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Körbchen unterm Mistelzweig

Als Buch hier erhältlich:

Schneeflocken, Familie und die ganz große Liebe

Es ist Liebe auf den ersten Blick, das ist Viola sofort klar, als sie Lukas gegenübersteht. Seitdem laufen sie sich häufig über den Weg, doch Viola ist viel zu schüchtern, um den ersten Schritt zu machen. Stattdessen lässt sie sich ihre Gefühle nicht anmerken. Doch dann finden sie gemeinsam ein ausgesetztes Schnauzermädchen am Straßenrand. Sie taufen die Kleine Miss Daisy und beschließen, sich gemeinsam um sie zu kümmern. Ist das flauschige Fellknäuel genau das, was die beiden brauchen, um zueinanderzufinden?


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Aus der Serie: Weihnachtshund
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675352

Leseprobe

1. Kapitel

»Komm schon, komm schon, komm schon!« Zum wiederholten Mal drehte Viola den Zündschlüssel ihres rosafarbenen Fiat Panda, woraufhin der betagte Motor ein stotterndes Husten von sich gab. Das winzige Auto rüttelte und schüttelte sich. »Bitte, bitte, spring an!«

Das Rütteln hörte auf, das Husten erstarb.

»Sch…! Nein, nein, nicht heute!« Verzweifelt blickte Viola auf die Uhr. Es war bereits Viertel vor acht. Punkt acht Uhr wurde sie im Sternbach-Resort zum Freitagsmeeting der Belegschaft erwartet. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal, erntete aber wieder nur ein Stottern, das diesmal deutlich gequälter ausfiel und schon nach wenigen Sekunden abbrach. »Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe dir doch gerade erst eine neue Batterie spendiert. Und der TÜV hat vor einem Monat gesagt, du hältst noch zwei weitere Jahre. Also lass dich nicht so bitten. Ich habe es eilig.«

Beim nächsten Versuch brachte der Motor überhaupt keinen Mucks mehr hervor.

Seufzend betätigte Viola den Hebel der Motorhaube, stieg aus und zog prompt den Kopf ein, weil es regnete und ein eisiger Novemberwind durch den Birkenweg blies. Sehnsüchtig warf Viola einen Blick über die Schulter auf das Mehrfamilienhaus, in dem sich ganz oben unter dem Dach ihre gemütliche, warme Mansardenwohnung befand. Am liebsten hätte sie sich wieder in ihr Bett verkrochen. Sie war zwar nicht abergläubisch, aber der heutige Freitag, der Dreizehnte, schien es in sich zu haben. Erst hatte sie verschlafen, weil sie am vergangenen Abend vergessen hatte, die Batterie ihres Weckers zu tauschen. Dann hatte sie entdeckt, dass ihr Duschgel nicht ganz verschlossen gewesen und in der Dusche ausgelaufen war. In der Hektik hatte sie sich danach noch die Unterlippe an ihrem viel zu heißen Kaffee verbrannt, das Glas mit dem Orangensaft umgeworfen, sich noch einmal umziehen müssen, weil Saftflecken auf Jeans und Bluse nicht gerade kleidsam waren … und jetzt das streikende Auto. Konnte es noch schlimmer werden?

Entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, hob sie die Motorhaube und warf einen zumindest halbwegs fachfraulichen Blick in den Motorraum. Sie konnte sehen, dass Kühl- und Scheibenwaschwasser noch ausreichend vorhanden waren. Der Ölstand war auch im grünen Bereich. Und die Anschlüsse der Batterie genau so, wie sie sein sollten.

»Was in aller Welt stimmt denn heute nicht mit dir? Gestern war doch noch alles okay. Und getankt habe ich auch erst vorgestern.« Ratlos wackelte Viola an ein paar Kabeln, lugte in alle möglichen Zwischenräume, doch der Motor verriet ihr nicht, was ihm fehlte.

Obwohl sie nicht glaubte, dass es etwas brachte, setzte sie sich erneut hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Fiat gab daraufhin ein Geräusch von sich, als habe er Schluckauf, und verstummte sofort wieder.

»Mist.« Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Wenn sie jetzt zu Fuß losging, würde sie eine halbe Stunde zu spät kommen. Es sei denn, sie rannte, aber auf einen Dreikilometersprint war sie nicht vorbereitet. Also zog sie ihr Handy aus der Hosentasche, um einen ihrer Brüder oder ihre Schwester zu überreden, sie abzuholen. Sie hatte gerade Ricardas Nummer angewählt, als das Handy einen Piepton von sich gab – und ihr anzeigte, dass der Akku leer war. Dann schaltete es sich ab.

»Neeeein! Verdammt noch mal!« Beinahe hätte Viola das Handy vor Zorn aus der Tür geworfen. »Das gibt es doch wohl nicht!« Sie lehnte für einen Moment ihren Kopf gegen die Kopfstütze und blickte zum Autodach hinauf. »Was mache ich denn jetzt?« Wütend griff sie hinter sich, hob ihre Arbeitstasche vom Rücksitz und stieg erneut aus. »Zu Fuß gehen, was sonst?«, murmelte sie bei sich und knallte die Fahrertür ins Schloss.

Sie wandte sich gerade der Motorhaube zu, um sie ebenfalls zu schließen, als ein dunkelgrauer Transporter den Birkenweg heraufgefahren kam. Auf den Seiten war der Schriftzug Wohnen in Holz zu lesen. Darunter prangte das Logo der Holzhausbaufirma ihres Bruders – ein Holzwurm mit Bauhelm – und die Internetadresse sowie Telefonnummer des Unternehmens. Erleichtert atmete sie auf. Patrick würde sie ganz bestimmt mitnehmen, denn das Resort lag auf dem Weg zu seinem Firmensitz.

Als der Transporter neben ihr hielt, zuckte sie jedoch zusammen, denn nicht etwa ihr Bruder saß hinter dem Steuer, sondern Lukas Sahrmüller, der seit einigen Monaten Anteile an der Baufirma hielt und dort als Schreinermeister arbeitete. Er hatte seine Firma hierher verlegt und mit der von Patrick verschmolzen, nachdem Patrick Lukas’ Schwester Angelique geheiratet hatte. Nun fertigte Lukas nicht mehr nur seine exquisiten Holzmöbel, sondern unterstützte Patrick auch beim Bau der Holzhäuser.

»Guten Morgen, Viola.« Lukas lächelte ihr zu, während er sie aus seinen silbervioletten Augen, die denen seiner Schwester verblüffend ähnelten, fragend musterte. »Streikt dein Auto?« Während er sprach, stieg er bereits aus.

»Ja, leider.« Sie hob die Schultern und versuchte, ihn nicht so entsetzlich attraktiv zu finden – oder es sich zumindest nicht anmerken zu lassen. Er war fast einen Kopf größer als Viola, was allerdings kein Kunststück darstellte, da sie im Gegensatz zu ihren Geschwistern nicht mit Körperlänge punkten konnte. Bei eins achtundsechzig hatte sie aufgehört zu wachsen. Sein Haar war rabenschwarz – ebenfalls wie das seiner Schwester – und kurz geschnitten, sein Gesicht nicht klassisch schön, aber dennoch höchst attraktiv mit ausgeprägter Knochenstruktur und energischen Zügen, die weicher wurden, wenn er lächelte oder lachte.

Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen auf einem Familienbacktag vor fast einem Jahr, zu dem Angelique ihn einfach mitgebracht hatte, hatte er Viola auf Anhieb die Sprache verschlagen. Seither hielt der Zustand an, obwohl sie sich größte Mühe gab, in seiner Gegenwart gelassen zu bleiben. Was brachte es auch, ihn anzuschmachten? Er war nicht nur gut aussehend, sondern auch sehr selbstsicher und, soweit sie wusste, eingefleischter Junggeselle mit null Interesse an festen Bindungen. Alles in allem kein Mann für sie. Oder zumindest keiner, dem zu nähern sie sich jemals trauen würde. Deshalb deutete sie jetzt nur sehr vage in Richtung der noch immer geöffneten Motorhaube. »Gestern lief er noch einwandfrei und heute früh springt er plötzlich nicht mehr an.«

»Ist vielleicht die Batterie leer?« Lukas trat an das Auto heran und warf einen Blick in den Motorraum.

»Ich habe erst vor einer Woche eine neue einbauen lassen und auch kein Licht oder so brennen lassen.« Ihre Stimme klang leicht defensiv, was sie ärgerte. Aber sie wollte sich nicht nachsagen lassen, dass angebliche weibliche Dummheit Grund für das Streiken ihres Autos sein könnte.

Lukas schien ihren aufwallenden Ärger bemerkt zu haben, denn er lächelte wieder, diesmal begütigend. »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Mir ist nur neulich genau das passiert: Ich habe versehentlich das Licht an meinem Wagen brennen lassen, während ich in der Firma war, und abends war die Batterie leer und ich stand blöd da.« Er ruckelte ebenfalls an ein paar Kabeln, winkte dann aber ab. »Leider kann ich dir hierbei nicht weiterhelfen. Zu behaupten, ich würde mich mit Automotoren auskennen, wäre eine dreiste Lüge. Aber wenn du willst, fahre ich dich zum Resort. Ich nehme doch an, dass du dorthin wolltest, oder?«

»Ja.« Sie nickte, gleichzeitig dankbar und konsterniert, weil sie sich fast ein wenig davor fürchtete, zu ihm in den Transporter zu steigen. Was sollte sie auf dem Weg nur mit ihm reden? Aber das war jetzt wohl gleichgültig. Sie musste zur Arbeit. »Ich bin schon ziemlich spät dran, weil ich verschlafen habe.« Sie stockte und hätte sich am liebsten selbst gegen das Schienbein getreten. Wenn sie ihm jetzt noch verriet, dass sie vergessen hatte, ihren Wecker mit neuen Batterien zu versorgen, würde er sie garantiert für ein dummes Schusselchen halten.

»Na, dann spring mal rein.« Er schloss die Motorhaube und deutete auf die Beifahrerseite des Transporters. »Soll ich deine Tasche hinten reinpacken?«

»Nein.« Sie hatte die Beifahrertür bereits geöffnet. »Das geht schon.« Sie hob die prall gefüllte Tasche in den Fußraum und kletterte auf den Sitz.

Lukas klemmte sich hinters Steuer. »Was hast du denn da alles drin? Folterwerkzeuge?« Er lachte leise, was die Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Armen dazu bewog, sich aufzurichten. »Als Physiotherapeutin benutzt du doch sicher manchmal solche Gerätschaften …«

»Nein.« Sie hüstelte, musste dann aber doch schmunzeln. »Das heißt, doch, manchmal schon. Aber hier sind nur jede Menge Klamotten drin. Ich hatte gestern Waschtag und brauche in der Praxis immer mal Sachen zum Wechseln. Außerdem habe ich auch meinen eigenen Sportdress dabei, weil ich ja mehrmals in der Woche Kurse gebe. Yoga, Pilates und so weiter.«

»Von dem Pilateskurs schwärmt Angelique dauernd.« Lukas startete den Transporter und lenkte ihn an dem Fiat vorbei. Das ruhige Brummen des Motors klang ein wenig höhnisch in Violas Ohren. »Sie behauptet, sich noch nie so gelenkig gefühlt zu haben wie seit dem Beginn des Kurses und dass du sogar fähig wärst, dich regelrecht zu verknoten.« Wieder lachte er. »Ist das nicht eher eine Sache beim Yoga? Das Verknoten meine ich.«

Viola musste nun ebenfalls lachen – und entspannte sich zumindest etwas. »Ich mache auch viel Yoga. Verknoten kann ich mich trotzdem nicht. Die anderen Frauen im Kurs sind nur noch nicht so gelenkig wie ich, was ganz normal ist. Wir üben ja auch erst seit ein paar Wochen.«

»Wenn du es sagst.« Er grinste, blickte dabei aber auf die Straße. »Demnach trainierst du schon länger regelmäßig.«

»Ja, mehrmals die Woche. Ausdauer und Krafttraining, Yoga, Pilates – immer im Wechsel. Das brauche ich sowohl zum Ausgleich als auch, um meinen Job überhaupt vernünftig ausüben zu können.«

»Kann ich mir vorstellen. Ein schmales Persönchen wie du.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Nichts für ungut, aber wenn ich mir vorstelle, du hast da einen Patienten, der doppelt so schwer ist wie du oder noch mehr und sich kaum bewegen kann … Da braucht es bestimmt ganz schön viel Kraft.«

»Ja.« Sie überlegte fieberhaft, was sie noch hinzufügen könnte, doch ihr fiel nichts ein.

»Ich habe gehört, dass deine Massagen himmlisch sein sollen. Die Worte deiner Schwester.« Erneut traf sie sein Blick. »Vielleicht sollte ich das mal ausprobieren. In meinem Job kämpft man dauernd mit irgendwelchen Verspannungen oder weiß der Himmel was.«

»Ja, äh …« Nein! Bloß nicht! Sie verschluckte sich fast vor Schreck bei der Vorstellung, Lukas eine Massage geben zu müssen.

»Verdammter Mist! Was ist das denn?« Lukas trat so abrupt auf die Bremse, dass Viola in den Sicherheitsgurt gedrückt wurde und sich reflexartig am Armaturenbrett festhielt.

»Was ist denn los?« Verwundert sah sie ihn an, doch er war bereits dabei, seinen Gurt zu lösen und die Fahrertür zu öffnen.

»Da vorne!« Er deutete auf den Rand der Parkbucht, in die er den Transporter gelenkt hatte. »Da hat jemand … Das gibt es doch wohl nicht! Wenn ich denjenigen erwische, kann er was erleben.«

»Was …?« Sie blickte in die angegebene Richtung und stieß einen erschrockenen Laut aus. »Das ist ja ein Hund!« Eilig befreite auch sie sich von ihrem Gurt und sprang aus dem Wagen. Mit wenigen Schritten hatte sie Lukas eingeholt, der jedoch jetzt stehen geblieben war und sie am Arm festhielt.

»Warte, nicht so hastig, sonst erschrecken wir ihn. Verdammt noch mal, der ist ja noch ganz jung.«

»Jemand hat ihn an der Leitplanke angebunden.« Viola schluckte heftig, als sie das erbarmungswürdig dreinblickende schwarze Fellbündel näher betrachtete. Der kleine Hund, es handelte sich augenscheinlich um einen Schnauzer, war vollkommen durchnässt und wedelte aufgeregt mit der Rute, als sie sich nun sehr langsam und vorsichtig näherten. Als Lukas die Hand ausstreckte, bellte er und wich ängstlich zurück, stieß dabei jedoch gegen die Leitplanke und winselte erschrocken.

Hilfe, Hilfe, ein großer, böser Mann! Geh weg, weg, weg! Ich beiße, wenn du mir zu nahe kommst. Glaube ich zumindest. Oder vielleicht auch nicht, aber du bist mir unheimlich. Ich bin so schrecklich allein und habe Angst. Mein Herrchen hat mich einfach hierhergebracht und festgebunden, ganz früh heute Morgen. Und gesagt, ich soll jemand anderem lästig fallen. Was auch immer das bedeuten mag. Dabei hab ich doch gar nichts gemacht und war ganz lieb. Und alle meine Geschwister sind auch schon längst weg, von irgendwelchen Menschen mitgenommen. Und meine Mama habe ich auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Ich bin so traurig! Aber du bist so groß und auch ein Mann wie mein Herrchen. Dir traue ich nicht. Knurr!

»Mist, er hat Angst vor mir.« Lukas zog sich ein wenig zurück. »Versuch du es mal. Wir müssen ihn von hier wegbringen.«

Wegbringen? Wohin denn? Ich hab solche Angst. Moment mal, wer ist das? Eine Frau? Frauen sind nicht so gemein wie Männer. Jedenfalls bin ich noch keiner bösen Frau begegnet. Ich kenne aber auch nur die, die meine Geschwister mitgenommen haben. Die waren alle nett.

»Okay.« Viola näherte sich dem Hündchen sehr, sehr langsam. »Alles okay, Kleiner. Wir tun dir nichts. Ganz ruhig.«

Ruhig? Du bist gut. Ich kenne dich doch gar nicht!

»Vor mir hat er auch Angst.« Zweifelnd blickte Viola über die Schulter zu Lukas.

»Aber nicht so viel wie vor mir. Wer weiß, was für schlechte Erfahrungen er gemacht hat. Bei dir knurrt er nicht und versucht auch nicht wegzulaufen. Schau mal, ob du die Leine von der Leitplanke losbekommst.«

Zögernd wandte Viola sich wieder dem Hundekind zu und hielt ihm, weil sie jetzt nah genug war, vorsichtig die Hand zum Beschnüffeln hin. »Guck mal, ich will dir gar nichts Böses, Kleiner. Nur dir helfen.«

Helfen? Wirklich? Bist du ein lieber Mensch? Mir ist so schrecklich kalt und ich bin entsetzlich einsam hier ganz allein an der Straße, wo die vielen riesigen und lauten Autos vorbeirasen.

Viola lächelte unwillkürlich, als der kleine Hund zögerlich an ihren Fingern schnüffelte und dann wieder mit der Rute zu wedeln begann. »Siehst du, es ist alles okay. Kein Grund zur Furcht.« Sie blickte noch einmal zu Lukas. »Hast du vielleicht irgendwelche Leckerchen oder so was dabei?«

»Nein.« Er runzelte die Stirn. »Wozu auch? Oder … Warte mal, vielleicht hat Patrick irgendwas im Handschuhfach. Er lässt ja manchmal Oskar mitfahren, wenn er den Transporter benutzt.« Rasch ging er zum Wagen, kehrte aber nur Augenblicke später wieder zurück. »Fehlanzeige. Das hier ist das Einzige, was ich gefunden habe.« Er hob die rechte Hand, in der er einen geknoteten Textilball von der Größe einer Männerfaust hielt.

»Das geht vielleicht auch. Gib mal her.« Sie streckte die Hand aus, während sie weiter den Welpen beobachtete. »Du bist ja ganz nass, du Ärmster. Und du zitterst. Bestimmt nicht nur vor Angst, was? Kunststück, es ist ja auch höchstens ein Grad über null. Sie haben für morgen sogar den ersten Schnee gemeldet. Eine Gemeinheit, dich bei so einem Wetter einfach hier auszusetzen.«

O ja, da gebe ich dir recht. Das ist so was von gemein. Und jetzt bin ich todunglücklich. Aber Angst habe ich komischerweise nicht mehr so viel. Zumindest nicht vor dir, weil du so nett und freundlich mit mir redest.

»Das ist zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter eine Gemeinheit.« Lukas drückte Viola den Ball in die Hand.

Prompt wich der Kleine wieder verschreckt zurück. Aber vor dem großen Mann mit der dunklen Stimme habe ich ganz viel Angst. Geh weg. Ich will keine gemeinen Männer mehr!

»Du machst ihm anscheinend wirklich Angst.« Viola sprach, ohne Lukas anzusehen. Dabei wurde ihr auf eigentümliche Weise bewusst, dass es ihr mit Lukas manchmal genauso ging. Wenn auch aus anderen Gründen. Doch im Augenblick hatte sie keine Zeit, weiter über ihn oder ihre Gefühle in seiner Gegenwart nachzudenken. Das kleine, klatschnasse Lebewesen war viel wichtiger. »Hey, Süßer, alles ist gut. Siehst du, der große böse Mann ist ein paar Schritte weggegangen.«

»Ich bin kein großer böser Mann!«

»Doch, bist du wohl.« Sie schluckte erschrocken. Normalerweise traute sie sich nicht, so mit ihm zu reden.

»Na danke.«

Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern zeigte dem Hündchen den rot-blauen Ball, der schon ein wenig angenagt aussah. »Guck mal, Kleiner.«

Was hast du denn da? Neugierig hob der Welpe die Nase.

»Magst du Bällchen?«

Bällchen? Was ist das denn? Sieht rund aus und irgendwie lustig und riecht nach Hund.

»Schau mal, damit kann man spielen.« Vorsichtig ging Viola in die Hocke und ließ den Ball auf den Welpen zukullern.

Spielen? Sieht spaßig aus. Das muss ich mir mal näher ansehen. Mit noch skeptischem, gleichwohl aber neugierigem Blick beäugte der Welpe den Ball, schnüffelte daran und berührte ihn schließlich ganz vorsichtig mit der Pfote. Sogleich geriet der Ball ins Rollen. Was …? Wuff? Das Ding haut ja ab! Warte, ich komme mit. Wo willst du denn hin? Huch, aua, ich kann nicht weiter. Das Ding, wie heißt es noch mal? Bällchen? Ich will das haben und gucken, was das genau ist. Aber ich komme hier nicht weg. Mach mich doch los, bitte, bitte!

»Och, nicht winseln! Moment, ich helfe dir, ja? Ich mache die blöde Leine von der Leitplanke los und dann kannst du mit dem Bällchen spielen.« Viola schob dem Welpen den Ball wieder vor die Schnauze und beeilte sich, als dieser damit zu spielen begann, die Leine loszubinden.

Oh, danke! Das ist ja ein lustiges Spielzeug. Damit kann man toll herumtoben!

Begeistert sprang der kleine Hund um das Bällchen herum und kugelte sich bald regelrecht auf dem nassen Boden. Viola lachte über den Anblick und versuchte zu vermeiden, dass der Kleine sich in der Leine verhedderte. »Na, du bist ja ein ulkiges Kerlchen. Und ganz so viel Angst hast du anscheinend doch nicht, was?«

Angst? Nö, keine Zeit. Das Bällchen macht viel zu viel Spaß!

»Das ist wohl eher ein ulkiges Mädel.« Lukas war vorsichtig wieder etwas näher gekommen und deutete auf die Unterseite des Welpen, als dieser sich erneut kugelte.

Viola sah, was er meinte. »Eine Hündin. Und noch ganz jung. Was machen wir denn jetzt mit ihr? Zur Polizei bringen?«

Lukas hielt sich sicherheitshalber weiter im Hintergrund. »Ich würde eher sagen, ins Tierheim.«

»Wir könnten sie zu Fiona Sahler in die Tierarztpraxis fahren. Wenn die Kleine gechippt ist, kann man den Besitzer vielleicht ausfindig machen.«

»Glaubst du, der will sie zurück?« Skeptisch verzog Lukas die Lippen. »Dem würde ich lieber den Hals umdrehen.«

»Ich auch. Aber die Kleine ist ganz nass und friert. Wir müssen sie irgendwohin bringen, wo es warm und trocken ist.«

»Also zur Tierärztin. Weißt du, wo die Praxis ist?«

»Ja, ich habe für Lizzy und Oskar schon mal Wurmkur und Hundekekse geholt. Das sind ganz besondere, die Fiona selbst herstellt. Sie ist sehr nett.«

»Na, dann mal los. Ich habe, glaube ich, noch eine zweite Jacke hinten im Transporter. Darin können wir die Kleine einwickeln. Kannst du sie auf den Schoß nehmen? Ist nicht ideal, aber eine Transportbox oder so was habe ich nicht.«

»Das geht schon irgendwie.« Viola ging erneut in die Hocke. »Nicht wahr, Kleine, wir machen es dir jetzt erst mal kuschelig warm und dann fahren wir zu Fiona, damit sie dich untersucht und dem Tierheim Bescheid gibt.«

Was? Das Hundemädchen hob fragend den Kopf. Habe ich da was von warm gehört? Das wäre schön. Aber was eine Fiona ist, weiß ich nicht, und ein Tierheim kenne ich auch nicht. Ist es da schön kuschelig und sind alle da so lieb wie du?

»Sie sieht mich an, als wolle sie mit mir reden.« Viola beobachtete, wie Lukas mit einer grauen Daunenjacke auf sie zukam. Ihr Herz holperte ein wenig, doch sie ignorierte es tapfer.

»Wahrscheinlich will sie dir Danke sagen.« Er reichte ihr die Jacke.

»Meinst du?« Sie legte die Jacke auf den Boden. »Komm, Süße, setz dich mal hier drauf, dann kann ich dich schön warm einpacken.«

Hä? Wie, da drauf? Auf das graue Ding da?

»Soll ich dir helfen? Nicht, dass sie dir versehentlich entwischt.« Langsam und vorsichtig näherte Lukas sich, kniete sich neben Viola und nahm ihr die Leine aus der Hand. »Versuch mal, sie auf die Jacke zu heben. Aber pass auf, dass sie dich nicht beißt.«

Beißen? Warum sollte ich das tun? Ich beiße überhaupt nicht. Oder … nur wenn man mir wehtut. Aber jetzt ist dieser große dunkle Mann schon wieder da. Er scheint aber gar nicht sooo schlimm zu sein. Zumindest redet er jetzt auch sehr ruhig und nett. Und er hat das graue Ding gebracht, das sehr kuschelig aussieht.

»Komm, komm«, lockte Viola mit sanfter Stimme. »Hier auf die Jacke. Darf ich dich hochheben?« Sie fasste den Welpen sanft an, und als er sich nicht wehrte, hob sie ihn auf die Jacke. Zusammen mit Lukas wickelte sie die Jacke so um die kleine Hündin, dass am Ende nur noch ihr Kopf hervorsah. Dabei berührten sich mehrmals ihre Hände, was ein eigentümliches Kribbeln in ihr auslöste. Ihr Herzschlag holperte erneut, doch sie blieb äußerlich ganz ruhig. Lukas sollte nichts davon mitkriegen. Das wäre zu peinlich. Schließlich war sie alles andere als seine Kragenweite. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf den kleinen Findelhund. »Siehst du, so ist es gut. Gleich wird dir wärmer, versprochen. Sie hob das Jacke-Hund-Bündel auf den Arm und ging zur Beifahrertür des Transporters, blieb dann aber etwas hilflos stehen. »So kann ich nicht einsteigen.«

»Ich halte sie kurz.« Lukas tauchte hinter ihr auf, blickte aber nur auf den Welpen. »Natürlich nur, wenn du mich lässt, Kleine.«

Was soll ich dich lassen? Huch! Hilfe! Was passiert denn jetzt? Warum gibst du mich denn dem großen Mann? Das Hundemädchen fiepte und zappelte.

»He, he, ganz ruhig. Ich tue dir doch gar nichts. Guck, wir müssen Viola erst einsteigen lassen, dann kannst du sofort wieder zurück auf ihren Schoß.« Beruhigend redete Lukas auf den Welpen ein.

Wirklich? Oh, ähm, also gut. Und … Na ja, auf deinem Arm ist es jetzt auch nicht so übel. Du riechst irgendwie interessant. Das Hundekind reckte die Nase und schnüffelte an Lukas’ Kinn, bis er leise lachte.

»Das kitzelt!«

Viola beeilte sich, auf den Beifahrersitz zu klettern, und streckte die Arme nach dem Bündel aus. »Alles klar, ich kann sie wieder nehmen.« Sie kicherte unwillkürlich, als sie sah, wie der winzige Hund mit der Nase mehrmals gegen Lukas’ Kinn stieß und schließlich sogar darüberleckte. »Jetzt mag sie dich auch.«

Ja, ich glaube auch. Ihr seid beide liebe Menschen. So ein Glück!

»Da bin ich aber erleichtert.« Er reichte Viola das Bündel und schloss die Tür, dann klemmte er sich wieder hinters Steuer und startete den Motor.

Wuff, wuff! Was ist denn jetzt los? Was passiert hier? Erschrocken und zugleich neugierig reckte das Hundemädchen den Kopf und blickte erst zu Lukas, dann drehte es sich und warf einen Blick durch das Seitenfenster. Fahren wir Auto? Das ist irgendwie unheimlich. Aber hier auf dem Schoß – von ... wie heißt du noch mal? Viola? – ist es total schön und mir wird langsam warm. Und wau, jetzt bewegen wir uns ja. Das ist aber interessant! Die Kleine stellte die Öhrchen auf und blickte fasziniert durch die Frontscheibe. Dann versuchte sie, zu Lukas hinüberzuklettern. Sieht das von dir aus genauso aus wie von hier? Und was ist das für ein rundes Ding, das du da festhältst und drehst?

»Halt, hiergeblieben!« Viola kicherte und hielt den Welpen fest. »Hier, nimm lieber noch mal das Bällchen!«

Bällchen? Nö, später vielleicht. Autofahren ist so viel spannender! Die Kleine beruhigte sich wieder etwas, himmelte jetzt aber abwechselnd Lukas an und blickte nach vorne. Dabei kuschelte sie sich in Violas Schoß. Ich finde es großartig hier!

Viola kicherte erneut, dann lachte sie schallend. »Ich glaube, ich habe einen Namen für die Kleine gefunden.«

Lukas sah sie kurz von der Seite an. »Einen Namen?«

»Ja.« Sie gluckste. »Sie fährt anscheinend gerne Auto. Und du bist ihr Chauffeur.«

»Chauffeur?« Irritiert runzelte er die Stirn, dann grinste er plötzlich breit. »Miss Daisy!«

2. Kapitel

»Jaja, schon gut, ich komme ja schon!« Außer Atem, weil er so gerannt war, hielt Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, vor dem Gefühlsradar in der hinteren Ecke seines Arbeitszimmers an und regelte den schrillen Piepton rasch so weit herunter, dass er nicht mehr in den Ohren wehtat. »Du meine Güte, was ist denn schon wieder los? Ich habe doch noch gar keine großen Wunscherfüllungen in Arbeit, die einen solchen Aufruhr rechtfertigen könnten.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als auch schon ein neuer, etwas tieferer Signalton bimmelte, diesmal kam er von Santas Computer.

Erschrocken fuhr er herum. »Na, na, was ist denn? Heute ist ja was los. Nur weil wir Freitag, den Dreizehnten, haben, muss hier doch nicht so ein Lärm herrschen.« Er setzte sich auf seinen Drehstuhl und betätigte die Maus, um den Bildschirmschoner zu deaktivieren. »Was ist denn überhaupt passiert?« Stirnrunzelnd blickte er auf die Meldung, die auf dem Bildschirm aufgeploppt war. Es war eine automatische Nachricht, die von seiner Weihnachtswunsch-Erinnerungsfunktion hervorgerufen worden war.

»Hm.« Nachdenklich rieb der Weihnachtsmann sich übers Kinn und stellte gleichzeitig das nervige Pling-Pling ab, das die Nachricht produzierte. »Das ist interessant.«

»Hey, Santa, was war denn hier eben los?« Elfe-Sieben, seine Assistentin, kam mit einem Stapel Wunschzettel herein, die sie gerade aus dem Briefkasten geholt hatte. »Das war ja ein geradezu infernalischer Lärm. Spielt das Gefühlsradar wieder mal verrückt? Wir haben doch noch gar keine großen Wünsche in der Überwachung. Soll Elf-Zwanzig sich das mal ansehen? Er hat das Radar ja damals installiert. Vielleicht kann er herausfinden, was damit nicht stimmt.«

»Hm«, wiederholte Santa Claus und wandte sich dem Gefühlsradar zu, drehte an ein paar Schaltern, justierte es. Das Schrillen wurde wieder lauter. Rasch wandte er sich wieder dem Bildschirm zu und tippte etwas auf seiner Tastatur ein. »Das Radar spinnt diesmal nicht.«

»Nicht?« Rasch legte Elfe-Sieben die Briefe in die dafür vorgesehene Ablage und trat neben den Weihnachtsmann. »Was denn dann?«

»Es scheint auf einen Weihnachtswunsch reagiert zu haben, der sich vor ein paar Monaten über Gedanken manifestiert hat. Du weißt doch, dass solche Gedankenwünsche in einer speziellen Datei gespeichert werden. Dieser hier ist sogar, wenn ich das recht sehe, nicht nur ein Gedanke gewesen, sondern wurde laut ausgesprochen. Sobald sich eine Gelegenheit zur Erfüllung ergibt, meldet das Programm eine Erinnerung.«

»Ja klar. Um welchen Wunsch geht es denn? Der muss ja ganz wichtig sein, wenn hier alle Geräte auf einmal verrücktspielen.«

Santa Claus drehte den Bildschirm etwas, damit Elfe-Sieben besser darauf blicken konnte. »Hier, schau dir das an.«

Elfe-Sieben studierte die kurze Videosequenz, die der Weihnachtswunsch-Empfänger im vergangenen Juli aufgefangen hatte. Verblüfft blickte sie den Weihnachtsmann von der Seite an. »Ist das nicht Viola Sternbach? Und was in aller Welt haben sie und die anderen Frauen da mitten im Hochsommer gemacht? Weihnachtsfilme geguckt?«

»Weihnachtsromanzen.« Santa Claus schmunzelte. »Sie haben es, Moment mal …«, er rief die Transkription der Gespräche auf, die das Programm automatisch angelegt hatte, »... Christmas in July-Filmabend genannt. Ich finde das recht charmant, dass sie sogar mitten im Hochsommer in Weihnachtsstimmung waren. Und seit es Netflix und diese ganzen anderen Streamingdienste auf der Erde gibt, finden sich von Jahr zu Jahr mehr romantische Filme mit Weihnachtsthema. Ich finde das sehr schön, denn es unterstützt das Christkind und mich in unserem Bestreben, den wahren Geist der Weihnacht wieder mehr unter den Menschen zu verbreiten.«

Elfe-Sieben kicherte. »Bei Viola ist das, glaube ich, nicht nötig. Sie ist doch, soweit ich mich erinnern kann, sowieso ein Weihnachtsfan. Ganz im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Ricarda. Guck mal, wie sie immer wieder das Gesicht verzieht, so als leide sie ganz fürchterlich.«

Auch Santa Claus lachte. »Ach was, sie tut nur so. In ihrem Herzen ist sie ebenfalls eine Romantikerin. Aber um sie geht es ja gerade nicht. Der Empfänger hat eindeutig Violas Wunsch aufgeschnappt.«

Die kleine Elfe grinste. »Dieser Wunsch wurde aber in ganz schön weinseligem Zustand ausgesprochen. Oder sollte ich lieber sagen in proseccoseligem? Ich glaube kaum, dass sie sich überhaupt noch daran erinnern kann. Und falls doch, wäre es ihr bestimmt sehr peinlich. Guck mal, was sie laut gesagt und an wen sie dabei insgeheim gedacht hat. Ich glaube nicht, dass sie wollen würde, dass ihre Freundinnen davon etwas wissen.«

Santa Claus studierte die Sequenz und die Transkription erneut. »Da magst du vielleicht recht haben, Elfe-Sieben, aber im Wein – oder im Prosecco – liegt die Wahrheit, wie du weißt, und das macht den Wunsch jetzt natürlich noch deutlich konkreter. Sie hat sich ihre große Liebe unter dem Weihnachtsbaum gewünscht.« Er rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Das kann doch eigentlich nicht so schwierig werden, oder?«

»Nicht, wenn derjenige, an den sie gedacht hat, ebenfalls Gefühle für sie hat«, stimmte die Elfe zu. »Und das herauszufinden sollte schnell gehen. Soll ich Elfe-Acht und Elf-Zwei gleich mal losschicken, damit sie das auskundschaften?«

»Ja, tu das. Ich überlege mir inzwischen einen Plan B.«

»Warum das denn?« Verblüfft wandte sich Elfe-Sieben, die bereits zur Tür gestürmt war, noch einmal um.

»Na, zur Sicherheit. Du weißt doch, in den vergangenen Jahren haben uns Komplikationen immer wieder fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Diesmal lasse ich mir gleich einen Ausweichplan einfallen, damit wir auf der sicheren Seite sind.«

»Aber wie soll dieser Notfallplan denn aussehen? Viola ist doch nun mal nur in diesen einen Mann verliebt. Und wenn er ihre Gefühle nicht erwidert, können wir den Wunsch dieses Jahr nicht erfüllen. Dann müssen wir das leider verschieben.«

Nachdenklich zupfte Santa Claus an seinem Bart herum. »Hoffen wir, dass Plan A ausreicht. Ich schiebe die Erfüllung von Wünschen ungern auf die lange Bank.«

3. Kapitel

»Und ihr seid euch ganz sicher, dass ihr niemanden gesehen habt?« Während sie sprach, fuhr Fiona Sahler mit einem Scanner rechts und links an der kleinen Hündin entlang, um zu prüfen, ob diese gechippt war. »Nichts, das hätte mich auch gewundert.«

»Als wir zu der Parkbucht kamen, war dort weit und breit niemand zu sehen«, sagte Viola. »Die arme Miss Daisy muss schon eine ganze Weile dort gesessen haben.«

Lukas nickte grimmig. »Und niemand sonst, der dort vorbeigefahren ist, hat sie beachtet.« Er kochte noch immer innerlich vor Wut auf den verantwortungslosen Halter oder Züchter, der das Hundekind ausgesetzt hatte. Menschen, die hilflose Kreaturen quälten oder, wie in Miss Daisys Fall, einfach im Stich ließen, gingen ihm gehörig gegen den Strich. »Vor uns scheint niemand auf die Idee gekommen zu sein, ihr zu helfen.«

»Vielleicht haben sie sie auch einfach übersehen.« Viola trat etwas zur Seite, als Fiona begann, das Hundekind zu untersuchen. »Die Sonne ist erst gegen halb acht aufgegangen, und wenn sie im Dunkeln ausgesetzt wurde, haben die vorbeifahrenden Autofahrer sie vielleicht nicht sehen können. Sie hatte sich ja ganz klein gemacht. Man hätte sie im Dunkeln oder im Zwielicht leicht für einen Stein oder einen Erdhaufen halten können.

Ich ein Erdhaufen? Wie unschmeichelhaft. Aber davon abgesehen hast du recht. Diese vielen schnellen riesigen Autos haben mir Angst gemacht und ich habe mich ganz fest zusammengerollt. Außerdem hat es ja so arg geregnet und ich war so nass und mir war kalt. Hatschi übrigens.

»Na, na, du wirst dich doch nicht erkältet haben.« Nachdem Fiona Miss Daisy abgetastet hatte, horchte sie nun mit dem Stethoskop ihren Herzschlag ab.

Erkältet? Was ist das?

»Gesund und kräftig.« Lächelnd tätschelte Fiona den schwarzen, immer noch feuchten Kopf des Welpen. »Du bist ungefähr vier bis fünf Monate alt, würde ich sagen. Zeig mal deine Zähnchen.«

Was? Wie? Hä? Erstaunt ließ Miss Daisy sich die Schnauze öffnen.

»Das sind noch Milchzähnchen, obwohl hier vorne bereits zwei neue nachgewachsen sind. Also eher fünf als vier Monate.«

Ja, das kommt hin. Und das kannst du an meinen Zähnen sehen? Wie eigenartig. Wuff.

Fiona lachte, als das Hundemädchen leise bellte. »Stimmst du mir zu?« Sie wandte sich wieder Viola und Lukas zu. »Da ich nicht weiß, wie es ihr bisher ergangen ist, werde ich sie wohl oder übel durchimpfen müssen und am besten auch eine Aufbauspritze geben, damit sie keine Erkältung bekommt. Das ist auch die Voraussetzung, um sie später im Tierheim abzugeben.« Sie seufzte. »Dabei haben sie dort schon so wahnsinnig viele Tiere, und die Weihnachtszeit kommt erst noch.«

»Die Weihnachtszeit?« Fragend hob Viola den Blick von Miss Daisy, dann verzog sie betroffen die Lippen. »Meinst du, weil dann noch mehr Tiere ausgesetzt werden?«

»Ja.« Fiona hob die Schultern. »Hier in der Gegend hält es sich normalerweise in Grenzen. Die Kleine hier ist, soweit ich weiß, das erste Tier seit Jahren, aber unser Tierheim übernimmt überzählige Tiere aus ganz Deutschland und natürlich immer auch welche aus Auffangstationen in Ungarn oder Rumänien. Weihnachten oder vielmehr die zwei Monate danach sind die Hauptsaison für ausgesetzte Haustiere aller Art, und vor den Oster- oder Sommerferien ist es ebenfalls noch mal schlimm.«

»Einfach unverantwortlich, Tiere zu Weihnachten zu verschenken, ohne sich Gedanken zu machen, was aus ihnen wird, wenn der Alltag einkehrt.« Lukas’ Miene hatte sich verfinstert. »Aber diese Kleine hier hatte offenbar ein etwas anderes Schicksal.«

»Anscheinend, aber genau werden wir es wohl nie erfahren.« Während sie sprach, hatte Fiona Miss Daisy fertig untersucht und sogar schon geimpft. Die kleine Hündin ließ alles heldenhaft tapfer über sich ergehen. »Das ist so eine Süße!«, schwärmte sie. »Ich würde sie ja am liebsten selbst behalten, aber wir haben inzwischen zwei Hunde. Lucy und die kleine Kinga aus Rumänien und zwei Papageien. Mehr geht leider nicht.«

»Kinga aus Rumänien, Kinga aus Rumänien!«, ertönte prompt die Stimme des stolzen Ara-Männchens aus der riesigen Voliere, die sich im Wartezimmer befand.

»Ja genau, Friedhelm.« Fiona warf lachend einen Blick über die Schulter durch die geöffnete Tür des Behandlungszimmers. »Friedhelm ist ein Plappermaul«, erklärte sie Viola und Lukas. »Luise, seine Partnerin, ist etwas stiller, und wenn sie doch mal den Schnabel öffnet, flucht sie gerne. Wir haben die beiden von Michaels Großonkel geerbt. Sie sind schon so um die dreißig Jahre alt und unzertrennlich. Und sie fahren gerne Auto. Ich bringe sie jeden Morgen mit hierher und nehme sie abends wieder mit nach Hause. Michael hat ihnen bei uns ein ganzes Zimmer hergerichtet und einen Durchbruch in die Wohnzimmerwand mit Gitterfenstern und Schleuse gemacht, sodass sie ihr eigenes Reich haben, aber an unserem Familienleben trotzdem teilnehmen können. Im kommenden Sommer sollen sie dann auch noch einen eigenen kleinen Wintergarten bekommen.«

»Wow, wie toll!« Viola lächelte dieses entzückende Lächeln, das Lukas schon seit seiner ersten Begegnung mit ihr auf besorgniserregende Weise auf den Magen schlug. »Das ist ja ein Papageienparadies.«

»So große Vögel brauchen eben einiges an Platz.«

»Liebe, süße Luise, verdammt noch mal!«, kam es aus dem Wartezimmer.

»Ja, genau, und viel Zuwendung, da hast du recht, du liebe, süße Luise.« Kichernd wandte Fiona sich wieder der Hündin zu. »Was habe ich gesagt? Sie flucht gerne.« Sie nickte Lukas zu. »Halt Miss Daisy mal fest, bis ich ihren Impfpass ausgestellt habe. Sie muss noch gechippt werden und die Tollwutimpfung bekommen, das mache ich allerdings ein andermal, und dann erhält sie noch einen anderen, einen internationalen Impfpass. Wir wollen es heute mal nicht übertreiben. Die Kleine sieht recht erschöpft aus.«

Bin ich auch. Und müde. Miss Daisy gähnte. Gerettet zu werden ist ganz schön anstrengend.

»Was passiert jetzt mit ihr?« Viola nagte an ihrer Unterlippe. »Sollen wir sie zum Tierheim bringen oder machst du das?«

»Ich lasse sie abholen. Vermutlich aber erst morgen. Im Tierheim sind sie ständig unterbesetzt, da dauert es manchmal ein bisschen, bis jemand sich kümmern kann. So lange kann die Kleine gerne hierbleiben.«

»Na ja, weil …« Wieder knabberte Viola an ihrer Unterlippe.

Lukas räusperte sich.

»Ich glaube, ich würde sie gerne behalten.« – »Sie könnte auch bei mir bleiben.«

Verblüfft starrte Lukas Viola an. Ihre Miene verriet ebenfalls Überraschung. Sie hatten gleichzeitig dieselbe Idee ausgesprochen.

Fiona schmunzelte. »Tja, da müsst ihr euch jetzt wohl einig werden. Eins ist aber sicher. Wenn sie bei einem von euch bleiben kann, wird das Tierheim sich im wahrsten Sinne des Wortes tierisch freuen. Jeder vermittelte Hund entlastet sie dort sehr. Und soweit ich es beurteilen kann, dürftet ihr beide gute Hundeeltern sein.«

»Tja, aber …« Violas Wangen hatten sich gerötet und sie blickte zwar in Lukas’ Richtung, ihm jedoch nicht direkt in die Augen. »Was jetzt?«

»Gute Frage.« Er rieb sich etwas ratlos über den Nacken. Er wollte es eigentlich nicht so direkt zugeben, aber er hatte sich inzwischen schon unsterblich in das kleine Hundekind verguckt. Als er sah, wie Viola jetzt Miss Daisy nervös über den Kopf streichelte, dämmerte ihm, dass es ihr ähnlich zu gehen schien. »Sollen wir Streichhölzchen ziehen?« Er grinste schief. »Sorry, blöder Scherz.«

»Vielleicht überlegt ihr euch die Sache und beredet sie mal in Ruhe bis heute Abend«, schlug Fiona vor. »So lange kann Miss Daisy bei mir bleiben. Ich kümmere mich gut um sie, versprochen. Ihr müsst doch bestimmt auch zur Arbeit – und jeder für sich überlegen, ob ein Hund überhaupt in euer Leben passt.«

»Stimmt auffallend.« Lukas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich habe gleich ein Kundengespräch.«

»Um Himmels willen!« Viola war blass geworden. »Vor lauter Aufregung habe ich vergessen, im Resort anzurufen. Dort warten sie doch schon auf mich.« Auch sie blickte auf ihre Armbanduhr und wurde noch blasser. »Wenn ich nicht schnell dort Bescheid gebe, werden sie eine Vermisstenmeldung ausgeben. Aber mein Handyakku ist leer. Kann ich dein Telefon benutzen, Fiona?«

»Aber klar doch …«

»Hier, nimm mein Handy.« Lukas hielt ihr sein Smartphone hin. »Und gib bei der Gelegenheit doch auch gleich deine Nummer ein. Denn heute Abend müssen wir wohl oder übel zusammen entscheiden, bei wem Miss Daisy zukünftig leben soll.«

***

Nervös ging Viola in ihrem kleinen Büro auf und ab und nagte an ihrem Daumennagel. Als sie es bemerkte, verdrehte sie die Augen und schob ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans. Das fehlte noch, dass sie sich solche Unarten wieder angewöhnte. Als Kind hatte sie häufig Fingernägel gekaut, doch inzwischen war sie darüber hinweg. Hatte sie gedacht.

Lukas hatte ihr vorgeschlagen, sich gegen Abend bei ihr zu melden, um die Sache mit Miss Daisy zu besprechen. Was sie dabei ganz vergessen hatte, war der Pilateskurs, den sie später noch geben würde. Sie hatte also gar keine Zeit. Oder erst ziemlich spät. Aber Miss Daisy ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Die Kleine war so unglaublich süß und zutraulich.

Ein wenig hatte Viola sich gewundert, dass Lukas das Hundekind ebenfalls adoptieren wollte. So hatte sie ihn gar nicht eingeschätzt. So … liebevoll und … fürsorglich.

Allerdings war ihr eigener Entschluss nicht wirklich durchdacht gewesen. Doch dass Miss Daisy ins Tierheim kommen sollte, kam nicht infrage. In der Mittagspause hatte Viola bereits online in diversen Shops gestöbert und sich informiert, was man alles an Erstausstattung für einen Welpen benötigte. Natürlich war ihre freie Zeit begrenzt und ein so junger Hund brauchte neben Zuwendung auch viel Erziehung, und da sie über ein kaum nennenswertes Privatleben verfügte, war Miss Daisy vielleicht genau das, was sie gerade brauchte. Ein Lebewesen, das zu ihr gehörte, sie liebte – und dem gegenüber es ihr nicht dauernd die Sprache verschlug.

Viola hasste ihre Schüchternheit manchmal regelrecht. Dabei hatte sie sie in beruflicher Hinsicht inzwischen fast gänzlich abgelegt. Auch bei Menschen, die sie schon ewig kannte – und natürlich ihrer Familie –, trat sie kaum zutage. Aber Männern – insbesondere Lukas – gegenüber war es manchmal zum Verzweifeln. Sie wäre so gerne geradeheraus und schlagfertig wie Ricarda oder zumindest so eloquent in jeder Lebenslage wie ihre Schwägerin Laura. Stattdessen brachte sie kaum einen zusammenhängenden Satz heraus, wenn sie mit einem Mann allein war. Zumindest nicht zu Anfang einer Bekanntschaft. Aber bis sie dann endlich aufgetaut war, wie ihr ältester Bruder Justus es nannte, waren die potenziellen Flirtpartner immer längst weitergezogen. Inzwischen hatte sie sich deshalb auch im Privatleben ihren Berufsschutzpanzer zugelegt, wie sie selbst ihn bezeichnete. Sie hüllte sich in eine Aura von Gleichmütigkeit und leichter Distanziertheit, die es ihr ermöglichte, einigermaßen normal mit ihrem Gegenüber zu reden. Leider verhinderte dieser Panzer es aber auch, dass jemand entdeckte, wie sie wirklich empfand. Vielleicht war das besser so, zumindest derzeit, denn ihre Gefühle für Lukas waren sinnlos – und seine gleichbleibend kühle Freundlichkeit ihr gegenüber bestätigte sie darin. Er behandelte sie wie die nette, angeheiratete Verwandte, die sie für ihn nun einmal war. Die Schwester seines Schwagers. Nicht mehr, nicht weniger.

Ein Klopfen an ihrer Bürotür riss sie aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment streckte Ricarda den Kopf zur Tür herein. »Hier steckst du!« Sie rückte ihre silbergerahmte Brille zurecht und strich sich dabei gewohnheitsmäßig eine ihrer brünetten Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Kommst du? Der Kurs fängt gleich an. Ich dachte, du wolltest mir vorher noch diese neue Yogaübung zeigen, die so gut für meinen Nacken sein soll.«

»Entschuldige, das hatte ich ganz vergessen!« Viola fasste sich an den Kopf. »Ich komme sofort.« Rasch schnappte sie sich ihr Handy und die Tasche mit ihren Sportsachen und folgte ihrer Schwester zum Aufzug. »Wenn du möchtest, kann ich dich zur Entschädigung später noch ein bisschen massieren.«

»Da sage ich nicht Nein.« Ricarda grinste. »Aber eine Entschädigung braucht es nicht. Ein paar Minuten Zeit haben wir ja noch.« Sie betrat vor Viola den Lift und wandte sich ihr rasch wieder zu. »Jetzt erzähl noch mal genau, wie das heute Morgen war. Ich meine, wie kam es überhaupt dazu, dass du und Lukas zusammen unterwegs wart? Oder …« Sie legte mit neuem Interesse den Kopf schräg. »Läuft da etwa was zwischen euch, sodass ihr zusammen …«, sie wedelte vielsagend mit den Händen, »… zur Arbeit gefahren seid?«

»Nein, gar nicht!« Viola spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Was du immer gleich denkst! Bei mir hatte bloß Freitag, der Dreizehnte, zugeschlagen. Mein Auto ist nicht angesprungen und mein Handyakku war leer. Lukas ist bloß zufällig vorbeigekommen. Eigentlich wollte ich dich gerade anrufen, um zu fragen, ob du mich abholst, was aber nicht ging, wegen des leeren Akkus.«

»Aha.«

»Wirklich!«

»Ist ja schon gut, ich glaube es dir.« Lachend verließ Ricarda den Aufzug vor Viola, stieß sie dann aber erneut mit einem breiten Grinsen an. »Aber warum ist er dann jetzt hier?«

»Was?« Viola sah sich erschrocken um. »Wer ist hier?« Als sie Lukas im Foyer auf einem der bequemen Ledersessel sitzen sah, machte ihr Herz einen unangemessenen Satz. »Oh.«

»Ja, oh.« Ricarda musterte sie neugierig. »Sag schon, was läuft da?«

»Gar nichts.« Verdammtes Rotwerden! Fahrig zupfte Viola an ihrer Tasche herum. »Er wollte eigentlich nur anrufen, weil wir doch überlegen müssen, wer von uns Miss Daisy adoptiert.«

»Das ist dir ernst, ja? Dass du den Hund übernehmen willst?«

Viola nickte. »Ja. Du hast sie nicht gesehen. Sie ist so süß und war gleich total zutraulich und so … Aber eben auch zu ihm und jetzt …«

»… müsst ihr euch einig werden.« Ricarda nickte. »Tja, dann verschieben wir das mit der Yogaübung auf das nächste Mal, würde ich sagen.«

»Nein, nein, ich …« Viola schluckte hektisch, weil ihr Herzschlag sich nicht beruhigen wollte. »Ich komme gleich. Ich muss nur kurz … mit ihm … reden.«

»Wie du meinst. Ich ziehe mich schon mal um. Soll ich deine Tasche auch gleich mitnehmen?« Auffordernd streckte Ricarda ihre Hand aus.

»Nein.« Violas Finger krallten sich in den Stoff der Tasche. Dann fluchte sie innerlich. »Doch, klar, hier.« Sie übergab ihrer Schwester die Tasche und wusste prompt nicht, wohin mit ihren Händen. »Ich bin gleich bei euch.«

Ricarda kräuselte ganz kurz die Lippen, nickte aber nur. »Bis gleich.«

Unsicher sah Viola ihrer Schwester nach, die auf den Westflügel des Resorts zusteuerte, in dem sich ihre physiotherapeutische Praxis sowie die Sporträume und das Schwimmbad befanden. Ehe sie sich fangen konnte, hatte Lukas sie bereits entdeckt, erhob sich und kam mit ausholenden Schritten auf sie zu. »Hallo, Viola. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Patrick meinte, dass du um diese Zeit Feierabend hast, deshalb bin ich einfach schnell vorbeigekommen.«

»Ja, äh …« Verflixt, schon verfingen sich die Worte in ihrer Kehle. Mit aller Gewalt riss sie sich zusammen und blickte zu ihm auf, jedoch nur für eine Sekunde in seine Augen, bevor sie sich wie zufällig zur Seite wandte und vage in Richtung Wellnessabteilung deutete. »Ich habe heute Abend noch einen Pilateskurs. Der dauert eine Dreiviertelstunde. Das hätte Patrick aber wissen müssen. Angelique ist doch auch in dem Kurs.«

»Angelique wird heute garantiert nicht in den Kurs kommen.« Lukas grinste breit. »Deshalb hat Patrick wahrscheinlich nicht daran gedacht … Ups.« Lachend schlug er sich gegen die Stirn. »Das hätte ich gar nicht verraten dürfen. Okay, zu spät.«

Viola hob ruckartig den Kopf. »Was hättest du nicht verraten dürfen? Was ist mit Angelique? Ist sie krank?«

»Das nun nicht gerade.«

»Was denn dann …?« Da sich Lukas’ Grinsen noch verbreiterte, begriff sie. »Nein! Wirklich, ist sie …?«

»Pst! Das ist noch geheim.« Verschwörerisch senkte Lukas die Stimme. »Ich hätte es auch noch nicht wissen dürfen. Patrick hat sich heute früh verplappert. Na ja, so wie er gestrahlt hat, hätte man es auch problemlos erraten können. Die beiden wollen heute wohl erst mal zu zweit feiern und es den Zwillingen sagen.«

»O mein Gott!« Viola vergaß ihre Schüchternheit für einen Moment vollkommen. Sie fasste Lukas aufgeregt an den Aufschlägen seiner grauen Windjacke. »Das ist ja wunderbar! O mein Gott, wie toll! Meine Eltern werden vor Freude ausflippen.« Sie lachte. »Ich flippe vor Freude aus! Patrick wird Papa. Also noch mal. Das ist so … hach!« Plötzlich musste sie regelrecht mit den Tränen kämpfen. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie nah sie Lukas gekommen war. Ein Stich durchfuhr sie, als sie in sein lachendes Gesicht blickte, und sie trat rasch wieder einen Schritt zurück. »Entschuldige, aber … also …«

»Schon gut, ich freue mich ja auch für die beiden.« Ein warmer Glanz war in seine Augen getreten. Höchst merkwürdig. Gleichzeitig wurde er jedoch wieder etwas ernster. »Du hast also jetzt keine Zeit? Ich könnte auch warten, bis dein Kurs vorbei ist.«

»Warten?« Viola brauchte einen Moment, um sich wieder vollends zu fangen. »Das ist doch nicht nötig. Ich könnte auch …« Dich anrufen. Sie erschrak. Lukas anrufen? Allein der Gedanke versetzte ihr Innenleben in Aufruhr.

»Nein, schon gut. Ich habe dich ja einfach überfallen. Abgesehen davon muss ich noch an ein paar Angeboten für Wohnzimmermöbel arbeiten. Ich hole einfach meinen Laptop aus dem Auto. Gibt es hier irgendwo eine ruhige Ecke? Hier in der Lobby ist es mir ein bisschen zu bevölkert.«

»Ja, also …« Viola kämpfte gegen die zurückkehrende Schüchternheit an. »Drüben im Wellnessbereich gibt es auch Sitzgelegenheiten. Oder setz dich an den Empfang vor meiner Praxis, da steht auch ein Tisch.«

»Perfekt. Wohin genau muss ich?«

Viola drehte sich um und deutete auf den Westflügel. »Einfach da vorne durch die Glastür und dem Wegweiser folgen.«

»Alles klar, bis nachher.« Lukas hob noch einmal kurz die Hand und war im nächsten Moment schon halb durch die Lobby.

Unsicher, wie sie sich fühlen sollte, sah Viola ihm nach, dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich noch umziehen musste. Eilig machte sie sich auf den Weg zu den Umkleideräumen.

***

Lukas beeilte sich, seinen Laptop aus dem Auto zu holen. Ein eisiger Wind war aufgekommen, der Regen, vermischt mit Schneeflocken, im Schlepptau hatte. Dass er jetzt so unverhofft noch etwas Zeit zum Arbeiten hatte, kam ihm gerade recht. Damit konnte er sich ein Weilchen von den unwillkommenen Gedanken ablenken, die ihn schon den ganzen Tag heimsuchten. Natürlich hatte er überlegt, wie man die Sache mit Miss Daisy am besten lösen konnte, und war inzwischen mit sich übereingekommen, dass es am besten war, wenn er die Hündin Viola überließ. Das tat ihm zwar leid, weil er sich auf den ersten Blick in die Kleine verliebt hatte, aber andererseits hatte er nie vorgehabt, sich wieder zu verlieben. Auch nicht in einen Hund. Er hatte sich vor vielen Jahren geschworen, dass der daraus resultierende Herzschmerz es nicht wert war, sich auf jemanden so tief einzulassen. Einmal war ihm das passiert – und er hatte sehr, sehr lange gebraucht, um sich wieder zu fangen, und noch länger, die Wunden, die in sein Herz geschlagen worden waren, so weit vernarben zu lassen, dass sie nicht mehr schmerzten und er sie einigermaßen vergessen konnte.

Zwar bestand bei einem Hund keine große Gefahr, dass er ihn dermaßen enttäuschen würde, aber allein schon die Empfindungen, die die süße Miss Daisy seinem doch inzwischen so sorgfältig abgeschirmten Herzen entlockt hatten, alarmierten ihn. Er wollte sich solch eine Schwäche nicht erneut erlauben, denn wenn sich schon ein kleiner Hund derart schnell in sein Herz schleichen konnte, wie wäre es dann erst mit anderen Menschen? Frauen zum Beispiel? Eine ganz bestimmte Frau im Besonderen …?

Er schob den Gedanken rigoros beiseite, betrat wieder das Resort und steuerte den Wellnessbereich an. Hier war er bislang noch nicht gewesen, deshalb sah er sich erst einmal gründlich um – und staunte über das moderne, einladende Ambiente, das hier geschaffen worden war und das garantiert selbst den unsportlichsten Menschen anregen würde, sich mehr bewegen zu wollen. Helle Farben, witzige Kunstdrucke und Poster, teilweise mit motivierenden oder auch ironischen Sprüchen, ein halbrunder Empfangstresen, hinter dem sich ein Schreibtisch verbarg. Dem Empfang gegenüber befand sich eine gemütliche Wartezone, wohl für Violas Patienten. Die Sitzgelegenheiten waren alle aus hellem Leder, jedoch ergonomisch geformt und sahen sehr bequem aus. Es gab auch ein paar Sitzbälle und bewegliche Hocker, eine Ecke mit Spielsachen und Malbüchern für die Kleinsten und in der Mitte eine Art Insel mit einem großen, tagsüber beleuchteten Aquarium, in dem sich zwischen Wasserpflanzen und einem versunkenen Piratenschiff diverse farbenfrohe Fische tummelten. Aus den Lautsprechern ertönte leise Hintergrundmusik. Schräg hinter dem Empfang ging es zu zwei Behandlungsräumen und auf der anderen Seite des Raumes zweigten Türen zu den Wellnessbereichen ab: Sauna, Schwimmbad, Solarium, Massagezimmer. Auch ein kleiner Ruheraum und ein Extrazimmer für Meditationen waren ausgeschildert. Lukas staunte, ihm war nicht bewusst gewesen, wie riesig dieser Flügel des Hotels war. Am beeindruckendsten fand er die große Turnhalle, in die man vom Empfang und Wartebereich aus durch eine überdimensionale Fensterscheibe hineinsehen konnte. Am oberen Rand der Scheibe konnte er sehen, dass man das Fenster mittels Jalousien vor neugierigen Blicken schützen konnte, doch im Augenblick hatte er freie Sicht auf die erleuchtete Halle, in der bereits sechs oder sieben Frauen im Sportdress beieinanderstanden.

Er erkannte Laura, die Frau von Patricks Bruder Justus, und dessen Schwester Ricarda sowie die junge Floristin, die im Blumenladen in der Annastraße arbeitete. Kati hieß sie, was er so genau wusste, weil er bei ihr schon Blumensträuße für Patricks Mutter oder seine eigene gekauft hatte und dabei mit ihr und der Inhaberin des Ladens, Tessa Winkmann, ins Gespräch gekommen war.

Eine weitere junge Frau mit langen, wallenden roten Korkenzieherlocken hatte er ebenfalls schon einmal in der Stadt gesehen. Die anderen Frauen waren ihm unbekannt.

Eben gesellte sich auch Viola zu der Gruppe. Sie trug jetzt einen engen Sportdress in Rosa und Weiß – und sie hatte ein Clipboard dabei, das sie einer der Frauen in die Hand drückte. Anscheinend eine gute alte Anwesenheitsliste.

Sie lächelte immer noch so strahlend wie vorhin, als ihm Angeliques Geheimnis herausgerutscht war. Wie ärgerlich! Normalerweise konnte er solche Dinge für sich behalten, doch Viola hatte ihn irgendwie kurz aus dem Konzept gebracht. Wie, das war ihm gar nicht so recht bewusst, denn normalerweise war sie ihm gegenüber eher reserviert und zurückhaltend und sprach ihn selten von sich aus an.

Doch bei der Nachricht von Angeliques Schwangerschaft war sie plötzlich ganz anders gewesen. So, als wäre von einer Sekunde auf die nächste die Sonne aufgegangen und eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen verschwunden. Ihr Strahlen hatte ihm einen heftigen Stich versetzt – und einen gehörigen Schrecken eingejagt. Erneut spürte er einen Nachhall davon, weil sie immer noch so glücklich und gelöst schien und – verdammt, dieses Lächeln war gefährlich!

Offenbar hatten die anderen Frauen, oder zumindest Ricarda und Laura, ebenfalls bemerkt, dass Viola ungewöhnlich guter Dinge war, denn sie nahmen sie gerade beiseite und redeten auf sie ein.

Lukas ging zum Empfangstresen, zog den Bürostuhl hervor und setzte sich an den Schreibtisch. Während er den Laptop aufklappte, blickte er erneut durch das Fenster und sah – und hörte, wenn auch nur gedämpft –, wie die drei Frauen zu kreischen und wild herumzuhüpfen begannen.

Er schmunzelte. Offenbar hatte Viola das Geheimnis auch nicht für sich behalten können. Hoffentlich bekam er dafür jetzt keinen Ärger mit Patrick.

Je länger er den Frauen zusah – und speziell Viola –, desto eigenartiger fühlte er sich. So ausgelassen hatte er sie noch nie gesehen – höchstens einmal im Kreis ihrer Familie. Von Reserviertheit oder Zurückhaltung keine Spur mehr.

Zwar fuhr er den Laptop hoch und öffnete sein Arbeitsprogramm, doch seine Blicke wurden ständig von den Vorgängen in der Turnhalle abgelenkt. Nachdem die drei Frauen sich wieder beruhigt hatten, hatte Viola sich vor den Teilnehmerinnen des Kurses positioniert, erklärte etwas, dann begannen alle mit den Übungen, die sie vormachte. Immer wieder ging sie von der einen zur anderen Teilnehmerin, erklärte hier etwas, korrigierte dort eine Haltung. Dann ging es mit weiteren Übungen und viel Gelächter weiter.

Viola verstand ihren Job, das war unübersehbar. Und wie beweglich sie war! Lukas staunte nicht nur, er bewunderte sie – und bemerkte dabei fast zu spät, dass er sich damit in Teufels Küche begab. Viola war nicht seine Kragenweite. Sie gehörte zu Angeliques Familie – und damit jetzt auch zu seiner. Aber nicht nur deswegen kam sie nicht für ihn infrage, sondern auch, weil er, wenn er sich schon mal ein kleines Abenteuer erlaubte, Frauen bevorzugte, die ebenso ungebunden bleiben wollten wie er und denen gelegentliche rein körperliche Zusammenkünfte vollkommen ausreichten. Keine von ihnen hatte je mehr von ihm erwartet – und er hatte auch nicht mehr verlangt. Das würde er auch niemals wieder tun, aus reinem Selbstschutz. Er hatte einmal geliebt, aus vollem Herzen, und war grausam enttäuscht worden. Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn er es hätte kommen sehen, doch er war von diesem Schlag wie aus dem Nichts getroffen worden, unerwartet und eiskalt.

Grund genug, sich jetzt endlich von Violas viel zu verführerischem Anblick loszureißen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

***

»Hast du einen neuen Verehrer?« Mariella Bonner, die rothaarige Kursteilnehmerin, mit der Viola sich, ebenso wie mit Kati, inzwischen recht gut angefreundet hatte, obwohl die beiden Frauen einige Jahre jünger waren als sie, löste den Zopf, zu dem sie ihre wallenden Korkenzieherlocken für den Kurs gebunden hatte, und schlüpfte in ihren schwarzen Wollkurzmantel. »Oder warum wartet Lukas Sahrmüller da vor der Sporthalle und tut so, als würde er arbeiten?«

Viola spürte schon wieder diese ärgerliche Wärme in ihre Wangen steigen. Nach der kurzen Dusche, die sie sich nach der Pilatesstunde gegönnt hatte, waren ihre Haare noch etwas feucht, deshalb zog sie eine rosafarbene Mütze über, was ihr zumindest einen Grund gab, ihre Hände zu beschäftigen. »Lukas ist nicht mein Verehrer. Er wartet nur auf mich, weil …«

»… er dich zu einem Date ausführen will?« Mariella grinste. »Komm schon, mir kannst du es doch anvertrauen.«

»Nein.« Beinahe hätte Viola das Wort viel zu laut ausgestoßen. »Wir haben heute Morgen einen ausgesetzten Hundewelpen gefunden und zur Tierärztin gebracht.«

»Was?« Entsetzt hob Mariella den Kopf. »Das ist ja schrecklich!«

Viola nickte. »Und wie. Wir dachten, wir sehen nicht richtig, als wir ihn an der Landstraße entdeckt haben. Er war an der Leitplanke angebunden. Und, na ja, jetzt überlegen wir beide, ob wir Miss Daisy, so haben wir die kleine Hundedame genannt, adoptieren wollen.«

»Zusammen?« Verwundert runzelte Mariella die Stirn.

»Nein, natürlich nicht. Wir müssen uns einigen, wer Miss Daisy nun bekommt.«

»Aha.« Mariellas Gesicht verzog sich betrübt. »So eine Gemeinheit, einfach einen Welpen auszusetzen. Wie kann man nur so herzlos sein? Zum Glück habt ihr ihn gefunden. Aber wie wollt ihr euch denn jetzt einigen?«

»Keine Ahnung.« Ratlos hob Viola die Schultern und warf einen kurzen Blick durch die halb geöffnete Zwischentür, die zum Empfangsbereich der Wellnessoase führte. Die leise Musik aus der Stereoanlage war zu vernehmen und noch leiser das Klappern von Lukas’ Laptoptastatur. »Vielleicht sollte ich ihm den Vortritt lassen. Ganz zu Anfang hatte Miss Daisy eine Heidenangst vor ihm, aber dann hat sie sich ganz schnell an ihn gewöhnt und ich glaube, er hat die Kleine sofort ins Herz geschlossen. Deshalb haben wir sie ja auch Miss Daisy genannt, du weißt schon … Miss Daisy und ihr Chauffeur

»Und du hast sie nicht so sehr ins Herz geschlossen?« Aufmerksam musterte Mariella sie.

»Doch, schon, aber was soll ich denn sonst machen? Ich möchte mich ja auch nicht mit ihm um sie streiten. Das täte mir leid, schon weil er ja Angeliques Bruder ist und damit zur Familie gehört. Wenn Miss Daisy bei ihm lebt, kriege ich sie ja trotzdem immer wieder zu sehen, weil er ab und zu bei meinen Eltern zu Besuch ist und so.«

»Gutes Argument.« Mariella warf ebenfalls einen Blick in den Empfangsbereich. »Er sieht ziemlich gut aus. Nicht auf die klassische Weise, aber er hat etwas Eigenwillig-Attraktives, findest du nicht auch?«

»Äh, ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Viola schlüpfte in ihren altrosafarbenen Mantel und beschäftigte sich übermäßig lange mit den Knöpfen und dem Gürtel.

»Pffff!« Mariella stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Jetzt versuchst du aber, mir einen Bären aufzubinden. Ein Mann wie er fällt einer Frau auf, das ist mal sicher. Das geht ja selbst mir so, und das, obwohl ich nichts mehr von Männern wissen will, seit …« Sie schluckte und verstummte. Dann schüttelte sie sich leicht, so als wolle sie ein ungutes Gefühl loswerden, und lächelte wieder, wenn auch etwas gezwungen. »Also sag schon – gefällt er dir?«

»Pst!« Viola warf einen weiteren nervösen Blick durch die Tür. »Er kann uns hören, wenn du so laut redest.«

»Und das würde dich stören?« Neugierig sah Mariella sie an. »Oder wäre es dir peinlich, weil er dir doch gefällt?« Sie hatte die Stimme etwas gesenkt und von ihrem kurzen Unbehagen war nichts mehr zu bemerken.

Viola bewunderte sie dafür. Sie wusste, dass Mariella vor etwas mehr als drei Jahren vergewaltigt worden war und sich immer noch, wenn auch inzwischen nur noch sporadisch, in Therapie befand. Die junge Frau ging recht offen damit um, doch dass ihr das nicht immer leichtfiel, war ihr anzusehen. Dennoch strahlte sie eine positive, fröhliche Energie aus, die ansteckend wirkte. Viola räusperte sich auf Mariellas letzte Frage hin. »Es ist mir peinlich, ja. Er ist der Bruder meiner Schwägerin.«

»Na und? Ihr seid doch nicht blutsverwandt.«

»Aber er ist … kein … Mann … für mich.« Als wolle er ihre Worte Lügen strafen, beschleunigte sich Violas Herzschlag, als sie erneut in Lukas’ Richtung blickte und er im selben Moment den Kopf hob. Ihre Blicke begegneten sich und die Wärme in ihren Wangen verwandelte sich in Hitze. »Ich muss jetzt los.«

Mariella grinste. »Ich verschwinde jetzt mal. Romanzen sind nicht so mein Ding. Meine Therapeutin sagt, ich habe eine Vermeidungshaltung angenommen, und damit hat sie wohl recht. Aber du solltest dir vielleicht noch mal überlegen, ob er nicht doch was für dich wäre. So schnell, wie er gerade seine Sachen zusammenpackt, scheint er zumindest nicht uninteressiert an dir zu sein.«

»Quatsch.« Viola wehrte sich gegen den Gedanken, weil er zugleich verführerisch und beängstigend war. »Er hat bestimmt heute noch mehr vor, als hier herumzusitzen und auf mich zu warten. Deshalb hat er es jetzt eilig.«

»Na gut, rede es dir halt ein, wenn es dich beruhigt.« Immer noch grinsend schnappte Mariella sich ihren Sportrucksack und eilte winkend von dannen.

»Bist du so weit?« Er hatte bereits seinen Laptop eingepackt, seine Jacke über den Arm gehängt und kam auf Viola zu, als sie durch die Tür zum Damenumkleideraum trat. »Ihr habt ja ganz schön hart trainiert. Ich wusste gar nicht, was genau Pilates ist, aber jetzt, da ich euch zugesehen habe, empfinde ich den größten Respekt vor jeder Frau, die so was kann.«

»Ähm …« Verflixt, musste sie schon wieder nach Worten suchen? Viola verfluchte sich innerlich – oder vielmehr die notorische Schüchternheit, die sie in seiner Gegenwart so zuverlässig befiel. »Es gibt auch Männer, die Pilates machen.«

»O Graus!« Lukas lachte auf. »Das müssen Helden sein. Ich bleibe lieber bei Jogging, Rudergerät und Ballsportarten.«

»Du spielst Handball, habe ich gehört.« Viola ging rasch an ihm vorbei, um aus seiner direkten Nähe zu kommen und um die Musik und die Beleuchtung im Aquarium auszuschalten.

»Das ist richtig«, bestätigte er und folgte ihr ärgerlicherweise auf dem Fuße. »Zum Glück gibt es hier in der Stadt einen guten Sportverein.« Er hielt kurz inne. »Du hast hier einen ziemlich genialen Arbeitsplatz. Ich bin zum ersten Mal hier in diesem Flügel und hätte nicht gedacht, dass er so groß ist. Ganz schön beeindruckend.«

»Findest du?« Überrascht blickte Viola sich um und versuchte, ihre für sie so gewohnte Umgebung mit seinen Augen zu sehen. »Ja, stimmt. Meine Eltern wollten hier etwas ganz Besonderes erschaffen. Ein modernes und gleichzeitig familiäres Hotel zum Wohlfühlen.« Sie schmunzelte, weil das einer der Werbeslogans war, die ihre Schwägerin Laura so oft benutzte.

»Das ist ihnen definitiv gelungen.« Lukas sah sich ebenfalls um. »Ein Fitnessstudio könnte kaum besser ausgestattet sein. Allein diese Sporthalle ist der Wahnsinn.«

»Die hat Papa wohl hauptsächlich meinetwegen bauen lassen.« Nachdem sie auch den Anrufbeantworter eingeschaltet hatte, trat Viola an die riesige Fensterscheibe, durch die man in die Halle blicken konnte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Lukas ihr offenbar die ganze Zeit zugesehen hatte. Normalerweise störten sie Zuschauer nicht, denn wenn es um ihren Beruf ging, konnte sie mittlerweile vollkommen professionell bleiben, ohne verlegen zu werden. Doch der Gedanke, dass Lukas sie bei den Pilatesübungen beobachtet hatte, ließ ihren Puls aus dem Ruder geraten. »Er wollte es mir ermöglichen, nicht nur meine Praxis hier zu eröffnen, sondern mich auch bei meinen Ideen für Sportseminare unterstützen. Inzwischen arbeite ich sogar mit der Sportakademie am Stadtrand zusammen. Wenn dort Gastdozenten hinkommen, wohnen sie meistens hier bei uns, und auch wenn Wettkämpfe oder dergleichen stattfinden, werden die auswärtigen Gäste fast immer hier untergebracht und können nach Absprache auch hier trainieren. Oder natürlich in der Akademie, aber manche dieser Sportler legen täglich mehrere Trainingseinheiten ein, oftmals schon vor dem Frühstück oder noch relativ spät abends. Da passt es gut, dass wir so viele Möglichkeiten anbieten. Kooperationen mit dem Sportverein und dem städtischen Schwimmbad gibt es allerdings auch. Und seit Laura das Marketingzepter bei uns schwingt, gibt es auch viele Angebote für Kinder und Jugendliche – bis hin zu Schwimmkursen oder Yoga für Vorschulkinder. Oder Eltern-Kind-Yoga, das ist total beliebt.« Erschrocken über sich, weil sie so viel auf einmal gesagt hatte, rang sie nach Atem.

»Was du nicht sagst.« Lukas grinste. »Dann weiß ich ja, wo wir Patrick und Angelique demnächst anmelden können.«

Verblüfft hob Viola den Kopf, dann fiel ihr die gute Nachricht wieder ein und sie musste ebenfalls lächeln. »Bis dahin dürfte aber noch ein bisschen Zeit vergehen.«

»Stimmt.« Lachend deutete Lukas in Richtung Glastür, die diesen Hoteltrakt vom Haupthaus und der Lobby trennte. »Das Restaurant ist doch sicherlich noch geöffnet, oder?«

»Äh, ja klar.« Leicht irritiert über den plötzlichen Themenwechsel runzelte sie die Stirn. »Warum?«

»Na, weil ich dich gerne zu einer Tasse Kaffee einladen würde – oder Tee, wenn der dir lieber ist. Immerhin haben wir noch eine wichtige Entscheidung zu treffen.«

»Ja, du hast recht.« Sie stellte ihre Tasche neben der Seitentür ab, die hinaus zum Mitarbeiterparkplatz führte, damit sie sie später nicht vergaß. »Aber du brauchst mich nicht einzuladen.«

»Möchte ich aber gerne.« Zuvorkommend hielt er ihr die Glastür auf. »Hast du inzwischen dein Auto in die Werkstatt bringen lassen?«

Froh, dass das Gespräch bei Themen blieb, auf die sie einigermaßen problemlos antworten konnte, nickte sie, während sie ihm voran in Richtung Restaurant ging. »Bastian, ein ehemaliger Klassenkamerad von Patrick, hat ihn abgeholt. Ihm gehört die Autowerkstatt drüben im Gewerbegebiet. Er hat heute Mittag angerufen und mir mitgeteilt, dass die Lichtmaschine und der Anlasser kaputt sind. Die Reparatur wird so teuer, dass ich mir wohl oder übel ein anderes Auto kaufen muss, alles andere wäre Unsinn.«

»Das tut mir leid.« Lukas schloss zu ihr auf und öffnete ihr auch noch die Glastür, die ins Restaurant führte. Im Gegensatz zum Sterne-Restaurant im »Sternbach Stadthotel« hatte das im Resort keine Auszeichnung, war deshalb aber nicht weniger beliebt. Das Ambiente war leger-gediegen mit weißer und altrosafarbener Tischwäsche, hübschen Strohgestecken und gläsernen Windlichtern auf jedem Tisch. An den Wänden hingen gerahmte Landschaftsaufnahmen aus der Umgebung und auch ein paar Aquarelle von regionalen Künstlern, die man sogar käuflich erwerben konnte.

»Guten Abend! Na, das ist aber eine schöne Überraschung.« Lucinde Bauer, die etwa fünfzigjährige Oberkellnerin, kam mit einem strahlenden Lächeln auf Viola zu. Sie war mit ihren nur eins fünfundsechzig noch etwas kleiner als Viola und sehr schlank und trug ihr Haar stets zu einem glatten blonden Zopf gebunden, der ihr bis knapp über die Schultern reichte. Viola kannte sie schon, seit sie denken konnte, denn Lucinde hatte im Stadthotel bereits ihre Ausbildung absolviert, als es noch ein wesentlich kleinerer Betrieb gewesen war. »Habt ihr einen Tisch reserviert? Heute ist es relativ voll, obwohl es noch gar nicht so spät ist.«

»Nein, ich habe Viola ganz spontan eingeladen.« Lukas lächelte ihr zu. »Ich hoffe, das ist jetzt kein Problem.«

»Aber nein, wartet mal …« Lucinde winkte sie zu dem kleinen Empfangstresen neben der Bar und warf einen Blick auf den Buchungscomputer. »Tisch sieben ist noch frei, der ist drüben am Fenster. Kommt mal mit.« Wieder ging sie voraus und entzündete auch gleich die Kerze in dem bunten, kunstvoll geschwungenen Glaswindlicht, das vermutlich wie alle übrigen hier im Restaurant von Jana Weißmüller, einer ortsansässigen Glaskünstlerin, kreiert worden war. »Was kann ich euch Turteltauben denn bringen?«

Viola hustete. »Wir sind keine Turteltauben.«

Lukas lachte. »Nein, ganz sicher nicht.« Sein überzeugter, fast schon rigoroser Tonfall ließ Viola den Kopf heben. »Wir sind nur hier, weil … Wir müssen etwas Wichtiges besprechen.«

»Ach so.« Lucindes Blick wanderte von Lukas zu Viola und wieder zurück. »Entschuldigt bitte, aber ihr gebt ein so hübsches Paar ab. Rein optisch, meine ich. Na gut, wie auch immer. Irren ist menschlich, nicht wahr? Trotzdem kann ich euch gerne schon etwas bringen.« Mit fragendem Blick wandte sie sich wieder an Viola.

»Eine Cola, bitte.« Viola setzte sich an den Tisch und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, das hinaus auf den Park hinter dem Resort zeigte. Es war schon dunkel, doch irgendwann in der vergangenen Woche hatten die drei Hausmeister die weihnachtlichen Lichterketten in Bäumen und Büschen angebracht, die nun für romantische Stimmung sorgten, auch wenn das Wetter alles andere als angenehm war. Sie musste sich kurz fangen, denn obwohl Lukas nichts als die Wahrheit gesagt hatte, fühlte sie sich von seinem Tonfall doch etwas angegriffen – ein bisschen enttäuscht war sie vielleicht auch, aber nur, weil Mariella zuvor behauptet hatte, Lukas könnte Interesse an ihr haben.

»Ich nehme eine Tasse Kaffee.« Auch Lukas hatte sich gesetzt und blickte nach draußen, nachdem Lucinde sich entfernt hatte. »Die Deko sieht großartig aus. Man fühlt sich fast wie bei Tim Thaler.«

Viola riss sich zusammen. »Das ist jedes Jahr so. Warte erst mal ab, wie das Hotel aussieht, wenn auch innen alles geschmückt ist. Meine Eltern lassen hier immer ein richtiges Weihnachtswunderland entstehen. Im Stadthotel natürlich auch, aber in einem etwas anderen Stil, irgendwie …«

»Würdevoller?« Lukas lachte. »Ich habe es ja letztes Jahr schon zu sehen bekommen. Das Stadthotel hat ein anderes, edleres Ambiente als das Resort. Hier geht es ein bisschen lockerer und legerer zu.«

»Ja, weil hier hauptsächlich Familien mit Kindern oder Wellnessurlauber ein und aus gehen. Im Stadthotel kommen mehr Geschäftsreisende unter oder im Durchschnitt etwas ältere Paare. Laura hat das ganz genau analysiert, als sie hier anfing, und ihre Marketingkampagnen haargenau darauf ausgerichtet.«

»Mit großem Erfolg, wie mir scheint.« Anerkennend blickte Lukas sich um. »Soweit ich es beurteilen kann, brummt der Laden.« Er zwinkerte ihr heiter zu. »Wenn ich das mal so salopp formulieren darf.«

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