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Knochenpfade

hier erhältlich:

Eine Kühlbox voller Leichenteile, abgepackt und nummeriert. Schockiert betrachtet Maggie O'Dell, was die Küstenwache aus dem Meer gefischt hat. Woher stammen die grausigen Funde? Und warum diese merkwürdige Verpackung? Handelt es sich um das Souvenir eine perversen Massenmörders? Oder ist die Wahrheit noch viel schlimmer? Während ein Hurrikan auf Florida zurast, ermittelt die erfahrene FBI-Profilerin - und gerät mitten ins Auge des Orkans. Denn sie kommt einer schrecklichen Wahrheit auf die Spur: Immer wieder sind in letzter Zeit Menschen spurlos verschwunden. Und plötzlich nimmt auch Maggies eigenes Leben eine dramatische Wende: Der blutige Pfad führt sie zu ihrem Freund Dr. Benjamin Platt.


  • Erscheinungstag: 01.04.2011
  • Aus der Serie: Maggie O'dell
  • Bandnummer: 8
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862780327
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Pensacola Bay

Pensacola, Florida

Elizabeth Bailey gefiel überhaupt nicht, was sie da unten sah. Inzwischen waren sie mit ihrem Helikopter bis auf sechzig Meter über der tosenden Wasseroberfläche hinuntergeschwebt. Aber dieses Objekt sah immer noch aus wie ein Container und ganz sicher nicht wie ein gekentertes Boot. Keine Ertrinkenden, die verzweifelt mit den Armen ruderten. Keine zappelnden Beine oder untertauchenden Köpfe. Soweit sie die Lage überblicken konnte, musste hier niemand gerettet werden. Trotzdem bestand ihr Pilot und Einsatzleiter Lieutenant Commander Wilson darauf, sich die Sache näher anzusehen. Gemeint war, dass Liz sich das näher ansehen sollte.

Liz Bailey war erst siebenundzwanzig, aber eine erfahrene Rettungsschwimmerin der Küstenwache. Nach dem Hurrikan Katrina hatte sie innerhalb von zwei Tagen sicher mehr Leben gerettet als Wilson in seiner gesamten zweijährigen Laufbahn. Liz war auf wacklige Balkone gesprungen, hatte sich die Knie an windzerschlagenen Dächern zerschrammt und war durch wadentiefes, mit Unrat gefülltes und nach Klärschlamm stinkendes Wasser gewatet.

Aber sie würde sich hüten, eine derartige Bemerkung von sich zu geben. Jetzt zählte es nicht, an wie vielen Such- und Rettungsaktionen sie bereits teilgenommen hatte. Hier bei der Flugbasis der Küstenwache in Mobile war sie eine Anfängerin und musste sich von Neuem beweisen. Nicht gerade hilfreich war dabei, dass in ihrer ersten Woche jemand die Frauen-Umkleide mit einer Menge Internetbilder von ihr vollgekleistert hatte. Sie stammten aus einer Ausgabe des "People"-Magazins von 2005. Ihre Vorgesetzten sahen in dieser Reportage eine gute Werbung für die Küstenwache. Vor allem, weil andere Militär- und Regierungsorgane im Rettungseinsatz nach Katrina ein ziemlich schlechtes Bild abgegeben hatten. Doch in solchen Verbänden konnte es die Teamarbeit stören, wenn eine bestimmte Person besondere Aufmerksamkeit erhielt. Dieser ungewollte Ruhm hatte Liz' Karriere einen empfindlichen Stoß versetzt. Noch fünf Jahre später verfolgte diese Geschichte sie wie ein Fluch.

Im Vergleich dazu erschien Wilsons Anordnung nun geradezu harmlos. Und wenn es sich bei diesem im Meer treibenden Container um einen über Bord gefallenen Fischkühler handelte – was konnte es schaden, das zu überprüfen? Wenn man mal davon absah, dass Rettungsschwimmer darauf trainiert waren, unter Einsatz ihres Lebens Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren – nicht irgendwelche Gegenstände zu bergen. Tatsächlich gab es diesbezüglich ein stilles Übereinkommen. Nach der Bergung von Rauschgiftpäckchen waren bei mehreren Rettungsschwimmern Drogen im Blut nachgewiesen worden. Danach hatte man beschlossen, dieses Risiko sei für die Rettungsteams zu groß. Wilson musste das diesbezügliche Memo entgangen sein.

Abgesehen davon konnte ein Rettungsschwimmer jeden Einsatz ablehnen. Mit anderen Worten: Sie könnte Lieutenant Commander Noch-keine-tausend-Flugstunden Wilson sagen, dass sie zum Teufel noch mal wegen einer verlorenen Fischkühlbox nicht in die gefährlich aufgewühlten Fluten springen würde.

Wilson wandte sich in seinem Sitz um und blickte sie an. Die Art, wie er sein eckiges Kinn hielt, erinnerte sie an einen Boxer. Als würde er sich darauf vorbereiten, einen Haken zu parieren. Seine Augen glitzerten angriffslustig. Er schob das Visier seines Helms hoch, damit die Wirkung dieses Blicks nicht geschmälert wurde. Es war nicht notwendig, noch auszusprechen, was seine Körpersprache bereits verkündete. "Also, Bailey, spielen Sie nun die Primadonna, oder sind Sie im Team?“

Liz war nicht dumm. Sie wusste, dass sie sich als eine von weniger als einem Dutzend weiblicher Rettungsschwimmer in einer Sonderstellung befand. Für sie war es nichts Neues, dass sie sich ständig beweisen musste. Sie kannte die Risiken unten im Wasser genauso wie die hier oben im Hubschrauber. Diesen Männern musste sie vertrauen. Sie waren diejenigen, die sie wieder hochzogen, wenn sie zwanzig Meter tiefer am Seil in der Luft baumelte. Wenn das Wasser unter ihr wütete und sie im Sturm hin und her geworfen wurde.

Mit den komplizierten Balanceakten, die solche Situationen erforderten, war sie bereits lange Zeit vertraut. Einerseits musste sie sich ihre Selbstständigkeit bewahren, um weiterhin unabhängig arbeiten zu können. Aber sie wusste auch, dass diese Einsatzgruppe ein empfindliches soziales Gefüge war. Ihr Leben lag letztendlich in der Hand des Teams über ihr. Heute und nächste Woche und in der Woche darauf würden es diese Männer hier sein. Und solange sie sich in der Gruppe nicht richtig bewährt hatte, wäre sie für die Typen immer noch "die Rettungsschwimmerin". Nicht "unsere Rettungsschwimmerin".

Liz ließ sich ihre Vorbehalte nicht anmerken. Sie vermied es, Wilson anzusehen, und gab vor, sich mehr für die Wellen unter ihnen zu interessieren. Dabei hörte sie einfach zu. Über das CIS-Kommunikationssystem in ihrem Helm verfolgte sie Lt. Commander Wilsons Erläuterungen zum angedachten Einsatz. Er wies seinen Co-Piloten Tommy Ellis und ihren Flugmechaniker Pete Kesnick an, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Das hieß, den RS – den Rettungsschwimmer – und den Korb in Stellung zu bringen. Er hatte den Hubschrauber bereits von sechzig Metern Höhe auf fünfundzwanzig absinken lassen.

„Das könnte einfach nur ein leerer Fischkühler sein“, bemerkte Kesnick.

Liz beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Kesnick, dem Ältesten im Team, gefiel das ebenso wenig wie ihr. Seine wettergegerbten gebräunten Züge blieben aber stets unbewegt. Man konnte ihm nie ansehen, ob ihn etwas ärgerte oder seine Zustimmung fand.

„Es könnte auch Kokain sein“, warf Ellis ein. "In Texas haben sie irgendwo fünfzig Kilo gefunden, die an den Strand gespült wurden.“

„McFaddin Beach“, sagte Wilson. "Versiegelt und in dicke Plastiktüten verpackt. Jemand hat die Abwurfstelle nicht gefunden oder die Ware in Panik weggeworfen. So was könnte das hier auch sein.“

„Sollten wir dann nicht besser eine Meldung funken und das hier dem Küstenwachboot überlassen?“, fragte Kesnick und warf Liz einen kurzen Blick zu. Sie war sich sicher, dass er ihr etwas zu signalisieren versuchte: Sollte sie beschließen, den Einsatz abzulehnen, würde er sie unterstützen.

Wilson entging der Blick nicht. "Sie haben die Wahl, Bailey. Wie entscheiden Sie sich?“

Sie sah ihm immer noch nicht in die Augen. Wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen, auch nur den Ansatz eines Zögerns bei ihr zu entdecken.

„Wir sollten die MedEvac-Trage benutzen und nicht den Korb“, sagte sie. "Die kann man leichter unter den Container schieben, um ihn für den Transport festzuschnallen.“

Sie wusste, dass sie Wilson mit ihrer Antwort überrascht hatte. Ohne weiter auf ihn zu achten, streifte sie sich den Flughelm vom Kopf und kappte so ihre Kommunikationsmöglichkeit. Sie verhielt sich betont unbekümmert und hoffte, Ellis oder Kesnick so von irgendwelchen Bemerkungen über sie abzuhalten.

Liz schob ein paar lose Strähnen ihres Haars unter die Schwimmkappe und setzte den leichten Sedahelm auf. Sie befestigte den Haltegurt an ihrer Ausrüstung, schob sich die Riemen über die Schultern und prüfte, ob sich der Gleitriegel dicht genug am Zughaken befand. Die Ausrüstung vollständig angelegt, ging sie vor der Ausgangsluke in Hockstellung und wartete auf Kesnicks Signal.

Sie musste ihn ansehen. Seit sie ihre Arbeit in der Flugbasis aufgenommen hatte, waren sie diese Routine mindestens ein halbes Dutzend Mal durchgegangen. Liz nahm an, dass Pete Kesnick sie nicht anders behandelte als alle anderen Rettungsschwimmer in den vergangenen fünfzehn Jahren seiner Laufbahn als Küstenflugmechaniker. Auch jetzt schien er nicht an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Trotzdem kam es ihr vor, als musterte er sie mit seinen stahlblauen Augen einen Moment länger als üblich, bevor er sein Visier herunterklappte.

Er tippte sie an, das übliche Zeichen für "bereit“ – zwei mit Handschuhen bekleidete Finger auf ihrem Schlüsselbein. Sicher nicht genauso, wie er es bei den männlichen Rettungsschwimmern tat. Das störte Liz überhaupt nicht weiter. Es war nur eine Kleinigkeit, ein Verhalten, das mehr aus Respekt resultierte.

Sie löste die Sperre des Haltegurts. Dann gab sie Kesnick das Okayzeichen mit erhobenem Daumen und signalisierte ihm so, dass sie bereit wäre. Er hob sie über den Rand des Decks, und Liz musste im Flug das sich blitzschnell entrollende Sicherungsseil kontrollieren. Dann stoppte Kesnick den Seillauf. Die Halteleine straffte sich, und Liz rückte ihre Ausrüstung zurecht. Sie blickte nach oben und gab Kesnick erneut das Okay-Zeichen, bevor sie sich zu den tosenden Fluten hinunterhangelte.

Liz machte sich schnell ein Bild von der Lage und vergewisserte sich, dass es keine Menschen in Seenot gab. Der Container war riesig. Fast zwei Meter lang und einen Meter breit und tief. Sie erkannte sofort, dass es sich bei dieser zerdellten, weiß gestrichenen Stahlbox um einen handelsüblichen Fischkühler handelte. Eine ausgefranste Schnur trieb um den Verschluss. Ausgefranst, nicht durchgeschnitten. Vielleicht hatte der Eigentümer also gar nicht vorgehabt, den Container über Bord zu werfen. Sie griff nach dem etwa einen Zentimeter dicken Seil, das aus hellgelben und blauen Fasern bestand, und befestigte ein Ende an ihrem Gurt. So konnte sie verhindern, dass die Kühlbox ihr im Luftzug der Hubschrauberrotoren davontrieb.

Dann gab sie Kesnick ein weiteres Signal. Sie streckte den linken Arm gerade nach oben, hob den rechten über den Kopf und berührte den linken Ellbogen mit den Fingern. Sie wartete darauf, dass die anderen nun die MedEvac-Trage herunterließen.

Der schwere Container zerrte an ihr. Er wurde mit jeder Welle hin und her geworfen, ruckte aber immer wieder zurück, wenn das Seil straff gezogen war. Sie brauchte zwei Anläufe, aber nach fünfzehn Minuten hatte Liz die Kühlbox auf der Trage befestigt. Sie zog die Haltegurte fest und gab wieder ihr Okayzeichen.

Es war keine rekordverdächtige Leistung, aber als Kesnick sie wieder in den Helikopter zog, schien die Crew mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein. Nicht gerade beeindruckt, aber zufrieden. Immerhin.

Für Lt. Commander Wilson war die Sache jedoch offensichtlich immer noch nicht erledigt. Liz war noch nicht wieder richtig zu Atem gekommen, als sie schnell ihren Sedahelm vom Kopf zog, um den Flughelm mit der Sprechanlage aufzusetzen. Kaum funktionierte ihr Kommunikationssystem, hörte sie gerade noch, wie Wilson Kesnick dazu aufforderte, die Kiste zu öffnen.

„Sollten wir nicht lieber warten?“, fragte Kesnick diplomatisch.

„Sie ist ja nicht versiegelt. Werfen Sie einfach mal einen Blick rein.“

Liz machte ihm Platz und rutschte zur Kabinenwand, um ihre schweren Gurte wieder abzulegen. Sie wollte damit nichts zu tun haben. Soweit es sie betraf, war der Job erledigt.

Kesnick zögerte, und Liz dachte schon, er würde sich weigern. Schließlich hockte er sich jedoch neben die Kiste. Er schob sein Visier nach oben, ohne Liz dabei anzusehen. Der Riegel ließ sich ohne große Anstrengung zurückklappen. Aber um das Schnappschloss ganz zu öffnen, musste Kesnick mit dem Handballen dagegendrücken. Liz entging nicht, wie er tief Luft holte, bevor er den Deckel hochhob.

Das Erste, was sie sah, war ein in die Innenwand eingelassenes Meterband zum Abmessen der Fische. Merkwürdig, dass ihr ausgerechnet das auffiel, aber daran würde sie sich immer erinnern. Kaum geöffnet, entstieg der Kiste ein fauliger Geruch. Aber es war kein verwesender Fisch, den sie rochen. Es stank eher wie auf der Müllkippe.

Im Container lagen verschiedene längliche Plastikpäckchen, ein großes und vier kleinere. Keine rechteckigen Bündel, in denen man Kokain vermutet hätte.

„Und?“, fragte Wilson und versuchte, über Kesnicks Schulter zu blicken.

Mit seinem behandschuhten Finger stieß Kesnick eines der kleineren Päckchen an. Es rollte herum. Auf der anderen Seite war die Plastikverpackung durchsichtiger, und plötzlich gab es keinen Zweifel mehr, was darin eingewickelt war.

Er warf Liz einen Blick zu, und sie entdeckte in Kesnicks sonst immer unbewegten Zügen zum ersten Mal etwas wie Panik.

„Ich glaube, es ist ein Fuß“, sagte er.

„Was?“

„Verdammt noch mal, ich glaube, es ist ein menschlicher Fuß!“

2. KAPITEL

Newburgh Heights, Virginia

Maggie O'Dell zog sich die Bluse über den Kopf, ohne die Knöpfe vorher zu öffnen. Einer riss dabei ab. Egal. Das Ding war sowieso hinüber. Selbst die beste Reinigung würde das viele Blut nicht entfernen können.

Sie knüllte das Hemd zusammen und warf das Knäuel im Badezimmer ins Waschbecken. Etwas Feuchtes klebte an ihrem Hals. Sie kratzte es ab und wischte den Finger am Waschbeckenrand ab.

Rosa. Wie geschmolzener Käse.

Sie war so dicht dran gewesen. Zu dicht, als der tödliche Schuss gefallen war. Unmöglich, noch aus dem Weg zu gehen.

Sie betastete hektisch ihren Hals und zerrte an ihren Haaren, erwartete, noch mehr Stücke zu finden. Dabei verhakte sie sich mit den Fingern in den schweißfeuchten, klebrigen Strähnen. Aber glücklicherweise hing nichts mehr dazwischen.

Sie hatten nicht erwartet, dass der Killer immer noch dort sein würde. Die Lagerhalle hatte verlassen gewirkt. Nur noch Reste seiner Folterkammer waren übrig geblieben, so wie Maggie es vorhergesehen hatte. Warum zum Teufel war er noch geblieben? Oder war er zurückgekommen? Um zuzusehen?

Maggies Boss, Assistant Director Raymond Kunze, hatte die tödlichen Schüsse abgegeben. Und anschließend hatte er seine Wut an Maggie ausgelassen. Als wäre es ihre Schuld gewesen, als hätte sie ihn dazu gezwungen, seine Waffe zu benutzen. Sie hatte unmöglich voraussehen können, dass sich der Mörder dort noch versteckt hielt. Das hätte kein Profiler gekonnt. Kunze konnte sie einfach nicht dafür verantwortlich machen. Trotzdem wusste sie, dass er genau das tun würde.

Harvey, ihr Labrador, schnappte sich einen ihrer weggeworfenen, völlig verschmutzten Schuhe. Doch statt damit zu spielen, ließ er sich plötzlich auf den Bauch sinken und begann zu heulen. Es war ein tiefer, kehliger Ton, der Maggie ans Herz ging.

„Komm schon, lass das fallen, Harvey“, befahl sie dem großen weißen Hund. Sie schimpfte nicht, sondern sagte es in leisem, freundlichem Tonfall.

Er roch das Blut an ihr, das beunruhigte ihn. Aber er gehorchte und ließ den Schuh aus seinem Maul fallen.

„So ist gut. Tut mir leid, mein Großer.“

Maggie hob den Schuh auf und warf ihn zu der durchnässten Bluse ins Waschbecken. Dann kniete sie sich vor Harvey auf den Boden und tätschelte ihn. Am liebsten hätte sie den Hund umarmt, aber sie war noch immer voller Blut.

„Warte draußen auf mich, Kumpel“, sagte sie und führte ihn aus dem weiträumigen Badezimmer in ihr Schlafzimmer. Dort wies sie ihn an, sich zu setzen. Hier konnte er sie durch die Tür noch sehen. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, damit er sich entspannte. So lange, bis er sich seufzend hinlegte.

Der Geruch von Blut versetzte das Tier noch immer in Panik. Es schmerzte Maggie, wenn sie an den Grund dachte. In ihrem Gedächtnis lief von Neuem der Tag ab, an dem sie ihn gefunden hatte. Verletzt und verschreckt hatte er unter dem Bett seines ersten Besitzers gekauert, in einer Lache seines eigenen Blutes. Der Hund hatte unter Einsatz all seiner Kräfte, aber ergebnislos versucht, sein Frauchen zu verteidigen. Das hatte man aus dem Haus entführt und später ermordet.

„Es ist alles in Ordnung“, versicherte sie dem Tier. Dann wagte sie zum ersten Mal, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Wie um sich zu vergewissern, dass es auch stimmte.

Es hätte schlimmer sein können. Sie hatte bereits ganz andere Erfahrungen hinter sich. Und diesmal war es zumindest nicht ihr eigenes Blut.

Ihre verfilzten kastanienbraunen Haarsträhnen hingen fast bis auf die Schultern. Sie musste unbedingt zum Friseur. Dass sie ausgerechnet jetzt an so etwas dachte! Ihre Augen waren blutunterlaufen, aber das hatte nichts mit dem Vorfall in der Lagerhalle zu tun. Seit Monaten war sie schon nicht mehr in der Lage, nachts durchzuschlafen. Pünktlich zu jeder vollen Stunde wachte sie auf, als hätte sie einen Wecker in ihrem Kopf. Der Schlafmangel musste sich schließlich bemerkbar machen.

Sie hatte alle ihr empfohlenen Mittel ausprobiert. Eine ausgiebige Joggingrunde am Abend, um richtig erschöpft zu sein. Keine körperlich anstrengenden Tätigkeiten mehr nach sieben. Ein warmes Bad. Ein Glas Wein. Wenn Wein nicht wirkte, dann warme Milch. Sie hatte es mit Meditationsgesang versucht. Ihren Koffeingenuss reduziert. CDs mit Naturgeräuschen gehört. Neuartige therapeutische Kopfkissen benutzt und Kerzen mit beruhigenden Aromen angezündet. Sogar einen kleinen Scotch in die Milch gegossen.

Nichts wirkte.

Sie hatte keine Schlaftabletten genommen … noch nicht. Als FBI-Agent und Profilerin wurde sie manchmal mitten in der Nacht zu einem Tatort gerufen. Die meisten Medikamente – die guten jedenfalls – sorgten für acht Stunden ununterbrochenen Schlaf. Wer konnte sich das schon leisten? Ein Special Agent bestimmt nicht.

Sie nahm eine ausgiebige heiße Dusche und wusch sich vorsichtig. Schrubbte sich nicht ab, wie sie es zuerst hatte tun wollen. Sie vermied es, zum Ausguss zu blicken. Wollte gar nicht sehen, was dort von ihrem Körper hinuntertropfte. Das Haar ließ sie feucht. Sie zog sich ein Paar bequeme Sportshorts und ihr T-Shirt von der University of Virginia an. Ihre Kleidungsstücke – jedenfalls die, die nicht mehr zu retten waren – stopfte sie in einen Müllbeutel und warf sie in den Abfall. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer, Harvey folgte ihr auf dem Fuß.

Sie schaltete den Fernseher ein, steckte sich die Fernbedienung in die Hosentasche und ging in die Küche. Der eins fünfzig breite Plasmabildschirm war für jemanden, der so selten fernsah, eine ziemliche Verschwendung. Sie rechtfertigte seine Anschaffung damit, dass sie im Herbst immer ihre samstäglichen College-Football-Partys gab. Und dann waren da noch die Abende mit Ben bei Pizza, Bier und alten Filmen. Dr. Colonel Benjamin Platt war ein sehr guter … Freund geworden.

So sollte es zunächst einmal bleiben, das hatten sie jedenfalls beschlossen. Okay, sie hatten eigentlich nicht richtig darüber geredet. Die Dinge liefen einfach angenehm. Sie liebte es, sich mit ihm zu unterhalten und auch die stille Zweisamkeit. Manchmal saßen sie zusammen hinter dem Haus in ihrem Garten und beobachteten, wie Harvey mit Bens Hund Digger spielte. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie dachte: Das ist wie eine Familie. Es war, als würden sie zu viert die Lücken im Leben der anderen füllen.

Ja, angenehm war es. Das gefiel ihr. Bis auf die Tatsache, dass sie in letzter Zeit immer so ein irritierendes Kribbeln verspürte, wenn er sie berührte. In diesen Momenten musste sie sich immer daran erinnern, dass sie beide bereits ein ziemlich kompliziertes Leben führten und genug persönlichen Ballast mit sich herumschleppten. Ihre Arbeitszeiten waren oft einfach nicht kompatibel. Vor allem in den vergangenen drei Monaten war das so gewesen.

Also schien Freundschaft im Moment die beste Lösung. Wenn auch nicht unbedingt gewünscht, sondern in Ermangelung weiterer Möglichkeiten. Das hinderte sie allerdings nicht daran, ständig auf das Display ihres Handys zu starren. Darauf zu warten, zu hoffen, dass sie dort eine Nachricht von ihm vorfand. Seit er für zwei Wochen in Afghanistan gewesen war, hatte sie ihn nicht gesehen. Sie hatten nur ab und zu kurz telefoniert oder sich SMS-Nachrichten geschickt.

Nun war er wieder unterwegs. Irgendwo in Florida. Sie hatte sich so daran gewöhnt, sich mit ihm auszutauschen. Das war eines der Dinge gewesen, durch die sie sich nähergekommen waren – über ihre verschiedenen Fälle zu sprechen. Maggie, wenn sie üblicherweise das Profil eines Killers erstellte; Ben, wenn er einer ansteckenden Krankheit auf die Spur kam und Maßnahmen ergreifen musste, damit sie sich nicht ausbreitete. Ein paarmal hatten sie zusammen an einem Fall gearbeitet. Wenn sowohl das FBI wie auch USAMRIID, das medizinische Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten der US-Armee, zuständig waren. Doch der Trip nach Afghanistan war, wie Ben sich ausdrückte, eine "geheime Mission an einem nicht bekannt gegebenen Ort“ gewesen. Mit anderen Worten: gefährlich.

Maggie fütterte den Hund und richtete sich selbst einen Salat an, während sie die Eilmeldung der Stunde hörte:

„Aufgrund der tropischen Stürme und Hurrikans, die in diesem Sommer im Golf wüten, sind die Benzinpreise gestiegen und gehen weiterhin hoch. Der Hurrikan Isaac wird heute Abend über Jamaika erwartet. Isaac hat bereits die Stärke vier. Bei einer Windgeschwindigkeit von vierzehn Kilometern die Stunde wird er weiter an Kraft zunehmen, während er in den nächsten Tagen den Golf von Mexiko erreicht.“

Maggies Handy klingelte, und sie zuckte zusammen. Dabei verschüttete sie etwas Salatdressing auf dem Küchentresen. Na gut. Dass sie mit Blut und Hirnstücken des getöteten Killers vollgespritzt worden war, schien sie also doch nicht so ganz kaltgelassen zu haben.

Sie griff nach dem Mobiltelefon. Vorher überprüfte sie die Nummer auf dem Display, die ihr aber leider unbekannt war.

„Maggie O'Dell.“

„Hallo, Cherie“, ertönte eine sanfte tiefe Stimme.

Es gab nur eine Person, die sie in diesem einschmeichelnden New-Orleans-Tonfall ansprach.

„Hi, Charlie. Was verschafft mir denn die Ehre?“

Maggie hatte mit Charlie Wurth am letzten Thanksgiving-Wochenende an einem Fall gearbeitet. Es ging um ein Bombenattentat in der Mall of America. Sie hatten nach den Tätern gesucht und das zweite, bereits angekündigte Attentat noch am selben Wochenende verhindern müssen. In diesem Fall, wo sie absolut keinen Rückhalt von ihrem neuen Vorgesetzten A.D. Kunze bekommen hatte, war Charlie Wurth ein Geschenk des Himmels gewesen. Der stellvertretende Leiter des nach 9/11 neu gegründeten Heimatschutzministeriums zum Schutz vor terroristischen Bedrohungen versuchte nun bereits seit sechs Monaten, Maggie abzuwerben und ihr einen Posten in seinem Bereich des Justizministeriums aufzuschwatzen.

„Ich bin auf dem Sprung“, erklärte Charlie. "Und ich weiß genau, dass du nicht widerstehen kannst, mich zu begleiten. Denk an das sonnige Florida. Smaragdgrünes Meer. Zuckerweiße Strände.“

Charlie Wurth rief immer mal wieder an, um eins seiner verrückten Angebote zu machen. Es war inzwischen zu einem Spiel zwischen ihnen geworden. Es wollte ihr nicht einfallen, warum sie nie den Gedanken gehegt hatte, das FBI zu verlassen und für das Heimatschutzministerium zu arbeiten. Maggie strich sich mit den Fingern durchs Haar und dachte an das Blut und die Hirnfetzen von vorhin. Vielleicht sollte sie doch mal über einen Wechsel nachdenken.

„Klingt wirklich fantastisch“, sagte Maggie und ging auf seinen Tonfall ein. "Wo ist der Haken?“

„Es ist nur ein ganz kleiner. Sieht so aus, als würde Hurrikan Isaac nach den Berechnungen der Meteorologen den gleichen Weg nehmen.“

„Sag mir noch einmal, warum ich mitkommen wollte?“

„Tatsächlich würdest du mir einen riesengroßen Gefallen tun.“ Charlie Wurth wurde jetzt ernst. "Ich war eben wegen des Hurrikans schon auf dem Weg. Wurde allerdings etwas abgelenkt. Die Küstenwache hat einen Fischkühler im Golf gefunden.“

Er machte eine Pause, damit sie ihre eigenen Schlüsse ziehen konnte.

„Lass mich raten. Es war kein Fisch drin.“

„Genau. Die lokale Polizei hat alle Hände voll damit zu tun, sich auf den Hurrikan vorzubereiten. Die Küstenwache meint, es wäre Sache des Heimatschutzministeriums, aber ich denke, diese Körperteile rufen das FBI auf den Plan. Ich habe mich gerade bei A.D. Kunze erkundigt, ob ich dich mal ausborgen darf.“

„Du hast mit Kunze gesprochen? Heute?“

„Jawohl. Vor wenigen Minuten. Er findet, das wäre eine gute Idee.“

Das überraschte Maggie überhaupt nicht. Sicher gefiel ihrem Boss der Gedanke, sie ins Auge des Hurrikans zu schicken.

3. KAPITEL

Militärflugbasis

Pensacola, Florida

Colonel Benjamin Platt erinnerte sich nicht an diesen Teil der Basis, obwohl er schon einmal hier gewesen war. Meist hatte er während seiner Einsätze einfach zu viel zu tun, um die Umgebung richtig wahrzunehmen.

„Pensacola Bay ist traumhaft“, sagte er, während er in die Bucht hinaussah.

Sein Begleiter, Captain Carl Ganz, schien von der Bemerkung überrascht. Er drehte sich um und blickte in die Richtung, in die Platt zeigte. Ihr Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, als wollte er dem Captain Zeit geben, sich genauer umzusehen.

„Oh ja, das stimmt. Wir haben uns wohl schon zu sehr an den Anblick gewöhnt“, entgegnete Captain Ganz. "Pensacola ist eine der schönsten Gegenden, in denen ich bisher stationiert war. Ich kann mir vorstellen, dass es besonders eindrucksvoll ist, wenn man gerade aus Kabul kommt.“

„Da haben Sie recht.“

„Wie war es?“

„Die Reise?“

„Afghanistan.“

„Der Staub nimmt einfach kein Ende. Meine Lungen fühlen sich immer noch an, als wären sie voll davon.“

„Daran erinnere ich mich auch. 2005 war ich mit einem MedEvac-Team zur Evakuierung von Verletzten dort“, sagte Captain Ganz.

„Das wusste ich nicht.“

„Im Sommer 2005. Wir haben damals einen unserer Seals verloren. Ein vierköpfiger Aufklärungstrupp von uns geriet unter Beschuss. Sechzehn Soldaten sind als Verstärkung mit einem Helikopter eingeflogen, aber sie wurden abgeschossen.“ Ganz ließ seinen Blick über die Bucht schweifen. "Alle an Bord kamen um. Und die Bodentruppe ebenso.“

Platt atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf. "Ein schwarzer Tag.“

„Sie waren doch auch dort, oder?“

„Aber früher. Noch in den ersten Kriegsmonaten“, entgegnete Platt. "Ich gehörte zu dem Team, das unsere Jungs vor biologischen und chemischen Waffen schützen sollte. Was daraus hinauslief, dass wir sie letztendlich hauptsächlich zusammenflicken mussten.“

„Und, hat sich etwas verändert?“

„Im Krieg?“

„In Afghanistan.“

Platt schwieg und musterte Captain Ganz. Er war ein bisschen älter als er selbst, vielleicht vierzig. Sein Gesicht wirkte jungenhaft, trotz des vorzeitig ergrauten Haars. Dies war das erste Mal, dass sich die beiden Männer persönlich trafen. Bisher hatten sie nur über Telefon oder E-Mail kommuniziert. Platt war als Arzt und Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten im USAMRIID bei Fort Detrick für die Prävention und Bekämpfung der gefährlichsten Seuchen zuständig. Ganz, ebenfalls Arzt, arbeitete für die Navy an einer Abhandlung über chirurgische Eingriffe an verwundeten Soldaten.

„Leider nicht“, sagte Platt schließlich, nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, dass er mit Ganz offen reden konnte. "Es hat mich zu sehr an die Anfangstage erinnert. Scheinbar bewegen wir uns im Kreis. Und das inzwischen offensichtlich noch langsamer.“

Platt rieb sich müde die Augen. Er hatte sich immer noch nicht vom Jetlag erholt. Als der Anruf von Captain Ganz kam, war er noch keine achtundvierzig Stunden zu Hause gewesen.

Platt beschloss, dass sie nun genauso gut auf den Punkt kommen konnten. "Erzählen Sie mir von diesem mysteriösen Virus“, bat er sein Gegenüber.

„Wir haben jeden Soldaten isoliert und in Quarantäne versetzt, von dem wir annehmen mussten, dass er mit den Infizierten in Kontakt gekommen ist. Bei denen, die sich zuerst angesteckt haben, treten schon Symptome auf. Bis wir wissen, womit wir es zu tun haben, kann man nicht vorsichtig genug sein.“

„Da stimme ich Ihnen zu. Wie sehen die Symptome aus?“

„Das ist es ja gerade. Sie sind sehr unauffällig. Zumindest am Anfang. Zuerst klagen die Betroffenen über starke Schmerzen an der Operationsnarbe, was für die meisten dieser Fälle im Grunde nichts Außergewöhnliches ist. Wir reden hier von mehrfachen Brüchen und tiefen Wunden mit offen liegenden Knochen.“

Er schwieg einen Moment, als eine Gruppe von Flugzeugen über sie hinweg startete und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm machte.

„Wir beginnen inzwischen, die Flugzeuge vor dem nächsten Hurrikan in Sicherheit zu bringen.“

„Ich dachte, Isaac sollte weiter westlich zuschlagen, vielleicht in New Orleans.“

„Die Medien konzentrieren sich immer auf New Orleans.“ Ganz zuckte die Schultern. "Scheint wohl die bessere Story zu versprechen. Aber ein paar wirklich fähige Meteorologen haben uns gewarnt, dass er zu uns kommt. Wir können nur hoffen, dass sie sich irren. Deshalb wird der Admiral nervös. Und aus diesem Grund habe ich ihm gesagt, dass wir Ihre Hilfe benötigen. Ich sagte ihm, wenn einer das herausfinden kann, dann Platt.“

„Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht.“

„Da bin ich ganz zuversichtlich, das schaffen Sie. Sie müssen es schaffen.“

„Also Schmerzen an der Operationswunde“, versuchte Platt nun, wieder auf den Punkt zu kommen. Er wollte sich mit der Sache beschäftigen, bevor er zu müde und unkonzentriert wurde. "Was ist mit den Verbänden?“

„Daran hatten wir bei den ersten Fällen auch gedacht. Wir haben die Verbände entfernt, was den Schmerz zuerst auch linderte. Aber nur vorübergehend.“

„Infektionen?“

„Die Wundränder zeigten keinerlei Schwellungen. Die Patienten hatten auch kein Fieber, obwohl sie behaupteten, ihnen wäre sehr heiß und sie übermäßig schwitzten. Sie klagten über Magenbeschwerden und Übelkeit. Einige mussten sich übergeben. Kopfschmerzen. Trotzdem waren alle Vitalfunktionen in Ordnung. Blutdruck, Puls… alles normal. Da sind wir.“ Captain Ganz unterbrach seinen Bericht, als der Fahrer vor dem Seiteneingang eines zweigeschossigen Backsteingebäudes hielt.

Die Stahltür war zusätzlich verstärkt. Die Tastatur für den Sicherheitscode blinkte rot, und auf der digitalen Anzeige leuchtete ihnen "C Klasse 1“ entgegen.

Ganz tippte eine Zahlenkombination ein und legte den Daumen auf den Touchscreen. Die Schlösser öffneten sich mit einem leisen Klicken; eines, ein zweites, dann das dritte. Dahinter befand sich eine kleine Eingangshalle. Ganz führte Platt in den ersten Flur rechts. Der Gang war ziemlich schmal, und die beiden Männer berührten sich beim Laufen an der Schulter.

„Der Admiral will, dass ich diese Soldaten evakuiere. Sie ins Inland zum Militärkrankenhaus überführe, statt sie hier an der Küste zu lassen. Aber wie Sie wissen, gibt es bei einem Transport jede Menge Probleme.“

Schließlich erreichten sie eine weitere Tür, die auch wieder per Sicherheitscode verschlossen war. Der Captain wiederholte die Prozedur mit Code und Fingerabdruck. Aber als diesmal das Klicken der Schlösser ertönt war, zog er die Tür nur einen Spalt weit auf und zögerte. Er drehte sich zu Platt um und sah ihm in die Augen.

„Innerhalb von fünf Tagen bis einer Woche fällt der Blutdruck in den Keller. Die Patienten bekommen Herzrasen. Als würden sie keine Luft mehr bekommen. Dann fallen sie ins Koma. Die Organe versagen kurz darauf. Wir können nichts dagegen tun. Bisher habe ich zwei verloren. Erst gestern. Ich möchte nicht, dass die anderen Soldaten dasselbe Schicksal erleiden.“

„Verstehe. Sehen wir, was wir tun können.“

Ganz nickte ihm zu, öffnete die Tür und ging ihm voraus in einen kleinen verglasten Raum. Durch die Fensterfront konnte man in einen Saal von der Größe einer Sporthalle blicken. Nur dass dieser Raum durch sterile Plastikzelte in viele Einzelzellen eingeteilt war, aus deren Wänden Schläuche und Kabel wuchsen, Kontrollgeräte und Computermonitore.

Platt musste sich beherrschen, um nicht aufzukeuchen. Der Saal war voll. Er schätzte, dass es über hundert Krankenbetten waren. Über hundert Betten mit über hundert Soldaten.

4. KAPITEL

Pensacola Beach

Liz Bailey hätte es vorgezogen, sich draußen im Golf mit Wind und Wetter auseinanderzusetzen. Stattdessen saßen sie nun für den Rest ihres heutigen Dienstes hier fest. Seit fünf Stunden nervten sie der Sheriff der Escambia County, der Chef der Verwaltungsbehörde von Santa Rosa Island, der Kommandant der Militärflugbasis Pensacola, ein Bundesbeamter des Heimatschutzministeriums und der Vizechef desselben über eine Konferenzschaltung.

Es war einfach verrückt. Liz fragte sich unwillkürlich, ob sie nicht besser davongekommen wären, wenn sie die Kühlbox nicht geöffnet hätten. Wenn sie ihren Fund nur abgeliefert hätten und wieder gegangen wären. Diese ganze Fragerei schien weniger dem Zweck zu dienen, an Informationen zu kommen. Sie war wohl mehr darauf ausgerichtet zu ergründen, wie viel von diesem Vorfall bereits an die Öffentlichkeit gelangt war.

„Wem haben Sie noch davon erzählt?“, wollte der Sheriff wissen.

„Wir haben den Vorschriften gemäß auf See nach Überlebenden gesucht.“ Lt. Commander Wilson machte sich inzwischen nicht mehr die Mühe, seine Ungeduld zu bezwingen. Einen kühlen Kopf zu behalten zählte nicht gerade zu den Dingen, die Wilson gelernt hatte.

Liz fragte sich, ob er es inzwischen bereute, Kesnick zum Öffnen der Kühlbox aufgefordert zu haben. Sie musste sich eingestehen, dass sie es fast genoss, ihn wegen seines eigenen Verhaltens so verärgert und defensiv zu erleben. Das war es fast wert, hier festgehalten zu werden. Fast.

Vorhin hatte sie Wilsons Mimik genau beobachtet. Sie war sich sicher, dass ihr Pilot in seiner ganzen Laufbahn noch nie menschliche Leichenteile zu Gesicht bekommen hatte. Zuerst dachte sie, Wilson würde Kesnick einfach nicht glauben. Aber in seinem Blick lag etwas wie Angst – vielleicht sogar Schock. Nachdem er sein Visier hochgeklappt hatte, um einen besseren Blick in den Kühler werfen zu können, bestand daran kein Zweifel mehr. Jedenfalls für Liz, die ihn von ihrem Platz im Helikopter sehr gut beobachten konnte. Normalerweise hätte das ihr Mitleid erwecken sollen. Stattdessen verstärkte es nur noch ihre Abneigung. Sie hatte keinen Respekt vor diesem Typen.

Als die vier endlich fürs Erste aus der Befragung entlassen waren, verließen sie das Gebäude. Draußen schien die Sonne.

„Ich schmeiße eine Runde“, kündigte Wilson an. "Es ist noch früh. Wir könnten um die Zeit sogar Plätze auf dem Deck der Tiki Bar bekommen. Und von da aus ein paar Bikinibräute beobachten.“

Irgendjemand räusperte sich. Liz drehte sich nicht um, um zu sehen, wer es war.

„Ach, komm schon“, sagte Wilson. "Bailey macht das nichts aus. Jedenfalls nicht, wenn sie eine von uns ist.“

Da war es wieder, die Spitze, die Herausforderung. Liz sollte sich entscheiden.

„Klingt doch gut“, sagte sie leichthin und setzte ihre Sonnenbrille auf. Ohne irgendjemanden von den dreien anzusehen, lief sie weiter.

„Aber nur, wenn wir uns vorher ein paar Hotdogs holen.“ Tommy Ellis war ständig hungrig.

„Himmel noch mal, Ellis. Können Sie nicht mal an was anderes als an Ihren Magen denken?“, beschwerte sich Wilson. "Wir holen uns später welche.“

„Ja, aber was ist, wenn der Hotdog-Mann dann nicht mehr da ist?“

„Er wird da sein“, versicherte ihm Liz und ging ohne zu zögern weiter zur Tiki-Bar voraus. "Wahrscheinlich wird er uns dann überreden, woanders noch ein Bier mit ihm zu trinken.“

„Woher wollen Sie das denn so genau wissen?“, fragte Ellis.

„Weil der Hotdog-Mann mein Vater ist.“

5. KAPITEL

Newburgh Heights, Virginia

Maggie O'Dell speicherte die Dokumente, die Wurth ihr geschickt hatte, und druckte sie aus. Beim Blick auf die Fotos und die ersten Angaben vom Sheriffbüro in Escambia County wurde ihr klar, dass sie selbst ein paar Aufnahmen machen musste. Diese Bilder sagten nur wenig aus.

Auf einem Foto sah man eine Ansammlung von merkwürdigen mit Plastikfolie umwickelten Päckchen, die jemand in einen großen Fischkühler gestopft hatte. Die Detailaufnahmen zeigten die einzelnen Objekte, jedes auf dem Betonfußboden eines Auffangraums aufgereiht. Was sie durch die Plastikfolie erkennen konnte, sah nicht aus wie Teile eines menschlichen Körpers, sondern eher wie Fleischstücke aus der Schlachterei.

Sie fragte Wurth, ob sie mit dem Auspacken der Päckchen bis zu ihrer Ankunft warten könnten. Er sagte ihr, dafür sei es wahrscheinlich schon zu spät.

„Das bezweifle ich, Wurth. Selbst bei der Polizei siegt die Neugier.“ Aber dann fügte er hinzu: "Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Jetzt saß Maggie im Schneidersitz auf dem Boden mitten in ihrem Wohnzimmer, zur einen Seite Fotos vor sich ausgebreitet, auf der anderen Seite schlief Harvey. Sein riesiger Kopf lag auf ihrem Schoß, den er vollständig ausfüllte. Sie hatte den Wetterkanal im Fernsehen eingestellt. Anfangs lief das Programm lediglich als Hintergrundrauschen. Aber dann erregte die Berichterstattung mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit. Sie erfuhr so einiges über Hurrikans. Manches könnte sich vielleicht im Lauf der folgenden Woche als nützlich erweisen.

Maggie fand es sehr interessant, dass die Saffir-Simpson-Hurrikanskala nicht nur die Geschwindigkeit der anhaltenden Winde berücksichtigte, sondern auch den Schaden, den diese anrichten konnten. Ein Sturm der Kategorie 3 mit einer Windstärke von 178 bis 210 Kilometern pro Stunde war in der Lage, "umfassenden“ Schaden anzurichten, also etwa kleine Gebäude zu zerstören, große Bäume umzuknicken und Überflutungen in Küstennähe zu verursachen. Der Schaden eines Sturms der vierten Kategorie bei einer Geschwindigkeit von 211 bis 249 Stundenkilometern wurde schon als "verheerend“ bezeichnet und die Verwüstung von Stürmen der Kategorie 5 mit mehr als 250 Stundenkilometern als "katastrophal".

Stürme mit einer Windgeschwindigkeit von mehr als 250 Kilometern pro Stunde konnte Maggie sich kaum vorstellen. Aber die Verwüstungen schon eher.

Hurrikan Isaac hatte bereits sechzig Menschen jenseits der Karibischen See auf dem Gewissen. Inzwischen, nach nur wenigen Stunden, war er offiziell in die Kategorie 5 eingeordnet worden. Der Sturm wurde in Kürze mit einer Windgeschwindigkeit von 260 Stundenkilometern auf Grand Cayman erwartet. Eine Million Kubaner sollten bereits evakuiert worden sein. Man erwartete die Ankunft des Monsters am Sonntag. Auf seinem Weg Richtung Westnordwest mit nur sechzehn Stundenkilometern würde der Hurrikan am Montag im Golf von Mexiko ankommen.

Egal, welcher Pfad in den vergangenen Stunden für den Sturm berechnet worden war, Pensacola in Florida lag immer genau in der Mitte. Es war kein Scherz gewesen, als Charlie Wurth ankündigte, sie würden sich direkt ins Auge des Hurrikans begeben. Natürlich gab es deshalb auch keine Flüge mehr nach Pensacola. Morgen früh würde sie nach Atlanta fliegen, wo Charlie sie abholte. Von dort mussten sie mit dem Auto fünf Stunden bis zum "Panhandle“ im Nordwesten Floridas fahren. Als sie wissen wollte, was er in Atlanta tat – schließlich wohnte er in New Orleans und sein Büro befand sich in Washington, D.C. –, sagte er einfach nur: "Frag mich nicht.“

Wurth hatte sich immer noch nicht den strengen Verhaltensregeln eines höheren Angestellten der Bundesregierung angepasst. Ihm war die Stelle des Vizechefs des Heimatschutzministeriums angeboten worden, weil er mit seiner Aufdeckung von Korruption und Verschwendung von Staatsgeldern nach dem Hurrikan Katrina die richtigen Leute beeindruckt hatte. Aber er würde sich – genau wie Maggie – wohl nie an die Bürokratie gewöhnen, die zu seinem Job gehörte.

Maggie war klar, dass sie eigentlich packen sollte. Es stand immer eine Reisetasche mit dem Notwendigsten bereit. Sie müsste nur noch den Rest dazulegen. Aber was brauchte man denn bei einem Hurrikan? Strapazierfähige Schuhe zweifellos. Ihre Freundin Gwen Patterson warf Maggie ständig vor, sie wisse gutes Schuhwerk nicht richtig zu würdigen.

Sie sah auf die Uhr. Eigentlich müsste sie Gwen anrufen. Aber das würde sie lieber später erledigen. Der Vorfall mit dem Killer heute beschäftigte sie zu sehr. Der Schock saß ihr noch im Nacken. Ihre Freundin, die Psychologin, würde natürlich sofort an ihrer Stimme hören, was los war. Kein nervöses Atemholen oder zu langes Abwägen von Worten entging ihr. Sie war eine Meisterin im Deuten von Zwischentönen. Die kleinste Schwäche, die Maggie zeigte, würde sie entdecken. Ein Berufsrisiko, wie Gwen es immer nannte. Und Maggie wusste nur allzu gut, was sie damit meinte.

Die beiden Frauen hatten sich kennengelernt, als Maggie in der forensischen Abteilung von Quantico, der FBI-Ausbildungsstätte, gearbeitet hatte, wo Gwen eine Privatpraxis in der Abteilung für Verhaltensforschung führte. Dr. Gwen Patterson, die siebzehn Jahre älter war als Maggie, hatte die Tendenz, ihr gegenüber mütterliche Instinkte zu entwickeln. Maggie konnte damit leben. Gwen war ihre einzige feste Freundin. Immer war sie es, die Maggie zur Seite stand. Gwen war es gewesen, die Maggie während ihrer langen, zermürbenden Scheidungsphase aufgerichtet hatte. Gwen hatte nachts an ihrem Krankenhausbett gewacht, nachdem ein Killer Maggie in eine Kühlbox eingeschlossen hatte. Und Gwen war es gewesen, die in Fort Detrick auf der anderen Seite der Glasscheibe ihrer Isolierzelle gesessen hatte, als Maggie mit dem Ebola-Virus infiziert worden war. Zuletzt hatte Gwen an Maggies Seite gestanden, als sie ihrem früheren Chef und Mentor auf dem Nationalfriedhof in Arlington das letzte Geleit gegeben hatte.

Trotzdem gab es Tage wie heute, an denen Maggie sich nicht mit ihrer eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen konnte. Und sie wollte auch nicht, dass ihre Freundin sich Sorgen um sie machte. Maggie wusste, dass sie nicht nur müde war, weil sie Probleme mit dem Einschlafen hatte. Es waren auch die Albträume, die sie nachts hochschrecken ließen. Die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf. Ihr Bruder Patrick, der mit Handschellen an einen Bombenkoffer gefesselt war. Ihr ehemaliger Mentor und Vorgesetzter im Krankenhausbett, sein eingefallener Körper, all die Nadeln und Schläuche, die sie an ihn angeschlossen hatten. Sie selbst eingesperrt in einem eisigen Sarg. Eine Imbissbox auf dem Tresen einer Raststätte, aus der Blut sickerte. Lange Reihen von Einweckgläsern mit eingelegten menschlichen Körperteilen.

Das Problem war, dass es sich hier nicht um die Bilder eines kranken Hirns oder Fantastereien infolge von Übermüdung handelte. Nein, es waren reale Erinnerungen, kurze Einblendungen tatsächlicher Begebenheiten. Die Schubladen, die Maggie sich über die Jahre hinweg so sorgfältig in ihrem Kopf aufgebaut hatte – die Fächer, in denen sie diese fürchterlichen Bilder verwahrte –, begannen langsam undicht zu werden. Genauso wie Gwen es vorausgesagt hatte.

„Eines Tages“, hatte ihre weise Freundin sie immer gewarnt, "wirst du dich auseinandersetzen müssen mit den Dingen, die du gesehen und getan hast, die dir angetan wurden. Du kannst sie nicht für immer verdrängen.“

Beim Klingeln ihres Handys zuckten Maggie und Harvey gleichzeitig zusammen. Sie tätschelte ihm den Kopf, während sie an ihm vorbeilangte und nach dem Mobiltelefon griff. Es hätte sie nicht gewundert, jetzt Gwens Stimme zu hören.

„Maggie O'Dell.“

„Hallo!“

Dicht dran. Es war Gwens Freund, R.J. Tully, bis vor Kurzem Maggies Partner beim FBI. Das war gewesen, bevor sie den Rotstift ansetzten, um Kosten zu sparen. Nun arbeiteten sie beide ohne Partner und sehr selten mal am selben Fall. Jedenfalls hatte Tully heute beim Einsatz in der Lagerhalle zu der Gruppe gehört, die zur Absicherung gerufen worden war. Ein halbes Dutzend FBI-Agents, die beobachtet hatten, wie Kunze den Todesschuss abfeuerte.

„Ich dachte, ich höre mal, wie's dir geht. Ist alles in Ordnung?“

„Alles okay.“ Zu schnell. Sie biss sich auf die Unterlippe. Würde Tully jetzt darauf eingehen? Gwen hätte es getan. Bevor er die Gelegenheit hatte, etwas darauf zu erwidern, wechselte sie das Thema. "Ich wollte Emma gerade anrufen.“

„Emma?“ Tully hörte sich an, als wäre ihm der Name seiner Tochter völlig fremd.

„Wegen Harvey. Ich muss morgen früh los. Sehr früh. Charlie Wurth hat einen Fall in Florida, den ich mir mal vornehmen soll. Ist Emma zu Hause?“

Zu langes Schweigen. Er hatte sie durchschaut. Schließlich war er auch ein Profiler. Aber würde er ihr das durchgehen lassen? Gwen wäre unerbittlich.

„Sie ist doch noch nicht an der Uni, oder?“, erkundigte sich Maggie, nur, um das Schweigen zu unterbrechen. Sie wusste, dass das Mädchen die Abreise ständig hinausschob.

„Nein. Sie wollte erst Ende nächster Woche fahren. Im Moment ist sie nicht hier, aber ich bin sicher, dass sie gern bei Harvey bleibt. Schick ihr eine SMS, statt sie anzurufen. Dann wird sie dir sofort antworten.“ Kurze Pause. "Weiß A.D. Kunze von deinem Ausflug?“

„Natürlich weiß er Bescheid.“ Es nervte Maggie, dass sie so verärgert klang. "Wurth hat sich bei ihm erkundigt, ob es in Ordnung ist.“ Sie sparte sich die Bemerkung, dass Kunze der Vorschlag sehr gut gefallen hatte. Tully würde sich das selbst denken. Er hatte Kunzes Aggressionen im vergangenen Herbst zu spüren bekommen, als er vorübergehend suspendiert worden war. "Wahrscheinlich ist es keine große Sache“, redete Maggie weiter. "Ein paar Körperteile, die in einer Kühlbox auf See gefunden wurden.“

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