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Krabbe mit Rettungsring

Als Buch hier erhältlich:

War es wirkliche eine gute Idee, an einer Abnehm-Show teilzunehmen? Das fragt sich Mittdreißigerin Nina, als sie in Seenot im kalten Wasser vor St. Peter-Ording treibt. Und das nur, weil ihre blöde Weight Fight-Kollegin Silke mit den Katzenfoto-Shirts ihre Surfkünste maßlos überschätzt hat. Können Nina und ihr Team nun noch gewinnen? Und warum muss ausgerechnet Rettungsschwimmer Veit sie aus dem Meer fischen, der die Abnehmer abschätzig "Krabben mit Rettungsring" nennt? Ja, sie sind alle füllig und sie haben vielleicht zu lange in der Sonne gebrutzelt. Aber sie wird es ihm und allen anderen zeigen - zusammen mit Silke, Paul und Edwin, der besten Abnehmtruppe der Welt.
  • Erscheinungstag: 10.05.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495687

Leseprobe

Tanja Janz

Krabbe mit Rettungsring

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by Tanja Janz

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Scriptzz, Berlin.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold & partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Sonja Korte

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München:

Wes Abrams, ImaGic1, romrodinka, Sergey Skleznev

ISBN eBook 978-3-95649-544-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Nina? Könntest du bitte einen Blumenstrauß nach deiner Mittagspause besorgen?“ Der Juniorchef beugte sich zu mir über den Tresen des Empfangsbereichs und zeigte sein charmantestes Lächeln.

Die Rezeption bestand komplett aus Glas und passte perfekt zu dem durchgestylten Empfangsraum, der hauptsächlich in den Farben Silber und Weiß eingerichtet war. An der gläsernen Frontseite des Tresens zierten silberne geschwungene Lettern das durchsichtige Material. Werbeagentur Börsch und Partner, stand dort zu lesen. Links und rechts befanden sich Benjamin-Bäumchen, die in großen Terrakottakübeln Halt fanden. An den Wänden hingen als Referenz eingerahmte erfolgreiche Werbekampagnen eines Mobilfunkanbieters und einer Bahngesellschaft, die den öffentlichen Personennahverkehr in Köln betreibt. Durch diese Kampagnen hatte die Agentur nicht nur eine Menge Geld verdient, sondern auch ihren exzellenten Ruf in der Branche untermauert. Im Hintergrund mühte sich eine Praktikantin vergeblich mit der Bedienung eines Kaffeeautomaten ab. Heißer Dampf trat aus einer länglichen Düse, welche die Milch partout nicht so aufschäumen wollte, wie das junge Mädchen es sich wünschte. In kräftigen Stößen wurde die weiße Masse zum wiederholten Male im hohen Bogen über die schlichte Kleidung der Praktikantin und die Maschine befördert. Leise fluchend versuchte das Mädchen mithilfe von Küchenpapier, sich und den Automaten zu reinigen. Auf ihrem weißen Oberteil zeichneten sich bereits viele kleine beige Spritzer ab.

Ich ignorierte das Chaos um mich herum und spielte gedankenverloren mit einem Band meines getupften Wickelkleides. Für mich existierte in diesem Moment nur der unverschämt gut aussehende Juniorchef, mit dem ich seit geraumer Zeit eine heimliche Affäre hatte. Insgeheim träumte ich davon, dass aus dieser Liaison bald eine feste und offizielle Beziehung wurde. Und das am besten noch vor meinem vierzigsten Geburtstag, den ich im September groß feiern wollte. Schließlich wurde man ja nur einmal vierzig!

„Na, klar. Gar kein Problem, Marc. Ich wollte eh in die Stadt, und da liegen mindestens vier Blumenläden auf meinem Weg“, antwortete ich und strahlte ihn dabei an. Es kam öfter vor, dass ich Blumensträuße besorgte. Meistens handelte es sich dabei um eine Aufmerksamkeit des Hauses für Kunden, die einen lukrativen Werbedeal mit der Agentur abgeschlossen hatten. Den Kunden zu pampern, gehörte zum Business dazu. Da ich mit einem Blick auf den Kalender keinen aktuellen Geburtstag innerhalb der Belegschaft ausmachen konnte, ging ich davon aus, dass es sich auch dieses Mal um ein Kundengeschenk handelte. „An was für Blumen hast du denn gedacht?“

Marc zuckte mit den Schultern und vergrub seine Hände in den Taschen seiner dunklen Anzughose. „Keine Ahnung. Was Buntes vielleicht?“

Ich verdrehte die Augen. Marcs Antwort war mal wieder typisch für ihn. Ging es um Pflanzen, prallten zwei Welten aufeinander. Im letzten Winter hatte er es sogar geschafft, dass die Wüstenkakteen in seinem Büro eingegangen waren. Den grünen Daumen bekam er in diesem Leben definitiv nicht mehr, so viel stand fest. „Sind die Blumen für einen Mann oder eine Frau?“, erkundigte ich mich.

„Für eine Frau.“

„Wie wäre es dann mit einem freundlichen Frühlingsstrauß?“, schlug ich vor.

Marc nickte. „Hört sich toll an. Ich wusste ja gleich, dass ich mich da voll und ganz auf dich verlassen kann“, sagte er und wandte sich zum Gehen.

„Moment noch!“, rief ich ihm nach.

Er drehte sich zu mir um. „Ja?“

„In welcher Preisklasse darf sich der Blumenstrauß bewegen?“

„Das überlasse ich dir.“ Er zwinkerte mir über die Schulter hinweg zu. „Ach, bring am besten gleich zwei Sträuße mit.“ Dann verschwand er hinter einer Tür, die zu einem Konferenzraum führte.

Ich rief am PC Marcs Outlook-Kalender auf und verschaffte mir einen Überblick über seine heutigen Termine. 14 Uhr, Arbeitsbesprechung mit Nina, las ich verwundert. Davon hatte er mir gar nichts gesagt. Vermutlich hatte er es einfach vergessen oder war davon ausgegangen, dass ich als Empfangssekretärin ohnehin den Überblick über sämtliche Termine in der Agentur hatte. 15 Uhr, Frau Santin, Arbeitsplatzübergabe. Ich runzelte die Stirn. Seit einigen Jahren florierte die Agentur. Das war auch der Grund, weswegen vor einigen Tagen eine zusätzliche Bürokraft eingestellt worden war. Die Bewerbungsgespräche für die Stelle hatten in der letzten Woche in den frühen Abendstunden stattgefunden. Nach meinem Feierabend, sodass ich den potenziellen Bewerberinnen nie über den Weg gelaufen war. Bei Frau Santin kann es sich nur um die neue Kollegin handeln, mutmaßte ich. Wahrscheinlich wollte Marc, dass ich die neue Kraft einarbeitete, und deswegen mit mir reden, bevor Frau Santin ihre Arbeit antrat. Hoffentlich war sie nett und ich würde mich gut mit ihr verstehen. Eine arrogante Zicke konnte ich jedenfalls überhaupt nicht gebrauchen.

In der Mittagspause zog ich Richtung Kölner City los. Das Wetter war schön und passte zu meiner guten Laune. Die Sonnenstrahlen schienen schon angenehm warm. Deswegen verzichtete ich auf eine Fahrt mit der U-Bahn und schlenderte stattdessen zu Fuß in Richtung Innenstadt. Meistens verbrachte ich die freie Zeit im Bistro Bellissima, das in der Nähe des Kölner Doms lag und meinem Schulfreund Angelo gehörte.

„Ciao, Nina!“, begrüßte Angelo mich, als ich das Bistro betrat. „Im ersten Moment habe ich doch glatt gedacht, da kommt Barbara Schöneberger hereinspaziert. Habe ich dir schon mal gesagt, dass du ihr verdammt ähnlich siehst?“

Ich freute mich über das Kompliment und suchte mir einen Tisch neben dem Piano aus. Ich mochte Barbara Schöneberger und schaute mir bei der kurvigen Moderatorin oftmals Stylings ab, die ich nachmachte und zukünftig auch auf meinem Blog vorstellen wollte. „Hast du. Und ganz unrecht hast du dieses Mal auch nicht.“ Ich deutete auf mein rotes Wickelkleid mit den weißen Tupfen. „Das gleiche Modell hat sie vor Kurzem in der NDR Talk Show getragen.“

„Wusste ich es doch.“ Er reichte mir die Tageskarte.

„Dabei ist sie in Wirklichkeit bestimmt ziemlich schlank. Wusstest du eigentlich, dass die Leute im Fern-sehen mindestens zehn Kilo schwerer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind?“

„Nein, das wusste ich nicht. Dann möchte ich mich nicht im Fernsehen sehen müssen.“ Angelo strich über seinen leichten Bauchansatz, der sich vorwitzig über seinen Hosenbund wölbte. Ich legte die Karte auf den Tisch. „Mach mir am besten etwas, das schnell geht. Ich habe heute nicht so viel Zeit. Muss noch zwei Blumensträuße für die Agentur besorgen und wollte auf dem Rückweg bei der neuen Boutique in der Kupfergasse vorbeischauen. Dort soll es schicke Klamotten auch in großen Größen geben. Vielleicht schreibe ich über den Laden einen Bericht für meinen Blog.“

„Einen Salat?“

Ich winkte ab. „Davon werde ich nicht satt. Dann lieber Nudeln.“

„Kommt sofort.“

Ich schnappte mir eine Zeitschrift, die auf dem Piano lag, und blätterte darin herum. Dabei entdeckte ich das Foto einer Frau, die ein ähnliches Kleid trug, wie das, das in meinem Zweitkleiderschrank hing. Ich hasste es, mich von Dingen zu trennen. Darin war ich richtig schlecht. Deswegen bewahrte ich zu klein gewordene Klamotten in einem separaten Schrank auf. Mit jedem Kleidungsstück verband ich besondere Erinnerungen und Emotionen. Außerdem kaufte ich ausschließlich Kleidung, die mir au-ßerordentlich gut gefiel, eine gewisse Qualität hatte und die ich einfach besitzen musste. Natürlich kannte ich den allseits bekannten Leitspruch aus Modemagazinen, man solle sich von Dingen trennen, die ein Jahr lang nicht zum Einsatz gekommen waren. Doch diese radikale Form des Ausmistens brachte ich einfach nicht übers Herz. Stattdessen hatte ich mir eben diesen Zweitkleiderschrank zugelegt, in dem ich Klamotten hortete, in die ich seit geraumer Zeit nicht mehr passte.

„Du könntest damit vielleicht auf einen Kleidertrödelmarkt gehen. Dort wirst du bestimmt einiges davon los“, hatte meine Mutter mal vorgeschlagen.

„Danke für den Tipp. Aber nein. Irgendwann werde ich die Sachen wieder tragen können.“

„Und wann soll das sein? Bis dahin ist das Zeug aus der Mode. Dann kriegst du dafür auch nichts mehr beim Flohmarkt.“ Für meine Mutter währte Ehrlichkeit am längsten. Daher nahm sie auch nie ein Blatt vor den Mund und sagte stets das, was sie dachte. Eine Eigenschaft, auf die ich durchaus des Öfteren verzichten konnte.

Ich war spät dran. Meine Armbanduhr zeigte bereits 13:50 Uhr an, als ich mit zwei Blumensträußen beladen und mit der Plastiktüte mit meinen neuen Sachen aus der Boutique unter dem Arm in die gepflegte Allee einbog, in der die Werbeagentur in einer noblen modernen Stadtvilla untergebracht war. Alte Linden säumten die Straße in Köln-Lindenthal, und am Straßenrand parkten ausnahmslos neue und teure Autos der gehobenen Klasse. Die sauber gefegten Gehwege wurden durch stabile Zäune von den dahinter liegenden großzügigen Gärten und Villen abgegrenzt.

Vor der Agentur parkte Marcs schwarzes Mini Cooper Cabriolet mit offenem Verdeck. Ich drückte die schwere Holztür der Agentur mit der rechten Schulter auf und lief direkt auf den Empfangsbereich zu. Die Praktikantin lochte gelangweilt Formulare und heftete sie in einem Ordner ab.

„Kannst du die Sträuße bitte in eine Vase stellen? Ich habe nun einen Termin mit Herrn Börsch.“ Ich drückte der jungen Frau die Sträuße in die Hand, legte die Plastiktüte auf einem Bürostuhl ab und schnappte mir einen Notizblock und einen Kugelschreiber. Dann klopfte ich an die Tür des Besprechungszimmers, bevor ich eintrat.

„Hallo. Pünktlich auf die Minute.“ Marc war schon da und hatte sich seitlich auf die Kante des langen Konferenztisches gesetzt. Sein Krawattenknoten hatte sich zur rechten Seite verschoben und auf der Tischplatte neben ihm lag sein Smartphone.

Nachdem ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber gesetzt hatte, sah ich Marc erwartungsvoll an. „Über was willst du mit mir sprechen?“

„Die Frage müsste eher lauten, über wen.“

„Lass mich raten. Frau Santin?“

„Ich wusste doch, dass du die Agenturtermine immer im Blick hast“, sagte er.

Ich zuckte bloß mit den Schultern. „Das ist nun mal mein Job. Wahrscheinlich wäre ich nicht schon so lange hier, wenn ich darauf nicht ein Auge hätte.“

„Womit wir beim Punkt wären. Komm mal mit.“ Er griff nach meiner Hand und zog mich vom Stuhl hoch.

„Was hast du vor?“ Ich schaute ihn irritiert an und ließ mich von ihm aus dem Konferenzraum, durch den Empfangsbereich und über einen Korridor bis zu einer weißen Holztür führen, vor der er stehen blieb.

„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte er und griff nach der Türklinke.

Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, welche Überraschung er meinte. Warum standen wir überhaupt vor diesem Raum? Das kleine Zimmer wurde seit Jahren als inoffizielle Rumpelkammer der Agentur benutzt. Dort wurde alles aufbewahrt, was gerade nicht im Gebrauch war oder in naher Zukunft entsorgt werden sollte. Alte PC-Monitore zum Beispiel oder Aktenordner mit Personalunterlagen aus den vergangenen Jahrzehnten, auf denen sich mittlerweile eine graue Staubschicht gebildet hatte, und natürlich jede Menge Kisten mit Weihnachtsdeko und allem möglichen anderen Krimskrams. Normalerweise hielt sich niemand länger als nötig in diesem Raum auf. Marc drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. „Dein neues Büro.“

„Was?“ Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein! Ich machte einen zaghaften Schritt in das düstere Zimmer, vor dessen Fenster die dichten Äste einer Platane fast das gesamte Tageslicht abschirmten. Das gewohnte Chaos war beseitigt und Platz geschaffen worden. Ein Schreibtisch samt Stuhl war an eine Wand gestellt worden, auf dem sich neben einem Laptop, einer Lampe und einer Schreibtischunterlage eine Vase befand. Darin stand einer der Blumensträuße, den ich zuvor für einen mutmaßlichen Kunden besorgt hatte. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass die Blumen für mich bestimmt sein könnten.

„Herzlichen Glückwunsch zum eigenen Büro und zur Beförderung zur Senior Sekretärin“, sagte Marc feierlich. „Ab jetzt musst du keinen Kaffee mehr kochen oder Eingangspost bearbeiten, sondern kannst dich voll und ganz auf buchhalterische Tätigkeiten konzentrieren.“

Ich lächelte verhalten. Damit also war die Praktikantin in den letzten Tagen beschäftigt gewesen, als Marc sie um einen Gefallen gebeten hatte. Der Abstellraum, beziehungsweise jetzt mein neues Büro, lag ganz am Ende des schmalen Korridors, sodass ich bei meiner Arbeit am Empfang nicht mitbekommen hatte, was die junge Frau genau getrieben hatte. Obwohl der winzige Raum nun annähernd wie ein Arbeitszimmer aussah, fühlte ich mich nach wie vor wie in einer muffigen Abstellkammer. Richtige Freude über meine Beförderung und mein eigenes Büro wollte nicht bei mir aufkommen. Buchhaltung. Ausgerechnet! Das bedeutete, den lieben langen Tag mit Zahlen rumzuhantieren. Rechnen. Und Mathe hatte ich schon während meiner Schulzeit leidenschaftlich gehasst. Damit war für mich klar: Frau Santin würde meinen jetzigen Posten als Empfangssekretärin übernehmen.

„Na, was sagst du?“, fragte Marc mich erwartungsvoll, der meine Zurückhaltung offensichtlich als Sprachlosigkeit vor Glück deutete.

„Tja, also … Eigentlich hat mir mein alter Arbeitsplatz am Empfang immer äußerst gut gefallen …“ Im Gegensatz zu der Aussicht auf eine tägliche Rechenhölle.

Marc fasste mich an den Schultern. „Nina, du bist einfach viel zu bescheiden. Du hättest schon längst dein eigenes Büro bekommen müssen, und eine Beförderung war sowieso überfällig. Der Posten als Empfangssekretärin ist doch eher eine Stelle für Berufseinsteiger. Und das bist du ja bei Weitem nicht mehr.“

„Na ja … Eine Beförderung finde ich zwar gut, aber über die genaue Tätigkeit sollten wir noch mal reden.“

„Oh, schon so spät.“ Marc warf einen flüchtigen Blick auf das Display seines Smartphones und überging meinen Einwand. „Gleich kommt schon Frau Santin. Ich muss leider zum Besprechungsraum und das Gespräch vorbereiten.“ Er wandte sich zum Gehen, blieb dann aber stehen und schaute sich zu mir um. „Ich kann mich doch trotzdem darauf verlassen, dass du Frau Santin einarbeitest, bevor du dich deinen neuen Aufgaben widmest? Oder?“

„Äh … ja, klar“, antwortete ich überrumpelt. Was hätte ich auch anderes sagen sollen? Nein, mache ich nicht. Frau Santin kann mit dem größten Vergnügen postwendend die Rumpelkammer von mir übernehmen – und die Buchhaltung gleich mit.

„Danke. Auf dich ist eben immer Verlass.“ Er lächelte mir verbindlich zu und entfernte sich dann in Richtung Konferenzraum.

Ich blieb noch eine Weile in meinem neuen Büro stehen. In meinem Kopf herrschte ein ähnliches Chaos, wie es damals beim Urknall der Fall gewesen sein musste. Unzählige Gedanken wirbelten durcheinander und schienen sich in keinen logischen Zusammenhang mehr bringen zu lassen. Der Blumenstrauß wirkte in dem farblosen Raum wie eine Fotomontage, als gehörte er hier überhaupt nicht hin – so wie ich auch. Ich griff nach der Vase und stellte die Blumen auf die Fensterbank. Dort harmonierten die bunten Blüten wenigstens mit dem Grün der Blätter von der Platane vor der Glasscheibe. Warum ging Marc nur davon aus, dass ich Lust auf Buchführung hatte? Das hatte ich ihm gegenüber nie und mit keiner Silbe erwähnt. Ich mochte Kommunikation und Wörter. Die Telefonate mit Kunden machten mir Spaß, genauso wie die Terminvergabe, das Organisieren von Messen, Reisebuchungen und Vorbereitungen von internen Meetings. Einen Sprung auf der Karriereleiter hatte ich mir eher in dem Bereich vorgestellt, nicht an der mathematischen Front – wo ich mir doch noch nicht einmal die PIN meiner EC-Karte merken konnte. Darüber musste ich unbedingt noch mal in Ruhe mit Marc reden.

Vom Flur erklang das helle Leuten der Türglocke. Das konnte nur Frau Santin sein, meine Nachfolgerin. Ich ging schnellen Schrittes aus dem Büro, um die neue Mitarbeiterin persönlich in Empfang zu nehmen und zu begrüßen. Denn das gehörte trotz allem zu meinem Job, und den wollte ich bis zum Schluss gut machen, bevor die Neue das Ruder übernahm.

Frau Santin schwebte bereits auf hohen Hacken zum gläsernen Tresen. Vor Schreck hätte ich fast abrupt auf dem Absatz wieder kehrtgemacht. Das durfte doch nicht wahr sein! Beinahe hätte ich gedacht, Verona Pooths jüngere Schwester würde vor mir stehen – so diese denn eine hatte. Die Neue trug ihr braunes langes Haar in Wellen, die aussahen, als wären sie eine Minute zuvor von einem Stylisten perfekt für ein Fotoshooting drapiert worden. Mit ihrem fehlerlosen Make-up und in ihrem dunkelblauen Kostüm (eindeutig Size Zero) erinnerte sie mich eher an ein Mannequin oder wahlweise an eine Stewardess einer exotischen Airline, die oftmals locker mit dem Attraktivitätsfaktor von Models mithalten konnten, nicht an eine Empfangssekretärin. Dabei war ich bis vor zehn Minuten felsenfest davon überzeugt gewesen, dass meine Chefs so jemanden niemals einstellen würden. Aber Frau Santin war nicht nur eine Modepuppe. Ein Blick in ihre mandelförmigen, abschätzenden Augen genügte, um sie ebenfalls als absolute Oberzicke zu entlarven. Das konnte ja nur schiefgehen.

2. KAPITEL

Ich sah vom Bildschirm meines neuen Laptops auf. Ich hatte den Schreibtisch direkt vor das Fenster geschoben, was zur Folge hatte, dass ich mit dem Rücken zur Tür saß. So konnte ich während der Arbeit in den Garten der Agentur schauen und den Gedanken einigermaßen ausblenden, dass ich eigentlich in eine Abstellkammer verfrachtet und am Empfang durch ein jüngeres und schlankeres Model ersetzt worden war.

Ich war mittlerweile richtig sauer auf Marc. Nachdem es ihm gelungen war, mir am Tag nach meiner Beförderung aus dem Weg zu gehen, hatte ich ihn gestern endlich alleine in seinem Büro erwischt. Doch unsere Unterredung war alles andere als zufriedenstellend verlaufen, denn er war überhaupt nicht auf meine Einwände eingegangen. Für ihn stand fest, dass ich den Job machen würde. Punkt. Doch da hatte er die Rechnung ohne mich gemacht!

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht (wenn ich schlief, träumte ich ausschließlich von Zahlen!) hatte ich mich dazu entschlossen zu kündigen. So konnte es nicht weitergehen, das stand für mich fest. Nach Feierabend wollte ich Marc meine Entscheidung mitteilen und ihm meine schriftliche Kündigung überreichen, die ich schon vorbereitet hatte. Werbeagenturen gab es in Köln schließlich wie Sand am Meer. Mit meiner langjährigen Erfahrung würde ich schon einen neuen passenden Job finden, den es hier nicht mehr für mich gab. Ich blickte wieder auf den Screen meines Laptops und die E-Mail, die ich zuvor verfasst hatte.

Neue Nachricht

An: Laura.Santin@boerschagentur.de

Von: Nina.Abromeit@boerschagentur.de

Betreff: Fürsorglichkeit

Liebe Frau Santin,

es tut mir wirklich leid, dass ich bei unserer ersten Begegnung geglaubt habe, Sie seien eine Zicke. Ein nahezu absurder Gedanke im Nachhinein. Es ist schon beachtlich, wie Sie es innerhalb von zwei Tagen geschafft haben, das jahrelang erprobte Bürosystem als „unzulänglich und amateurhaft“ zu entlarven und nun „endlich ein professionelles System“ einzuführen, das im Moment so einwandfrei funktioniert wie der Flughafen Berlin Brandenburg.

Und auch für mein Vorurteil, Sie könnten eine Modepuppe sein, möchte ich um Verzeihung bitten. Selbstverständlich ist die Arbeitszeit dafür da, um sich die Nägel zu lackieren und die Augenbrauen zu zupfen. Immerhin müssen Sie in Ihrer Position am Empfang die Agentur repräsentieren und deswegen stets auf dem aktuellen Stand sein. Es reicht natürlich nicht aus, derartige Kosmetikbehandlungen ausschließlich in Ihrer Freizeit vorzunehmen. Dafür habe ich vollstes Verständnis.

Sie haben wirklich ein großes Herz, und es ist beeindruckend, wie Sie es neben Ihrer regulären Arbeit schaffen, die Vorgesetzten zu versorgen – besonders natürlich den Juniorchef. Seitdem Sie hier arbeiten, ist mein Liebesleben völlig zum Erliegen gekommen. Es ist kein Tag vergangen, an dem Sie ihm nicht nach Feierabend „zur Verfügung“ gestanden und für die Agentur Überstunden gemacht haben. Unentgeltlich natürlich! Was auch sonst?

Ob Sie es glauben oder nicht, aber von Ihnen kann ich echt noch etwas lernen. Wäre ich auf diese ausgefuchste Idee mit den Überstunden gekommen, bevor Sie hier angefangen haben, wäre sicherlich einiges anders gelaufen. Allerdings bin ich keine Hellseherin und konnte somit nicht ahnen, dass Sie nicht nur meinen Job wegen Ihres Aussehens bekommen, sondern auch gleichzeitig die feindliche Übernahme meiner Büroaffäre starten würden. Denn dann hätte ich bestimmt Ihre Bewerbung abgefangen, um Schlimmeres zu verhindern.

Ihre Arbeitskollegin

Nina Abromeit

PS: Apropos Schlimmeres: Im Anhang finden Sie übrigens die korrigierte Version Ihres Anschreibens an die Firma Lücke Trans GmbH. Es sind auch bloß 21 Fehler in zwölf Zeilen gewesen (die Zeichensetzung nicht berücksichtigt). Und das Wort „nämlich“ schreibt man übrigens wirklich nicht mit h. Ganz sicher!

Meine Hände schwebten über der Tastatur. Sollte ich diese E-Mail wirklich abschicken? Ich spürte ein Grummeln in meinem Bauch, sobald ich bloß an die neue Kollegin dachte, die sich Marc seit ihrem ersten Tag hier schamlos an den Hals schmiss.

„Kannst du mir noch mal mit dem Kaffeeautomaten helfen?“, erklang da die Stimme der Praktikantin hinter mir.

„Was?“ Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht bemerkt, dass das Mädchen mein Büro betreten hatte, und fühlte mich auf frischer Tat ertappt. Hektisch fuhr ich mit den Fingern über die Tastatur. Wo war doch gleich die Taste mit der Löschfunktion?

„Ich kriege das einfach nicht hin.“ Die Stimme der jungen Frau war nun ganz nah. Sie musste direkt hinter mir stehen. Ich tippte hastig auf eine Taste … die falsche Taste. In der nächsten Sekunde schickte ich Frau Santin die E-Mail. Ups!

3. KAPITEL

Und so habe ich die Agentur mit einem Knall verlassen. Sogar noch vor dem Feierabend. Denn Frau Santin hat die E-Mail natürlich umgehend an Marc weitergeleitet, der mich sogleich zu sich ins Büro bestellt hat.“

„Hat er dir gekündigt?“, wollte Angelo wissen.

„Nein, ich war schneller. Und zwar mit sofortiger Wirkung“, sagte ich und drehte mit einer Hand das Weinglas auf der glatten Fläche des Tresens im Kreis. „Ich nehme noch einen Wein.“ Ich schob das leere Glas Angelo über die Theke zu.

„Das ist dann schon dein fünfter.“

„Und wenn schon. Meine Kündigung muss gefeiert werden. Genauso wie die Erkenntnis, dass Marc doch nicht der Traummann ist, für den ich ihn die ganze Zeit gehalten habe.“ Ich hob den Kopf und bemerkte Angelos zweiflerischen Gesichtsausdruck, mit dem er mich bedachte. „Keine Sorge, ich muss heute kein Auto mehr fahren. Ich nehme später ein Taxi.“

Angelo runzelte die Stirn. „Das ist aber dein letztes Glas. Sonst tanzt du mir nachher noch nackt auf dem Tisch und singst unanständige Lieder. Das wäre nicht gut fürs Geschäft.“

Ich zog das gefüllte Trinkgefäß zu mir heran.

„Du weißt ja, wenn du einen Job brauchst, ich kann immer gute Leute für mein Bistro gebrauchen“, bot er mir an.

„Danke. Darauf trinke ich.“ Ich prostete ihm zu und schaute zu dem Flachbildschirm an der Wand, auf dem ein Moderatoren-Duo die Zuschauer dazu aufrief, sich für eine Abnehm-Show zu bewerben. „Was glaubst du, warum die Leute bei Sendungen wie Weight Fight mitmachen?“, fragte ich ihn.

„Vielleicht weil sie lebensmüde sind oder Spaß daran haben, sich zu quälen.“

„Falsch. Die Leute wollen erfolgreich sein und endlich auch auf der Gewinnerseite stehen. Sie glauben, dass ihnen dabei ein nettes Aussehen mit einer möglichst guten Figur hilft. Deswegen bewerben sich so viele Menschen bei diesen Shows und sind bereit, alle möglichen Strapazen auf sich zu nehmen.“

„Das ist doch aber Quatsch. Als wenn eine gute Figur automatisch Erfolg bedeuten würde. Und abnehmen kann man auch ohne so eine Show. Dafür muss man nicht ins Fernsehen gehen und sich vor den Augen der Nation quälen.“

„Also ich gehe schon eine geraume Zeit abends ins Fitnessstudio und trotzdem klappt es mit meiner Gewichtsabnahme nicht wirklich. Aber die Weight-Fight-Teilnehmer schaffen es immer abzunehmen. Da muss doch was faul sein.“

Angelo zuckte mit den Schultern.

„Die Teilnehmer haben da doch bestimmt Personal Trainer, Köche, die die Speisen so zubereiten, dass die Leute einfach abnehmen müssen. Alles Dinge, die sich Otto Normalverbraucher eben nicht leisten kann. Außerdem stehen die Teams unter ständiger Beobachtung und können deswegen gar nicht schummeln. Heimlich eine Pizza zu essen, ist da sicher nicht drin. Das würde doch sofort rauskommen. Hinzu kommt auch noch die ständige Motivation durch das Team. Immerhin wollen die Leute in die nächste Runde kommen.“

„Du scheinst dich ja schon ziemlich intensiv mit dem Thema befasst zu haben“, sagte ich skeptisch. „Irgendwie glaube ich aber trotzdem, dass da irgendetwas faul ist. So viel wie die Leute da in kurzer Zeit angeblich abnehmen, das kann gar nicht stimmen. Die helfen bestimmt künstlich nach oder so.“ Nachdenklich wischte ich mit einer Hand einen Brotkrümel von der Tresenfläche.

„Die Bewerbungsfrist endet morgen“, sagte ich mehr zu mir selbst und tippte dabei gedankenverloren mit dem rechten Zeigefinger gegen meine Nase.

„Und?“

„Na ja … einen Versuch wäre es allemal wert.“

„Willst du dich da etwa bewerben?“, fragte Angelo halb entsetzt, halb ungläubig.

„Warum eigentlich nicht? Ich habe meinen Job gerade gekündigt und nichts Besseres vor. Außerdem glaube ich tatsächlich, dass der Zuschauer hinters Licht geführt wird. Ich werde mich einfach mal bewerben.“ Ich trank das Glas leer.

„Du spinnst ja. Nachher nehmen die von der Produktionsfirma dich noch.“

„Umso besser. Dann könnte ich verdeckt hinter den Kulissen ermitteln und gegebenenfalls aufdecken, wenn es bei der Sendung nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich fand Miss Marple schon immer toll und mit vierzehn wollte ich auch mal Polizistin werden. Oder Agentin. Am Ende habe ich eine tolle Story für meinen Blog, der dadurch bekannter und womöglich auch interessant für Sponsoren wird. Von meinem Blog leben zu können, das wäre natürlich ein Traum.“

Angelo konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du meinst, du willst den Nachwuchs-Wallraff machen und knallhart recherchieren?“

„Ich finde, das hört sich nach einem guten Plan an. Im schlechtesten Fall komme ich nach sechs Wochen mit einer Traumfigur aus dem Weight-Fight-Camp zurück und habe zehn Verehrer an jedem Finger.“ Ich grinste ihn abenteuerlustig an. Je länger ich darüber nachdachte, umso besser gefiel mir die Idee.

„Du bist echt verrückt, Nina. Habe ich dir das eigentlich schon mal gesagt?“

„Das sagst du mir ständig. Genauer gesagt, seitdem wir uns in der Schule kennengelernt haben. Und das ist schon ein paar Tage her.“ Ich kramte in meiner Tasche nach der Geldbörse und legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tresen. „Rufst du mir bitte ein Taxi? Ich muss zu Hause noch die Bewerbung schreiben.“

Curvy Couture – der Mode- und Beauty-Blog für Frauen in Plus-Size

Breaking News:

Ihr werdet es nicht glauben! Gerade habe ich Post von der Produktionsfirma bekommen. Ich bin dabei! Ich gehöre in der Tat zu den auserwählten Kandidaten, die bei der nächsten Staffel von Weight Fight dabei sein dürfen. Unglaublich! Damit hätte ich im Traum nicht gerechnet. Zumal ich ja nach dem Casting dachte, dass ich völlig versagt habe. Als ich vor der Kamera meine Beweggründe für meine Bewerbung erläutern musste, habe ich so was von herumgestottert, dass ich dachte, die Produktionsfirma drückt mir gleich eine vorgefertigte Absage in die Hand. Ich habe mich als total kamerauntauglich und fehl am Platz eingeschätzt.

Doch vor mir liegt nun der Brief, und da steht tatsächlich schwarz auf weiß: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie für die nächste Staffel von Weight Fight ausgewählt worden sind. Weitere Informationen erhalten Sie in Kürze von uns.“

Und da soll man cool bleiben. Völlig unmöglich!

Ich freue mich jetzt schon ganz besonders auf die wöchentlichen Challenges. Meistens sind das Gruppenaufgaben, bei denen sich die Teilnehmer bei sportlichen oder kreativen Aktionen beweisen müssen. Ich bin so aufgeregt und gespannt wie ein Flitzebogen, wohin ich reisen werde, um den Kilos den Kampf anzusagen. Vielleicht nach Australien? Dahin wollte ich schon immer einmal. Oder nach Südafrika, Florida, Mauritius oder gerne auch nach Südfrankreich. Ich halte euch auf jeden Fall auf dem Laufenden. Jetzt werde ich die Neuigkeit mit einem Glas Sekt begießen und mich schon mal gedanklich auf das große Weight-Fight-Abenteuer einstimmen.

Eure Nina

4. KAPITEL

Einige Wochen später machte ich es mir an einem sonnigen Samstagmittag mit einer Keksdose auf meinem Schoß auf einer Bank auf dem Husumer Bahnsteig gemütlich. Meinen Koffer hatte ich neben mir abgestellt. Das exotische Reiseziel, das ich als Schauplatz für Weight Fight erwartet hatte, hatte sich wenige Tage später als der Küstenort St. Peter-Ording herausgestellt. Über sieben Stunden Bahnfahrt lagen zwischen Köln und dem Örtchen an der Nordsee.

Die Kekse hatte meine Mutter mir gestern als Reiseproviant vorbeigebracht. „Damit du mir nicht schon vor der Sendung vom Fleisch fällst“, war ihr ungerührter Kommentar gewesen. Sie hielt von dem ganzen Schlankheitswahn genauso wenig wie ich und verstand deswegen überhaupt nicht, dass ich bei „so einem Quatsch“ mitmachte.

„Der Gewinner kann am Ende 100.000 Euro gewinnen“, erklärte ich ihr.

Meine Mutter nickte. Die Aussicht auf den Geldgewinn schien ihr das einzige Argument zu sein, um an so einer Show teilzunehmen. „Das ist ja auch das Mindeste.“

Nach rund zwanzig Minuten Aufenthalt in Husum hörte ich ein leises Rumpeln, das sich langsam näherte und mit jeder Sekunde lauter wurde. Eine Minute später hielt der kleine Regionalzug, der bloß aus zwei Waggons bestand, vor mir an dem Bahnsteig. Mit nach vorne gerichtetem Blick, die Keksdose meiner Mutter unter meinen Arm geklemmt und den Griff des Rollkoffers in der anderen Hand, ging ich direkt auf die geöffneten Zugtüren zu, als mich plötzlich ein heftiger Schlag in die Seite traf. „Oh“, keuchte ich und mir blieb vor Schreck die Luft weg. Reflexartig griff ich mir an die Rippen und einen Augenblick später landete die Keksdose mit einem lauten Scheppern auf dem Bahnsteig. Der Deckel sprang auf und das Gebäck verteilte sich auf den Pflastersteinen.

„Oh, Entschuldigung! Das wollte ich nicht!“ Eine korpulente junge Frau kniete sich umständlich auf den Boden und begann, die Kekse einzusammeln und wieder in die Dose zu packen. „Ist fast gar nicht dreckig geworden“, sagte die Frau nun zu mir und putzte einen Keks an ihrem T-Shirt ab, bevor sie ihn in die Dose zurücklegte.

„Hier, bitte.“ Sie hielt mir die Blechbüchse hin und stieg dann in den Zug. „Falls Sie auch mit der Bahn fahren wollen, müssen Sie jetzt einsteigen.“

Ich nickte bloß, und die junge Frau half mir dabei, den wuchtigen Koffer in die Bahn zu heben.

„Da vorne sind zwei gegenüberliegende Plätze frei“, verkündete die Frau und schleppte wie selbstverständlich in einer Hand ihren Koffer und in der anderen meinen zu den Sitzplätzen. Das Gewicht des Gepäcks schien ihr dabei nicht das Geringste auszumachen.

Ich, die bislang noch keinen Ton herausbekommen hatte, trottete hinter ihr her.

Die Frau ließ sich auf den Sitzplatz plumpsen. „Sorry noch mal für den Bodycheck gerade eben. Ich war so in meinen Fahrplan vertieft, dass ich Sie glatt übersehen habe. Ich bin übrigens die Silke.“

„Kein Problem. Das kann ja jedem mal passieren“, entgegnete ich, nahm ebenfalls Platz und schüttelte nun Silkes Hand. Zum ersten Mal nahm ich die Frau, die mich zuvor in bester Footballspielermanier gerammt hatte, richtig wahr. Silke hatte mindestens fünfzig bis achtzig Kilos zu viel auf den Rippen und trug dazu einen abenteuerlichen, asymmetrischen Haarschnitt, der aussah, als hätte sie ihn sich eigenhändig verpasst. Ihre unreine Haut glänzte wie ein öliger Babypopo und unter ihrem Kinn wölbte sich eine unübersehbare Speckfalte. Außerdem hätte nichts gegen eine regelmäßige Rasur gesprochen, denn Silke war eine Extrem-Damenbartträgerin. Ansonsten fiel mir das T-Shirt auf, das Silke anhatte, auf dem ein Foto von zwei übergewichtigen Katzen aufgedruckt war. Eine beige Hose bedeckte ihre Beine nur bis knapp zu den Kniescheiben und gab den Blick auf ihre dunkel behaarten Unterschenkel frei. Ihre Füße steckten in weißen Tennissocken mit roten und blauen Streifen. Darüber trug sie braune Ledersandalen.

Silke war alles andere als modisch up to date, obwohl sie unter Garantie jünger war als ich. Nicht älter als Mitte dreißig, schätzte ich. Eine ideale Kandidatin für die Umstyle-Rubrik Vorher, Nachher auf meinem Blog – oder auch für Weight Fight.

„Find ich echt gut, dass du mir nicht böse bist wegen vorhin“, meinte Silke, der meine Begutachtung ihrer Person scheinbar überhaupt nicht aufgefallen war. „Manchmal bin ich ein bisschen tollpatschig, weil ich mit den Gedanken einfach ganz woanders bin. Das mit den Keksen tut mir übrigens wirklich leid. Die sahen echt lecker aus.“

„Hm“, brummte ich.

„Wie heißt du eigentlich?“, wollte Silke nun wissen.

„Ich heiße Nina“, sagte ich.

„Schöner Name.“ Silke lächelte.

„Silke ist aber auch schön“, entgegnete ich, um irgendetwas auf das Kompliment zu erwidern, wenngleich ich in Wahrheit den Namen Silke nicht meiner persönlichen Top Ten der Vornamen hinzufügen würde. Aber zu Silke passte er irgendwie, fand ich.

„Und, wohin fährst du?“, fragte Silke munter weiter.

„Nach St. Peter-Ording.“

„Nein! Das gibt’s doch nicht!“ Silke schlug sich vor Begeisterung beide Hände auf ihre strammen Oberschenkel, dass es klatschte. „Ich auch! Ist ja echt ein Zufall!“

„Ja, echt total der Zufall.“ Zumal wahrscheinlich die meisten Leute in der Bahn ins Bad St. Peter-Ording unterwegs waren.

„Und was machst du da? Urlaub? Oder hast du dort etwa einen Job?“, fragte Silke interessiert.

„Ähm …“

Doch Silke ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Ich werde dir jetzt ein Geheimnis verraten“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu. „Aber du musst mir versprechen, dass du es für die nächsten zwei Tage für dich behältst und mit niemanden darüber sprichst.“

„Wieso denn ausgerechnet zwei Tage?“ Das hörte sich in meinen Ohren äußerst ominös an. Normalerweise behielt ich ein Geheimnis länger als zwei Tage für mich.

„Versprichst du es?“, überging Silke meine Frage und sah mich eindringlich an.

„Ja, okay. Ich verspreche es.“

„Also gut. Ich verrate es dir nun. Aber wirklich kein einziges Wort zu irgendwem …“

„… in den nächsten zwei Tagen“, vollendete ich Silkes Satz. „Hab es schon kapiert.“

Silke beugte sich noch weiter vor. „Ich nehme an der neuen Weight-Fight-Staffel teil und die beginnt erst am Montag. Ich musste aber schon eher losfahren, weil wir heute Abend bereits das erste Treffen mit der Produktionsfirma haben“, flüsterte sie.

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