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Körbchen unterm Weihnachtsbaum - drei bezaubernde Hundegeschichten (3in1)

KLEINER STREUNER - GROßE LIEBE

Pünktlich zum ersten Schnee bekommt der kleine Streuner ein warmes Zuhause und einen Namen. "Socke" gefällt ihm ganz wunderbar. Es passt zu seinen weißen Pfötchen. Er wohnt jetzt bei André und darf jeden Tag mit ihm zur Arbeit fahren und dort Eva sehen. Sie ist nun Sockes neues Frauchen. Warum sie allerdings nicht auch bei ihm und André einzieht, versteht Socke nicht ganz, aber das scheint so ein Menschending zu sein. Das will Socke unbedingt lösen - am besten noch vor Weihnachten.

"‚Kleiner Streuner - große Liebe' ist ein zu Herzen gehendes Buch, ein unkomplizierter Liebesroman für Erwachsene mit der Petra Schier eigenen Mischung aus Spannung, Emotionen und einem Hauch knisternder Erotik. Ein wunderbares Feiertagsbuch und unterhaltende Weihnachtslektüre für jeden Hundefreund." elli-radinger.de

KLEINES HUNDEHERZ SUCHT GROßES GLÜCK

Eine warme Küche und zwei Menschen, die ihn umsorgen - so stellt sich der kleine zerzauste Mischlingshund Amor das Glück vor! Als er eines kalten Winterabends in der städtischen Sozialstation auftaucht, lässt er sich von der schüchternen Lidia und dem Sozialarbeiter Noah das Ohr kraulen. Glücklich erkundet Amor darauf die Küche, schnüffelt an köstlichem Schokokuchen - und stibitzt Lidias Geldbeutel. Noah und Lidia versuchen ihn einzufangen und scheinen sich dabei sogar näherzukommen … Amor sieht seine Chance, die Liebe in ihr Leben zu bringen und ein echtes Zuhause zu finden. Doch werden seine Weihnachtswünsche wahr?

VIER PFOTEN FÜR EIN WEIHNACHTSWUNDER

Laura hasst Weihnachten! Eigentlich wollte sie in ihrem ruhigen Häuschen auf dem Land nur dem Glitzer und Trubel der Adventszeit entfliehen. Und jetzt hat sie sich plötzlich verliebt, in Lizzy, die kleine West Highland Terrier Hündin, in eine vollkommen chaotische Familie und, wenn sie ehrlich ist, auch in Justus, den Sohn ihres Chefs. Laura ist völlig überfordert und sieht nur eine Lösung: Sie muss so schnell wie möglich weg und auf keinen Fall zurückblicken …

»Mit großen Gefühlen und einem Hund als Weihnachtsengel, sorgt Petra Schier für beste Unterhaltung an gemütlichen Winterabenden.«
Tanja Janz


  • Erscheinungstag: 06.12.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 944
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751802
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Petra Schier

Körbchen unterm Weihnachtsbaum - drei bezaubernde Hundegeschichten (3in1)

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Originalausgabe

Covergestaltung: büropecher, Köln
Coverabbildung: Dorottya Mathe, Mantana Boonsatr, showcake,
Jo Ann Snover, Andrey Tiyk / Shutterstock
Redaktion: Christiane Branscheid
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955767204

www.harpercollins.de
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1. Kapitel

„Prost, Mädels!“ Kichernd schenkte Eva Lange Weißwein aus der frisch geöffneten Flasche in die Gläser ihrer Freundinnen Lidia und Sophie. Es war bereits die dritte Flasche an diesem Abend, und entsprechend ausgelassen waren die drei Frauen. „Ohne euch wäre ich wirklich aufgeschmissen gewesen.“ Sie goss sich selbst ebenfalls ein gutes Quantum Wein in ihr Glas und schwenkte es dann übermütig.

„Du wiederholst dich.“ Sophie Braumann ließ sich in einen der beiden abgeschabten Ledersessel fallen und lehnte sich bequem zurück. Zufrieden blickte sie sich in Evas kleinem Wohnzimmer um, in dem sich vollgepackte Umzugskartons säuberlich neben- und übereinander stapelten. „Aber wir waren fleißig, das gebe ich gern zu.“

„Bloß warum du jetzt schon all deine Sachen wegpackst, wo es doch noch mindestens vier Wochen dauert, bis du in die neue Wohnung ziehen kannst, begreife ich nicht.“ Auch Lidia ließ sich in einem Sessel nieder.

Eva setzte sich auf die Armlehne. „Ich hab doch schon ­erklärt, dass ich diesen Umzug gerne möglichst stressfrei hinter mich bringen will. In drei Wochen ist der erste Advent. Ihr wisst selbst, wie anstrengend die Vorweihnachtszeit in der Sozialstation ist. Wir planen wieder einen Benefizball, ganz zu schweigen von den Bastelstunden, Waldspaziergängen für die Kinder – und was weiß ich nicht alles. Dann auch noch Weihnachtsfeiern an jeder Ecke. Da komme ich doch zu nichts. Lieber schränke ich mich ein paar Wochen ein und habe es dann einfach, sobald meine neue Wohnung bezugsfertig ist.“

„Wo du recht hast, hast du recht.“ Sophie lächelte ihr zu. „Was die Sozialstation angeht: Wir sind alle heilfroh, dass dein Jahr in London vorbei ist. Ohne dich ging alles drunter und drüber.“

Eva lachte und fuhr sich halb geschmeichelt, halb verlegen durch ihr kurzes schwarzes Haar, das sie zu einem frechen Pixie-Cut geschnitten trug. „Übertreib mal nicht.“

„Tut sie nicht.“ Lidia lachte. „Wir haben dich wirklich vermisst. Erst wenn eine Perle wie du nicht mehr da ist, weiß man so richtig, was man an ihr hatte. Ich habe zwar ausgeholfen, wo ich konnte, aber mein Bereich ist ja mehr die Küche, und da haben André und Lisette die Zügel fest in der Hand. Ganz zu schweigen davon, dass ich halbtags noch in Paps’ Firma arbeite und wir ja jetzt Marjana haben, die ich auf keinen Fall zu kurz kommen lassen will.“

„André und die Zügel in der Hand? Mhm, ja, bestimmt.“ Evas Miene verfinsterte sich kurz, doch nur für einen winzigen Moment, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt und lächelte. „London war toll. Ich habe unglaublich viel gesehen und gelernt. Viel mehr als bei meinem ersten Aufenthalt dort vor einigen Jahren. Aber ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Auf Dauer ist mir unsere kleine Stadt lieber als so eine Metropole. Ständig dieser Lärm und die vielen Menschen! Hier habe ich irgendwie mehr das Gefühl, dass wir etwas gegen die Armut und das Elend mancher Menschen ausrichten können. In einer so großen Stadt wie London scheint man permanent gegen Windmühlen anzukämpfen.“

„Das glaube ich dir gern.“ Sophie nickte. „Als Carsten und ich letztes Jahr für den Zeitschritte – Artikel in London waren, haben wir ja eine Menge mitbekommen. Unglaublich, in was für Zuständen dort manche Menschen dahinvegetieren. Dagegen ist es bei uns ja fast schon ein Schlaraffenland.“

„Genau.“ Eva trank einen großen Schluck von ihrem Wein und schenkte sich nach, obwohl ihr Glas noch nicht leer war. „Danke noch mal, dass ihr mir beim Packen geholfen habt. Ich werde mich irgendwie revanchieren, ganz bestimmt.“

„Vielleicht missbrauche ich dich demnächst mal als Baby­sitter“, schlug Sophie vor. „Kristina ist jetzt anderthalb und hält es problemlos mal einen Abend ohne Mama und Papa aus.“

„Klar, gerne. Sag mir nur, wann!“ Eva strahlte, glücklich, dass sie ihrer Freundin einen Dienst erweisen konnte. „Immerhin müsst ihr ja auch mal Zeit haben, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen für die Süße zu machen.“

„Ach das.“ Sophie winkte lachend ab. „Wir üben fleißig, aber es muss jetzt auch nicht sofort sein. Alles zu seiner Zeit, wie man so schön sagt. Was meinst du, Lidia?“

Die Angesprochene lachte ebenfalls. „Marjana ist gerade mal fünf Monate alt, da denke ich darüber noch nicht nach. Ich bin schon überglücklich, wie gut sich Noah in seine Vaterrolle gefunden hat. Wenn man seine Vorgeschichte bedenkt, hätte es auch ganz anders kommen können.“

„Nein.“ Eva schüttelte entschieden den Kopf. „Noah ist ein Familienmensch, das habe ich gleich gemerkt, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er hat es nur selbst lange Zeit nicht gewusst. Wenn man ihn mit Marjana sieht, erkennt man sofort, dass er der beste Vater ist, den eure Tochter sich erträumen könnte.“ Ihre Miene verdüsterte sich wieder leicht. „Jedem Kind sind Eltern, wie ihr es seid, von Herzen zu wünschen.“

„Hey, was ist denn jetzt los?“ Sophie beugte sich vor und legte Eva eine Hand auf den Arm.

Eva atmete tief durch. „Ach, nichts. Ich werde nur manchmal neidisch, weil meine Familie dieses Ausdrucks nicht wirklich wert ist. Meine Eltern haben sich schon immer mehr für sich selbst und ihre Jobs interessiert als für mich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was soll’s! Dafür habe ich ja jetzt euch, das ist mir Familie genug.“

„Das ist die richtige Einstellung.“ Sophie drückte ihren Arm. „Nicht alle Menschen sind als Eltern geeignet. Wenn du darüber reden möchtest …“

„Nein.“ Vehement schüttelte Eva den Kopf. „Das bringt nichts, denn dadurch ändert sich nichts.“

„Wie du meinst.“ Auch Lidia richtete sich ein wenig auf. „Vielleicht solltest du einfach eine eigene Familie gründen, dann kannst du alles so machen, wie du gerne möchtest.“

Eva gluckste. „Dazu brauche ich aber erst mal den richtigen Mann – und was das angeht, herrscht bei mir schon ziemlich lange Ebbe.“

„Hattest du eigentlich seit der Sache mit André überhaupt noch mal einen Freund?“ Sophies Frage ließ Eva zusammenzucken. Sie wusste, wie direkt ihre Freundin werden konnte. Darin unterschied sie sich sehr von Lidia, die meistens viel ruhiger und zurückhaltender war und Sophie auch prompt mit dem Handrücken gegen das Knie schlug.

„Was denn?“ Sophie tat, als könne sie kein Wässerchen ­trüben. „Willst du etwa nicht den neuesten Beziehungstratsch hören?“

Eva musste gegen ihren Willen schmunzeln. „Ich bin erst mal lieber solo geblieben. Manche Affären haben einen zu bitteren Nachgeschmack, da muss man erst mal pausieren, um das zu verdauen.“

„Hey, das ist jetzt, lass mich überlegen“, Sophie runzelte die Stirn, „zweieinhalb Jahre her! So was nenne ich keine Pause, sondern Trockendock.“

„Sophie!“ Erneut traf sie Lidias Schlag.

Sophie schüttelte so heftig ihren Kopf, dass ihr langes ­kastanienbraunes Haar wild mitschwang. „Ist doch wahr! Zweieinhalb Jahre! Das ist ja eine Ewigkeit. Sag mir, dass du wenigstens in London ein paar heiße One-Night-Stands ­hattest.“ Erwartungsvoll sah sie Eva an.

„Nein. Oder … Na ja.“

„Aha! Erzähl!“ Nun beugten sich beide Freundinnen neugierig vor und tranken gleichzeitig von ihrem Wein.

Eva seufzte. „Nicht dass es keine Männer gegeben hätte, die etwas mit mir anfangen wollten. Nette Männer. Gut aussehende Männer.“

„Sehr schön!“, kommentierte Sophie begeistert.

„Nein, gar nicht schön. Ich fand sie wirklich nett und so, aber mehr eben nicht.“ Eva schenkte den beiden neuen Wein ein. „Mit George bin ich ein paarmal aus gewesen, und einmal haben wir auch … sind wir zusammen im Bett gelandet.“

„Das ist doch zumindest etwas“, befand Sophie zufrieden.

„Danach hat er sich nie wieder bei mir gemeldet.“

„Mistkerl.“ Sophies Miene wurde sofort finster.

„Ach, weißt du, es hat mir gar nichts ausgemacht.“ Eva hob die Schultern. „Er war mir einfach nicht wichtig genug. Es war ziemlich am Anfang meiner Zeit in London. Danach bin ich, wenn überhaupt, nur noch in größeren Gruppen ausgegangen.“

Was sie nicht erwähnte, war die Tatsache, dass sie Georges Avancen so rasch nachgegeben hatte, weil sie gehofft hatte, dadurch die ständigen Gedanken an André zu verscheuchen. Der Erfolg war mehr als mäßig gewesen. Nicht dass sie noch etwas für André empfand, das war lange vorbei. Doch aus irgend­einem unerfindlichen Grund spukte er auch heute noch viel zu oft durch ihren Kopf. Selbst jetzt musste sie ihn beinahe gewaltsam auf den ihm zustehenden Platz im hintersten Winkel ihres Bewusstseins verweisen.

„Das ist wirklich traurig. Vielleicht findest du ja jetzt, wo du wieder hier bist, deinen Mr. Right.“ Lidia lächelte ihr ermunternd zu. „Wir haben es ja auch geschafft – und was mich angeht, so hatte ich auch schon fast alle Hoffnungen aufgegeben, weil ich dachte, dass es keinen Mann gibt, der wirklich zu mir passt. Und sieh mich und Noah jetzt an. Oder Sophie und Carsten, obwohl ich mich heute noch manchmal frage, wie sie bei ihren dauernden Wortgefechten überhaupt dazu gekommen sind, die kleine Kristina zu zeugen.“ Zwinkernd sah sie zu Sophie hinüber, die herzlich auflachte. „Keine Sorge, dazu ist immer genügend Zeit gewesen. Du wirst doch selbst wissen, dass Versöhnungssex oftmals der beste Sex überhaupt ist.“ Sie stellte ihr Glas auf den Couchtisch. „Aber wisst ihr was? Ich habe eine Idee.“

„Oh, oh.“ Lidia grinste. „Sie ist betrunken. Alle Mann in Deckung!“

„Alle Frauen, wenn ich bitten darf.“ Sophie kicherte. „Oder habt ihr hier irgendwo Männer versteckt?“

„Nicht dass ich wüsste.“ Auch Eva stellte ihr Glas ab. Sie war ebenfalls angeheitert – und nicht zu knapp. Ganz allmählich begann das Zimmer leicht zu schwanken, ein sicheres Zeichen, dass es an der Zeit war, mit dem Wein aufzuhören, wenn sie es am nächsten Tag nicht bitter bereuen wollte. Doch Sophie nutzte die Gelegenheit, um die Gläser erneut zu füllen. Die leere Flasche stellte sie auf den Boden zu den beiden anderen. „Lasst mich doch erst mal erklären, was ich vorhabe. Die Idee ist perfekt für dich, Eva. Bei mir hat es damals funktioniert, seitdem bringt mich niemand mehr von meinem festen Glauben an den Weihnachtsmann ab.“

„Du glaubst noch an den Weihnachtsmann?“ Lidia kicherte.

„Nicht noch, sondern wieder.“ Schwungvoll griff Sophie nach ihrem Glas, trank einen großen Schluck daraus und stellte es wieder ab, wobei sie nur ganz wenig verschüttete. Sie angelte nach Evas Laptop, der ebenfalls auf dem Couchtisch stand, und schaltete ihn ein.

„Was jetzt?“ Lidia kicherte noch immer. „Willst du Eva einen Mann aus dem Katalog bestellen? Ich hab gehört, Frauen kann man auf diese Weise aus dem Ausland ordern. Warum nicht auch einen hübschen, gut gebauten Kerl für besondere Stunden.“

„Quatsch!“ Sophie wartete ungeduldig, bis der Laptop hochgefahren war, dann öffnete sie den Browser und gab mit fliegenden Fingern eine Adresse ein. Eva und Lidia hockten sich rasch links und rechts von ihr auf die Armlehnen des Sessels.

„Was wird das denn?“ Eva gluckste. „Soll ich einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann schreiben?“

„Ganz genau.“ Sophie blickte sie mit allem Ernst an, den sie in ihrem Zustand aufbringen konnte. „Du wünschst dir jetzt deinen Mr. Right zu Weihnachten. Bei mir hat’s funktioniert.“

„Du hast dir Carsten vom Weihnachtsmann gewünscht?“ Eva lachte schallend.

„Nicht Carsten in persona, den kannte ich doch damals noch gar nicht.“ Leicht beleidigt verzog Sophie die Lippen.

„Warte mal.“ Lidia runzelte die Stirn. „Davon hast du doch mal erzählt. Hast du nicht irgendwann zum Geburtstag so was gemacht? Eine E-Mail an den Weihnachtsmann oder so?“

„Exakt!“ Sophie lächelte sogleich wieder. „Es war mein achtzehnter Geburtstag, und ich hatte mit meiner Schwester Tessa gefeiert. Wein hat damals auch eine große Rolle gespielt, aber das ist ja mal egal. Tessa hat damals wegen Tom eine schwere Zeit durchgemacht und … Na ja, ich habe jedenfalls aus einer Laune heraus vorgeschlagen, mir meinen zukünftigen Ehemann vom Weihnachtsmann zu wünschen. Wir haben sogar gewettet, und ich habe gewonnen.“ Sie grinste breit. „Denn genau zehn Jahre später zu Weihnachten, so wie ich es mir gewünscht hatte, hat Carsten mir den Heiratsantrag gemacht. Wenn das nicht eine pünktliche Lieferung ist, was dann?“

„Das kann auch Zufall gewesen sein“, wandte Eva ein.

„Oh nein, bestimmt nicht, denn am ersten Weihnachtsfeiertag erhielt ich tatsächlich eine Mail vom Weihnachtsmann, in der er mir und Carsten viel Glück für unsere gemeinsame Zukunft gewünscht hat.“

„Du machst Witze!“ Eva starrte sie verblüfft an, dann warf sie einen skeptischen Blick auf das Internetportal des Weihnachtsmannes. „Das da ist die Seite, über die ihr die Mail geschickt habt?“

„So ist es.“

„Wer weiß, was für Daten die im Hintergrund über dich abgreifen! Vielleicht installieren sie auch ein Spionprogramm auf dem Computer.“

„Unsinn!“ Sophie winkte ab. „Das ist ein ganz normales ­E-Mail-Formular. Du musst nur versichern, dass du die E-Mail-Adresse, unter der du ihnen schreibst, behältst, bis sich dein Wunsch erfüllt hat. Carsten hat die Seite überprüfen lassen. Er beschäftigt in der Firma mehrere Computer- und Internetexperten, und die konnten keinerlei Späh- oder Schadprogramme finden.“

„Bist du sicher?“ Misstrauisch beäugte Eva das Formular, das Sophie angeklickt hatte.

„Vollkommen sicher. Komm schon, dir kann nichts Schlimmes passieren. Höchstens, dass dir Mr. Right begegnet, und damit kannst du doch bestimmt gut leben, oder?“

„Wo sie recht hat, hat sie recht.“ Lidia schmunzelte. „Schaden kann es nicht. Noah hat als Kind auch mal einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann geschrieben, und auch wenn es ziemlich lange gedauert hat, sind seine Wünsche alle in Erfüllung gegangen. Nein, wirklich! Er hat mir den Wunschzettel gezeigt.“

„Er hat ihn nicht mal abgeschickt? Wie konnte der Weihnachtsmann dann davon wissen?“ Eva legte den Kopf schräg.

„Der Weihnachtsmann sieht und hört alles, genau wie das Christkind, das haben wir doch schon als Kinder gelernt. Man muss nur daran glauben.“ Sophie zwinkerte ihr zu, dann drehte sie den Laptop ein wenig in Evas Richtung. „Na los, schreib schon! Oder hast du Angst, dein Wunsch könnte tatsächlich in Erfüllung gehen?“

„Davor brauche ich keine Angst zu haben, weil es nicht geschehen wird. Schon gar nicht bis Weihnachten, das sind nämlich nur noch sieben Wochen, und so schnell findet nicht mal Santa Claus den richtigen Mann für mich.“ Lachend setzte Eva sich in den anderen Sessel und zog den Laptop auf den Schoß. „Aber bitte, damit es nicht heißt, ich sei eine Spielverderberin. Was schreibt man denn da so? Ich habe noch nie einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann geschrieben.“

„Wirklich noch nie?“ Erstaunt hob Lidia den Kopf. „Auch nicht, als du noch klein warst? Ich habe schon Wunschzettel gemalt, als ich noch nicht schreiben konnte, und meine Eltern haben sie mit denen meiner Geschwister zusammen immer pflichtschuldigst abgeschickt. Per Post wohlgemerkt. Wenn ich es recht bedenke, sind wohl auch meine Wünsche so gut wie alle in Erfüllung gegangen. Obwohl ich mich gar nicht mehr so genau erinnern kann, was auf den Wunschzetteln alles draufstand.“

„Meine Eltern haben mir den Glauben an den Weihnachtsmann oder das Christkind schon ausgetrieben, bevor ich wusste, wer die beiden überhaupt sind.“

„Wie traurig, dass manche Eltern so etwas tun.“ Mitfühlend streichelte Lidia über Evas Arm.

Eva zuckte nur mit den Achseln. Ihre Wunschzettel waren immer auf direktem Weg an die Einkäuferin ihres Vaters gegangen, doch das brauchten ihre Freundinnen nicht zu erfahren. Niemand wusste, dass ihre Eltern steinreich waren, und dabei würde es auch bleiben, solange es irgendwie ging.

„Wie sieht dein Mr. Right eigentlich aus, Eva?“ Interessiert musterte Lidia sie. „Groß, dunkel, verwegen?“

Eva grinste. „Das ist wohl eher dein Typ.“

Alle drei Frauen kicherten.

„Eigentlich ist es mir egal, wie ein Mann aussieht, wenn er einen guten Charakter hat.“

„Pfff.“ Sophie warf ihr einen bezeichnenden Blick zu. „Nichts gegen einen guten Charakter, aber das nehme ich dir nicht ab. Du würdest doch nicht jeden potthässlichen Quasimodo toll finden, auch wenn er noch so nett ist, oder?“

Eva hob die Schultern. „Was man von schönen Männern hat, durfte ich bei André erleben. Das hat mir gereicht.“

„Ach, man darf nicht alle gut aussehenden Kerle über einen Kamm scheren“, widersprach Lidia. „Schau dir unsere Ehemänner an, die sind wirklich prachtvolle Exemplare und haben trotzdem einen guten Charakter.“

„Mag sein, aber so einen zu finden ist wie ein Lottogewinn.“

„Was hat André denn eigentlich damals angestellt, dass ihr so schnell wieder auseinander wart? Anfangs sah es doch ziemlich vielversprechend aus. Hat er dich betrogen?“ Sophie blickte sie erwartungsvoll an.

Eva biss sich auf die Unterlippe. „Nein. Ich … äh … habe die Notbremse gezogen, das ist alles.“

„Was soll das denn heißen?“ Verwundert sah Lidia sie an.

„Er hätte sowieso bald genug von mir gehabt, da bin ich ihm zuvorgekommen.“ Eva schluckte und spürte, wie sich ihre Wangen erwärmten. „Er war ziemlich beleidigt deswegen. Wahrscheinlich, weil er nicht daran gewöhnt ist, dass die Frau ihn zuerst abserviert, aber eine Dosis seiner eigenen Medizin hat ihm bestimmt mal gutgetan.“

„Deshalb hackt ihr seither dauernd aufeinander herum?“ Sophie kräuselte die Lippen.

„Das hat sich halt so ergeben. Er war sauer, das sagte ich doch.“ Eva zog den Kopf zwischen die Schultern. Dass sie in Wahrheit die Affäre beendet hatte, damit sie sich nicht Hals über Kopf und unwiderruflich in André verliebte, verschwieg sie tunlichst. Das war lange vorbei und ging niemanden außer ihr selbst etwas an.

„Nur sauer?“, hakte Lidia vorsichtig nach.

„Was denn sonst noch?“

„Vielleicht war er ja auch verletzt“, schlug Sophie vor. „Das könnte ich verstehen, wenn ihm etwas an dir lag.“

Eva stieß ein etwas zu schrilles Lachen aus. „André und verletzt? Das würde ja voraussetzen, dass er ein Herz besitzt. Nein, er war beleidigt und wütend, dass ich ihm den Laufpass gegeben habe, bevor er das bei mir tun konnte.“

„Also ein Herz hat er schon“, verteidigte Lidia ihn. „Er ist ein sehr netter Mann und sehr hilfsbereit und zuvorkommend.“

„Hat er dir nicht auch mal nachgestellt?“ Eva sah ihre Freundin mit zusammengekniffenen Augen an.

Lidia lachte. „Ja, früher mal. Das ist typisch für ihn, aber ich bin nie darauf eingegangen, und wenn man davon mal absieht, bin ich immer wunderbar mit ihm ausgekommen. Er und Noah sind gute Freunde, und André hat uns viel beim Renovieren unseres Hauses geholfen. Für gefühlskalt halte ich ihn nicht. Er ist eben ein Schürzenjäger, aber ein liebenswerter.“

„Mhm.“ Eva verzog spöttisch die Lippen. „Liebenswert genug, dass er sich in Lichtgeschwindigkeit mit irgendeinem Mäuschen getröstet hat. Wenn ich auch nicht glaube, dass er Trost gebraucht hat.“

„Woran hast du denn gemerkt, dass du die Notbremse ziehen musstest, wie du es nennst?“ Lidia leerte den kleinen Rest Wein in ihrem Glas in einem Schluck und stellte es dann beiseite. „Hat er angefangen, dich zu vernachlässigen oder so etwas?“

Eva dachte kurz nach. „Nein, das nicht gerade, aber er war immer öfter so merkwürdig schweigsam und wie abwesend. Manchmal auch gereizt und unleidlich. Wir haben uns immer häufiger in die Wolle gekriegt, und auch wenn der Versöhnungssex toll war – da hast du recht, Sophie –, wusste ich doch gleich, dass etwas nicht stimmt. Ich sehe mich gegenüber einem Mann ungern in der Opferrolle, deshalb habe ich gehandelt und einen Schlussstrich gezogen, hart und glatt.“

„Männer!“ Sophie seufzte. „Schade, dass manche von ihnen sich in Beziehungen derart unmöglich benehmen. Weißt du was, schreib doch auf den Wunschzettel auch gleich mit drauf, dass André für sein Verhalten die passende Quittung kriegen soll!“

Eva kicherte. „Kann man sich auch für andere Menschen etwas wünschen?“

„Warum denn nicht?“ Sophie deutete auf das E-Mail-Formular. „Die Idee gefällt mir immer besser. So nett André auch ist, ich mag es nicht, dass er meine Freundin so blöd behandelt hat. Also soll er kriegen, was er verdient hat.“

„Gut gebrüllt, Löwin!“ Lidia gluckste vergnügt.

Eva sah erst Sophie, dann Lidia auffordernd an. „Also gut, dann mal los. Ihr diktiert, und ich schreibe.“

2. Kapitel

„Nanu, Elfe-Sieben, was machst du denn da?“ Verwundert blieb Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, mitten in seinem Büro stehen. Er trug einen Korb mit der Tagespost vor sich her, den er jedoch vollkommen vergaß, als er die kleine Elfe an seinem Computer erblickte. Sie war seit einigen Jahren seine Assistentin und immer gut gelaunt, doch nun saß sie vor dem Bildschirm und wischte sich ein ums andere Mal die Tränen aus den Augen.

Schniefend sah sie zu ihm auf. „Ich bin gerade ein bisschen durchs Internet gesurft, und schau mal, was ich dabei entdeckt habe. Der arme Kleine! So einsam und abgemagert. Er tut mir schrecklich leid!“

Erschrocken trat Santa Claus näher, stellte den Korb ab und warf einen Blick auf den Bildschirm. „Du liebe Zeit, wen meinst du denn?“

„Na ihn!“ Elfe-Sieben deutete auf den Livestream von der Erde, den sie aufgerufen hatte. Zu sehen war ein kleiner Hund mit struppigem dunkelbraunem, an einigen Stellen fast schwarzem Fell und vier weißen Pfötchen, der erbarmungswürdig dünn und krank aussah. Zitternd drückte er sich zwischen zwei Mülltonnen und kaute auf einem Kanten Brot herum, den er offenbar irgendwo gefunden hatte. „Der muss noch ganz jung sein, aber scheußlich verwahrlost. Bestimmt hat ihn irgendein herzloser Mensch ausgesetzt, und jetzt muss er so schrecklich hungern und leiden.“

Betroffen sah der Weihnachtsmann dem kleinen Hund für eine Weile zu. „Das ist wirklich traurig. In seinem Zustand wird er nicht mehr allzu lange überleben.“

„Können wir nichts für ihn tun?“ Flehend blickte Elfe-Sieben zu ihm auf, doch der Weihnachtsmann hob nur die Schultern. „Ich könnte zwar Elf-Siebzehn zu ihm schicken, aber was soll das bringen? Wir können ihn nicht durchfüttern, dann müssten wir das auch mit allen anderen leidenden Wesen auf der Erde tun.“

„Aber wir könnten ein Zuhause für ihn finden“, schlug die Elfe vor. „Einen Menschen, der sich um ihn kümmert. Das haben wir doch zu Weihnachten schon oft getan.“

„Das haben wir“, stimmte Santa Claus ernst zu. „Doch ich fürchte, dass der Kleine es nicht mehr bis Weihnachten schafft.“

„Ich möchte ihm so gerne helfen!“ Elfe-Sieben wischte sich erneut die Tränen von den Wangen und nahm dankbar das Taschentuch entgegen, das der Weihnachtmann ihr reichte. Geräuschvoll schnäuzte sie sich.

Santa Claus seufzte aus tiefstem Herzen. Jetzt, wo er den kleinen Hund gesehen hatte, ging es ihm ähnlich. „Wir überlegen uns etwas.“

„Aber wir müssen uns beeilen!“ Elfe-Sieben stand zögernd auf und griff nach dem Korb mit der Post. „Der Kleine sieht so elend aus. Nicht dass er erfriert. Die Nächte sind schon ziemlich frostig.“

„Ich weiß.“ Der Weihnachtsmann tippte etwas in den Computer ein und legte den Livestream auf einen der LCD-Bildschirme an der großen Videowand. In dem Moment ertönte ein leises Glöckchenklingeln aus dem Computerlautsprecher. „Nanu!“ Rasch schaltete er auf sein E-Mail-Programm. „Was haben wir denn da? Siebzehn neue E-Mails? Hast du das Mailpostfach heute noch nicht durchgesehen, Elfe-Sieben?“

„Äh, nein.“ Die Elfe wurde rot. „Entschuldige. Das wollte ich eigentlich vorhin tun, aber dann bin ich bei dem Hund hängen geblieben und habe die E-Mails ganz vergessen.“

„Ts, ts, ts.“ In gespielter Strenge hob Santa Claus den Zeigefinger, dann sah er die Mails durch. Nach einem Moment runzelte er leicht die Stirn. „Ich muss Elf-Vierzehn Bescheid sagen, dass er den Spamfilter neu justiert. Wir haben schon wieder neun Mails von Spam-Robotern über das Formular auf der Homepage. Sehr ärgerlich. Ich finde … Moment mal, was ist das denn?“, unterbrach er sich und öffnete eine der eingegangenen E-Mails. Aufmerksam las er den Text. „Das ist ja ein Ding! Elfe-Sieben, schau dir das an!“

Die Elfe eilte zu ihm und las ebenfalls den Text auf dem Bildschirm. „Ist das etwa die Eva aus der kleinen Stadt im Rheinland? Dort, wo wir schon so viele große Weihnachtswünsche erfüllt haben?“

„Genau die. Sie arbeitet in der Sozialstation, in der auch Noah und Lidia angestellt sind.“

„Und in der Elena vergangenes Jahr Tanzunterricht gegeben hat, wegen dieses Benefizballs“, ergänzte Elfe-Sieben. „Ich dachte, Eva lebt jetzt in London.“

„Dort war sie offenbar nur auf Zeit.“ Der Weihnachtsmann rieb sich nachdenklich übers Kinn. „Sag mal, wo genau befindet sich eigentlich dieser kleine Hund?“

Erstaunt hob die Elfe den Kopf. „In Köln, glaube ich. Moment mal, glaubst du etwa …? Aber Eva hat sich keinen Hund gewünscht, sondern Mr. Right, und ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich so ernst gemeint hat. Sie schreibt doch selbst, dass sie mit ihren Freundinnen zu viel Wein getrunken hat.“

„Das ist nebensächlich.“ Der Weihnachtsmann rieb sich die Hände. „Ein Wunsch ist ein Wunsch ist …“

„… ein Wunsch, ich weiß.“

„Und muss erfüllt werden“, beendete Santa sein Motto. Seine Miene hellte sich immer mehr auf. „Erinnerst du dich noch an die Ereignisse um Lidia und Noah vor zwei Jahren?“

„Ja, selbstverständlich.“ Fragend sah die Elfe zu ihm auf. „Was führst du im Schilde, Santa? Du siehst aus, als hättest du eine tolle Idee.“

„Und wie ich die habe! Ruf bitte die Elfenbrigade zusammen, ich berufe eine sofortige Sitzung ein. Wir müssen uns beeilen, damit mein Plan nicht zu spät für den kleinen Hund kommt … und für Eva und ihren Mr. Right.“

„Sag bloß, du weißt schon, wer das sein soll!“

„Wissen – ist zu viel gesagt, aber ich habe da so eine Eingebung. Etwas, was mich schon vor zwei Jahren gezwickt hat, aber damals war es wichtiger, Noah und Lidia zu helfen. Außerdem hatte ich da auch noch keinen konkreten Wunsch zu erfüllen.“

„Also gut, ich rufe die Elfen zusammen.“ Elfe-Sieben war bereits an der Tür. „Hoffentlich funktioniert der Plan, den du dir ausgedacht hast.“

„Ausgedacht habe ich ihn noch gar nicht“, murmelte Santa Claus, nachdem die Elfe das Zimmer verlassen hatte. „Aber mir wird schon etwas Passendes einfallen. Wäre doch gelacht!“ Entschlossen legte er auch noch einen Livestream aus der Sozialstation und Evas Wohnung auf den Bildschirm an der Wand, der sich gleich neben dem mit dem süßen kleinen Hund befand. Gedankenverloren beobachtete er für einige Minuten die Vorgänge in der Sozialstation. Was er dort sah, entsprach exakt seinen Erwartungen, und seine Augen begannen vergnügt zu glitzern. „Wäre doch gelacht!“, wiederholte er lächelnd.

3. Kapitel

„Komm, Kleiner, das schaffst du!“ Zusammen mit Elf-Zwei und Elfe-Acht half Elf-Siebzehn dem kleinen Hund auf die Lade­fläche des Pick-ups und zog die Abdeckplane über ihnen zurecht, damit niemand sie sehen konnte.

Warum tut ihr das? Der kleine dunkelbraune Hund mit den weißen Pfötchen, gerade ein knappes Jahr auf dieser Erde, keuchte ein wenig vor Anstrengung. Er hatte kaum Kraft, sich aufrecht zu halten, obwohl Elf-Siebzehn, der die Tiersprache am besten beherrschte, ihm Wasser und einige Leckerchen gegeben hatte. Ich bin so müde, ich möchte nicht mehr leben. Es ist alles viel zu anstrengend.

„Oh nein, so etwas darfst du nicht einmal denken!“ Betroffen streichelte der Elf dem Hund über das struppig-verfilzte Fell, das sich über den Rippen spannte. „Du darfst nicht aufgeben, mein Kleiner. Wir finden ein schönes Zuhause für dich.“

Ein Zuhause? Matt schloss der Hund die Augen. Ich weiß gar nicht, was das ist. Mich will doch sowieso niemand. Mein erstes Herrchen hat mich meiner Mama weggenommen, als ich noch ganz klein war, und hat mich an eine Frau verkauft, die zuerst noch ganz lieb zu mir war. Und die anderen Menschen aus ihrem Rudel auch. Aber dann haben sie mich eines Tages in einen Wald neben einer großen Straße gebracht und an einem Baum festgebunden. Ich dachte, sie wollten nur mal kurz weg, aber sie sind nie wieder zurückgekommen. Ich hatte solche Angst! Und Durst. Irgendwann habe ich es geschafft, mich loszumachen, und seitdem laufe ich einfach so rum. Wohin ich auch komme, jagen die Menschen mich weg oder reden vom Tierheim. Dahin will ich aber nicht, denn von anderen Hunden auf der Straße habe ich gehört, dass es dort gar nicht schön ist. „Hundegefängnis“ nennen sie das.

„Ach, du Armer.“ Traurig tätschelte Elfe-Acht den Hund hinter den Ohren. „Aber so schlimm ist das Tierheim auch wieder nicht. Zumindest hättest du dort nicht hungern müssen.“

Bringt ihr mich etwa jetzt ins Tierheim? Der kleine Hund sah traurig zu den Elfen auf. Macht euch nicht so viel Mühe. Ich habe doch sowieso kaum noch Kraft. Vielleicht schlafe ich irgendwann einfach ein und wache nicht mehr auf.

„Nein!“ Erschrocken umfasste Elf-Zwei seine Pfote und drückte sie sanft. „Nein, das darf auf gar keinen Fall passieren. Du musst kämpfen und am Leben bleiben. Wir haben Santa Claus versprochen, dass wir alles tun, damit du ganz bald dein neues Zuhause bekommst. Nicht im Tierheim, sondern bei lieben Menschen. Aber du musst dann auch etwas für uns tun, und das geht nur, wenn du stark bleibst.“

In den Augen des Hundes glomm ein Funken Neugier auf. Was muss ich denn tun? Und wer ist Santa Claus?

Elf-Siebzehn atmete auf und lächelte geheimnisvoll. „Das erklären wir dir jetzt, damit können wir uns die Zeit vertreiben, bis wir an unserem Ziel angekommen sind. Hör gut zu!“

4. Kapitel

„André, kannst du mir einen Gefallen tun?“ Arthur Mondoli, Leiter der Sozialstation, streckte den Kopf zur Küchentür ­herein und grinste breit, sodass sich seine strahlend weißen Zähne deutlich von seiner hellbraunen Haut abzeichneten. Er war Anfang fünfzig und halb Senegalese, halb Italiener. Seine dunklen Augen funkelten unternehmungslustig.

André Weißmüller grinste zurück. „Ich könnte mich überreden lassen. Was gibt es denn?“ Er legte das Wiegemesser zur Seite, mit dem er gerade Kräuter für den Eintopf gehackt hatte, den sie heute für ihre Schützlinge zubereiteten, und wischte sich die Hände an einem Küchentuch trocken. „Lisette, übernimmst du mal bitte?“ Er winkte die zweite Köchin der Station zu sich, eine rundliche Frau Ende vierzig mit schwarzen, zu einem kurzen Zopf gebundenen Haaren und leicht geröteten Wangen.

„Na, sicher doch, geh schon. Hallo, Chef.“ Sie zwinkerte Arthur zu.

„Hallo, Lisette.“ Arthur nickte freundlich, wandte sich aber gleich wieder an André. „Ich muss, wie du weißt, morgen Abend zu dem Theaterstück, das Belinda mit ihrer Klasse aufführt.“

„Ja, ist mir bekannt.“ André lächelte. „Ich hoffe, ihr macht mindestens tausend Fotos.“

„Wir nehmen das Ganze auf Video auf, was dachtest du denn!“ Arthur lachte, wurde aber gleich wieder ernst. „Meine Eltern kommen auch und haben sich jetzt etwas früher als gedacht angemeldet, nämlich heute schon. Sie haben ganz kurzfristig einen extrem günstigen Flug bekommen, und ich muss gleich zum Flughafen und sie abholen. Deshalb kann ich nachher nicht noch mal herkommen, um abzuschließen. Würdest du das übernehmen? Ich weiß, du hast eigentlich schon um neun Uhr Feierabend, aber …“

„Klar, kein Problem.“ André nickte sofort.

„Ich hoffe, du hast kein Date oder so, das du deswegen absagen musst.“

„Habe ich nicht.“

„Ich wollte ja Eva fragen, aber sie ist im Großmarkt einkaufen und hat anscheinend ihr Handy nicht an, oder ihr Akku ist leer. Jedenfalls kann ich sie nicht erreichen.“

„Schon gut, ich übernehme das.“ André nahm seine dunkelgrau gerahmte Brille von der Nase und hielt sie prüfend gegen das Licht, dann setzte er sie wieder auf. „Ich hatte sowieso nichts vor. Vielleicht schaue ich mir nachher mit Walter, Theo und den anderen das Bundesligaspiel an.“

„Seit wann bist du Fußballfan?“ Erstaunt runzelte Arthur die Stirn.

„Bin ich nicht, aber zusammen mit den alten Herrn von der Straße wird das bestimmt witzig.“

„Wie du meinst. Danke.“ Erleichtert wandte sich Arthur zur Tür. „Ach ja, sag Eva bitte, dass die Lieferung mit der neuen Bett- und Tischwäsche vorhin gekommen ist. Sie soll aber warten, bis Bettina morgen früh da ist, bevor sie mit dem Beziehen der Betten beginnt. Sie muss nicht alles allein machen.“

„Mhm.“ André ging zu seinem Arbeitsplatz zurück. „Dann sage ich ihr besser genau das Gegenteil, damit sie tut, was du angeordnet hast.“

„Zankt euch nicht dauernd!“

„Ich zanke mich nicht.“ André schnaubte spöttisch. „Sie ist diejenige, die grundsätzlich das Gegenteil von dem tut, was ich ihr sage. Ich reagiere nur entsprechend.“

„Ihr seid unverbesserlich, alle beide.“ Kopfschüttelnd verließ Arthur die Küche.

„Da bin ich ganz seiner Meinung.“ Lisette warf ihm einen mütterlich strengen Blick zu. „Lass das arme Mädchen in Ruhe.“

„Ich tue ihr doch gar nichts!“ Andrés Miene verfinsterte sich eine Spur. „Sag dem armen Mädchen lieber mal, dass sie mich in Ruhe lassen soll.“

„Tut sie das denn nicht?“ Aufmerksam musterte Lisette ihn.

„Das weißt du doch so gut wie ich. Sie ist es, die mich angreift, nicht umgekehrt. Meistens jedenfalls.“

„So, so.“ Lisette schmunzelte. „Ich glaube, ihr habt beide euren Spaß an den ständigen Streitereien.“

„Spaß nennst du das?“ André hustete. „Da kann ich mir aber ganz deutlich etwas Schöneres vorstellen.“

„Komm schon, als ob du nicht froh gewesen bist, als sie aus London zurückgekommen ist!“

„Ich war für Arthur und Bettina froh, weil sie Eva hier brauchen.“

„Von mir aus.“ Lachend winkte Lisette ab. „Euch beiden ist nicht zu helfen. Du solltest ihr anbieten, ihr mit der Bettwäsche zu helfen. Vielleicht stimmt sie das milde.“

„Den Teufel werde ich tun.“ André griff nach einem Bund Karotten und begann sie zu putzen. „Wirf mal einen Blick in den Aufenthaltsraum. Wie viele Leute haben wir denn heute schätzungsweise zu beköstigen? Ich glaube, wir müssen allmählich wieder doppelte Portionen zubereiten. Ab November kommen immer mehr Leute zu uns.“

„Gut vom Thema abgelenkt.“ Lisette stieß ihm auf dem Weg zur Tür, die direkt in den Aufenthaltsraum führte, den Ellenbogen in die Seite. „Jetzt schon um die zwanzig“, sagte sie, nachdem sie die Anwesenden durchgezählt hatte. „Also sollten wir mal vorsichtig geschätzt für fünfunddreißig kochen.“ Sie schloss die Tür wieder. „Du weißt, dass ich gleich nach dem Essen auch wegmuss? Ich besuche meine Mutter im Krankenhaus. Sie ist ganz elend wegen ihres gebrochenen Fußes und hat ein bisschen Angst vor der OP übermorgen. Ich muss sie etwas aufheitern.“

„Ja, ja, ich komme schon zurecht.“ André konzentrierte sich auf das Gemüse und versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass er den Abend dann wohl mit Eva gemeinsam hier in der Station verbringen musste. Die Aushilfen machten alle schon spätestens um acht Uhr Feierabend, doch sein Dienst ging, wenn er die Spätschicht hatte, bis neun und heute sicherlich mindestens bis elf Uhr. Eva hatte diese Woche auch die späte Schicht und würde sich vermutlich verpflichtet fühlen, ihm beim Aufräumen und Bestücken der großen Industriespülmaschine zu helfen. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn er diese Arbeit ganz allein tun könnte, denn in ihrer Gegenwart verlor er allzu rasch die Beherrschung – in vielerlei Hinsicht. Das konnte und wollte er nicht riskieren.

***

Geschickt lenkte Eva den kleinen Transporter rückwärts in den Hof der Sozialstation und hielt dicht vor dem Hintereingang des Haupthauses. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits kurz nach neun war, später als geplant. Sie hatte etliche Besorgungen machen müssen und war anschließend noch für den Wocheneinkauf zum Großmarkt in Köln gefahren. Dort hatte sie eine halbe Ewigkeit an der Kasse angestanden. Offenbar fing das Weihnachtsgeschäft dieses Jahr besonders früh an. Einzig die Beschallung mit wunderbarer Musik hatte sie aufgeheitert, so sehr, dass sie die Kassiererin nach dem Namen der CD gefragt hatte. Diese hatte sogar extra den Marktleiter kommen lassen, der Eva verraten hatte, dass es sich um eine schon etwas ältere Winter-CD der Interpretin Loreena McKennitt handele, die sie sogar im Angebot hätten. Eva hatte bezahlt, die Lebensmittel in den Transporter geräumt und war dann noch einmal zurück in den Markt gelaufen, um die CD zu kaufen. Natürlich hatte sie dann zum zweiten Mal die lange Kassenschlange über sich ergehen lassen müssen, doch dafür hatte sie auf dem ganzen Rückweg wunderschöne winterlich-weihnachtliche Musik hören können.

Jetzt nahm sie die CD aus dem Player, legte sie in die Hülle zurück und packte diese in ihre Umhängetasche. Dann stieg sie aus und öffnete die rückwärtigen Türen des Transporters. Stöhnend blickte sie auf die Berge von Einkäufen, die alle noch ordentlich in Küche und Vorratsraum verstaut werden mussten. Um diese Zeit war bestimmt niemand mehr da, der ihr helfen konnte. Arthur wollte sie damit nicht belästigen, aber vielleicht war sein Sohn Toni noch da. Er war nur vier Jahre jünger als sie selbst und studierte Psychologie, hatte aber jetzt Semesterferien und half regelmäßig in der Station aus. Oder sie bat ein paar der Obdachlosen, die sicherlich um diese Uhrzeit noch im Aufenthaltsraum saßen, ihr zu helfen. Als sie die Hintertür aufstieß, die direkt in die Küche führte, verwarf sie diese Idee jedoch sogleich wieder. Die Verbindungstür zum Aufenthaltsraum stand offen, und sie vernahm eindeutige Geräusche einer Fußballübertragung.

Seufzend machte sie kehrt. Die alten Herren hatten kaum eine andere Freude als das gemütliche Beisammensein und gelegentliche Fernsehabende, da wollte sie sie nicht unterbrechen. Entschlossen griff sie nach der Kiste mit tiefgefrorenen Lebensmitteln, die sie gleich vornan gestellt hatte, und schleppte sie in den Vorratsraum. Mit geübten Handgriffen verfrachtete sie alles in eine der beiden großen Kühltruhen, klappte die Kiste zusammen und legte sie in ein Regal. Auf dem Weg nach draußen hörte sie Theo und Walter erboste Flüche über einen der Spieler ausstoßen und grinste in sich hinein. Wenigstens hatten sie ihren Spaß.

Sie schleppte zwei weitere Kisten nach drinnen und war gerade dabei, eine besonders schwere Box mit Konservendosen aus dem Inneren des Transporters zu zerren, als sie hinter sich Schritte vernahm und dann eine dunkle, hörbar verärgerte Männerstimme, die ihr prompt einen Stich versetzte, sosehr sie sich auch dagegen wappnete.

„Was in drei Teufels Namen tust du denn da? Warum sagst du uns nicht Bescheid?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schnappte André sich die bleischwere Box und trug sie ins Haus, als wöge sie nicht mehr als ein Sack Federn. Finster blickte sie ihm nach, dann hob sie die nächste Box aus dem Wagen und folgte ihm. „Woher soll ich denn wissen, dass du noch hier bist? Du hast doch schon längst Feierabend.“

„Hätte ich vielleicht gehabt, wenn du an dein Handy gegangen wärst.“ Rasch verteilte André die Konservendosen in einem Regal.

Eva griff überrascht in ihre Hosentasche und zog ihr Smartphone hervor. „Oh, Mist, der Akku ist schon wieder leer. Ich glaube, ich muss einen neuen kaufen. Der hier hält nicht mal mehr einen halben Tag.“ Sie schob das Handy zurück in die hintere Tasche ihrer Jeans. Da André mittlerweile den Inhalt ihrer Kiste dem Regal hinzufügte, verschränkte sie die Hände vor dem Bauch und sah ihm zu. „Hat Arthur versucht, mich zu erreichen?“

„Ja.“ Geräuschvoll klappte er die beiden Boxen zusammen. „Er musste zum Flughafen, seine Eltern abholen, die schon heute anstatt morgen zu Besuch gekommen sind.“

„Er wollte, dass ich länger bleibe?“

„Wie du siehst, habe ich das übernommen.“ Er ging zum Auto zurück, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm erneut zu folgen.

Fast schon reflexartig stellte sie die Stacheln auf. „Ich hoffe, du musstest deswegen kein heißes Date absagen mit, wie hieß sie noch mal, Tiffy?“

„Tiffany.“ Er warf ihr einen kühlen Blick über die Schulter zu. „Und was, wenn dem so wäre? Willst du mich vielleicht dafür entschädigen?“

„Pfff, du träumst wohl.“ Sie kletterte in den Transporter und griff nach den Toilettenpapier-Paketen. „So schlecht kann mein Gewissen gar nicht werden.“

„Das könnte es aber ruhig, Tiffany ist nämlich sehr nett.“ André feixte.

Eva wich dem herausfordernd glitzernden Blick aus seinen strahlend blauen Augen aus und trug die Pakete umständlich nach drinnen.

Augenblicke später war er dicht hinter ihr, auf dem Arm einen Stapel Sandwichbrote. „Aber wenn du es genau wissen willst, wir waren nicht verabredet, sie hat nämlich einen festen Freund.“

„So ein Ärger aber auch. Bist du glatt zu spät gekommen?“ Eva wusste nicht, weshalb sie so bissig reagierte. Um die Wirkung etwas abzumildern, fügte sie hinzu: „Du kannst gerne jetzt Feierabend machen. Ich kümmere mich hier um den Rest und schließe hinter den Kameraden ab, sobald das Spiel vorbei ist.“

„Red keinen Unsinn.“ André ging erneut hinaus zum ­Wagen. „Du brauchst dich mit dem schweren Zeug hier nicht abzuschleppen. Ich trage den Rest hinein.“

„Ich hab es alleine geschafft, das ganze Zeug im Wagen zu verstauen, da werde ich es wohl auch schaffen, es wieder auszuladen.“

Er hielt inne und warf ihr einen gereizten Blick zu. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du unerträglich stur bist? Geh nach Hause. Du hast dich heute genug abgeschleppt. Und komm ja nicht auf die Idee, die Körbe mit der Bett- und Tischwäsche anzurühren, die drüben in der Waschküche stehen. Arthur hat gesagt, dass du damit warten sollst, bis Bettina morgen da ist.“

Eva hob den Kopf. „Die neue Wäsche ist da? Perfekt! Dann könnte ich eben noch …“

„Gar nichts könntest du.“ André stellte die Kiste mit Gemüse ab, die er gerade angehoben hatte, sprang aus dem Transporter und hielt Eva gerade noch rechtzeitig am Arm fest, bevor sie zurück ins Haus eilen konnte. „Hast du mir nicht zugehört? Du sollst die Sachen liegen lassen. Es ist schon zwanzig vor zehn. Feierabend. Für dich jedenfalls.“

Eva erstarrte, als sie seinen festen Griff um ihren Arm spürte. „Ich mache Feierabend, wann es mir passt.“

„Verschwinde, Eva. Ich kann dich hier nicht brauchen, wenn du wegen Erschöpfung giftig wirst.“

„Ich bin nicht giftig, sondern genervt. Lass mich endlich los, sonst kann ich nämlich nirgendwohin gehen.“

Einen langen Moment starrten sie einander wütend an, dann ließ André sie abrupt los. „Mach doch, was du willst“, knurrte er und schnappte sich die Gemüsekiste.

Schweigend luden sie den Rest der Einkäufe aus und verteilten sie auf ihre Bestimmungsorte. Eva atmete auf, als sie die Türen des Transporters zuschlug. „Ich hasse das“, murmelte sie.

„Was hasst du? Einkaufen? Warum fährst du dann immer wieder? Das könnte doch auch Bettina erledigen.“ Erstaunt sah André sie an.

„Nicht das Einkaufen, das macht mir sogar Spaß“, gab sie zögernd zu. „Das Ausladen und Wegräumen geht mir auf den Keks. Dafür müsste es Maschinen geben.“

„Du hast doch mich.“ Er grinste. „Stets zu Diensten, Miss Brummbär.“

„Lass mich in Ruhe, André.“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Tue ich das etwa nicht? Ich fahre den Wagen rasch rüber auf seinen Standplatz. Du kannst jetzt wirklich nach Hause gehen. Hier ist heute nicht mehr viel zu tun.“

„Mhm.“ Sie hatte keine Lust mehr auf eine Konfrontation. „Ich hole nur schnell meine Sachen.“ Da sie ihre hellgraue Jacke und die Umhängetasche an die Garderobe gehängt hatte, eilte sie ins Haus, um beides zu holen. Als sie zurückkehrte, stieg André gerade in den Transporter und ließ den Motor an. Sie wollte sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg zu ihrem knallroten Toyota machen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im diffusen Licht der Hinterhofbeleuchtung wahrnahm. Da der Transporter im selben Moment anrollte, blieb ihr fast das Herz stehen. „Halt, stopp, André! Stopp! Oh mein Gott!“ So schnell sie konnte, hechtete sie an dem Transporter vorbei und stellte sich ihm in den Weg.

André trat heftig auf die Bremse und kam dicht vor ihr zum Stehen. „Hey, spinnst du? Was ist denn jetzt los? Bist du ­lebensmüde, oder was?“

„Oh Gott, oh Gott, beinahe hättest du ihn überfahren. Der arme kleine … Ach du Scheiße! Wie siehst du denn aus, du armes Wesen?“

„Hast du den Verstand verloren?“, schimpfte André und sprang aus dem Wagen. „Was zum Teufel …? Shit, was ist das denn? Ist der hier aus der Hecke gekommen?“ Mit zwei Schritten war er neben ihr und ging in die Hocke. „Der war absolut im toten Winkel.“

Eva kniete auf dem eiskalten Pflaster, nur etwa zwei Armlängen von einem dunklen, verfilzten, abgemagerten Etwas mit unglaublich großen, ängstlichen braunen Augen und verdreckten, aber deutlich erkennbar weißen Pfoten. „Ein Hund. Das ist ein Hund, André! Um Gottes willen, sieh nur, wie dürr und krank er wirkt.“

„Ein Streuner.“ André musterte das Tier eingehend. „So wie der aussieht, macht er es nicht mehr lange. Der scheint schon eine halbe Ewigkeit herumzustromern. Vielleicht hat ihn ­jemand ausgesetzt.“

„Ich hasse Menschen, die so etwas tun.“ Evas Stimme schwankte, und sie schluckte hart. Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Was machen wir denn jetzt? Wir können ihn doch nicht so laufen lassen.“

„Wir können versuchen, ihn einzufangen. Schnell laufen kann er bestimmt nicht mehr.“ Er rieb sich übers Kinn. „Ich kenne eine Tierärztin, die sich seiner annehmen kann. Aber vermutlich wird sie ihn einschläfern.“

„Oh nein, bitte nicht!“ Erschrocken sah Eva ihn von der Seite an. Allein die Vorstellung schnürte ihr die Kehle zu.

„Sieh ihn dir doch mal an.“ Andrés Stimme klang ruhig und vernünftig. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, überlebt er so oder so nicht.“

„Vielleicht ist ihm doch noch zu helfen. Ruf Fiona an. Verflixt, es ist schon so spät! Aber das ist ein Notfall, bestimmt hilft sie uns.“

„Du kennst Fiona?“ Überrascht erwiderte er ihren Blick und griff gleichzeitig nach seinem Handy.

„Natürlich kenne ich sie. Sie gehört zu Sophies und Lidias Clique. Zu unserer Clique. Ruf sie an!“

„Bin ja schon dabei.“ Er erhob sich und ging ein paar Schritte beiseite.

Der kleine Hund hatte sich indes kaum bewegt. Er starrte Eva einfach nur an.

Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe. Elf-Siebzehn hat gesagt, dass ich das so machen soll. Meine Güte, ist dieses Auto groß! Ich dachte schon, es würde über mich drüberrollen. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen. Ich bin so schwach, und mir ist so kalt. Aber du siehst irgendwie lieb aus. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt einen netten Menschen gesehen habe. Was macht denn der große Mann da jetzt? Mit wem redet er? Mir ist sooo kalt, entschuldige, dass ich ein bisschen weine.

Der Hund stieß ein klägliches Winseln aus, das Eva tief ins Herz schnitt. „Du armer Kleiner, tut dir etwas weh? Bestimmt ist dir furchtbar kalt, nicht wahr?“ Ohne weiter darüber nachzudenken, breitete Eva ihre Jacke auf dem Pflaster aus. Hinter sich hörte sie André leise in sein Handy sprechen, doch sie achtete nicht weiter auf ihn. All ihre Aufmerksamkeit war auf das elende kleine Wesen vor ihr gerichtet. „Komm, Kleiner, komm her. Ja, trau dich, leg dich auf die Jacke, die ist schön warm und weich. Komm!“ Mit einschmeichelnder Stimme lockte sie den Hund, der zunächst nicht reagierte, dann jedoch ganz vorsichtig näher kroch.

„Ich hole eine von Amors Decken“, sagte André hinter ihr. „Wir können den Kleinen gleich zu Fiona bringen. Sie bereitet alles vor.“

Eva antwortete nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf den Hund. Als dieser schließlich bis auf die Jacke gerobbt war, trat André näher und legte vorsichtig eine Decke über ihn. Der Kleine wehrte sich nicht. Eva glaubte sogar so etwas wie Dankbarkeit in seinen Augen zu lesen. „Ihm ist bestimmt furchtbar kalt. Und er sieht so verhungert aus!“

Ehe sie die Worte ausgesprochen hatte, stellte André bereits eine Schale Wasser neben der Schnauze des Hündchens ab und legte zwei Wurstenden dazu. „Kein Hundefutter“, sagte er leise. „Fiona meinte, dass er das vielleicht nicht anrührt. Wurst könnte ihn eher reizen.“

Der kleine Hund beäugte misstrauisch Futter und Wasser.

Ist das für mich? Wirklich? Darf ich?

„Nimm schon“, sagte Eva mit sanfter Stimme. „Du musst grässlich hungrig sein. Die Wurst ist lecker.“ Sehr vorsichtig schob sie ihm eines der Wurstenden zu, bis es fast seine Nasenspitze berührte.

Hungrig? Ja, ich bin sehr hungrig. Danke.

Der Hund winselte wieder und schnappte sich die Wurst, kaute aber lange darauf herum und spuckte sie mehrmals wieder aus, bis er sie so klein gebissen hatte, dass er sie schlucken konnte.

Das ist ganz schön anstrengend. Aber ich glaube, ich habe noch nie so etwas Gutes gefressen. Oder ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Jetzt habe ich Durst.

Der Hund robbte ein Stück zur Seite und tauchte seine Schnauze in den Wassernapf. Durstig trank er, dann sah er fragend von Eva zu André und legte schließlich erschöpft den Kopf auf die Vorderpfoten.

Und was jetzt? Ich bin so müde, und mir ist noch immer kalt.

„Kannst du ihn tragen?“ André deutete auf den Transporter. „Ich fahre den mal weg, und dann müssen wir deinen Wagen nehmen. Ich bin zu Fuß hier.“

„Ja, selbstverständlich. Komm, mein Kleiner, wir bringen dich jetzt zu Fiona, damit sie dir hilft, wieder gesund und kräftig zu werden.“ Sehr vorsichtig und achtsam näherte Eva sich dem Hund, doch dieser ließ sich ganz ohne Gegenwehr in die Decke wickeln und hochheben. „Wie leicht du bist“, murmelte sie. „Du Armer.“

Huch, was denn jetzt? Du trägst mich? Das ist mir ja noch nie passiert. Wohin gehen wir denn? In das Auto? Ach, bitte halt mich noch ein bisschen … ja, so auf dem Schoß ist schön. Du riechst so angenehm, das mag ich.

Eva schluckte und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen traten, als der kleine Hund ihr kraftlos über den Handrücken leckte. Augenblicke später setzte sich André bereits auf den Fahrersitz. „Schlüssel?“ Er drehte sich zu ihr um, und sie reichte ihm ihren Schlüsselbund.

„Hoffentlich kann Fiona etwas für ihn tun.“ Sie wischte sich verlegen eine Träne von der Wange, doch da hatte ­André sich schon wieder umgedreht und den Motor angelassen.

***

„Du kannst hier nicht viel tun, Eva.“ Fiona Sahler strich sich das brünette schulterlange Haar hinters Ohr. „Ich gebe ihm alle vier Stunden eine Infusion und halte ihn unter Beobachtung. Er braucht gutes Futter, Wärme und viel Schlaf, dann wird er vielleicht wieder.“

„Er braucht auch jemanden, der ihn lieb hat.“ Eva blickte traurig auf den kleinen Hund hinab, der wie erschlagen in einem Korb im Hinterzimmer der Tierarztpraxis lag und sie wieder mit diesen riesigen braunen Augen ansah.

Mich hat noch nie ein Mensch lieb gehabt. Gehst du jetzt weg? Er winselte leise. Geh nicht weg! Ich mag dich, weil du so gut riechst und so eine sanfte Stimme hast.

„Ich glaube, er will nicht, dass ich gehe.“ Eva hockte sich vor das Körbchen und streichelte den Hund vorsichtig, woraufhin er ihr wieder über die Hand leckte.

„Scheint fast so“, stimmte Fiona zu. „Aber du musst das wirklich nicht tun.“

„Ich bleibe heute Nacht bei ihm, wenn ich darf.“ Fragend sah Eva Fiona an, die daraufhin zögernd nickte. „Von mir aus. Wenn du wirklich willst. Er scheint dich zu mögen.“

„Ich mag ihn auch.“ Eva bemühte sich um eine nicht allzu zittrige Stimme. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich unsterblich in diese großen Hundeaugen verliebt.

„Das scheint Liebe auf den ersten Blick gewesen zu sein.“ Unbemerkt war André neben sie getreten und musterte sie von der Seite. Seine Stimme klang merkwürdig belegt und ließ ihren Herzschlag holpern, deshalb sah sie ihn vorsichtshalber nicht an, sondern räusperte sich umständlich.

„Er braucht einen Namen“, beschloss sie. „Wir können ihn doch nicht immer nur Hund nennen.“ Sie musterte den Kleinen nachdenklich. „Was für ein Name passt wohl zu dir?“

Der Hund hob den Kopf. Ich soll einen Namen bekommen? So was hatte ich auch noch nie. Doch, ganz früher mal, bei der Familie, da haben sie mich irgendwie genannt. Ich weiß nicht mehr wie.

„Socke.“ André deutete auf die weißen Pfötchen.

Überrascht sah Eva ihn an, dann blickte sie wieder auf den Hund. „Du hast recht.“ Sie gab es nur ungern zu, aber der Name war perfekt. „Er sieht aus, als trüge er weiße Söckchen.“

Was sind denn Söckchen? Ach egal. Der Name klingt gut.

Der Hund hob den Kopf wieder und hielt ihn etwas schräg. Seine Ohren zuckten leicht.

Fiona lachte leise. „Tja, damit wäre das wohl geklärt. Willkommen in meinen vier Wänden, Socke. Und herzlichen Glückwunsch zu deinem neuen Frauchen.“ Sie zwinkerte Eva zu. „Sie wird sich bestimmt gut um dich kümmern.“

5. Kapitel

Stöhnend griff Eva sich in den Nacken und blickte sich verwirrt um. Erst nach einem Moment erinnerte sie sich, wo sie sich befand. Mehr schlecht als recht lag sie auf der winzigen Zweisitzercouch in Fionas Gästezimmer. Ihre linke Hand war halb neben, halb auf den kleinen Hund gebettet, der sich in einem ovalen Plastikkörbchen auf einer grauen Decke zusammengerollt hatte. Es war noch dunkel; das einzige Licht kam von einem Strohstern mit LED-Beleuchtung, der am Fenster hing. Die zugezogenen Vorhänge dämpften das Licht jedoch stark. Fiona hatte das Gästebett frisch bezogen, aber Eva war lieber dicht bei Socke geblieben und dann auf der Couch eingeschlafen. Das rächte sich nun, ihre Schultermuskulatur fühlte sich regelrecht gefoltert an. Dennoch blieb sie noch liegen und fischte mit der freien Hand ihr Handy aus der Hosentasche. Der Akku würde sich bald verabschieden, wieder mal. Doch noch konnte sie zumindest die Uhrzeit ablesen. Es war kurz nach fünf.

Fiona hatte am Vorabend den Vorschlag gemacht, Socke zu ihr nach Hause zu bringen. Sie hatte zwar für Notfälle auch einen Raum hinter der Praxis, in dem sie übernachten konnte, doch in dem Haus, das sie mit ihrem Mann am Stadtrand bewohnte, war bedeutend mehr Platz, und alles, was sie für den Hund benötigte, konnte sie auch dorthin mitnehmen. Eva war einverstanden gewesen und hatte sogar André angeboten, mit ihrem Auto nach Hause zu fahren. Jetzt ärgerte sie sich ein wenig darüber, denn nun würde sie entweder die zwei Kilometer bis zu ihrer Wohnung am anderen Ende der Stadt laufen oder sich ein Taxi rufen müssen.

Erst einmal wollte sie sich aber versichern, dass es Socke gut ging. Sie spürte die Wärme, die von seinem kleinen ­mageren Körper ausging. Vermutlich hatte er es seit einer Ewigkeit nicht mehr so gemütlich wie hier gehabt. Als sie die Hand auf seinem Rücken bewegte, hörte sie ihn leise fiepen und spürte im nächsten Moment seine feuchte Nasenspitze an ihren Fingern.

Danke, dass du noch da bist, Eva. Ich kann es kaum glauben, dass du die ganze Nacht bei mir geblieben bist. Mir ist so wunderbar warm und kuschelig. Das Piksen gestern mit den Nadeln war schlimm, aber irgendwie fühle ich mich heute besser. Und hungrig, aber nicht mehr so schlimm mit Bauchschmerzen wie gestern noch.

„Hallo, mein Kleiner.“ Eva drehte sich auf die Seite, wobei sie zwar das Gesicht verzog, weil ihr Nacken sich so geschunden anfühlte, doch das war jetzt nebensächlich. Sie streichelte Socke sanft. „Geht es dir schon besser? Ich hatte solche Angst, dass es vielleicht schon zu spät sein könnte.“

Ich auch. Aber heute fühle ich mich gar nicht mehr so arg müde.

Sie lächelte, als Socke ein erneutes Winseln ausstieß, das nicht mehr so kläglich klang wie noch am vergangenen Abend. „Jetzt muss ich, fürchte ich, in den Zoofachladen gehen und ein paar Sachen für dich kaufen.“

Was denn für Sachen? Zoofachladen? Du willst mir was kaufen?

Sie spürte, wie Socke den Kopf hob und mit den Ohren zuckte. „Da staunst du, was? Ich auch, glaub mir. Bis gestern Abend hatte ich schließlich keine Ahnung, dass ich einen Hund adoptieren würde. Oh, verdammt.“ Siedend heiß fiel ihr ein, dass in ihrer Wohnung keine Haustiere gestattet waren, abgesehen von Wellensittichen und Hamstern. Katzen gingen, so glaubte sie sich zu erinnern, mit Sondergenehmigung auch, aber Hunde waren streng untersagt. „Ich muss mir etwas einfallen lassen“, sagte sie leise zu Socke. „Meine Vermieterin mag nämlich keine Hunde. Aber vielleicht kann ich sie überreden, dass du trotzdem bei mir einziehen kannst. Ich meine, du machst ja bestimmt keinen Krach und störst niemanden, und ich bin auch nur noch ein paar Wochen in der Wohnung. Vielleicht hat sie ja Verständnis.“

Verständnis für mich? Du willst mich wirklich behalten und mit zu dir nach Hause nehmen? So wirklich in echt?

Wieder fiepte Socke und leckte ihr über die Hand.

„Ich mach das schon, keine Sorge. Gleich heute Morgen gehe ich zu Frau Stralsund und frage sie, ob du übergangsweise in der Wohnung bleiben darfst, bis wir umziehen können. So lange bleibst du schön hier bei Fiona und lässt dich aufpäppeln, ja? Sie hat gesagt, dass du allerhöchstens ein Jahr alt sein kannst, und wenn du wieder ganz gesund und fit wirst, liegt ein schönes langes Hundeleben vor dir. Ich verspreche dir auch, dass du nie wieder Hunger haben oder frieren musst.“

***

„Das ist wirklich das Letzte!“, schimpfte Eva, als sie mittags ­gemeinsam mit Lisette die Küche der Sozialstation betrat. „Stell dir vor, sie ist sogar richtig pampig geworden. Ob ich noch bei Verstand wäre, hat sie gefragt, dass ich einen räudigen Straßenköter adoptieren will, noch dazu in ihr schönes sauberes Haus. Sie hat mir rundheraus verboten, dass ich Socke für die paar Tage bei mir aufnehme.“

Lisette schüttelte ebenfalls entrüstet den Kopf. „Das war wirklich unverschämt. Ich meine, sie hat zwar das Recht, dir ein Haustier zu untersagen, aber sich so im Ton zu vergreifen ist wirklich nicht schön. Sei froh, dass du diese Vermieterin bald los bist.“

„Was mache ich aber jetzt mit Socke?“ Verzweifelt raufte Eva sich ihr kurzes Haar. „Ich habe ihm versprochen, dass er bei mir bleiben darf, und jetzt so was!“

„Kann er nicht für die wenigen Tage bei Fiona bleiben? Sie kümmert sich doch bestimmt gerne um ihn.“

„Eben nicht. Sie und Michael fliegen kurz vor dem ersten Advent nach New York. Seine Eltern haben die beiden eingeladen. Das machen sie wohl alle zwei Jahre oder so. Sie müssen ihre Hündin Keks für diese Zeit schon bei Sophie unterbringen, die sich natürlich gerne um sie kümmert. Aber Socke braucht noch ganz viel Pflege, das kann niemand Sophie zumuten, immerhin hat sie ja auch eine kleine Tochter, die viel Aufmerksamkeit fordert. Und ich möchte mich, ehrlich gesagt, lieber selbst um Socke kümmern. Dass diese blöde Frau Stralsund aber auch so stur ist! Sie scheint Hunde geradezu zu verabscheuen. Unglaublich, dabei ist Socke so ein süßer Hund. Wenn er auch im Moment ziemlich schlimm aussieht. Aber wenn er erst wieder ganz gesund ist … Ich könnte sie erwürgen! Verflixt, warum kann meine neue Wohnung nicht jetzt schon freigegeben werden?“ Eva hatte sich derart in Rage geredet, dass sie nicht bemerkte, wie hinter ihr noch jemand die Küche betrat. Erst ein leises Räuspern veranlasste sie, sich erschrocken umzudrehen. Dabei wäre sie beinahe gegen André geprallt, der dicht hinter ihr stand und ihr lächelnd den Autoschlüssel vor die Nase hielt.

Immer noch erbost, obwohl nicht seinetwegen, schnappte sie sich den Schlüssel. „Ich hoffe, du hast keine Schramme in mein Auto gefahren.“

„Ach nein, weißt du, ich habe unterwegs nur ein paar Leitpfähle umgenietet und den Marktbrunnen gerammt. Nichts, was eine gute Werkstatt nicht im Handumdrehen wieder hinkriegen würde. Vor allen Dingen, wenn du dir etwas tief Ausgeschnittenes anziehst und ganz lieb Bitte, bitte sagst.“ Aus seinem Lächeln wurde ein leicht bissiges Grinsen.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist so ein Arsch.“

„Und du die Zauberhaftigkeit in Person.“ Er warf ihr einen bezeichnenden Blick zu. „Wie geht es Socke?“

„Gut.“ In seiner Gegenwart reagierte sie reflexartig spröde, doch als sie seinen ehrlich interessierten Blick sah, entspannte sie sich eine Spur. „Na ja, gut ist wohl ziemlich übertrieben, aber Fiona hat gemeint, er ist bald über den Berg, wenn es so weitergeht. Er ist noch jung und hat wahrscheinlich genügend Kraftreserven, um sich wieder vollständig zu erholen. Aber er braucht viel Zuwendung und Pflege.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ich habe keinen Platz für ihn, weil diese bescheuerte Tussi von Vermieterin nicht einfach …“

„Er kann bis zu deinem Umzug bei mir unterkommen.“

Verblüfft hielt sie inne. „Bei dir?“

„Ich habe eine Menge Platz, und wenn wir parallel Dienst haben, lässt Arthur ihn bestimmt auch gerne hierbleiben. Amor ist ja schließlich auch fast jeden Tag mit Noah oder Lidia hier. Vielleicht vertragen sich die beiden Hunde ja sogar gut und werden Freunde.“

Die Erleichterung, die Eva verspürte, war ihr beinahe peinlich, deshalb sträubte sie sich noch gegen die Idee. „Du brauchst das nicht zu machen, bloß weil …“

„Bloß weil was?“ Aufmerksam musterte er sie.

Sie schluckte nervös. „Bloß weil du ihn beinahe überfahren hast.“

„Deshalb tue ich es auch nicht. Ich wollte dir einen Gefallen tun. Dem Kleinen natürlich auch, denn der hat weiß Gott ein gutes Zuhause verdient. Und solange du ihn nicht bei dir einziehen lassen kannst, wohnt er eben bei mir. Keine große Sache.“

„Ich finde die Idee hervorragend“, mischte Lisette sich ein. „Ich habe dein Haus gesehen, André, und das Grundstück drum herum. Da ist eine Menge Auslauf. Für einen Hund dürfte das geradezu paradiesisch wirken.“

Eva wusste nur zu genau, wovon die Köchin sprach. André wohnte auf dem ehemaligen Bauernhof seiner Eltern. Diese ­bewohnten nach wie vor das Haupthaus, während er die riesige Scheune zu einem Loft auf zwei großzügigen Wohnebenen ausgebaut hatte. Im ehemaligen Stall hatte sich seine jüngere Schwester Danny mit ihrem Mann Falko und den beiden Kindern ein ebenso schönes Zuhause geschaffen. Da Falko eine eigene Schreinerei betrieb und auch Danny handwerklich und künstlerisch sehr begabt war, hatten sie die meisten Umbauarbeiten in Eigenregie durchgeführt und auch bei André tatkräftig mitgeholfen.

Eva hatte nicht wenige Nächte in Andrés Haus verbracht, in seinem hellen Schlafzimmer mit den großen Dachflächenfenstern und dem wunderbaren Panoramablick auf Wiesen und Felder mit dem Wald im Hintergrund. Manchmal hatten sie nachts noch auf dem Balkon gesessen und die Landschaft im Mondlicht bewundert. Doch jetzt daran erinnert zu werden verursachte ihr ausgesprochenes Unbehagen. Sie sollte sein Angebot nicht annehmen, das war in Anbetracht ihrer Vorgeschichte alles andere als vernünftig. „Ich glaube nicht, dass Socke von dem Auslauf und dem vielen Platz etwas haben wird.“ Sie sah vorsichtshalber lieber Lisette an als André, dessen Blick nach wie vor aufmerksam auf ihr ruhte. „Er ist noch viel zu schwach, um mehr zu tun, als zu fressen und zu schlafen. Für sein Geschäft musste ich ihn heute Nacht sogar zweimal hinaustragen.“

„Das übernehme ich notfalls auch.“ André ging an ihr vorbei und verschwand durch die Seitentür, die zu den weiteren Wirtschafts- und Vorratsräumen führte. Augenblicke später kam er mit einem Korb Kartoffeln zurück. „Ich habe schon meinen Neffen und meine Nichte gepflegt, als sie die Windpocken hatten, eigne mich also durchaus als Krankenpfleger, auch für einen Hund.“

Lisette nahm ihm den Korb kichernd ab und begann, die Kartoffeln zu schälen. „Also, Eva, ich würde zugreifen, bevor er es sich anders überlegt. Ist doch perfekt. Ihr arbeitet beide hier, also ist es umso einfacher, die Sache zu koordinieren. Außerdem ist es ja wohl nur für zwei, drei Wochen, oder?“

Eva seufzte. „Etwas mehr als drei Wochen, dann wird der Neubau im Wacholderweg endlich für den Bezug freigegeben. Sie haben es schon zweimal verschoben, weil die Baufirmen nicht rechtzeitig fertig geworden sind. Zum Glück konnte ich solange in meiner alten Wohnung bleiben, sonst wäre ich inzwischen sogar obdachlos.“

André war noch einmal hinausgegangen und wieder hereingekommen, diesmal mit zwei großen Stücken Rindfleisch, aus denen heute Gulasch gekocht werden sollte. „Ich kürze die ­Sache jetzt einfach mal ab.“ Er legte das Fleisch auf der großen Arbeitsinsel ab und begann, die Folie zu entfernen. „Sobald Fiona ihn für kräftig genug hält, bringst du Socke zu mir.“ Er warf Eva einen strengen Blick zu. „Keine Widerrede. Es ist die einfachste und sinnvollste Lösung, und du brauchst dich nicht so zu zieren. Der Hund tut mir genauso leid wie dir.“

Eva schluckte. „Er tut mir nicht nur einfach leid. Ich … weiß auch nicht. Er ist sofort so zutraulich zu mir gewesen – und ich …“

„Du hast dich in ihn verliebt.“ Er warf die Folie in den Abfalleimer und begann seelenruhig und mit einem Geschick, das jahrelange Übung verriet, das Fleisch in Würfel zu schneiden.

Eva antwortete nicht darauf, denn was er sagte, war vollkommen richtig. Sie hatte sich verliebt. In einen struppigen Straßenköter mit großen braunen Augen. Dass André das aussprechen konnte und sie selbst nicht, verunsicherte sie zutiefst.

Sein Vorschlag gefiel ihr nach wie vor nicht, aber es war leider die einfachste und praktikabelste Lösung. „Ich muss mich um die neue Bett- und Tischwäsche kümmern.“ Ohne ihm eine abschließende Antwort zu geben, verließ sie die Küche. Sie wusste, er würde ihre Reaktion als das nehmen, was sie war: ihr Einverständnis.

***

„Jesses, wat machste denn für’n Gesicht, Evachen?“ Walter, einer der Obdachlosen und seit Jahren Stammgast in der Sozialstation, saß mit einem Buch am Tisch gleich neben der Tür zur belebten Einkaufsstraße. Neben ihm stand der ausrangierte Einkaufswagen, in dem er seine gesamte Habe stets mit sich führte. Obenauf lag ein verwaschener blauer Mantel, auf dem eine gleichfarbige Mütze thronte. Beides hatte er vor Jahren aus dem Altkleidercontainer des Theaters entwendet und trug die Sachen voller Stolz und Würde, auch wenn er nach eigenen Worten damit aussah wie ein Schlumpf. Er sah Eva zu, wie sie die Tische mit den neuen Tischdecken in Rot und Gold bestückte, und rieb sich das stoppelige Kinn. „Hab schon gehört, dass du ’nen struppigen Hund gefunden hast, den der André fast platt gefahren hätte. So ’nen ganz verhungerten. Guckst du deswegen so verbiestert? Geht’s dem Hund nicht so gut? Oder hat der André dich schon wieder geärgert? Musste mir sagen, dann rück ich ihm den Dickschädel schon zurecht. Wär nicht das erste Mal, auch wenn es nicht wirklich was bringt.“

Gegen ihren Willen musste Eva lachen. Walter nahm kein Blatt vor den Mund und traf den Nagel in der Regel zielsicher auf den Kopf. Heute allerdings nicht ganz. Auch wenn André vielleicht ein Mitauslöser für ihre gedämpfte Stimmung war, sah sie doch eher sich selbst als Ursache, weil sie seinem Vorschlag zugestimmt hatte und sich jetzt notgedrungen mit ihm arrangieren musste, anstatt ihm wie in den vergangenen zwei Jahren möglichst aus dem Weg zu gehen. „Nein, Walter, das ist zwar nett gemeint, und eine Abreibung kann André immer gebrauchen, so grundsätzlich, meine ich. Aber diesmal ist er nicht schuld an meinem Ärger, sondern meine Vermieterin. Die hat mir nämlich untersagt, dass ich Socke bis zu meinem Umzug in meiner Wohnung aufnehme.“

„Socke?“ Walter klappte sein Buch zu – es war eine deutsche Ausgabe von Macbeth – und sah sie überrascht an. „Dat is’ doch kein Hundename!“

„Doch, wenn du ihn gesehen hättest, dann wüsstest du, warum wir ihn so genannt haben.“ Eva strich die Tischdecke glatt und trug den Stapel mit den anderen zum nächsten Tisch. „Er ist ganz dunkelbraun und hat weiße Pfötchen. Es sieht aus, als würde er Söckchen tragen. André hat ihm den Namen gegeben, um genau zu sein.“

„Ach wat?“ Nun hatte sie die volle Aufmerksamkeit des Obdachlosen. „Erst überfährt er dat Tier fast, und dann gibt er ihm ’nen Namen? Is’ ja ’n Ding.“ Er hob den Kopf und grinste, als er offenbar jemanden hinter ihr entdeckte.

„Und jetzt nimmt er das arme, fast überfahrene Hündchen auch noch bei sich auf.“ Mit amüsierter Miene war André zu ihnen getreten. „Ich bin eben immer für eine Überraschung gut. Eva, dein Handy hat zweimal geklingelt. Du solltest mal nachsehen, wer da so dringend etwas von dir will. Vielleicht ein vernachlässigter Liebhaber?“

„Ach was, haste so einen etwa?“ Walter blickte neugierig von André zu Eva.

Sie war bei Andrés plötzlichem Auftauchen zusammengezuckt, doch sie überspielte es mit geschäftigem Hantieren an den Tischdecken. „Hunderte, Walter, das weißt du doch.“

„Würd’ mich jedenfalls nich’ wundern, so ’ne Hübsche, wie du bist. Und was im Köpfchen, dat findet man auch nich’ immer in der Kombination. Meinste nich’ auch, André?“ Lauernd wartete er auf die Antwort des Kochs, doch der zuckte nur die Achseln.

„Ich wollte dir nur Bescheid geben.“ Er nickte Eva zu und verschwand wieder in der Küche.

Eva sah ihm einen Moment irritiert nach.

„Warum passt der André denn auf deine Socke auf?“ Walter kicherte, weil ihm offenbar die doppelte Bedeutung seiner Frage aufgegangen war. „Ich dachte, ihr könnt euch nicht mehr riechen nach eurem … Dingens damals. Oder hat ihn jetz’ das schlechte Gewissen eingeholt, weil er dich hat sitzen lassen?“

„Er hat mich nicht …“ Abrupt brach Eva ab. Sie hatte nie jemandem erzählt, abgesehen von ihren engsten Freundinnen, dass sie es gewesen war, die André den Laufpass gegeben hatte. Auch jetzt wollte sie diese Angelegenheit nicht erörtern, denn das würde nur dazu führen, dass sie und André Ziel des Tratsches und viel zu vieler Mutmaßungen würden, die sich innerhalb der Sozialstation nur allzu rasch verbreiteten. „Er hat Mitleid mit dem Hund, das ist alles.“

„Und riskiert dafür, sich dauernd mit dir anzulegen?“ Walter kicherte wieder. „Muss Liebe schön sein.“

Eva erstarrte. „Was redest du denn da für einen Unsinn? Die ganze Sache hat nicht das Geringste mit … uns zu tun. Das ist ewig lange vorbei.“

„Mhm, ja, sicher. Solange ihr selbst dran glaubt, Evachen.“

Entrüstet stemmte sie die Hände in die Hüften. „Ich glaube daran, weil es wahr ist.“

„Und warum wirste dann jetzt so stinkich?“ Feixend blickte der Obdachlose über den Rand seines Buches hinweg zu ihr auf.

„Ich werde nicht …“ Eva bremste sich, denn ihre Stimme drohte immer lauter zu werden. Verlegen räusperte sie sich und beschäftigte sich mit der letzten Tischdecke. „Ich wusste, das ist keine gute Idee“, murmelte sie verärgert vor sich hin.

„Is’ ja witzig.“ Walter ließ nicht locker. „Ich dacht’ immer, André wär derjenige gewesen, der damals die Hosen voll hatte. Von ’nem patenten und klugen Mädchen wie dir hätt’ ich das nich’ erwartet.“

„Also wirklich, Walter.“ Am anderen Ende des Raumes erhob sich eine kleine ältere Dame mit grauem Dutt und fast gleichfarbiger Strickjacke. Sie hatte sich bis jetzt mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt und war dabei so still gewesen, dass Eva ihre Anwesenheit kaum bemerkt hatte. Jetzt ging sie mit ihrer Zeitschrift zu Walter und setzte sich an seinen Tisch. „Nun lass das arme Mädchen doch in Ruhe. Du siehst doch, dass sie sich geärgert hat. Stocher doch nicht auch noch in alten Wunden herum.“

„Ich stochere nicht, Anneliese, sondern sag nur, wie es is’. Hab ich etwa nich’ recht?“

„Das tut hier nichts zur Sache und geht dich auch überhaupt nichts an, Walter.“

„Find ich schon. Immerhin seh ich mir das Elend mit den beiden jetz’ schon gute zwei Jahre an. Muss doch mal langsam gut sein, oder? Aber so stur, wie die beiden sin…“

„Walter!“ Ungewöhnlich streng sah Anneliese ihn an. „Schluss jetzt, sonst vertreibst du unsere liebe Eva noch ganz. Wir sind doch so froh, dass sie wieder hier ist. Lass sie in Ruhe.“

Ein bisschen beleidigt kniff Walter die Lippen zusammen, dann zuckte er mit den Achseln. „Bitte, wenn du es so haben willst. Aber ich hab trotzdem recht. Die zwei sind nur so fuchsig, weil se lieber wieder zusammen …“

„Walter!“ Anneliese hatte flink ihre Zeitschrift zusammengerollt und den Obdachlosen damit gegen den Arm geschlagen. Als er daraufhin endlich schwieg, rollte sie das Blatt zufrieden wieder auseinander, suchte nach dem Kreuzworträtsel und füllte es seelenruhig weiter aus.

Eva wusste nicht, ob sie lachen oder frustriert stöhnen sollte. Sie entschied sich schließlich für die Flucht. Im Gebäude ­hinter dem Haupthaus, wo sich unter anderem kostenlose Unterkünfte für die Obdachlosen sowie eine Tischlerei mit Lehrwerkstatt befanden, war noch einiges zu erledigen. Aber ­zuerst musste sie herausfinden, wer versucht hatte, sie auf dem Handy zu erreichen.

6. Kapitel

„Hast du das etwa eingefädelt, Santa?“ Gespannt saß Elfe-­Sieben vor dem Bildschirm im Büro, auf dem die Sozialstation überwacht wurde. „Das ist ja ein Geniestreich!“

„Was meinst du?“ Überrascht blickte der Weihnachtsmann von seiner Tagespost auf. „Oh, du meinst, dass André sich um Socke kümmert? Nein, darauf ist er ganz von selbst gekommen.“

„Aber nein, ich meine das andere.“ Elfe-Sieben gestikulierte aufgeregt in Richtung des Bildschirms, auf dem jetzt das Bild gewechselt hatte. „Komm schon, gib’s zu, das warst du.“

„Was war mein lieber Mann schon wieder?“ Neugierig betrat Santas Ehefrau das Büro, in der Hand einen Teller mit frischem Gebäck. Ihr folgte eine Wolke himmlischer Düfte aus der Küche. Interessiert betrachtete sie die Vorgänge auf dem Bildschirm, die die kleine Elfe so in Entzücken versetzt hatten. Dann hob sie den Kopf und blickte den Weihnachtsmann argwöhnisch an. „Was genau tut sich da in diesem leer stehenden Neubau?“

„Oh, das meint ihr.“ Santa Claus legte den Wunschzettel, den er gerade aus einem von Kinderhand beschrifteten Umschlag gezogen hatte, auf dem Schreibtisch ab und sah ebenfalls zu der Videowand hinüber. Auf seinen Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus, wodurch sein weißer Rauschebart sich leicht sträubte. „Ich dachte, ich helfe der Sache jetzt schon ein bisschen nach. Nicht dass wir wieder in Zeitverzug kommen wie in den vergangenen Jahren so oft. Ich will ganz sichergehen, dass Evas Wunsch sich pünktlich erfüllt. Da das bestimmt nicht einfach wird, habe ich ein paar Dinge ins Rollen gebracht.“

„Ein paar Dinge?“ Skeptisch blickte Santas Frau von ihm zum Bildschirm und wieder zurück. Dann schmunzelte sie. „Du bist ganz schön gerissen. Ich hoffe bloß, der Schuss geht nicht nach hinten los. Du weißt, wie kompliziert die Menschen sein können. Und diese beiden dort ganz besonders.“

„Gerade deshalb muss ich ja die schweren Geschütze auffahren“, verteidigte Santa sich grinsend. „Manche Menschen brauchen in der Tat einen heftigeren Schubs als andere, um zu begreifen, in welcher Richtung ihr Glück liegt.“

„Hoffen wir, dass du recht behältst.“ Santas Frau stellte den Teller auf dem Schreibtisch ab. „Hier, ich habe ein paar neue Rezepte für Weihnachtsplätzchen ausprobiert. Jetzt muss ich aber schnell zurück in die Küche, denn die Rentiere schleichen schon seit einer Weile um die Hintertür herum und glauben, ich merke es nicht. Bestimmt wollen sie wieder Kekse stibitzen.“

„Oder rohen Plätzchenteig“, ergänzte Elfe-Sieben lachend. „Der schmeckt nämlich fast noch besser als die fertigen Kekse.“

Santas Frau drohte ihr mit dem Zeigefinger, lachte dann aber ebenfalls. „Na ja, ich gebe zu, ich nasche auch hin und wieder gerne davon. Außerdem muss ich doch probieren, um sicherzugehen, dass ich das Rezept richtig zusammengerührt habe.“

Schmunzelnd nahm Santa Claus sich eines der Plätzchen und biss hinein. „Also diese hier hast du auf jeden Fall richtig zusammengemischt. Sie schmecken himmlisch! Vielleicht sollte ich das Rezept Lidia zukommen lassen. Ihr würde es bestimmt gut gelingen, und sie könnte dann ihre große Familie damit verwöhnen und die guten Leute aus der Sozialstation.“

„Dann tu das. Bestimmt findest du einen Weg, es in eine ihrer geliebten Backzeitschriften zu schmuggeln“, schlug seine Frau vor.

„Ach was, das geht heute viel einfacher!“ Elfe-Sieben sprang von dem Besuchersessel auf, in dem sie es sich gemütlich gemacht hatte. „Ich schnappe mir meinen Laptop und schicke es ihr per E-Mail. Sie hat so viele Rezeptblogs abonniert, da kann ich es leicht dazwischenpacken, ohne dass es auffällt.“

„Na, wie auch immer.“ Santas Frau wandte sich lachend zum Gehen. „Das Rezept habe ich drüben in der Küche.“

„Ich hole es mir sofort.“ Die Elfe folgte ihr, blieb aber in der Tür noch einmal stehen und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter. „Das war wirklich ein Geniestreich, Santa. Ich bin gespannt, wie Eva reagieren wird, wenn sie die Neuigkeiten erfährt.“

7. Kapitel

Unentschlossen und leicht genervt stand Eva vor ihrem geöffneten Kleiderschrank und versuchte sich zu entscheiden, was sie anziehen sollte. Ihre Eltern waren in der Stadt, oder vielmehr in ihrer großzügigen Eigentumswohnung in Köln, und wollten sich mit ihr zum Abendessen im Restaurant des Hotels ­Sternbach treffen. Es war typisch für die beiden, sich das beste Lokal im Umkreis von zehn Kilometern auszusuchen. Eva ging selbst gern ab und zu mit ihren Freundinnen dorthin, doch dann war es immer eine ungezwungene Runde. Davon würde bei ­ihren Eltern nicht die Rede sein. Sie befanden sich meist acht Monate des Jahres auf Reisen, privat oder geschäftlich, denn ihnen gehörten sechzig Prozent einer großen internationalen ­Versicherungsgesellschaft. Die wenige Zeit, die sie zwischendurch in ihrem Hauptwohnsitz in Köln verbrachten, füllten sie gewöhnlich neben wenigen Besuchen bei ihrer einzigen Tochter mit dem Pflegen sozialer Kontakte. Seit Eva denken konnte, hatte sie die beiden als herumreisendes Jetset-Paar gekannt. Sie hatten sich nie wirklich um sie gekümmert, sondern ihre Erziehung Kindermädchen und einem teuren Internat überlassen. Dieses Jahr hatten sie offenbar beschlossen, die Vorweihnachtszeit zu Hause zu verbringen. Eva war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte. Meistens bedeutete eine längere Anwesenheit ihrer Eltern für sie, ebenfalls an diversen Dinner­partys und ähnlichen Veranstaltungen teilnehmen und sich anhören zu müssen, dass sie sich allmählich nach einem passenden Ehemann umsehen sollte, wenn sie schon nicht die Absicht habe, in das ­Familiengeschäft einzusteigen oder sich eine andere, gesellschaftlich angesehene Beschäftigung zu suchen. Ihre Arbeit in der Sozialstation oder ihre Zeit im Ausland hatten ihre Eltern immer eher als Spielerei angesehen.

Seufzend griff sie nach dem kleinen Schwarzen, hielt es vor ihren Körper und musterte sich eingehend im Spiegel. Vielleicht mit dem dunkelroten Bolero, überlegte sie. Dazu rote halbhohe Pumps, dann würde sich ihre Mutter wenigstens wieder einmal über den wenig konservativen Geschmack ihrer Tochter ärgern können. Aus reiner Boshaftigkeit wählte sie deshalb auch noch die schwarzen Seidenstrümpfe mit dem auffälligen Karomuster und warf außerdem ihren dunkelroten Wollmantel aufs Bett. Sie liebte diese Farbe; sie stand ihr ausgezeichnet und würde ihre schlechte Laune hoffentlich in Schach halten.

Lange würde sie außerdem nicht im Restaurant bleiben können, denn sie hatte mit André abgesprochen, dass sie spätestens um halb zehn bei ihm sein würde, um sich um Socke zu kümmern. André hatte ihr mitgeteilt, er habe am Abend noch etwas vor. Eva vermutete ein Date mit einer seiner unzähligen weiblichen Bekannten.

Der kleine Hund hatte sich in der Woche, die er bei Fiona verbracht hatte, schon recht ordentlich erholt, war aber noch immer schwach und musste rund um die Uhr betreut werden. Da Fiona mit ihrem Mann am kommenden Montag bereits nach New York fliegen würde, hatten sie sich geeinigt, Socke heute schon bei André unterzubringen. Fiona hatte ihnen für Notfälle die Adresse einer befreundeten Veterinärin gegeben, die etwas außerhalb der Stadt eine Tierklinik betrieb, doch Eva hoffte, dass sie sie nicht benötigen würden.

Sie war schon ganz ungeduldig und hätte das Abendessen zugunsten eines früheren Besuchs bei Socke liebend gern abgesagt oder verschoben, doch sie wollte ihre Eltern nicht unnötig verärgern. Ihre Mutter war bereits verschnupft gewesen, dass Eva nicht schon bei ihren ersten beiden Anrufen umgehend auf der Matte gestanden hatte. Ihr zu erklären, wie wichtig ihr die Arbeit in der Sozialstation war, wäre fruchtlos gewesen.

Als sie eine halbe Stunde später vor dem Eingang des Restaurants Sternbach stand, atmete sie mehrmals tief durch und versuchte sich an einem unverbindlichen Lächeln. Zwei Stunden, die würde sie wohl unbeschadet überstehen können.

Entschlossen trat sie ein und wurde sogleich von einem der netten Kellner, einem rundlichen Mann um die fünfzig mit Halbglatze, empfangen. „Frau Lange, herzlich willkommen! Wie hübsch Sie heute wieder aussehen! Da werden Ihrem Verehrer aber die Augen herausfallen!“

„Wem?“ Irritiert sah sie ihn an. „Ich treffe mich heute mit meinen Eltern.“

Der Kellner lächelte breit. „Ja, ja, ich weiß.“ Er zwinkerte vergnügt. „Hoffentlich habe ich jetzt nicht zu viel verraten. Kommen Sie, ich begleite Sie hinüber zum Tisch.“ Zuvor­kommend nahm er ihr den Mantel ab und gab ihn an eine Servicemitarbeiterin weiter.

„Nein, nein, Karl, nicht nötig. Ich kenne mich doch aus und weiß, welchen Tisch meine Eltern immer haben. Drüben am großen Panoramafenster, nicht wahr?“

„Ganz genau.“

„Das finde ich schon.“ Sie lächelte ihm zu und ging los, entschlossen, herauszufinden, wen ihre Eltern wohl mitgebracht haben mochten. Auf halbem Weg hielt eine große blonde Frau in einem atemberaubenden blauen Cocktailkleid sie auf.

„Eva, na so was. Wie geht es dir?“

Überrascht blieb Eva stehen und fand sich im nächsten Moment bereits in einer herzlichen Umarmung wieder. Teures Parfüm umwehte sie. Die Blondine drückte sie und gab ihr auf jede Wange einen Kuss. „Gut siehst du aus. Hast du etwa ein Date?“

Eva lächelte. „Hallo, Elena. Schön, dich zu sehen. Was ist denn das für ein wunderschönes Kleid? Das habe ich ja noch nie an dir gesehen.“

„Wie könntest du auch? Es ist Teil meiner neuesten Kollektion, die kommt offiziell erst nächste Woche heraus.“ Elena Kilian, mit Künstlernamen Elena Gante, war eine bekannte Designerin, deren Modelabel bereits internationale Erfolge für sich verzeichnete. Seit sie im Frühsommer geheiratet hatte, lebte sie mit ihrem Mann und dessen beiden Kindern am Stadtrand.

Steffen Kilian war inzwischen ebenfalls aufgestanden und auf Eva zugekommen. Er schüttelte ihr die Hand. „Lange nicht gesehen. Was treibt dich hierher? Wieder mal ein Mädelsabend?“

„Was, etwa ohne mich?“ Elena lachte vergnügt. „Das würde mich aber hart treffen.“

„Nein.“ Eva lächelte. „Ich bin mit meinen Eltern verabredet. Dort drüben am Panoramafenster sitzen sie.“ Sie deutete auf die riesige Glasfläche, die auf den Park hinter dem Hotel hinausging. Dabei entdeckte sie auch den Mann, der ihren Eltern Gesellschaft leistete. Groß, gut aussehend mit leichter Hakennase und schwarzen gegelten Haaren. Dunkler Anzug, breite Schultern. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, da war sie sich sicher.

„Dann wollen wir dich gar nicht weiter aufhalten.“ Elena nahm ihre Hand und drückte sie, dann stieß sie einen leisen Pfiff aus. „Oh, là, là, ist das etwa Jochen Wennemann?“

Verwundert sah Eva sie an. „Jochen wer?“

„Wennemann, der Banker. Meine Firma hatte schon mit ihm zu tun. Er betreibt eine kleine Privatbank in dritter Generation, dabei ist er erst zweiunddreißig. Oder dreiunddreißig? Ich weiß es nicht genau.“ Elena zwinkerte ihr zu. „Keine schlechte Partie, würde ich sagen. Aber auch kein Kostverächter. Jedenfalls was man so hört.“

Eva kräuselte leicht die Lippen. „Gut zu wissen.“

„Hey, ich wollte dir den Spaß nicht verderben!“ Lachend stieß Elena sie an. „Er soll sehr nett sein. Das sagen zumindest meine beiden Chefbuchhalterinnen.“

Und ihre Eltern hatten ihn vermutlich extra für sie mitgebracht. Eva stellten sich die Nackenhärchen auf. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden versuchten, sie mit jemandem zu verkuppeln. „Bestimmt ist er das.“ Sie hätte ihre Mutter am liebsten erwürgt, denn nur auf deren Mist konnte diese Idee gewachsen sein.

„Hab einen schönen Abend, Eva.“ Elena drückte sie noch einmal kurz an sich. „Ich übernehme übrigens gerne wieder den Tanzunterricht für den Weihnachtsball, falls ihr Hilfe benötigt.“

Eva entspannte sich etwas. „Danke, darauf kommen wir bestimmt gerne zurück. Viel Spaß euch beiden noch.“

„Den werden wir haben.“ Steffen zwinkerte seiner Frau schmunzelnd zu, woraufhin sie lachte.

„Oh ja, das will ich hoffen. Heute ist nämlich unser Jahrestag, weißt du? Genau heute vor einem Jahr bin ich bei Steffen ins Haus geschneit und habe sein Leben auf den Kopf gestellt.“ Sie lächelte ihm liebevoll zu.

Er lachte. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Mir, nein, uns hätte nichts Besseres passieren können.“

„Da gratuliere ich. Also, bis bald.“ Eva winkte den beiden noch einmal zu, dann begab sie sich entschlossen zum Tisch ihrer Eltern.

***

„Nun erzähl uns, Eva, was gibt es Neues?“ Nachdem sie einander mit kurzen Umarmungen und Luftküssen begrüßt hatten, musterte Brigitta Lange ihre Tochter erwartungsvoll. Eva konstatierte bei sich, dass ihre Mutter so perfekt aussah wie immer – etwas kleiner als sie selbst, zierlich und elegant in ihrem hellblauen Kostüm und der cremeweißen Bluse, die blonden schulterlangen Haare zu einem raffinierten Knoten hochgesteckt. Sie wirkte deutlich jünger als fünfundfünfzig und arbeitete mithilfe von Yoga und regelmäßigen Besuchen in Kosmetikstudios und Wellness-Resorts hart daran, dass dies auch so blieb. Sie war optisch die vollkommene Vorzeigeehefrau und Ergänzung zu der großen, sportlich-gepflegten Erscheinung Albert Langes, dessen schwarzes Haar inzwischen an den Schläfen leicht ergraute, was ihn aber deshalb nicht weniger attraktiv machte, eher im Gegenteil. Eva hatte von ihm nicht nur die Haarfarbe, sondern auch die blauen Augen geerbt, kam aber ansonsten deutlich mehr nach ihrer Mutter. Vor allem die Gene für jugendliches Aussehen hatte sie ab­bekommen, was ihr mit zunehmendem Alter sicherlich Freude bereiten würde. Bis vor zwei, drei Jahren hatte es allerdings eher dazu geführt, dass sie immer noch häufig in Geschäften oder Lokalen nach ihrem Ausweis gefragt worden war. Selbst jetzt, mit siebenundzwanzig, wurde sie hin und wieder noch an Supermarktkassen abschätzend gemustert, wenn die Angestellten sie nicht kannten.

Sie wusste, ihre Mutter hoffte insgeheim darauf, sie würde nun antworten, dass sie sich entschlossen habe, das duale Wirtschaftsstudium zu beginnen, das ihre Eltern ihr schon seit Jahren in Kombination mit einer Anstellung in der Versicherungsgesellschaft schmackhaft zu machen versuchten. Doch nichts lag ihr ferner, deshalb lächelte sie unverbindlich und stellte sich gleichzeitig auf den ersten Gegenwind des Abends ein. „Es ist weitgehend alles beim Alten, würde ich sagen. Ich habe mich in der Sozialstation wieder gut eingearbeitet. Arthur hat mir die Leitung über die gesamte Hauswirtschaft übertragen, damit seine Frau sich mehr um die Buchhaltung und die Spendenaktionen kümmern kann. Außerdem koordiniere ich mit Noah zusammen die Aktivitäten im Advent. Es wird wieder diverse Kurse, Bastelnachmittage, Ausflüge in den Wald und die Umgebung und so weiter geben. Und selbstverständlich den Weihnachtsball. Der im vergangenen Jahr war ein großer Erfolg und hat viele Spendengelder in die Kasse gespült. Ich bin direkt traurig, dass ich ihn nicht miterlebt habe, weil ich noch in London gewesen bin.“

„Erfahrungen im Ausland sind immer vorteilhaft.“ Albert Lange unterbrach sich, da Karl an den Tisch trat, um die Bestellungen aufzunehmen. Erst als der Kellner wieder verschwunden war, fuhr er fort: „Für deinen weiteren beruflichen Werdegang sind diese Auslandsaufenthalte Gold wert, auch wenn du sie noch sinnvoller in einer wirtschaftsnahen Branche verbracht haben solltest.“

„Ich arbeite aber nicht in einer wirtschaftsnahen Branche, Papa, und habe es auch nicht vor. Mein Job in der Sozialstation gefällt mir, und er ist wichtig. Wir helfen dort den Menschen, um die sich sonst niemand kümmert – die Gesellschaft oder die Wirtschaft schon mal gar nicht.“

„Also so kannst du das nun auch wieder nicht hinstellen.“ Brigitta kräuselte missbilligend die Lippen, denn sie hatte den Seitenhieb sehr wohl verstanden. „Du weißt, dass wir schon seit jeher diverse soziale Projekte unterstützen, deine kleine Sozialstation eingeschlossen.“

„Wofür wir ja auch sehr dankbar sind, Mama.“ Eva nickte ihr zu. „Ich kann euch übrigens gerne Karten für den Weihnachtsball reservieren.“

Ihre Eltern sahen einander kurz an, dann antwortete ihr Vater: „Wann soll er stattfinden?“

„Am fünfzehnten Dezember, das ist ein Freitag.“

„Wie ärgerlich.“ Brigitta griff nach ihrem Weinglas. „Da sind wir bereits bei Bekannten eingeladen. Das kommt aber auch sehr kurzfristig, Eva. Du hättest uns bereits im Sommer Bescheid geben müssen, dann hätten wir den Termin einplanen können. Aber wir stellen einen Scheck aus.“

Eva reagierte nur mit einem leichten Neigen des Kopfes. Sie hatte schon damit gerechnet, dass ihre Eltern absagen würden. Ihnen zu erklären, dass der Termin für den Ball im Sommer noch nicht festgestanden hatte, war müßig, denn die beiden hatten grundsätzlich kein Interesse an solchen Veranstaltungen, wenn sie nicht in deutlich größerem und von Presse und Fernsehen begleitetem Rahmen stattfanden.

„Ich wäre am Fünfzehnten noch frei“, mischte sich Jochen Wennemann ein, der dem Gespräch bisher schweigend gefolgt war und soeben unauffällig auf seinem Smartphone herumgetippt hatte. Vermutlich hatte er in seinem Kalender den Termin nachgesehen. Er lächelte Eva charmant und mit ungeheucheltem Interesse zu. Schon seit ihrer Ankunft hatte sein Blick mit einer Mischung aus Neugier und Wohlgefallen auf ihr geruht, wobei das Wohlgefallen mit der Zeit immer deutlicher überwog. Eva fühlte sich zwar geschmeichelt, denn er war von Nahem betrachtet mit seinem maßgeschneiderten Anzug, der sportlichen Erscheinung und dem akkurat getrimmten Oberlippen- und Kinnbärtchen noch wesentlich attraktiver als aus der Ferne. Sie hatte allerdings den Eindruck, dass er sich bereits vorzustellen versuchte, wie sie wohl unter ihrem kurzen schwarzen Kleid aussehen mochte, und das fand sie nach so kurzer Bekanntschaft dann doch etwas unpassend. Da er ihr aber bisher noch keinen Grund gegeben hatte, ihn nicht zu mögen, lächelte sie ihm erfreut zu. „Ich kann Ihnen gerne eine Karte zurücklegen, oder auch zwei, wenn Sie eine Begleitung mitbringen möchten. Aber ich muss vielleicht hinzufügen, dass es kein typischer Weihnachtsball ist. Wir laden dazu nicht nur Unterstützer und Sponsoren der Sozialstation ein, sondern jeden Bürger der Stadt und auch alle Menschen, die wir in der Station oder auch auswärtig betreuen. Auch die Obdachlosen“, fügte sie hinzu und wartete gespannt auf seine Reaktion.

In seinen Augen glomm Verblüffung auf, die er aber sehr schnell wieder unter Kontrolle hatte. Das charmante Lächeln wankte nicht im Mindesten. „Das klingt außergewöhnlich, aber auch spannend. Ein interessantes Konzept, das ich mir gerne live und in Farbe ansehen würde. Eine Begleitung werde ich allerdings nicht mitbringen, denn wenn ich ehrlich sein darf, erhoffe ich mir, den Abend möglichst an Ihrer Seite verbringen zu dürfen.“

Nun war es an Eva, überrascht zu sein. Dass er so schnell mit der Tür ins Haus fallen würde, hätte sie nicht gedacht. Entweder sie gefiel ihm noch besser, als seine Blicke es vermuten ließen, oder er hatte andere Gründe, sich derart schnell an sie heranzumachen. Die erfreuten und wohlgefälligen Blicke, die ihre Eltern austauschten, sagten ihr, dass Zweiteres sehr wahrscheinlich war, und sie fragte sich, was ihre Eltern wohl mit Jochen Wennemann ausgemacht haben mochten. Sie ließ sich ungern verschachern, deshalb versuchte sie sofort, seinen Enthusiasmus auszubremsen. „Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Wennemann …“

„Nennen Sie mich doch bitte Jochen, so spricht es sich doch viel leichter. Wenn ich Sie Eva nennen darf?“

Sie nickte. „Warum nicht? Also, Jochen, ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, denn als Mitorganisatorin des Balls werde ich wohl den ganzen Abend damit beschäftigt sein, mich darum zu kümmern, dass alles reibungslos abläuft.“

„Nun ja, damit muss ich wohl rechnen.“ Er schien sich nicht so leicht entmutigen lassen zu wollen. „Aber für das eine oder andere Tänzchen werden Sie mir doch bestimmt zur Verfügung stehen.“

„Das wird sich wohl einrichten lassen.“ Sie schwieg, denn Karl servierte nun die Vorsuppe. Als er sich wieder entfernt hatte, nahm Brigitta das Gespräch wieder auf.

„Ihr beiden werdet bestimmt viel Spaß zusammen haben. Ihr habt so viel gemeinsam!“

„Ach ja?“ Skeptisch blickte Eva von ihrer Mutter zu ­Jochen und wieder zurück. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mit diesem Schönling gemein ­haben könnte.

„Oh ja, ihr wart zum Beispiel auf demselben Internat.“ ­Brigitta lächelte triumphierend. „Eine ausgezeichnete Schule, wie ich hinzufügen möchte. Aber begegnet seid ihr euch natürlich nicht, denn als du dort aufgenommen wurdest, hatte Jochen gerade seinen Abschluss gemacht. Nicht wahr, Jochen? Sind Sie danach nicht auch gleich ins Ausland gegangen?“

„Nicht gleich, sondern ein knappes Jahr später. Zunächst habe ich in Berlin studiert, dann bin ich für den Rest meines Studiums nach England und später in die USA gegangen.“

„Das war bestimmt ausgesprochen lehrreich.“ Albert brach ein Stückchen Brot in der Mitte durch und bestrich es mit dem Kräuterschmalz, das Karl zusammen mit der Suppe gebracht hatte. „Ihre Bank hat sicherlich viel mit Kunden aus Übersee zu tun, da ist es immer von großem Nutzen, deren Heimat persönlich kennengelernt zu haben.“

„So ist es.“ Auch Jochen nahm sich ein Stück Brot zu seiner Suppe. „Deshalb reise ich auch jetzt noch sehr viel, zum Beispiel nach Japan. Waren Sie schon einmal in Japan, Eva?“

„Nein, das Vergnügen hatte ich noch nicht.“

„Das müssen Sie unbedingt bald einmal nachholen. Ein wunderbares Land mit einer spannenden Geschichte und Kultur.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Sie ahnte bereits, was nun folgen würde, und tatsächlich drehte sich das Gespräch bald um all die Reisen, die ihre Eltern im Lauf der Jahre unternommen hatten. Da auch Jochen viel herumkam, konnte Eva sich für eine Weile ganz ihrem Essen widmen, ohne mehr als ein hin und wieder eingestreutes „Ach ja?“ oder „Aha“ beisteuern zu müssen. Erst als das Dessert serviert wurde, schienen sich ihre Eltern daran zu erinnern, dass sie eine Tochter hatten, die nicht nur mit am Tisch saß, sondern die sie ihrem Gast schmackhaft machen wollten.

Brigitta wandte sich ihr als Erste wieder zu. „Nun, mein Kind, wann wirst du denn endlich in deine neue Wohnung umziehen? In einer deiner E-Mails schriebst du, dass sich der Termin verschoben habe.“

Dass diese E-Mail bereits über zwei Monate zurücklag, ließ Eva innerlich die Augen verdrehen. „Es sind jetzt noch knapp zweieinhalb Wochen. Ich habe bereits alle meine Sachen gepackt, bis auf ein paar Kleinigkeiten, die ich jeden Tag brauche.“

„Was, jetzt schon?“ Ihre Mutter hob überrascht den Kopf. „Ist das nicht furchtbar ungemütlich? Warum lässt du nicht einen Umzugsservice alles für dich erledigen? Es gibt doch sehr gute Firmen, die jeden Handgriff für dich übernehmen. Da musst du nicht einen Finger krumm machen. So ein Umzug ist stressig genug, da wollte ich wirklich nicht auch noch wochenlang solche Umstände in Kauf nehmen müssen.“

„Solche Unternehmen lassen sich diesen Allround-Service aber auch happig bezahlen.“ Eva kratzte mit ihrem Löffel vorsichtig an der Creme brûlée herum.

„Nun ja, guter Service kostet etwas, aber das ist doch kein Problem. Du kannst jederzeit auf das Geld aus deinem Treuhandfonds zurückgreifen.“ Brigitta nahm ebenfalls ihren Löffel und kostete von ihrem Dessert. Zufrieden nickend sprach sie weiter. „Deine Sparsamkeit in allen Ehren, aber in einem solchen Fall solltest du wirklich die Hilfe eines Dienstleisters in Anspruch nehmen.“

Eva schüttelte entschieden den Kopf. „So schlimm war es nun auch wieder nicht. Zwei Freundinnen haben mir geholfen, die Umzugskisten zu packen. Das ist mir lieber, als wenn wildfremde Menschen all meine Sachen anfassen.“

„Wie du meinst.“ Ihre Mutter sah nicht aus, als könne sie dieses Argument nachvollziehen.

„Außerdem möchte ich nicht, dass jemand erfährt, wie wohlhabend ich bin, das wisst ihr genau.“ Eva vermied das Wort „reich“, obwohl es durchaus angebracht gewesen wäre. Doch in Anbetracht von Jochen, der sie nach wie vor nicht aus den Augen ließ, wollte sie sich lieber zurückhalten. Sie ging zwar davon aus, dass er genau wusste, mit welchem Vermögen er es bei ihren Eltern zu tun hatte, doch es explizit zu erwähnen, hielt sie für wenig sinnvoll.

„Du immer mit deiner übertriebenen Bescheidenheit.“ ­Brigitta seufzte theatralisch. „Als wäre es anrüchig, über ein Vermögen zu verfügen, das dir ein sorgenfreies Leben ermöglicht.“

Eva atmete einmal tief ein und aus. „Mama, ich halte es nicht für anrüchig, das ist Unsinn. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen mich unvoreingenommener behandeln, wenn sie nicht wissen, wie es auf meinem Konto aussieht.“

„Haben Sie in dieser Hinsicht schlechte Erfahrungen gemacht?“ Jochen beugte sich ein wenig in ihre Richtung. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie sind so hübsch und ­charmant, dass doch gewiss niemand auf die Idee käme, Sie wegen Ihres Vermögens zu verurteilen.“

„Nicht zu verurteilen.“ Sie presste kurz die Lippen zusammen. „Auszunutzen schon eher. Abgesehen davon möchte ich als Person wahrgenommen werden, nicht als reiche Erbin. Das ist ein himmelweiter Unterschied.“

„Eva war schon immer ein wenig empfindlich in dieser Hinsicht.“ In einer Geste, die wohl fürsorglich wirken sollte, jedoch auf Eva eher herablassend wirkte, tätschelte ihre Mutter ihr die Hand.

Rasch zog sie sie fort. „Aus gutem Grund, Mama, aber ich erwarte nicht, dass ihr das versteht.“

„Du ziehst also bald in diese neue Wohnung im Wachol­derweg.“ Albert hatte sein Dessertschälchen bereits geleert und schob es von sich. „Eine gute Gegend, wenn auch für meinen Geschmack zu ländlich. Du hättest dir eine Eigentumswohnung in Köln kaufen sollen. Dort gibt es derzeit sehr schöne …“

„Köln ist zu weit für mich, Papa, das weißt du doch. Ich will nicht jeden Tag vierzig Minuten oder mehr durch die Rushhour fahren müssen, um zur Arbeit zu kommen.“

„Auch in Köln gibt es soziale Einrichtungen, wenn dir schon so viel daran liegt, in diesem Bereich deine Zeit zu verbringen.“

„Mir liegt viel daran, ja.“ Sie merkte, wie ihr Ton immer aggressiver wurde, und bemühte sich um Ruhe. „Aber ich möchte genau in dieser Sozialstation arbeiten, nirgendwo sonst. Meine Kollegen sind mir wichtig, und Arthur ist der beste Chef, den man sich vorstellen kann.“

Albert ließ sich nicht beeindrucken. „Wie gesagt, es ist deine Entscheidung, und zumindest liegt die Wohnung vorteilhaft. Leider ist es nur eine Mietwohnung, nicht wahr? Wohneigentum wäre deutlich angebrachter in der heutigen Zeit, aber vielleicht lässt sie sich ja später noch in eine Eigentumswohnung umwandeln.“

„Ich möchte mir derzeit noch keine Wohnung kaufen.“ Eva seufzte innerlich. Sie hatte geahnt, dass der Abend anstrengend werden würde. „Übrigens habe ich diese Woche einen Hund adoptiert.“

„Du hast was bitte?“ Entsetzt starrte ihre Mutter sie an.

Eva entspannte sich ein wenig. „Einen Hund adoptiert. Einen ganz süßen dunkelbraunen Hund mit weißen Pfötchen. Wir haben ihn Socke genannt.“

„Wir?“ Albert runzelte die Stirn.

„André und ich.“ Als sie merkte, dass weder ihr Vater noch ihre Mutter mit dem Namen etwas anfangen konnten, jedoch beide im Hinblick auf Jochen aufmerkten, erklärte sie: „Ihr wisst doch, André Weißmüller, der Koch aus der Sozialstation. Ich habe euch schon mal von ihm erzählt.“ Ihr war klar, dass ihre Eltern sich nicht erinnern würden, denn wenn es um die Station ging, stellten sie meist die Ohren auf Durchzug. Von ihrer Affäre mit André wussten sie darüber hinaus nichts, und dabei wollte sie es auch bewenden lassen, denn wozu über ­etwas reden, was längst ad acta gelegt worden war? „Wir haben den Hund neulich Abend im Hinterhof der Station gefunden, oder vielmehr hätte André ihn beinahe mit dem Transporter überfahren.“ Bei der Erinnerung schauderte sie. „Der arme kleine Kerl war ganz schwach und verhungert, bestimmt hatte ihn jemand ausgesetzt. Wir haben ihn zu Fiona gebracht, sie ist Tierärztin und hat ihn wieder etwas aufgepäppelt. Sie meint, er sei inzwischen weitgehend über den Berg, aber er ist noch immer entsetzlich dünn und braucht viel Pflege. In Absprache mit dem städtischen Tierheim habe ich ihn jetzt offiziell in Pflege genommen und darf ihn wohl auch behalten. Wir gehen nicht davon aus, dass der frühere Besitzer sich jemals melden wird.“

„Ein verhungerter Straßenköter?“ Brigitta schüttelte sich. „Also wirklich, Eva, muss das sein? Diese Tiere tragen Krankheiten in sich und machen nur Ärger. Eine Patenschaft über das Tierheim oder einen Teil der Tiere dort hätte es auch getan, wenn du dich in dieser Hinsicht engagieren möchtest. Das ist deutlich pflegeleichter und bei Weitem weniger schmutzig.“

„Socke ist mir wichtig, Mama.“ Eva schob nun ebenfalls ihren Dessertteller von sich. „Er ist ein sehr lieber und süßer Hund, und wenn er erst einmal wieder ganz kräftig und fit ist, werden wir …“

„Das ist wirklich inakzeptabel“, unterbrach ihre Mutter sie. „Aber du hattest ja schon immer die merkwürdigsten Flausen im Kopf. Ein Hund, also wirklich.“

„Wenn man ihn in einer guten Hundeschule ausbilden lässt, ist so ein Hund bestimmt ein netter Begleiter“, sprang Jochen überraschend für Eva in die Bresche. „Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir einen Hund. Sehr gut erzogen und wachsam. Später blieb mir dafür keine Zeit, aber warum sollte man Tierliebe nicht ausleben? Meine Schwester hält sich zwei Perserkatzen.“

„Das ist ja alles gut und schön.“ Albert winkte Karl herbei und bat um die Rechnung. „Katzen sind deutlich pflegeleichter als ein Hund. Eva, ist dir bewusst, welche Verantwortung und Unannehmlichkeiten so ein Tier mit sich bringt? Du bist ständig gebunden oder musst dich um eine adäquate Versorgung des Hundes kümmern, wenn du verreisen willst.“

Eva kam sich ein bisschen vor wie ein gescholtenes Kind, deshalb verschränkte sie reflexartig die Arme vor der Brust. „Ich weiß, was ich tue, Papa. Abgesehen davon, dass ich nicht vorhabe, ständig herumzureisen, könnte ich Socke ja auch mitnehmen. Und falls das nicht möglich sein sollte, habe ich gute Freunde, die sich um ihn kümmern würden. Das tut André übrigens derzeit bereits, weil Fiona mit ihrem Mann verreist ist und ich Socke in meiner alten Wohnung nicht halten darf.“

„Das ist aber sehr freundlich von Ihrem … Kollegen.“ Jochen musterte sie aufmerksam und forschend.

Sie spürte, dass er Konkurrenz witterte, reagierte aber nicht weiter darauf. „Das ist es. Vermutlich hat er noch immer ein schlechtes Gewissen, weil er Socke fast überfahren hätte. Abgesehen davon besitzt er ein großes Haus und Grundstück, sodass es dumm gewesen wäre, sein Angebot abzulehnen. Es ist ja auch nur für ein paar Tage, bis ich meine neue Wohnung beziehen kann.“

„Sehr nett, wirklich“, wiederholte Jochen. Es schien, als hätten ihre Worte ihn beruhigt, obwohl sie das gar nicht im Sinn gehabt hatte. Im Gegenteil, sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie mit dem Verkupplungsversuch ihrer Eltern einverstanden war. Er wirkte zwar sympathisch auf sie, aber auch nicht mehr. Fast war sie versucht, André in ein besseres Licht zu rücken, um den Eindruck zu erwecken, dass er mehr für sie war als ein Kollege oder guter Bekannter, aber dann unterließ sie es doch. Ein Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk ließ sie aufschrecken. „Tut mir leid“, sagte sie an ihre Eltern gerichtet, „aber ich fürchte, ich muss allmählich los. Ich habe versprochen, mich heute Abend um Socke zu kümmern, weil André noch etwas vorhat.“

„Siehst du, da geht es schon los.“ Verärgert verzog Brigitta die Lippen. „So ein Tier bringt alles durcheinander. Ich dachte, wir sitzen noch ein wenig gemütlich beisammen. Jochen hat sich so gefreut, dich kennenzulernen …“

„Die Gelegenheit ergibt sich bestimmt noch“, wandte ­Jochen ein und setzte erneut sein charmantestes Lächeln auf. „Ich könnte Sie ja begleiten, Eva, und mir den Vierbeiner einmal ansehen. Sie haben mich neugierig gemacht. Oder ich fahre Sie wenigstens zum Haus Ihres Kollegen“, setzte er hinzu, als er ihre verblüffte Miene sah. „Falls Sie nicht selbst mit dem Auto hier sind.“

„Bin ich nicht.“ Sie schluckte unbehaglich. „Danke, das ist nett, aber Sie brauchen sich die Mühe nicht zu machen. Ich gehe gerne zu Fuß.“

„Um diese Zeit und bei diesem Wetter?“ Entschieden schüttelte Albert den Kopf. „Das kommt nicht infrage. Entweder du fährst mit dem Taxi, oder du nimmst Jochens wirklich sehr freundliches Angebot an.“

***

Nur wenig später bremste Jochen seinen schwarzen Audi A 8 vor dem ehemaligen Bauernhof von Andrés Familie im Weingartenweg ab. Der Hof, die Pflanzkübel, Beete und Bäume ringsum wirkten in der Dunkelheit herbstlich kahl, aber gepflegt, und den Gebäuden sah man die noch nicht lange zurückliegende liebevolle Renovierung deutlich an.

„Sehr idyllisch“, befand Jochen und stieg eilfertig aus, um ihr die Wagentür zu öffnen. Obwohl die Geste sie verlegen machte, nahm sie seine ausgestreckte Hand, damit er ihr beim Aussteigen behilflich sein konnte. Er lächelte ihr zu, als er sie wieder freigab. „Hier wurde offensichtlich eine Menge getan, um die alte Bausubstanz nicht nur zu erhalten, sondern ihr neuen Wert zu geben. Erstaunlich.“

„Warum ist das erstaunlich?“ Verwundert sah sie von ihm zu den Gebäuden. „Andrés Schwager ist Schreiner und seine Schwester ebenfalls Handwerkerin. Sie haben alles in Eigenregie umgebaut.“

„Das erklärt einiges. Dennoch wundert es mich, dass Derartiges mit einem, verzeihen Sie, eher durchschnittlichen Einkommen bewerkstelligt werden konnte.“

„Durchschnittlich?“ Sie runzelte die Stirn.

„Unterdurchschnittlich sogar, wenn man sich die Statistiken ansieht. Köche gehören nicht gerade in die Kategorie der gut bezahlten Berufe.“

Sie wusste nicht, was sie von seinem Kommentar halten sollte. „Und jetzt glauben Sie, er hat Steuern dafür hinterzogen oder alles illegal gebaut?“

Jochen lachte. „Geerbt, hätte ich eher vermutet. Oder sich bis über beide Ohren verschuldet.“

„Weder das eine noch das andere.“ Sie wusste nicht, weshalb sie plötzlich das Bedürfnis hatte, André zu verteidigen. „Er hat viele Jahre in großen Sternerestaurants gearbeitet, schon gleich nach seiner Ausbildung, und dort sehr gut verdient. Er war in Frankreich und in der Schweiz und ziemlich bekannt. Er hat sogar ein eigenes …“

„Einen Augenblick.“ Überrascht zog Jochen die Augenbrauen zusammen. „Wir reden hier von André Weißmüller? Dem André Weißmüller?“

Sie zögerte, verblüfft über seine Reaktion. „Ich kenne nur den einen André Weißmüller.“

Jochen lachte auf. „Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Das erklärt natürlich einiges. In dem Fall wundert es mich nicht, dass er sich hier so ein kleines Paradies bauen konnte. Sie sind mit seiner Karriere vertraut?“

Eva hob die Schultern. „Weitgehend.“

André hatte nicht nur lange Zeit in der gehobenen Gastronomie gearbeitet, sondern auch für einige Jahre zu den bekanntesten und begabtesten Jungköchen Deutschlands gehört. Sogar im Fernsehen war er hin und wieder aufgetreten, besonders nachdem er zusammen mit seinem Cousin in der Bonner Friedrichstraße das inzwischen weit über die Stadtgrenzen ­hinaus bekannte Restaurant Chez Manuel eröffnet hatte. Innerhalb kürzester Zeit waren sie mit ihrer bodenständigen und doch raffinierten Küche vom Michelin Guide mit vollen drei Sternen bewertet worden. André hatte sich jedoch irgendwann aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen, weil ihm die ständige Medienpräsenz zusammen mit dem stressigen Job nicht mehr gefallen hatte. Er besaß nach wie vor fünfzig Prozent Anteile am Chez Manuel, fühlte sich jedoch, wie er immer wieder betonte, als einfacher Koch in der Sozialstation deutlich wohler.

Jochen war offenbar ebenso im Bilde wie sie. „Wir haben uns damals bemüht, mit den Weißmüllers ins Geschäft zu kommen, aber sie haben sich dann leider doch für die Zusammenarbeit mit einem anderen Kreditinstitut entschieden. Ich muss schon sagen, vor der Karriere der beiden kann man nur den Hut ziehen. Ich hatte mich allerdings schon gefragt, was aus dem einen Cousin geworden ist, der sich vor einiger Zeit so abrupt aus der Öffentlichkeit verabschiedet hat.“ Er lachte wieder. „Nun weiß ich es. Das ist ja wirklich ein Ding. Koch in dieser kleinen Sozialstation?“

Eva verschränkte die Arme. „Warum nicht, wenn es ihm Spaß macht?“

„Verzeihen Sie, ich wollte nicht herablassend klingen. Selbstverständlich hat Herr Weißmüller das Recht zu tun, was immer ihm beliebt. Ich bin nur so erstaunt, das ist alles. Ein Talent wie das seine …“

„Ist an unsere Obdachlosen verschwendet, meinen Sie?“ Sie stellte immer mehr Stacheln auf, auch wenn sie selbst nicht wusste, warum.

„Das wollte ich damit keinesfalls andeuten.“ Jochen schien ihre wachsende Abwehrhaltung deutlich zu spüren. „Vielmehr könnte ich mir vorstellen, dass er sich irgendwann unterfordert fühlt, wenn man bedenkt, mit welcher Kreativität er jahrelang seiner Arbeit nachgegangen ist. Sie werden wohl kaum bestreiten, dass er sie in einer kleinen Suppenküche kaum ausleben kann.“

Eva verkniff sich die Bemerkung, dass sie in der Station mehr als nur eine einfache Suppenküche betrieben, unterließ es jedoch, denn ganz unrecht hatte Jochen nicht. Der Unterschied zwischen einem Dreisternerestaurant wie dem Chez Manuel und der Sozialstation war unbestreitbar größer als der zwischen Tag und Nacht. Dennoch hatte sie bisher nie den Eindruck gehabt, dass André unzufrieden gewesen wäre.

Sie wandte sich der ehemaligen Scheune zu, deren ursprünglicher Verwendungszweck heute kaum noch zu erkennen war. „Ich denke, ich sollte jetzt hineingehen. Vielen Dank, dass Sie mich hergefahren haben.“

„Das habe ich gerne getan.“ Jochen berührte sie leicht am Arm. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, begleite ich Sie noch bis zur Tür.“

„Es sind doch nur ein paar Schritte.“ Sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, und Jochen schloss sogleich zu ihr auf.

„Dennoch weiß ich, was sich gehört.“ In seine Stimme war ein Lächeln getreten. „Außerdem bietet es mir die Gelegenheit, noch ein klein wenig länger Ihre Gesellschaft genießen zu dürfen.“

Sie antwortete vorsichtshalber nicht darauf, sondern drückte auf die schmiedeeiserne Türklingel. Es dauerte einen Moment, bevor André ihnen öffnete. Seltsamerweise war sie über seinen Anblick gleichermaßen erleichtert wie alarmiert. Er trug schwarze Jeans und ein dunkelrotes Hemd, dessen Farbton irritierend identisch mit dem ihres Mantels war. Da er sich seine schwarze Lederjacke übergeworfen hatte, ging sie davon aus, dass er bereits ungeduldig auf sie gewartet hatte. Sein Kommentar, als er sie erblickte, bestätigte es. „Du bist zu spät.“

Eva lächelte etwas gezwungen. „Dir auch einen guten Abend, André. Es sind bloß zehn Minuten.“

„Die entscheidend sind, wenn man pünktlich die Spätvorstellung des Kinos besuchen möchte.“

„Actionstreifen oder Knutschfilm?“

„Was geht dich das an?“

Sie reckte sich ein wenig und schnüffelte an seinem Hals. „Actionstreifen. Für einen Knutschfilm hast du zu wenig Aftershave aufgetragen.“

Er runzelte die Stirn. „Ich gehe mit Noah und Lidias Brüdern ins Kino, ist das vielleicht verboten?“ Endlich hatte er nun auch Jochen entdeckt. „Wie ich sehe, hast du dein Date mitgebracht.“ Sein Tonfall wurde eine Spur kühler. „So war das zwar eigentlich nicht gedacht … Guten Abend.“ Er streckte Jochen seine Hand hin. „André Weißmüller.“

„Sehr erfreut.“ Jochen ergriff Andrés Hand und schüttelte sie kurz und geschäftsmäßig. „Mein Name ist Jochen Wennemann. Ich bin allerdings, leider, muss ich sagen, nicht Evas Date, obgleich ich nichts dagegen hätte, dies in absehbarer Zeit zu ändern. Wir haben uns heute beim Abendessen mit ihren Eltern kennengelernt, die so freundlich waren, mich einzuladen, und uns gleich gut verstanden. Als Eva erwähnte, dass sie sich noch um diesen kleinen Hund kümmern müsse, habe ich ihr angeboten, sie herzufahren.“

„Aha.“ Andrés Blick wanderte von Jochen nach draußen zu dessen Wagen und wieder zurück. „Wennemann vom gleichnamigen Kreditinstitut in Köln?“

„Exakt.“ Jochen schien erfreut zu sein, dass André ihn erkannt hatte. „Wir sprachen gerade sehr lobend von Ihrem Restaurant in Bonn, und ich betonte, dass es mir heute noch leidtut, nicht mit Ihnen ins Geschäft gekommen zu sein.“

„Mhm.“ André kräuselte leicht die Lippen. „Ich muss jetzt los. Kommt ruhig herein, ihr beiden, draußen ist es kalt. Socke schläft im Wohnzimmer. Er hat vor einer halben Stunde etwas gefressen, muss also vermutlich bald noch einmal nach draußen.“

„Okay.“ Etwas irritiert über seine kurz angebundene Art, sah Eva zu, wie er nach draußen ging und sich dort noch einmal zu ihnen umdrehte. „Einen schönen Abend wünsche ich noch.“ Er bedachte Eva mit einem seltsam durchdringenden Blick, dann lächelte er grimmig. „Kein Sex auf der Couch!“

Eva schnappte empört nach Luft, doch da war er bereits um die Ecke verschwunden. Augenblicke später sprang sein brauner SUV an und rollte vom Hof.

„Ein Scherzkeks, was?“ Jochen war hinter sie getreten.

Sie drehte sich erschrocken zu ihm um. „Entschuldigen Sie bitte. André ist …“

„Eifersüchtig?“

„Nein!“ Sie lachte eine Spur zu laut. „Nein, auf keinen Fall. Er hat nur manchmal einen merkwürdigen Sinn für Humor. Ich …“ Sie unterbrach sich, als sie einen kleinen Schatten am Durchgang zum Wohnbereich erblickte. „Oh, da bist du ja, Socke!“ Ohne noch einen weiteren Gedanken an André oder Jochen zu verschwenden, eilte sie zu dem kleinen Hund und kniete sich auf die von der Fußbodenheizung angenehm warmen Steinfliesen. „Komm her, mein Süßer. Na, wie geht es dir? Hat André sich gut um dich gekümmert?“

Hey, du bist es ja wirklich, Eva! Ich dachte schon, ich hätte mich verhört. Die Rute des kleinen Hundes wirbelte wild hin und her. Ich hatte schon Angst, du kommst nicht mehr. André hat zwar dauernd behauptet, dass du kommst, aber ich glaube so was nicht mehr so leicht. Noch nie ist jemand so oft zu mir zurückgekommen wie du. Ich freue mich, dass du hier bist. Und wer ist das da?

Eva kicherte, als Socke sie begeistert abschleckte und dann neugierig, wenn auch etwas unsicher und wackelig, ein paar Schritte auf Jochen zutappte. „Das ist Jochen, ein … Freund. Jochen, darf ich vorstellen, das ist Socke.“

Langsam näherte Jochen sich und ging dann vor dem Hund in die Hocke. Vorsichtig hielt er ihm seine Hand hin und ließ sie beschnüffeln. „Hallo, Socke. Du siehst ja wirklich arg mitgenommen aus.“

Das ist ein Freund? Der riecht aber intensiv nach irgendwas. Komisch irgendwie. Aber er scheint nett zu sein. Socke schnupperte auch noch an Jochens Hosenbeinen und schniefte ein wenig, dann ließ er sich auf sein Hinterteil sinken und blickte abwartend zu Eva. Und was jetzt?

Eva erhob sich wieder. „Gehen wir ins Wohnzimmer. Komm, Socke, schauen wir mal, wo André dein Körbchen aufgestellt … huch!“ Überrascht blieb sie vor dem großen ovalen Hundekissen in Dunkelbraun stehen, auf dem eine ebenfalls dunkelbraune Wolldecke ausgebreitet war, die Socke leicht zerwühlt hatte. „Das ist ja neu! Wann hat er das denn für dich gekauft?“

Keine Ahnung. Es kam heute Mittag in einem großen Karton. Sehr weich und gemütlich, ich hatte noch nie so einen kuscheligen Schlafplatz. Und guck mal, das Ding ist riesig, da passe ich zweimal rein, mindestens.

Als wolle er ihr seinen neuen Schlafplatz präsentieren, sprang Socke auf das Kissen, kratzte ein wenig an der Decke herum und legte sich dann der Länge nach darauf, rollte sich auf den Rücken und wieder zurück und blickte schließlich aus großen Augen sichtlich zufrieden zu ihr auf.

Eva lachte und kniete sich auf den leicht wulstigen Rand des Hundekissens. „Das gefällt dir gut, was?“

Und wie! Hier ist es geradezu himmlisch weich und bequem. Willst du auch mal ausprobieren?

Wieder wälzte Socke sich von einer Seite auf die andere und stieß dabei wohlige Laute aus. Eva streichelte ihn lächelnd und bildete sich ein, dass seine Rippen nicht mehr ganz so schrecklich scharf unter seinem Fell hervortraten.

„Ganz schön mager, der Kleine“, stellte Jochen fest, der neben sie getreten war und mitleidig auf den Hund hinabsah. „Unglaublich, dass es Leute gibt, die Tiere einfach aussetzen, anstatt sie in ein Tierheim zu bringen.“

Erneut erhob Eva sich. „Sie sollten sich gar nicht erst ein Tier anschaffen, wenn sie es doch nicht behalten wollen.“

„Richtig.“ Neugierig sah Jochen sich um. „Ein schönes Loft, das muss ich schon sagen.“

Auch Eva blickte sich um. Hier hatte sich in den vergangenen zwei Jahren nicht allzu viel verändert. Es gab ein paar neue Grünpflanzen, und auf dem Couchtisch langen natürlich andere Magazine als damals, aber ansonsten fühlte sie sich auf alarmierende Weise in der Zeit zurückversetzt.

André hatte für den Wohnbereich dunkle Steinfliesen gewählt, die aussahen wie Holzbohlen. Dazu dunkelbraune Möbel, die zu den hellen Wänden und einigen cremeweißen Skulpturen einen schönen Kontrast bildeten, und eine u-förmige Couchlandschaft in einem wunderschönen, leicht marmorierten Rotbraun. Auf der rechten Seite ging das Wohnzimmer in einen Essbereich mit einem großen Tisch über, an dem bis zu zwölf Personen mühelos Platz fanden. Dahinter konnte man etwas seitlich rechts durch einen mehr als zwei Meter breiten offenen Durchgang in den Küchenbereich gelangen. Dort war alles in Cremeweiß und hellgrauem Marmor gehalten. Riesige Arbeitsflächen, eine wunderschöne Insel mit Frühstückstresen, ein überdimensionaler Herd und die besten Küchengeräte, die man sich denken konnte. Natürlich legte André als Koch auf eine solche Ausstattung großen Wert, und sie wusste, dass er sie auch gerne benutzte. Sie war selbst schon in den Genuss einiger seiner Kreationen gekommen. Die Erinnerung ließ sie erneut an Jochens Vermutung denken, dass André sich in der Sozialstation vielleicht unterfordert oder gelangweilt fühlen könnte. Sollte das tatsächlich der Fall sein und André würde den Job dort zugunsten einer Stellung in einem Sterneschuppen, vielleicht sogar dem Chez Manuel, aufgeben, wäre das ein herber Verlust für Arthur. Sie konnte sich die Station ohne André in der Küche nicht vorstellen, denn er war bereits seit einer Weile dort gewesen, als sie ihre Stellung damals angetreten hatte. Den Gedanken daran, wie schnell sie sich zu dem attraktiven und smarten Koch hingezogen gefühlt hatte und wie rasch aus dieser beiderseitigen Anziehung eine heiße und äußerst intensive Affäre entstanden war, schob sie rigoros beiseite. „Ich denke, André hat sich hier sein Traumhaus erschaffen.“ Sie lächelte ­Jochen zu. „Die Familie seiner Schwester wohnt drüben im ehemaligen Stall genauso schön, wenn auch in einem etwas anderen Stil. Und das Wohnhaus haben sie gemeinsam für ihre Eltern sehr schön renoviert.“

„Eine kluge Investition.“ Jochen ließ noch einmal den Blick über die Einrichtung wandern, bevor er sich ihr wieder zuwandte. „Sie hat den Wiederverkaufswert des gesamten Anwesens enorm gesteigert, und man kann nun auch einzelne Teile davon unabhängig von den anderen veräußern. Kluger Schachzug. Wie Ihr Vater schon sagte, Eva, Immobilien sind nach wie vor eine gute und sichere Geldanlage. Ich besitze selbst eine hübsch renovierte Villa am Kölner Stadtrand, aber wenn ich mir dies hier ansehe, bekomme ich direkt Lust, nach einem Loft Ausschau zu halten. Natürlich in der Stadt, denn ich bin kein Landmensch, das gebe ich gerne zu. So eine Kleinstadt wie diese hier würde mich auf Dauer verrückt machen.“

„Tatsächlich? Ich finde es schön hier.“ Eva lehnte sich leicht gegen die Rückenlehne der Couch.

„Nun, man kann ja beide Welten miteinander verknüpfen, wenn man möchte.“ Jochen schaltete wieder einmal seinen Charme ein. „Meine Villa zum Beispiel liegt auch sehr schön ruhig inmitten eines hübschen Gartens und in einer sehr guten Nachbarschaft. Vielleicht kommen Sie mich einmal besuchen und überzeugen sich davon.“

„Vielleicht.“ Unauffällig blickte Eva auf ihre Armbanduhr.

Er verstand den Wink sofort. „Aber nun möchte ich mich verabschieden. Es ist schon spät, und Sie müssen sich ja um den Hund kümmern. Es scheint allerdings, als sei er eingeschlafen.“ Er blickte kurz zu Socke hinüber, der sich in die Decke gekuschelt und die Augen geschlossen hatte.

Gemeinsam begaben sie sich zur Tür. „Darf ich Sie bei ­Gelegenheit anrufen, Eva?“

Sie hätte gerne Nein gesagt, wollte aber nicht unhöflich sein, denn sie ahnte, dass Jochen und ihre Eltern auch geschäftlich miteinander zu tun hatten, und sie wollte nicht der Grund für ein Zerwürfnis sein. „Warum nicht?“ Sie lächelte ihm zu, versteifte sich aber eine Spur, als er sich vorbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.

„Ich komme bald drauf zurück, Eva.“ Er zwinkerte ihr zu und verließ das Haus. Sie sah ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging und Augenblicke später davonfuhr. Dann schloss sie seufzend die Tür. Diesmal hatten ihre Eltern bei ihrem Verkupplungsversuch ausgesprochen guten Geschmack bewiesen. Zu dumm, dass sie nicht einen Funken Interesse an Jochen Wennemann hatte. Im Gegenteil – er war für ihren Geschmack viel zu glatt. „Aalglatt“ war der Ausdruck, der ihr in den Sinn kam. Ein Geschäftsmann durch und durch, der hauptsächlich in Zahlen und Wieder­verkaufswerten dachte. Er war nett und zuvorkommend und …

„Langweilig“, murmelte sie vor sich hin und begab sich zurück ins Wohnzimmer. „Mal sehen, ob wir einen schönen Film finden, den wir zusammen anschauen können.“ Sie schnappte sich die Fernbedienung und setzte sich zu Socke auf das Hundekissen. Der kleine Hund hob erstaunt den Kopf.

Was denn jetzt? Willst du doch noch meinen neuen Schlafplatz ausprobieren? Das kannst du ruhig machen. Hier ist genug Platz für uns beide.

„Hier ist es ja wirklich gemütlich.“ Eva klopfte leicht gegen ihr Bein. „Komm, lass uns ein bisschen kuscheln.“

Kuscheln? Ehrlich jetzt? Darf ich? Mit einem seligen Quietschen robbte Socke zu ihr und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Das schien ihm jedoch nicht bequem genug, denn er zappelte ein wenig, bis sie ihn schließlich auf ihre Beine hob. Sie rückte mit dem gesamten Kissen ein wenig zur Seite, damit sie ihren Rücken gegen die Couch lehnen konnte. Mit der einen Hand kraulte sie Socke hinter den Ohren, mit der anderen tippte sie auf der Fernbedienung herum, bis sie ein Programm fand, das ihr gefiel.

***

Es war bereits fast halb zwei, als André nach Hause zurückkehrte. Im Haus war es dunkel; nur aus dem Wohnzimmer kam ein kleiner flackernder Lichtschimmer.

André folgte den leisen Stimmen aus dem Fernseher. Bei Evas Anblick durchfuhr ihn ein heftiger Stich. Sie saß nicht etwa auf der Couch, sondern lag neben Socke auf dessen Schlafplatz, eine Hand auf den Rücken des Hundes gebettet. Ihr schwarzes Kleid war weit über ihre Oberschenkel hochgerutscht und gab den Blick auf einen Streifen Haut über ihren halterlosen Strümpfen frei. Andrés Puls schoss unvermittelt in die Höhe. Rasch und dennoch sehr vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog er das Kleid ein wenig hinab und schloss für einen Moment verärgert die Augen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

Auf dem großen Flachbildschirm lief irgendeine Serie, die er nicht gleich zuordnen konnte. Erst als er sie stoppte, sah er in der Einblendung, dass es sich um die Gilmore Girls handelte, die Eva über Netflix angesehen hatte. Grinsend schaltete er den Fernseher ganz aus und ging dann neben dem Hundekissen in die Hocke. Socke hob fragend den Kopf, woraufhin er dem Hund beruhigend zulächelte. „Schsch, Kleiner, ich tue deinem Frauchen nichts“, flüsterte er. „Aber wenn sie die ganze Nacht hier liegt, wird sie mich morgen früh verfluchen.“ Vorsichtig hob er Eva hoch und bettete sie auf die Couch, ohne dass sie auch nur einen Hauch davon bemerkte. Aus einer Truhe zog er eine flauschige cremefarbene Decke und breitete sie sorgsam über ihr aus.

Socke war inzwischen auch aufgestanden und trippelte leise fiepend auf seinem Kissen herum.

Ich will ja nicht stören, aber ich fürchte, ich muss noch mal nach draußen. Eva war zwar vorhin schon mit mir im Garten, aber jetzt drückt es doch wieder, und das ist ausgesprochen unangenehm. Würdest du bitte …?

Überrascht blickte André auf den unruhigen Hund. „Musst du noch mal raus? Dann komm, wir beeilen uns. Ich bin nämlich ziemlich müde, und draußen ist es kalt und ungemütlich.“

Ich weiß, das war es vorhin schon. Regen und eisige Kälte. Ich halte mich auch bestimmt nicht lange auf.

Rasch nahm André Socke auf den Arm und trug ihn zur Terrassentür. Dabei trat er auf der Fußmatte in etwas Weiches. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, woraufhin er unterdrückt fluchte.

„Socke! Du hast ins Haus gemacht, pfui!“ Ungehalten öffnete er die Glastür und hüpfte mehr nach draußen, als dass er ging. Die Fußmatte nahm er mit und warf sie neben der Terrasse ins Gras.

„So eine Schweinerei! Sieh dir nur meinen Schuh an. Und die Matte muss ich morgen reinigen. Oder gleich wegwerfen. Hättest du nicht Eva wecken können, damit sie dich rauslässt?“

Oh, entschuldige, André, das hatte ich ganz vergessen. Socke zog bei Andrés wütender Stimme geknickt den Kopf ein. Ich hab noch versucht, Eva zu wecken, aber es war so dringend, und, na ja, ich wusste doch nicht, dass du darüber böse werden würdest. Der Hund winselte leise und wedelte verunsichert mit dem Schwanz. Ich mach’s auch nie wieder. Ganz bestimmt. Sei bitte nicht mehr böse auf mich!

„Ist ja schon gut, du brauchst nicht gleich zu gucken, als wollte ich dir den Kopf abreißen.“ Seufzend setzte André Socke hinter dem Haus bei einer Hecke ab und wartete geduldig, bis der Hund sein Geschäft erledigt hatte. Dabei bemühte er sich, die Überreste von Sockes Malheur, so gut es ging, am Gras abzustreifen. Als sie zurückkehrten, saß Eva aufrecht auf der Couch und fuhr sich gerade ordnend durch ihr leicht verstrubbeltes kurzes Haar. Bei Andrés Anblick sprang sie auf, sodass die Decke zu Boden rutschte. „Hallo, André. Entschuldige, ich muss wohl eingeschlafen sein. Wie bin ich denn auf die Couch gekommen?“

André ließ Socke vor sich durch die Terrassentür schlüpfen, zog die Schuhe aus und stellte sie draußen vor die Terrassentür.

„Persönlicher Liftservice. Ich habe angenommen, dass du nicht die ganze Nacht auf dem Hundekissen verbringen möchtest.“

Sie verzog verärgert die Lippen, wirkte aber gleichzeitig auch ein wenig verlegen. „Ich hatte überhaupt nicht vor, die Nacht hier zu verbringen. Weder auf dem Kissen noch auf deiner Couch.“ Ihre Miene verfinsterte sich noch mehr. „Auf der Jochen und ich, wohlgemerkt, keinen Sex hatten.“

„Da bin ich aber froh.“ Er grinste lakonisch.

„Sag mal, was sollte das eigentlich?“ Sie stemmte die Hände in die Seiten. „Spinnst du? Ich habe ihn gerade erst kennengelernt, und er hat nur darauf bestanden, mich hierherzubringen. Glaubst du, dafür zeige ich mich gleich mit einem Matratzenmambo erkenntlich? Ich wollte nicht unhöflich sein, weil meine Eltern sich sonst nur aufgeregt hätten.“

„Deine Eltern?“

Sie raufte sich die Haare und ging ein paar Schritte von ihm weg. „Ja, meine Eltern. Sie haben wieder mal beschlossen, dass ich endlich einen passenden Mann brauche. Wenn ich schon nicht ins Familienbusiness einsteigen will, muss ich doch wenigstens standesgemäß verheiratet werden, nicht wahr?“

„Standesgemäß?“ Verwundert musterte er ihren starren Rücken und die hochgezogenen Schultern.

Wütend drehte sie sich zu ihm herum. „Diesmal haben sie sich wirklich Mühe gegeben. Die letzten Kandidaten, die sie mir schmackhaft machen wollten, waren grauenhafte … Würmlinge.“

„Bitte was?“ Er konnte ihr allmählich nicht mehr folgen.

„Aber dieser hier, meine Güte, von dem hat sogar Elena gesagt, dass er eine Top-Partie ist. Groß, gut aussehend, charmant und garantiert steinreich.“ Wieder fuhr sie sich erregt durchs Haar. „Was ist eigentlich die Steigerung von steinreich? Das ist es nämlich, was wir wären, wenn ich den schönen Jochen heiraten würde. Ganz im Sinne meiner Eltern. Gewinnmaximierung durch Eheschließung. Dann hätte ich wenigstens einen Nutzen. Den habe ich jetzt nämlich nicht für sie, weil ich mich bisher geweigert habe, auf die von ihnen bevorzugte Weise zu leben.“

„Und die wäre?“ Er wusste noch immer nicht genau, was ihr Ausbruch zu bedeuten hatte.

„Geld scheffeln, schön aussehen und mit den richtigen Leuten auf Dinnerpartys Champagner schlürfen, um Kontakte zu knüpfen, mit denen sich noch mehr Geld scheffeln lässt. Vermutlich tue ich ihnen unrecht, denn die beiden sind damit durchaus glücklich und zufrieden. Der einzige Makel in ihrem Leben bin ich, weil ich kein Interesse am Geldscheffeln habe.“ Mit beiden Händen rieb sie sich übers Gesicht, dann erstarrte sie. „Scheiße!“

Er konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen. „Ist dir gerade eingefallen, dass du dein Bügeleisen nicht ausgeschaltet hast?“

Sie reagierte auf den lahmen Scherz überhaupt nicht. „Verfluchte Sch… Verflucht! Mist, Mist, Mist!“ Sie ließ die Hände sinken und starrte ihn mit regelrechtem Grauen an. „Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Sofort, verstanden? Es ist nicht gesagt worden. Geh ins Bett – und schlaf weiter. In Wahrheit schläfst du schon die ganze Zeit. Du hast nur geträumt.“

„Was habe ich geträumt? Dass du diesen Typen heiratest und dann steinreich bist?“

„Ja. Nein!“ Erbost starrte sie ihn an. „Ich heirate nicht. Jedenfalls nicht diesen Schönling. Und ich bin schon steinreich. Mit ihm wäre es nur …“

„Die Steigerung von steinreich.“

„Genau.“ Ihre Augen sprühten regelrecht zornige Funken. „Aber du musst auf der Stelle vergessen, was ich gerade gesagt habe. Ich bin nicht reich. Ich bin gar nichts.“

„Na, so würde ich das jetzt auch wieder nicht ausdrücken.“

„Oh doch, genau so.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vergiss es einfach, okay? Ich. Bin. Nicht. Reich.“ Sie betonte jedes Wort überdeutlich.

„Eben noch hast du gesagt, du seist es. Steinreich.“ Er legte den Kopf ein wenig schräg und feixte.

Sie trat noch einen Schritt auf ihn zu. „Ich war geistig umnachtet. Nicht zurechnungsfähig. Bin ich immer, wenn ich gerade aufgewacht bin. Ich will, dass du die ganze Szene eben aus deiner Erinnerung streichst.“

„Du willst nicht, dass jemand erfährt, wie viel Geld deine Familie besitzt und dass sie Hauptanteilshaber der Lange & Weilbach Versicherungs-AG ist.“

Sie atmete auf. „Endlich hat er es kapiert.“ Es dauerte einen Moment, dann weiteten sich ihre Augen vor Schreck. „Du hast es die ganze Zeit gewusst!“

Er nickte nur.

„Woher?“

„Deine Eltern sind Stammkunden im Chez Manuel. Mein Cousin sammelt stets alle relevanten Informationen über seine Gäste, um ihnen den bestmöglichen Service zu bieten. Es war nicht schwierig, dabei auch über Fotos der einzigen Tochter und Erbin der beiden zu stolpern. Zumindest über Kinder­fotos. Später hast du dich ja recht erfolgreich aus dem Internet zurückgezogen.“

„Aus gutem Grund!“ Sie starrte ihn noch immer vollkommen perplex an. „Warum hast du nie etwas darüber gesagt?“

Nun trat er seinerseits einen Schritt auf sie zu und wurde ernst. „Weil es niemanden etwas angeht. Du hast selbst nie von deiner Familie oder eurem Vermögen gesprochen, warum also sollte ich das tun?“

Sie schluckte hart und wandte den Blick ab. „Danke.“ Im nächsten Moment ruckte ihr Kopf hoch. „Du hast es also von Anfang an gewusst. Hast du es deshalb länger als üblich mit mir ausgehalten? Weil sich eine reiche Erbin mehr lohnt als die Tussis, mit denen du dir sonst deine Zeit vertreibst?“

Erstaunt runzelte er die Stirn, dann stieg auch in ihm Ärger hoch. „Spinnst du? Was ist das denn für eine Unter­stellung?“

„Eine plausible, glaub mir.“

„Du bist ja verrückt. Als wir uns kennengelernt haben, wusste ich noch nicht, wer du bist. Das hat sich erst etwas später zufällig ergeben.“

„Ja, genau.“ Sie funkelte ihn fuchsteufelswild an. „Und da hast du dann gedacht, dass man es ja vielleicht auch länger mit mir aushalten könnte. Wäre doch durchaus lukrativ gewesen.“

Nun verschränkte er ebenfalls die Arme. „Das ist der größte Humbug, den ich je gehört habe. Kann es sein, dass du unter einem leichten Verfolgungswahn leidest?“

„Und wennschon.“ Sie wandte sich ab und ging hinüber zum Eingangsbereich, um ihren Mantel vom Haken der Garderobe zu nehmen. „Ich habe gute Gründe dafür. Dass du auch zu dieser Sorte Goldgräber gehörst … Aber es erklärt vieles. Gut, dass wir das ein für alle Mal geklärt haben.“ Sie kämpfte sich in den Mantel hinein und zerrte ungeduldig daran herum.

André war mit wenigen Schritten bei ihr und hielt sie am Arm fest. „Ich bin kein verdammter Goldgräber.“

„Ach nein?“ Sie riss sich los und steuerte auf Sockes Körbchen zu, wohl um sich von dem Hund zu verabschieden. „Von meiner Warte aus ergibt das alles jetzt einen ganz eindeutigen Sinn.“

Unbeirrt folgte er ihr und hielt sie erneut am Arm zurück. „Nun mach mal einen Punkt, Eva. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt vor, dich oder dein Geld auszunutzen. Das ist vollkommen lächerlich.“ Als sie ihn nur weiter wütend ansah, machte er eine ausholende Bewegung mit der Hand, um ihren Blick auf sein Loft zu lenken. „Sieh dich doch mal um! Ich habe selbst ein mehr als ausreichendes Einkommen, von dem ich nicht weiß, wie ich es ausgeben soll. Was in aller Welt soll ich denn mit noch mehr Geld?“

Sie folgte mit ihrem Blick der Bewegung seiner Hand, dann senkte sie den Kopf und starrte auf den Boden. „Gewinn­maximierung hat laut Aussage meines Vaters noch nie geschadet.“

Er schüttelte noch immer wütend den Kopf. „Das mag seine Ansicht sein, aber es ist nicht die meine. Ich bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe, und selbstverständlich freue ich mich, dass das Chez Manuel so gut läuft, dass ich mir das ­alles hier“, erneut deutete er auf seine Umgebung, „problemlos leisten kann. Aber an welcher Stelle hattest du je den Eindruck, ich sei an einer Gewinnmaximierung, wie du es nennst, interessiert? Glaubst du, die finde ich in der Sozialstation? Oder meinst du, ich hätte sie forciert, als ich mit eigenen Händen den Putz von den Wänden dieser Scheune geklopft und die alten Dachbalken herausgerissen habe? Oder als ich Noah und Lidia bei der Renovierung ihres Hauses geholfen habe? Welchen Gewinn, einmal abgesehen von einem guten Quantum Lebensqualität und Freundschaft, habe ich dabei maximiert?“ Er hob die Hände, um sie Eva auf die Schultern zu legen, entschied sich jedoch anders und ließ sie wieder sinken. „Ich will einfach nur so leben, wie es mir gefällt, nicht mehr und nicht weniger.“

Eva löste ihren Blick vom Boden und richtete ihn starr auf Socke, der ihrem Disput aufmerksam und mit leicht angelegten Ohren folgte. „Du musst aber zugeben, dass die Tatsachen nicht sehr nach Zufall aussehen.“

„Welche Tatsachen?“ Er versuchte sich zu erinnern, was er vor zwei Jahren gesagt oder getan haben könnte, was sie jetzt im Nachhinein zu diesem Schluss führte.

„Du sagst … behauptest, du hättest erst nach einer Weile vom Geld meiner Familie erfahren. Und prompt bist du länger mit mir zusammengeblieben als je mit einer Frau zuvor. Jedenfalls, wenn man den Aussagen all unserer Freunde und Bekannten glauben darf, und die haben keinen Grund, mich zu belügen.“

Nun war es an ihm, sich mit gespreizten Fingern durch sein Haar zu fahren. Sein momentaner Ärger mischte sich mit dem Nachhall des Frustes und einiger noch schmerzhafterer Empfindungen, von denen er geglaubt hatte, dass sie längst begraben seien. Ehe er wusste, was er tat, hatte er sie an den Oberarmen gepackt und mit einem Ruck zu sich herangezogen. Sie prallte gegen ihn und wich reflexartig zurück, die Augen vor Überraschung geweitet. Er ließ ihr jedoch nur wenig Raum zum Rückzug; gerade genug, dass sie zu ihm aufsehen konnte. Ihre Körper berührten sich noch immer leicht. „Vielleicht lief es einfach so gut zwischen uns, dass ich keinen Grund gesehen habe, etwas an der Situation zu ändern.“ Er merkte, dass seine Stimme einen rauen Unterton angenommen hatte, der sich auch durch Räuspern nicht vertreiben ließ. Ihre Nähe verursachte ihm einen schmerzhaften Stich, der seinen Pulsschlag in die Höhe trieb. „Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen? Und überhaupt, weshalb regst du dich eigentlich so auf? Du warst es doch, die Schluss gemacht hat. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du mir nur mal zeigen, wie es ist, abserviert zu werden. Das waren doch deine Worte, oder etwa nicht?“

„Ja, waren sie.“ Evas Brust hob und senkte sich unregelmäßig, ihr Atem ging immer flacher.

„Was interessiert es dich also, was meine Motive waren, wenn die deinen schon so fragwürdig gewesen sind? Zumindest von meiner Warte aus gesehen.“

Für einen langen Moment blickten sie einander schweigend in die Augen. Evas Pupillen weiteten sich zunehmend, sodass schließlich nur noch ein kleiner blauer Kranz um sie herum zu erkennen war. Sie schluckte und machte sich im nächsten Moment abrupt von ihm los. „Ich gehe jetzt.“

„Wohin?“ Rasch stellte er sich ihr in den Weg.

„Nach Hause, was denn sonst? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Sag mir nur, wann ich Socke morgen abholen soll. Ich kann mich den ganzen Tag um ihn kümmern.“

„Abholen?“

„Ich kann mit ihm spazieren gehen.“

André warf dem kleinen Hund einen Blick zu. „Ich glaube nicht, dass er dazu schon kräftig genug ist.“

„Dann trage ich ihn eben spazieren.“ Sie reagierte wieder deutlich aggressiv, was ihn davon abhielt, ihr noch einmal zu nahe zu kommen. Er wollte es schließlich nicht auf die Spitze treiben. Der kurze Moment eben war ihm schon deutlich zu sehr auf den Magen geschlagen.

„Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Aber du gehst jetzt nicht nach Hause.“

„Warum nicht?“ Sie hatte nun wieder sämtliche Stacheln aufgestellt.

Er zuckte so lässig wie möglich mit den Achseln. „Weil es mitten in der Nacht ist, weil es regnet und weil der Regen auf den Straßen und Wegen gefriert. Du kommst keine fünfzig Meter weit, bevor du dir den Fuß verstauchst – oder Schlimmeres.“

„Das könnte dir so passen.“ Sie wirbelte herum und ging zur Haustür, riss sie auf und stieß einen heftigen Fluch aus.

André blieb diesmal im Wohnzimmer stehen. „Du kannst in meinem Bett schlafen, wenn du willst.“

Sie warf ihm einen bezeichnenden Blick zu und zog ihren Mantel wieder aus. „Ich nehme die Couch.“

8. Kapitel

Am Montagmorgen fühlte Eva sich trotz des arbeitsfreien Wochenendes, das hinter ihr lag, erschöpft. Nicht körperlich, sondern seelisch. Es war anstrengender als gedacht, mit André auszukommen, auch wenn er ihr meistens aus dem Weg ging, wenn sie kam, um sich um Socke zu kümmern. Er hatte ihr einen Zweitschlüssel zu seinem Loft gegeben, damit sie ein und aus gehen konnte, wie sie wollte. An sich war das Arrangement sinnvoll, doch die Erkenntnisse, die sie über ihn erlangt hatte, beschäftigten sie beinahe ständig. Dass er die ganze Zeit – oder zumindest fast die ganze Zeit – gewusst hatte, wer sie war, ließ ihr keine Ruhe. Die plötzlich hochgespülten Gefühle, als sie ihm kurz so nah gewesen war, taten nichts, um ihren Seelenfrieden wiederherzustellen, im Gegenteil. Sie hatte sich zwei Jahre lang die größte Mühe gegeben, ihn zu vergessen, doch all ihre Bestrebungen waren von ihm innerhalb eines winzigen Augenblicks zunichtegemacht worden. Sie reagierte noch immer genauso auf ihn wie damals, mit Herzklopfen, Schmetterlingen im Bauch und – Himmel! – diesmal sogar beinahe mit Schnappatmung. Das durfte nicht sein. Sie musste unbedingt verhindern, dass sich so etwas noch einmal wiederholte. Auf keinen Fall würde sie denselben Fehler zweimal begehen.

Glücklicherweise hatte er heute noch einen freien Tag, sodass sie sich in der Station nicht begegnen würden und er sich während ihrer Arbeitszeit um Socke kümmern konnte. Sie wollte Arthur heute fragen, ob sie den Hund zeitweise mit zur Arbeit bringen durfte. Da Lidia und Noah ihren Hund Amor auch regelmäßig dabeihatten – er besaß sogar ein kleines Gehege mit Hundehütte im Hof, das aber nur bei wärmerem Wetter genutzt wurde –, glaubte sie nicht, dass ihr Chef etwas dagegen haben würde.

Sie griff gerade nach ihrem Wintermantel, weil es Zeit war, sich auf den Weg zu machen, als ihr Handy klingelte. Ein Blick auf das Display ließ sie die Stirn runzeln. „Hallo, Papa.“

„Guten Morgen, Eva.“ Albert Langes Stimme klang geschäftsmäßig. „Ich habe leider sehr schlechte Nachrichten für dich.“ Er war ein Mann, der immer gleich auf den Punkt kam.

„Was für schlechte Nachrichten. Ist etwas passiert?“ Ein unbehaglicher Schauder wanderte über ihr Rückgrat.

„So könnte man es sagen. Du weißt, dass unsere Firma die Versicherungen für das Bauunternehmen stellt, von dem auch das Gebäude errichtet worden ist, in dem deine neue Wohnung liegt?“

„Ja.“ Das Unbehagen steigerte sich. „Gibt es ein Problem?“

„Allerdings. Unsere Sachverständigen haben, um die Versicherungssumme des fertigen Gebäudes zu errechnen, eine Gruppe Sachverständige dorthin geschickt, um ein Gutachten zu erstellen. Dabei sind ihnen diverse gravierende Baumängel aufgefallen. Übrigens auch in einigen weiteren Gebäuden, die von dem Unternehmen gebaut worden sind. Wir gehen von gezieltem Betrug aus und haben die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Das bedeutet leider, dass du deine Wohnung nicht wie geplant beziehen können wirst. Das Gebäude wurde vollständig gesperrt und für nicht bewohnbar erklärt.“

Eva ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“

„Leider doch. Es tut mir wirklich leid, aber du wirst dir eine andere Bleibe suchen müssen.“

„Aber …“ Sie rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn. „Wie soll das denn so kurzfristig gehen?“

„Vielleicht kannst du deinen alten Mietvertrag übergangsweise verlängern? Es wird mindestens bis zum Frühjahr, eher sogar bis zum Sommer dauern, bis das Gebäude freigegeben werden kann.“

„Oh Mann. Nein, in meiner alten Wohnung kann ich nicht bleiben. Frau Stralsund hat bereits Nachmieter, und außerdem duldet sie keine Hunde im Haus. Ich kann Socke nicht ewig bei André unterbringen.“

„Also das mit dem Hund hättest du dir unter den derzeitigen Umständen wirklich überlegen müssen, Eva.“

Sie verdrehte die Augen. „Als wir ihn fanden, konnte ich doch nicht wissen, dass meine neue Wohnung nicht bewohnbar sein würde.“

„Du könntest solange bei uns bleiben. Der Hund wird deiner Mutter zwar auch nicht gefallen, aber wir können der Zugehfrau ja sagen, dass sie öfter sauber machen muss, solange ihr da seid.“

„In eurer Hochhauswohnung in Köln?“ Eva schüttelte den Kopf, obwohl ihr Vater das ja nicht sehen konnte. „Das will ich nicht. Es ist zu weit von meiner Arbeitsstelle entfernt, und Socke kann dort auch nicht gut bleiben. Man muss regelmäßig mit ihm rausgehen, und bei euch gibt es nicht mal einen Grünstreifen in der Nähe.“

„Ich kann mich nach anderen Wohnungen umhören, wenn du willst.“

„Ja, danke.“ Sie ahnte bereits, dass ihr keine der von ihrem Vater vorgeschlagenen Wohnungen gefallen würde. „Aber hier in der Nähe, wenn es geht.“

„Ich strecke meine Fühler aus.“

„Das muss ich wohl auch tun. Aber wie soll ich innerhalb von zwei Wochen eine neue Bleibe finden? Noch dazu eine, in der ich nur ein halbes Jahr wohnen werde.“

„Du hast auch die Möglichkeit, den neuen Mietvertrag zu kündigen. Bei solchen außergewöhnlichen Voraussetzungen dürfte das nur eine Formsache sein.“

Seufzend schüttelte sie erneut den Kopf. „Die Wohnung hat mir aber gefallen. Jedenfalls auf den Plänen. Sie wäre perfekt für mich gewesen.“

„Denk darüber nach. Ich helfe dir gerne mit dem Papierkram. Es gibt noch viele andere gute Wohnungen, Eva. Sinnvollerweise solche, die du nicht nur mietest, sondern kaufst.“

„Ich will jetzt noch keine Eigentumswohnung, Papa. Wie oft muss ich das noch wiederholen?“

„Das ist unvernünftig.“

„Und wennschon.“

„Über diese Impertinenz höre ich jetzt mal gnädig hinweg, weil ich mir vorstellen kann, dass du wegen der Unannehmlichkeiten verärgert bist. Wie lief es eigentlich neulich mit Jochen?“

Sie stand wieder auf und griff erneut nach ihrem Mantel. „Wie soll es gelaufen sein? Er hat mich zu Andrés Haus gefahren, dort noch kurz Hallo gesagt und ist dann wieder abgedampft.“

„Er hat dich nicht zum Essen eingeladen?“

„Zu was für einem Essen?“ Misstrauisch hielt sie inne.

„Na, zum Abendessen, Lunch, was auch immer. Er ist ein sehr angenehmer junger Mann und ein guter Geschäftspartner unserer Firma. Wir fänden es sehr … nett, wenn du und er … Wenn ihr euch näher kennenlernen würdet.“

„Ihr fändet es passend“, korrigierte Eva verärgert. „Das war nicht zu übersehen. Weshalb sonst bringt ihr ihn unangemeldet mit zu einem Familienessen, obwohl wir uns schon seit Monaten nicht mehr gesehen haben?“

„Wir dachten, es wäre eine gute Gelegenheit, euch miteinander bekannt zu machen.“

„Was ihr hiermit getan habt.“

„Ihr geht also nicht miteinander aus? Hast du ihn etwa in deiner unhöflichen Art abgewimmelt?“

Sie blickte genervt zur Decke. „Er hat meine Telefonnummer. Das nehme ich zumindest an, denn ihr habt sie ihm sicherlich gegeben. Er will mich anrufen.“

„Sehr schön. Aber er hat noch nicht angerufen?“

„Nein.“

„Bestimmt, weil er übers Wochenende unterwegs war. Er ist ein viel beschäftigter Mann, daran solltest du dich gleich gewöhnen.“

„Ich will mich an gar nichts gewöhnen, Papa. Jochen ist nicht mein Typ.“

„Das kannst du doch noch gar nicht wissen, ehe du ihn besser kennengelernt hast. Gib ihm eine Chance.“

Das würde sie auf gar keinen Fall tun. „Ich muss jetzt los, Papa. Mein Dienst fängt gleich an. Grüß Mama von mir.“ Ohne auf einen Abschiedsgruß ihres Vaters zu warten, drückte sie das Gespräch weg und presste ihr Gesicht für einen Moment in das flauschige Futter ihres Mantels, bevor sie hineinschlüpfte.

***

„War das nicht ein bisschen harsch von dir, Santa?“ Elf-Dreizehn, der gerade ein neues Update auf den Computer des Weihnachtsmannes spielte, sah kurz von seiner Arbeit auf, nachdem er von Elfe-Sieben über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis gesetzt worden war. „Ich meine, das ist ja schon ziemlich harter Tobak, gleich Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschalten, nur um diesen Wunsch zu erfüllen.“

Santa Claus hatte es sich mit auf dem Bauch gefalteten Händen in einem seiner Besuchersessel bequem gemacht und lächelte vor sich hin. „Manchmal bedarf es eben der schweren Geschütze. Außerdem konnte ich damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wenn ich das täte, aber selbstverständlich würde ich niemals einer Fliege etwas zuleide tun.“

„Wie meinst du das?“ Verblüfft hielt Elf-Dreizehn in seiner Arbeit inne.

Elfe-Sieben kicherte. „Wir haben vor einiger Zeit, es muss im Sommer gewesen sein, über unseren Weihnachtswunsch-Scanner ein Gespräch des Staatsanwalts aufgefangen, das er mit einem Kollegen geführt hat. Darin hat er unter anderem von diesem Bauunternehmer gesprochen und wie gerne er ihm seine Betrügereien nachweisen können würde.“

„Das ist doch kein Weihnachtswunsch, sondern einfach nur sein Job.“

„Nun ja, das stimmt schon.“ Santa nickte dem Elf zu. „Aber er hat dabei auch gesagt, und ich zitiere: Das schreibe ich dieses Jahr auf meinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann. Tja, und damit wurde es zu einem Weihnachtswunsch.“

„Das war doch nur so von ihm dahingesagt.“ Elf-Dreizehn schmunzelte. „Ganz sicher hat er das nicht ernst gemeint.“

Santa hob nur vergnügt die Schultern. „Das spielt für mich keine Rolle. Ein Wunsch ist ein Wunsch ist ein Wunsch. Du kennst mein Motto. Und vielleicht bringt ihm das ja jetzt seinen Glauben an die Magie der Weihnacht zurück.“

„Falls er sich überhaupt noch an seine Worte erinnert“, warf Elf-Dreizehn skeptisch ein.

„Dafür werden wir schon sorgen.“ Elfe-Sieben grinste schelmisch. „Du weißt doch, dass wir dafür Mittel und Wege haben. Er wird sich daran erinnern.“

„Wie ihr meint.“ Achselzuckend wandte sich Elf-Dreizehn wieder dem Computer zu. „Hauptsache, diese Aktion bringt, was Santa sich erhofft hat.“

„Das werden wir bald sehen.“ Santa Claus erhob sich. „Entschuldigt mich, ich muss in der Geschenkefabrik nach dem Rechten sehen. Elfe-Neunzehn sprach kürzlich davon, dass sie gerne eine weitere Verpackungseinheit einbauen lassen würde. Dazu müssten wir möglicherweise kommendes Frühjahr anbauen, und dazu soll Elf-Dreißig die Pläne zeichnen. Sagt mir Bescheid, wenn sich hier etwas Ungewöhnliches tut, und passt bitte auf, dass Eva nur ja keine andere Wohnung findet. Diesbezüglich habe ich weitgehend alles in die Wege geleitet, aber haltet trotzdem ein Auge darauf.“

„Klar, Santa, machen wir.“ Elfe-Sieben winkte ihm fröhlich zu. „Im Augenblick sieht alles ganz friedlich und planmäßig aus.“

„Bist du sicher?“ Kaum war der Weihnachtsmann verschwunden, deutete Elf-Dreizehn auf den Gefühlsradar ­hinter sich in der Zimmerecke. „Das Ding knistert und rattert schon eine ganze Weile vor sich hin.“

„Tatsächlich? Oje, lass sehen!“ Die kleine Elfe eilte zu dem Gerät und überprüfte alle Funktionen. „Santa Claus hat nach der letzten Lagebesprechung mal wieder vergessen, den Ton einzuschalten“, murmelte sie und drückte einen Knopf, woraufhin das Radar einen schrillen Ton von sich gab, den sie rasch herunterregelte. „Liebe Zeit, das hört sich aber besorgniserregend an. Hoffentlich ist unser schöner Plan nicht in Gefahr!“

„Ihr habt da aber auch ein gewagtes Spiel angefangen.“ Mit flinken Fingern tippte Elf-Dreizehn auf der Tastatur herum, dann schaltete er den Computer aus und wieder ein. „So, das wär’s, das Update ist vollständig.“

„Es ist überhaupt nicht gewagt!“, protestierte Elfe-Sieben, schränkte dann jedoch ein. „Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber die Aussichten auf Erfolg sahen so gut aus!“

Beruhigend klopfte Elf-Dreizehn ihr auf die Schulter. „Nun mach dich nicht verrückt. Bloß weil das Gefühlsradar anschlägt, bedeutet das ja noch nicht, dass etwas Schlimmes passieren muss, sondern nur, dass auf der Erde gerade Gefühle heftig in Aufruhr geraten sind. Das kann ja vielleicht auch etwas Gutes bedeuten.“

Die Elfe seufzte. „Das tut es aber selten. Na gut, du hast ja recht. Vielleicht irre ich mich auch, und alles läuft doch noch so, wie es soll.“

9. Kapitel

Die Tage vergingen, ohne dass Eva oder ihr Vater eine neue Wohnung fanden, die so kurzfristig bezugsfertig sein würde. Innerlich rang sie bereits mit sich, doch noch das Angebot ihrer Eltern anzunehmen, zeitweilig bei ihnen einzuziehen, aber das widerstrebte ihr zutiefst. Lieber würde sie in ein Hotel gehen, doch selbst das gestaltete sich als schwieriger als gedacht, denn die Hotels und Pensionen im Ort und in der näheren Umgebung waren über Weihnachten und Neujahr alle ausgebucht.

Zumindest hatte sie bereits einen Lagerraum für ihre Möbel und Umzugskisten gemietet und wollte Arthur fragen, ob sie am ersten Adventswochenende den Transporter ausleihen dürfe, um ihre Habe abzutransportieren. Glücklicherweise sah ihr alter Mietvertrag mit Frau Stralsund nicht vor, dass sie die Wohnung auch noch renovieren musste, bevor sie sie verließ, andernfalls wäre sie wohl verrückt geworden. So hatte sie zumindest etwas Zeit, nach einer neuen Bleibe Ausschau zu halten.

Es schien jedoch wie verhext zu sein. Weit und breit stand kein Wohnraum zur Verfügung, nicht einmal eine Ferienwohnung. Kurz hatte sie schon die Hoffnung gehabt, in der Ferienhaussiedlung am Waldrand fündig zu werden, doch dann hatte ihr ein Wasserschaden einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nun war schon wieder Freitag, und sie hatte keine Ahnung, wie sie verhindern sollte, dass sie in knapp einer Woche auf der Straße stand.

In der Sozialstation hatte sie noch niemandem von ihrem Dilemma erzählt, denn bisher hatte sie gehofft, das Problem einfach lösen zu können. Nun blieb ihr vielleicht nichts anderes übrig, als Arthur zu bitten, sie für eine Weile in einer der Obdachlosenunterkünfte schlafen zu lassen, bis sich ihre Wohnsituation geklärt hatte. Das war ihr allerdings furchtbar peinlich, und sie hätte alles darum gegeben, einen anderen Weg aus ihrem Problem zu finden.

Hinzu kam noch, dass Jochen seit einigen Tagen regelmäßig anrief und sie zu einem Date drängte. Er war tatsächlich gleich nach dem Abendessen mit ihren Eltern ins Ausland geflogen, befand sich nun jedoch wieder in Köln und war offensichtlich sehr daran interessiert, ihre Bekanntschaft zu vertiefen. Sogar Blumen hatte er ihr schon einmal geschickt. Allmählich ging er ihr damit auf den Geist. Sie hatte ihn bisher nur hingehalten, würde aber wohl nicht darum herumkommen, ihm klipp und klar zu verstehen zu geben, dass sie nicht an ihm interessiert war. Im Augenblick hatte sie jedoch anderes im Kopf und schob das klärende Gespräch immer wieder vor sich her.

Entsprechend nervös und gereizt war sie inzwischen, obwohl sie sich zumindest bei der Arbeit Mühe gab, ausgeglichen und fröhlich wie immer zu wirken. Am heutigen Freitagnachmittag fand der wöchentliche Seniorenkaffee statt, und sie wirbelte schon seit einer guten Stunde zwischen den voll besetzten Tischen herum, um Kaffee oder Tee auszuschenken, die Schalen mit Lidias duftendem Weihnachtsgebäck aufzufüllen und mit den Anwesenden zu sprechen, um herauszufinden, ob es Probleme gab, um die die Sozialarbeiter, allen voran Noah, sich kümmern mussten.

Bei einer ihrer Runden durch den Aufenthaltsraum stolperte sie über einen Rucksack, der an einem der Tischbeine lehnte, und kalter Kaffee aus der Tasse, die sie gerade abgeräumt hatte, ergoss sich über ihr hellblaues Shirt. „Verflixt!“ Gerade noch konnte sie verhindern, dass Tasse und Untertasse auf den Steinfliesen landeten.

„Ach herrje, Entschuldigung!“ Anneliese sprang erschrocken auf und nahm ihr das Geschirr ab. „Tut mir leid, Eva, das ist mein Rucksack. Ich hätte ihn da nicht abstellen dürfen. Nun sieh sich einer den Fleck auf deinem Oberteil an. So ein Ärger!“

„Ach, schon gut.“ Eva schnappte sich eine Serviette vom Tisch und tupfte an dem Fleck herum, der sich von ihrer ­linken Brust bis zum Bauch hinabzog. „Das kann ich ja wieder rauswaschen.“

„Ja, aber es war meine Schuld.“ Anneliese trug das Geschirr in Windeseile zu dem Rollwagen, auf dem die schmutzigen Teller und Tassen gesammelt wurden, und kehrte gleich wieder zurück. „Entschuldige bitte, Eva. Ich kann das Shirt gerne mitnehmen und waschen, wenn du willst. Das macht gar keine Umstände. Ich hoffe, du hast etwas zum Wechseln hier?“

„Ich finde schon was.“ Eva versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln. „Und du brauchst dir keine Mühe zu machen. Ich bin doch nur gestolpert, weil ich nicht aufgepasst habe, wohin ich trete.“

„Bist ’n bisschen durcheinander in letzter Zeit, was?“ Walter, der am selben Tisch saß wie Anneliese, blickte von seinem Buch auf. „Biste verliebt oder was?“

„Walter!“ Empört stieß Anneliese ihn an. „So etwas fragt man doch nicht!“

„Warum nich’?“

„Weil es dich nichts angeht.“ Streng sah sie ihn an, wandte sich dann aber wieder Eva zu. „Ich habe allerdings auch den Eindruck, dass du seit ein paar Tagen ein bisschen neben dir stehst. Du wirst uns doch hoffentlich nicht krank?“

„Aber nein, Anneliese.“ Eva schüttelte den Kopf. „Es ist alles in Ordnung.“

„So’n Quatsch, krank. Wo sieht dat Mädel denn bitte krank aus?“, mischte Walter sich erneut ein. „Neben sich, ja, dat schon. Hast Männerprobleme, was? So was seh ich auf’n ersten Blick. André kann’s nich’ sein, der kümmert sich ja um deine Socke.“ Er kicherte, offenbar noch immer erheitert über die Doppelsinnigkeit des Namens. „Wie geht’s dem Hündchen denn übrigens? Hab ihn heute noch gar nich’ gesehen. Is’ er hinten in der Küche?“

„Nein, oben bei Belinda. Sie spielt ein bisschen mit ihm und Amor.“

„Gut, gut. So ein putziges Tier. Haste gut gemacht, den zu behalten.“ Walter nickte beifällig. „Aber nun sag schon, welcher Kerl hat es dir denn angetan, dass du nur noch an ihn denkst und nicht mehr guckst, wohin du läufst?“

„Gar keiner, Walter. Ich habe nur ein paar private Probleme, aber die kriege ich schon noch in den Griff.“

Sie hatte den Satz kaum beendet, als André aus der Küche kam, in der Hand ihr Smartphone. „Hier, der Akku ist endlich vollgeladen. Du solltest wirklich einen neuen besorgen, der braucht ja ewig, um aufzuladen.“

Sie nahm ihm das Handy seufzend ab. „Dafür ist er umso schneller wieder leer.“

„Es hat übrigens mehrmals gepiepst. SMS vermutlich.“

Sie wischte über das Display, um nachzusehen, von wem die Nachrichten kamen.

„Bestimmt von deinem Verehrer, was?“ Walter ließ sich nicht beirren.

„Nein, von meinem Vater.“ Sie überflog die SMS und stieß einen verärgerten Laut aus. Er hatte noch immer kein Glück hinsichtlich einer Wohnung, mal abgesehen von einem schicken Appartement in Düsseldorf, das günstig zum Verkauf stand. „Düsseldorf!“, murmelte sie verärgert. „Das ist wohl nicht dein Ernst.“

In einer zweiten Nachricht wies er sie darauf hin, dass am zweiten Adventswochenende eine Dinnerparty bei ihren Eltern stattfand, bei der ihre Anwesenheit dringend erwünscht sei. Genervt rollte sie mit den Augen. Jochen würde auch dort sein. Natürlich.

„Was ist in Düsseldorf?“ André stand noch immer neben ihr, und sie erschrak ein wenig.

„Nichts.“

„Wegen nichts machst du so ein Gesicht?“

„Eine Wohnung.“

„Du willst umziehen? Nach Düsseldorf?“ Anneliese hob erschrocken den Kopf. „Verlässt du uns etwa, Kindchen? Das wäre aber schade.“ Streng blickte sie zu André. „Wehe, daran bist du schuld. Hast du sie mit deiner ständigen Zankerei etwa vertrieben?“

„Hey, hey!“ Abwehrend hob er beide Hände. „Ich habe nichts damit zu tun.“ Argwöhnisch musterte er Eva. „Du willst wegziehen? Etwa zu diesem Jochen?“

Irritiert über seinen merkwürdigen Tonfall musterte sie ihn kurz. „Nein, ich ziehe nicht nach Düsseldorf. Mein Vater hat mir nur den Vorschlag gemacht …“ Sie winkte ab. „Vergesst es einfach, ja?“

Walter grinste. „Hätt’ mich auch stark gewundert. So feige biste doch wohl wirklich nicht, oder?“ Sein Blick wanderte in Andrés Richtung.

Eva spürte eine unangenehme Wärme in ihre Wangen steigen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Entschuldigt mich, ich muss ein anderes Oberteil anziehen.“ Sie wollte einen Schritt an André vorbeimachen, als ihr Handy erneut piepste und in ihrer Hand vibrierte. Diesmal kam die SMS von Jochen.

Bin zufällig in der Gegend. Komme Sie besuchen. Vielleicht gemeinsames Abendessen nach Feierabend?

Stöhnend schloss sie für einen Moment die Augen. „Auch das noch.“ Sie begann bereits, eine ablehnende Antwort zu tippen, als André sich räusperte.

„Ist das nicht der Wagen deines neuen Freundes?“

„Was?“ Entsetzt hob sie den Kopf und sah durch die Fenster, die zur Straße hinausgingen, einen schwarzen Audi A8 direkt vor der Eingangstür halten. „Scheiße.“ Sie schluckte. „Entschuldigung. Ich muss … mich umziehen.“ So schnell sie konnte, eilte sie in die Küche und von dort aus in die Waschküche, wo sie in einem Spind ein paar Kleider und Wäsche zum Wechseln aufbewahrte.

Gleichermaßen wütend über sich und Jochens unangemeldetes Erscheinen, riss sie ihr Shirt über den Kopf und pfefferte es in eins der beiden tiefen Waschbecken. Auch ihr hübscher Spitzen-BH hatte etwas von dem Kaffee abbekommen, sodass sie ihn kurzerhand ebenfalls auszog und dem Shirt folgen ließ. Rasch öffnete sie ihren Spind und wühlte darin auf der Suche nach dem Bustier, von dem sie sicher war, dass es irgendwo sein musste. Sie hatte es gerade gefunden, als sie hinter sich Schritte und ein Räuspern vernahm.

„Geh weg, André. Siehst du nicht, dass ich halb nackt bin?“

Anstatt kehrtzumachen, betrat er den Raum. „Das war für mich schon immer mehr ein Anreiz zu bleiben als zu ge­hen.“

Erbost kämpfte sie sich in das Bustier, bevor sie sich zu ihm umdrehte. „Lass mich in Ruhe, ich bin beschäftigt.“

„Das sehe ich. Hast es ja ganz schön eilig, dich für den Typen schön zu machen.“ Seine Stimme klang unterschwellig aggressiv, was sie noch mehr aufbrachte.

„Ich mache mich nicht schön, sondern hatte einen Kaffeefleck auf dem Shirt. So wie du mir gerade auf die Brust starrst, hätte dir das vorhin eigentlich auffallen müssen.“

Sein Blick wanderte betont langsam von ihrem Dekolleté zurück zu ihren Augen. „Es ist mir aufgefallen. Aber auch, dass du dich dafür, dass du angeblich kein Interesse an dem Kerl hast, ganz schön beeilst, um ihn besagten Fleck nicht sehen zu lassen.“

Beinahe hätte sie einen verzweifelten Laut ausgestoßen. Da sie ihm schlecht gestehen konnte, dass ihre Flucht aus dem Aufenthaltsraum nicht allein mit Jochen zu tun hatte, wandte sie sich einfach schweigend ab und zerrte einen flauschigen grauen Pullover aus ihrem Spind hervor. Rasch zog sie ihn an und knallte die Spindtür wieder zu. „Hast du keine Arbeit, die auf dich wartet?“ Möglichst würdevoll versuchte sie an ihm vorbei die Waschküche zu verlassen, doch er machte flink einen Schritt zur Seite und stellte sich ihr in den Weg.

„Was läuft da zwischen dir und diesem Typ?“

Sie wich zurück, weil seine Nähe ihr ein heftiges Flattern in der Magengrube verursachte. „Dieser Typ heißt Jochen, und es ist gar nichts zwischen uns.“

„Deshalb sitzt er jetzt im Aufenthaltsraum und wartet auf dich?“

„Ja. Nein!“ Sie funkelte ihn verärgert an. „Lass mich in Ruhe, André, noch einmal wiederhole ich das nicht.“

„Sonst?“ Er rührte sich nicht von der Stelle. Das herausfordernde Blitzen in seinen Augen verstärkte ihr Magenflattern noch. Energisch schob sie ihn zur Seite und verließ fluchtartig die Waschküche.

Als sie den Aufenthaltsraum erreichte, stellte sie erleichtert fest, dass André ihr nicht noch einmal gefolgt war, sondern sich offenbar wieder in die Küche begeben hatte. Dann sah sie, was er eben gemeint hatte. Jochen hatte sich an einen freien Tisch gleich neben dem Eingang gesetzt und tippte und wischte eifrig auf einem Tablet herum. Als er sie bemerkte, erhob er sich und kam mit großen Schritten auf sie zu. Auf seinen Lippen erschien das für ihn typische charmante Lächeln. „Guten Tag, Eva. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so einfach überfalle. Ich war in der Nähe und konnte einfach nicht widerstehen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und Sie wiederzusehen.“ Er ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. „Sie sind mir deshalb hoffentlich nicht böse.“

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