu verdanken haben.

3. Kapitel

Das laute Schrillen der Türklingel reißt uns aus dem Schlaf. Ich wische mir den Speichel aus dem Mundwinkel und frage: »Wer ist das denn?«

»Keine Ahnung.« Lena richtet sich auf und greift nach ihrem Handy. »Halb vier, das könnte der Postbote sein.«

Doch er ist es nicht, wie wir nur kurz darauf feststellen, denn die Stimme unserer Mutter schallt durch das Haus.

»Lena, Marie, nicht erschrecken, ich bin es nur, Mama«, ruft sie.

Wir Frauen in der Familie haben alle Schlüssel voneinander, für den Fall, dass sich eine von uns mal aussperrt, im Urlaub die Blumen gegossen werden müssen oder ein sonstiger Notfall eintritt. Ich habe sie bei mir zu Hause in einem kleinen Kästchen in der Kommode im Flur deponiert. Unsere Mutter hat sie jedoch an ihrem Schlüsselbund befestigt, sodass sie jederzeit bei jedem rein kann.

»Sie hat das seltene Talent, immer dann aufzutauchen, wenn ich gerade schlafe oder im Bad bin«, erklärt Lena.

»Immerhin klingelt sie vorher«, sage ich und setze mich auf.

Da betritt unsere Mutter auch schon den Raum. »Oh, habt ihr ein Nickerchen gemacht?«, fragt sie. »Oma hat mir erzählt, was passiert ist, und ich dachte, ich komme lieber mal vorbei und schau, wie es euch geht.«

Lena und ich sitzen mittlerweile beide nebeneinander auf der Couch. Ich brauche einen Moment, bis ich richtig wach bin und in der Realität ankomme.

»Papa ist gestorben«, sage ich leise, aber eher zu mir selbst, weil es mir immer noch so unwirklich vorkommt.

»Ich weiß, Schatz.« Mama kommt zu uns, drückt erst Lena, dann mich und lässt sich schließlich neben mich auf die Couch plumpsen. »Damit hat wohl keiner gerechnet. Es tut mir wahnsinnig leid für euch beide.« Sie greift zur Wasserflasche, schenkt die beiden Gläser voll und reicht eins davon Lena. »Du bist ganz blass um die Nase, du musst mehr trinken.« Sie sieht zu mir und drückt mir das andere Glas in die Hand. »Du auch.«

»Ja, Mama«, sage ich und schiele rüber zu Lena.

Sie grinst mich an. »Prost!«

»Wie kommt es denn, dass du schon hier bist, Mama?«, frage ich, nachdem ich das Glas fast in einem Zug leer getrunken habe. »Oma hat gesagt, du arbeitest heute bis um vier.«

»Ich muss Überstunden abbauen. Deswegen hatte ich heute nur bis um halb drei Dienst und bin danach direkt bei eurer Oma vorbei, weil ich gedacht habe, du wärst noch bei ihr, Marie.« Sie springt auf. »Jetzt habe ich die Marmelade im Auto vergessen. Ich habe welche für dich dabei, Lena.«

»Und schon ist es vorbei mit der Ruhe«, stellt meine Schwester fest, als unsere Mutter durch den Flur wieder nach draußen verschwindet.

»Jepp!« Ich trinke das restliche Wasser aus und schütte direkt noch mal nach, auch für Lena. »Aber mit dem Trinken hat sie recht gehabt. Woher kommt es nur, dass ich kein Durstgefühl verspüre? Ich merke immer erst, dass ich Durst hatte, wenn ich was trinke.«

»Geht mir auch so«, sagt Lena. »Julien schimpft ständig, weil ich es schlicht vergesse.«

»War das schon immer so? Auch, als wir klein waren?«, frage ich.

»Daran kann ich mich nicht erinnern, da musst du Mama fragen«, antwortet Lena.

Aber da blitzt auch schon das Bild in mir auf, wie wir beide in der Küche im Haus unseres Vaters stehen, Zucker in einen Krug mit Wasser schütten, Zitronensaft aus einer gelben Plastikflasche dazu spritzen und anschließend mit einem langen Kochlöffel kräftig umrühren.

»Bei Papa durften wir immer selbst gemachte Limonade trinken, erinnerst du dich? Die fanden wir damals verdammt lecker.« Ich schüttele mich. »Diesen künstlichen Zitronensaft gibt es heute immer noch. Die Flaschen sehen noch ganz genauso aus. Allerdings kommt mir so ein Zeug nicht mehr ins Haus.«

Lena lächelt. »Gesund war es nicht. Wir haben jeden Sommer massenhaft Zucker vernichtet. Bei Mama und Oma gab es immer nur ungesüßten Tee oder Wasser.«

»Und bei Papa auch mal Cola oder Schwip Schwap. Weißt du noch?«

»Na klar. Wir haben sogar ab und an mal süßen Sekt bekommen, wenn es was zu feiern gab. Und wir mussten versprechen, Mama nichts davon zu erzählen. In Sachen Erziehung war Papa nicht gerade ein Vorbild.« Lena streicht über ihren Bauch. »Unsere Tochter wird mindestens zwanzig sein, bevor sie das erste Mal Cola trinken darf.« Sie lächelt mich an. »Aber wie ich ihre Tante einschätze, macht sie mir da einen Strich durch die Rechnung.«

»He! Du hast ja eine gute Meinung von mir!« Ich stupse meine Schwester ganz sanft in die Seite. »Aber weißt du, was komisch ist? Wenn ich an Papa denke, sehe ich nur Bilder aus der Kindheit. Du hast recht, da hat sich einiges ganz tief eingebrannt. Vorhin im Auto ist mir eingefallen, dass Papa eine Zeit lang Lou Bega gehört hat. Dass er überhaupt nicht singen konnte – und dass er geraucht hat wie ein Schlot.«

»Mir ist schon ein paarmal der Kirschbaum im Garten hinter dem Haus eingefallen. Und dass du Papa und mich immer beim Kirschkernweitspucken besiegt hast.«

»Stimmt! Darin war ich richtig gut«, sage ich. »Das hatte ich ganz vergessen.«

»Das Kompott, das Papa früher aus den Kirschen gekocht hat, gehörte damals zu meinen Leibspeisen.«

»Milchreis mit Kirschen.« Ich rolle genussvoll mit den Augen. »Mmh!«

»Mochte ich früher schon sehr gerne«, erklärt Lena. »Aber seitdem ich schwanger bin, könnte ich mich reinsetzen. Ich nehme Kirschen aus dem Glas und dicke sie mit etwas Speisestärke an. Das ist auch lecker, aber kein Vergleich mit dem, was Papa da immer gezaubert hat.«

»Wir haben Mitte Juli, die Kirschen dürften jetzt reif sein«, überlege ich. »Und das Kompott war so lecker, weil Papa es im Ofen auf dem Blech zubereitet hat, einfach nur aus Früchten und Zucker. Er hat sie sozusagen geschmort.«

Lena nickt. »Mit Schnaps. Papa hat irgendeinen Brand dazugeschüttet.«

»Stimmt!« Ich rutsche unruhig auf der Couch hin und her. Am liebsten würde ich jetzt auf der Stelle Kirschen besorgen und versuchen, das Kompott nachzukochen.

»Er hat nicht nur geraucht, er hat auch ganz gerne mal zur Flasche gegriffen«, erklärt Lena und wird plötzlich ernst. »Und viel zu fett gegessen. Ich weiß ja nicht, ob sich das in den letzten Jahren geändert hat, aber ich schätze mal, dass das eher nicht der Fall war. Papa hat einfach ungesund gelebt. Übergewicht, Zigaretten und Alkohol, ich habe immer befürchtet, dass er dafür irgendwann die Quittung bekommt. Aber nicht, dass es so dermaßen früh sein wird – und so endgültig.«

»Er hat erst angefangen zu trinken, nachdem er mit der fiesen Kuh nach Hooksiel gezogen ist«, sage ich. »Kein Wunder – bei der Frau.«

Doch meine Schwester schüttelt den Kopf. »Papa hat vorher auch schon ganz gerne mal ein, zwei Bier getrunken oder auch ein Schnäpschen, meistens nach dem Abendessen zum Fernsehen.«

»Echt? Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Sei froh. Du warst sieben, als er Mama verlassen hat und ausgezogen ist, ich war zehn und habe etwas mehr mitbekommen«, erklärt Lena. Sie sieht zum Flur, durch den unsere Mutter in dem Moment zurückkommt. »Aber lass uns ein anderes Mal darüber reden. Der Tag heute ist schon traurig genug.«

»Ist gut.«

Unsere Mutter hat nicht nur die Marmelade, sie hat auch eine Hälfte von Omas Hefezopf mitgebracht und sogar an den Frischkäse gedacht. »Habt ihr schon was gegessen?«, fragt sie.

»Nicht viel«, antwortet Lena.

»Ich auch nicht.« Außer der halben Scheibe bei Oma und dem Sommerwölkchen.

»Habe ich mir gedacht.« Unsere Mutter legt ihre Mitbringsel auf den Wohnzimmertisch. »Komm, Marie, wir holen Teller und Besteck und laktosefreien Aufstrich für Lena. Und ich brauche unbedingt einen Kaffee. Du bleibst liegen, Lena.« Sie geht in die Küche und bleibt in der Tür stehen. »Worauf wartest du, Marie?«

»Unsere Familie besteht nur aus Bestimmern«, maule ich so leise, dass es nur Lena mitbekommt.

»Wenn du nicht gleich rüber gehst, gibt es Ärger«, feixt Lena und lässt sich rücklings auf die Couch sinken.

In der Küche hantiert unsere Mutter gerade an der Kaffeemaschine herum. »Möchtest du auch einen, Marie?«

»Nein, danke, ich hatte heute schon zwei, das reicht mir.«

»Okay, dann also nur für mich.« Meine Mutter sieht mich einen Moment lang an. »Oma hat mir erzählt, die Beerdigung sei in drei Tagen.«

»Es ist eine Seebestattung«, erkläre ich.

Sie nickt. »Ja, ich weiß. Das war immer Ennos Wunsch.«

Überrascht horche ich auf. »Ich dachte, das sei Ilonkas Idee gewesen, und habe mich schon gewundert.«

»Als die Mutter deines Vaters beerdigt wurde, hat Enno damals zu mir gesagt, wenn er selbst mal das Zeitliche segnen würde, würde er wollen, dass seine Asche im Meer verteilt wird«, erklärt meine Mutter. »Das ist jetzt allerdings …« Sie legt den Kopf leicht schief. »Du bist dreißig und hast deine andere Oma nie kennengelernt, es ist jetzt einunddreißig Jahre her.«

»Dann war es also Papas Wille.«

Autor