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Kurzgefasster Lebenslauf und andere frühe Prosa. Bork. Diabelli

Als Buch hier erhältlich:

„Exzentriker sind sie, Hermann Burgers Helden. Schon in seinem ersten Geschichtenbuch ‚Bork‘ (1970) begegnen wir ihnen, und erst recht im zweiten, ‚Diabelli‘ (1979), einem Glanzlicht moderner Erzählkunst. Vom einen zum andern ist’s allerdings ein weiter Weg.“ Mit diesen Sätzen beginnt das Nachwort von Beatrice von Matt. In die Jahre zwischen den beiden Erzählbänden fallen Burgers Durchbruch als international gefeierter Autor, seine Selbstinszenierung zwischen Wortkunst und Magie, der Beginn seiner Depression und die Entfaltung einer intensiven schriftstellerischen und kulturjournalistischen Arbeit. In seinen Erzählungen zeigt der Autor aus der Schweiz die hohe Schule seiner Kunst: akribische Recherche, vollendete Sprachführung und abgründiger Humor.


  • Erscheinungstag: 03.02.2014
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312005932

Leseprobe

 

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

 

den Kanton Aargau

 

 

 

sowie der Unterstützung durch

 

die UBS Kulturstiftung

 

die STEO-Stiftung Zürich

 

die Stadt Zürich Kultur

 

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

 

 

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: 1970, Schweizerisches Literaturarchiv (Bern). Foto: privat

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

Druck und Bindung: Friedrich Pustet

ISBN Band 2: 978-3-312-00613-7

 

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

DER SCHNEE GILT MIR

 

Skizze

 

Schnee fällt, der erste Schnee, kranker nasser Schnee, weicher Schnee.

Erst hat es zu schneien begonnen. Aber er fällt kaum auf Jahresgrund, dieser Schnee. Es dauert noch lange, bis die Moose frieren. Alt und trächtig ist der Himmel, wolframweiß der Nachmittag und hat zu leuchten aufgehört. Ich sitze auf einer Bank in einem Park am Rande irgendeiner Innenstadt und lasse es schneien in mein Gesicht. Lasse mich fallen, wie Blätter fallen, Schneeflocken fallen; alles fällt. Auch Gesichter fallen, sinken zurück in die Erinnerung.

Die Türme der Stadt stehen schweigsamer, schwärzer zeichnen sich die Eichenkronen vor grauem Himmel ab. Kahle, glatte Stämme, die es in jedem Park geben muss am Rande einer Innenstadt. Hydranten und Telefonkabinen blicken ernsthafter in die Adventszeit. Drüben, im Spitalgarten, wird der matschige Rasen mit leichtem Verbandstoff ausgelegt. Zu dieser Zeit gibt es keine Geschichten, weil man sitzen muss, schwer sitzen und sinken und zusehen, wie es schneit. Das ist das Schlimme: zusehen. Man wird älter davon. Irgendwo geht jetzt ein Mensch durch den Nachmittag und verliert seine Schritte hinter sich. Seine Spuren werden angeschneit. Immer mehr Flocken, immer mehr Schnee, fällt, sinkt. Wir sind am Rande des Wintermärchens. Es gibt keine Geschichten zu diesem Kron-Augenblick, bloß weißliche Niederschläge von Erinnerungen, die auf der Zunge zergehen.

Ich lasse erzählen von den Flocken, die das erste Mal fallen dieses Jahr aus aschgrauem Himmel und verkleiden die ausgewaschenen Häuser der Stadt. Es hat keinen Sinn, die Flocken zu zählen. Tausende sind es, Abertausende, schon diesen Nachmittag. Zahlen! Wäre das eine Geschichte? Ich mache jeden Winter den Flocken das Fallen nach und werde in Städte geschneit, wo ich längst nicht mehr hingehöre. Aber das ist meine Adventsfreude.

Es schneit. Altgrau der Himmel, bisweilen wolframweiß, die Türme der Stadt schweigen und stehen gegen ihn. Es schneit vor die Kaufhäuser der Stadt und vor ihre Schaufenster, die schon erleuchtet sind, weil der Himmel plötzlich grau wurde. Einem kleinen Jungen auf die Nase schneit es, weil er sie noch in die Luft streckt, auf seine Hand schneit es, die eine warme Hand drückt. Es schneit vor den Friedhofsmauern, gegen die im Sommer sich die Liebespaare drücken, mondvergessen. Es schneit aus offenen Polstern in eine Stadt hinein. Städte haben Straßen, die verzweigen sich, wie Bronchien der Lunge sich verzweigen. Straßen führen von innen nach außen ins schalenlose Weichbild der Stadt. In plansicherem Koordinatennetz legen sie sich über die Villenquartiere. Aber Straßen verlieren ihre Namen, wenn es zum ersten Mal schneit, wie soll man sich da zurechtfinden?

Ich habe mir geschworen, heute nicht zu gehen, auf dieser Bank sitzen zu bleiben und es hineinschneien zu lassen in mich, weil ich früher oft gegangen bin, allzu oft. Und ich weiß, wohin das führt. Durch den spätherbstlichen Nachmittag strolchen, einen Schub schwarz-modrigen Laubes vor den Füßen, oder durch das erste Schneewetter streunen, frische Tritte setzen und immer neue Tritte in den Schnee, der schon krank ist!

Nein.

Zusehen, wie es treibt.

Ich blicke hinüber zum Krematorium, das nicht arbeitet, aber umrisshaft steinschwer gegen den tief hängenden Himmel steht und den Schneefall. Nicht arbeitet, obwohl es Samstag ist. Die weit ausholenden Friedhofsanlagen verlieren sich hinter dem gequaderten Bau und hinter wetterfest grüßenden Tannengruppen, die sich, alle Jahre wieder, als Weihnachtsmänner verkleiden lassen. Etwas seltsam Theatrales weht herüber von der Krematoriumsanlage, ich denke an eine Bühne außer Betrieb, wo in den leer stehenden Kulissen heraufbeschworene Geschichte flüstert. Fast hätte ich Lust, vorbeizuschauen. Krematoriumsanlagen sind jedermann zugänglich und zu jeder Zeit. Ein paar hundert Schritte über den frisch zugeschneiten Rasen, Quartiersstraße querüber, durchs schmiedeeiserne Tor, am Gruß der Tannen vorbei. Doch nein, allzu morbid fallen solche Streifzüge aus, die nirgendswo enden, sei es denn im ausweglos gezirkelten Gedankengarten selbstischer Begräbniswünsche. Ich weiß, es gibt dort Obelisken aus weißem Marmor. Sie frieren stärker, als Stein friert. Obelisken mit fein verzweigter Äderung unter der Lasur. In die Erde geranzt stehen sie schief: Truggötzen heißer Länder. Schnee fällt auf die Grabsteine, aber zaghaft und in sanfter Mildtätigkeit gegen das kältere Material. Viel braucht es, bis die Kristalle in dieses Marmorbild einwilligen. Tastscheu setzen die Flocken über die Steinspargeln hinweg, und nur lose gestrickte Kappen haften an den Spitzpyramiden. Erst der Februarschnee wird diese Fremdkörper, und darunter die massivsten Quader, knietief stauchen.

Ich weiß, es gibt dort filigrane Kreuze mit ovalen Apothekerschildern. Sie bewachen verkalktes Gift und Hader unter dem Wurzelwerk der Gräber. Dieser Anblick ist noch erträglich. Auch dass die Grabhügel süß riechen, weil sie das Laub verdauen, und von diesem ersten Schnee nicht zum Schweigen gebracht werden. Ich würde daran riechen, gewiss, auch die halbrohen Spiegeleier zwischen den gezuckerten Buchshecken kämen mir in den Sinn. Nur eines ertrage ich nicht: das Grinsen hinter der Bühne. Die weiß gekalkte Mauer mit den Feuerleitern, die in den Schnürboden steigen. Diesen Herbst war es, glaube ich, als ich einmal die Urnenhallen umging und dem Kuppelbau in den Rücken trat. Der Himmel war wässrig blau, Wolkenfetzen trieben ostwärts, kerzengerade stieg der Rauch. Ich setzte mich an das grün geflieste Bassin, vor dem der Bau rückseitig lagert, und starrte ins plexigrüne Wasser. Zu beiden Seiten standen mannshohe Taxushecken, zimtrote Wege umrahmten das knöcheltiefe Bassin. Hinter meinem Rücken sprang ein Wasser. Die Sonne zeigte sich flüchtig, dieser traumfremde Raum schien nur angeleuchtet wie ein Gewächshaus von innen.

Da grinste der Bau.

Er grinste vor sich hin ins Wasser.

Er grinste unmerklich wie ein breit lagernder Buddha. Und ich erschrak, weil dieser Raum zu eng war für Geheimnisse. Ich erschrak, wie als ich das erste Mal hinter eine Bühne sah. Ich erschrak, wie als ich unvorbereitet eine Ziehharmonika öffnete und es laut schnaufen hörte. Aus Träumen kann man, darf man erwachen, nicht aber aus Räumen, die ein Geheimnis grinsend verwalten.

 

Es wird kühler. Aber noch steigt mir die Kälte nicht in die Glieder. Durch den dichten Flockenvorhang blinzelt das Krematorium herüber. Auf meinen Schuhen bilden sich Pelzinselchen. Von der Stadt tönt gedämpfter Verkehr herauf. Das Zischen einer Fontäne. Dort wird der Schnee zu grauem Matsch gefahren.

Die Leute stauen sich vor den Kaufhäusern. Hie und da auch vereinzelte Pfiffe der Rangierer von Osten her, wo die Wolken noch grauer hängen.

Im Güterbahnhof wird es schneien.

Die Signale wartend mit verschränkten Armen. Schnee vielleicht zwischen den Gleisdreiecken wie ein Triangel aus Pfeifenrisplern. Schnee vielleicht, eine einzelne Flocke, auf dem kaltklebrigen Teller eines Puffers. Schneeflocken tanzen den heranbrausenden Stirnen der Lokomotiven entgegen. Kein Schnee vor Tunnelportalen. Flockentanz um die Sichtscheiben der Stellwerke. Die Stimme aus dem Lautsprecher schluckt ein Loch durch das Gestöber. Güterzüge rappeln über das Gleisfeld. Schnellzüge warten. Die Kälte beginnt jetzt in den Adern zu schmerzen, natürlich bloß ein leichtes Ätzen, wir stecken ja noch nicht im Winter drin. Trotzdem beginne ich nun zu gehen, in Gedanken nur, versteht sich. Der Schnee ist zu neu, als dass ich ihn austreten könnte Schritt vor Schritt. Das ist meine Adventsfreude, die Gedanken wandern zu lassen, obwohl ihre Spuren tiefer sitzen als die von Tritten, und manchen Himmel voll Schnee brauchte es, sie nur halbwegs anzuschneien.

Spuren, Erinnerungen haben weibliche Sohlengrößen. Weit zurück erkenne ich die Spuren eines Ganges, der hinausführt aus dem Park, worin ich jetzt sitze mit hochgeschlagenem Mantelkragen, über die mollige Wiese und am Krematorium vorbei führt er bis in eine Allee. Es sind meine Abdrücke, zweifelsohne, kaum kleiner als die, die ich heute von mir geben würde, aber ungleichmäßiger gesetzt. Ich hatte zu große Füße, damals. In eine Allee also sehe ich die Tritte einbiegen, von wo aus man im Spätherbst durch die zum Horizont sich verjüngenden Baumkronen das Meer erblicken könnte. Ich gehe, lasse mir die Flocken vors Gesicht treiben, setze meine Schritte wahllos vor die Füße und verliere frisch schneebackene Schalen hinter mir. Aber nichts will sich darein reimen, der Schnee ist zu flauschig. Früher, wenn ich durch den schweren Februarschnee stapfte, sammelte ich hinter mir her die Blaken, die sich von der Profilsohle lösten, und aß die dicken Schweizerkreuze heraus. Den Schuhen zuliebe. Ich liebte Schuhe, vor allem Winterschuhe. Meine hatten rote Schnürsenkel und am linken Rist einen Goldzahn. Später zwei, als ich sie mit eigens erspartem Geld zum Schuhflicker brachte. Ich muss aber weiter zurückdenken, an frühere Schuhe, bis sie immer schwerer werden, unförmiger, bootsmäßiger, und ich sehe mich auf einer Bank, auf einer jener niedlichen, immer blank geseiften Schuhbänke in Kinderheimen. Draußen wird schon angeschnallt. Wichsdunkel ist es im Schuhkastenvorraum. Ich mühe mich an den Nesteln ab. Einmal sollte man endlich das Schnüren lernen. Kinder gehen, bevor sie schnüren können. Ich sehe zwei ungleich große Schlaufen, nebeneinander. Aber keine Verknüpfung sehe ich, so sehr mir auch das Blut in den Kopf steigt. Vielleicht hat mir ein großes Mädchen geholfen, das Ursula heißen könnte. Das war in einem Winter. Aber noch weiter zurück folge ich meinen Schuhen bis zu jenen gestrickten Pantöffelchen, die, mit wollweißen Puscheln verziert, noch keinen Schnee zu spüren bekamen. Damals steckte man den Daumen in den Mund für alles, was man nicht begreifen konnte. Damals stand man auf sicheren Füßen, obwohl die Beinchen in die Luft strampelten. Heute leisten die Schuhfabriken das ihre. Indem ich so hineindenke in mich, merke ich, dass ich nicht allein gehe. Auf der rechten Straßenseite spielt sich etwas der Mauer entlang. Ich bin ein Gehender, ja, aber ich gehe hinten. Sie geht etwas weiter vorne, viel leiser, und wie vom Schnee der Mauer entlanggetrieben, hinter der sich mit zornigem Wohnzimmerblick die ersten Vorstadtvillen verbergen. Zwei Wege treten wir in den Schnee, sie rechts, links ich, das weiße Band der Straße dazwischen, auf dem – es ist Samstag – der Nachmittagsverkehr stadtwärts, abendwärts geschoben wird. Wie Kuchenbleche, denke ich, wie Kuchenbleche. Es schneit trockenweich. Wo der Schnee unter den Rädern zerrieben wird, glänzen fettschwarz die Asphaltspuren. So trocken schneit es, dass sie das blonde Haar offen trägt, offen und lang über die Pelzstola des etruskfarbenen Mantels. Sie geht frei aus den Hüften. Vielleicht kommt sie gerade vom Einkaufen. Nicht Weihnachtseinkäufe, da gibt es wichtigere Besorgungen für den Abend zu machen. Man denkt immer, es ist Weihnachten, wenn’s das erste Mal stobert. Es braucht noch viel, bis der Schnee haften bleibt.

Sie geht vor mir mit offenem Mantel und trägt das Haar offen, weil es erst diesen Nachmittag angefangen hat zu schneien und sehr trocken. Sie heißt Brigitte, was weiß ich, Denise, oder gar Beatrice? Spielt keine Rolle, die Straßen verlieren ja auch ihre Namen bei diesem Schneegestöber, irgendein Mädchen, das dir im späten Nachmittag begegnet, weil du gehst, zufällig, deine Schritte zu verlieren. Aber was heißt begegnen. Ich gehe ja hinter ihr und werde immer hinter ihnen gehen, sie geht vorne, und nur die Schneeflocken, die ihren Atem streifen, fallen vielleicht bis in die Straßenmitte. Es wäre schon viel, sehr viel, einen solchen Kristall aufzuheben, ganz nahe vor die Augen ihn zu halten und zu beobachten, wie er auf dem Handteller zerschmilzt. So aber folge ich dem Gelübde ihrer Lippen, das sie vor sich her trägt dem Winter entgegen, ich folge ihren Gedanken, die bei Tee und Mandelgebäck sind, was sie ihrer Freundin vorsetzen wird, aber bald schon beim Kleid, das sie für den Abend aus dem Schrank hängt. Hat sie einen Freund außer mir? Dazu müsste ich ihre Augen sehen. Dazu müsste ich mich ihr in den Rücken spielen, sie mit sturmesähnlichen Schritten überholen und an der nächsten Kreuzung etwas suchen. Eine Straße, eine Zigarette. Ich erspare mir dieses Manöver, sehe ich doch ihre Augen überhell vor mir: Silberlöffelchen glänzen in ihnen und wie Kerzenschimmer der Glaube an einen Verlobten. Vielleicht ist das jemand, der oft ins Theater geht, weil es auf Fußballtribünen keine geheizten Logen gibt, der sich auf Böll versteht und immer gerade aus dem Dienst zurückgekommen ist. Vielleicht jemand wie ich, der vom Theater nichts versteht, dafür einen leidlichen Rechtsaußen abgibt.

Engeln soll man nicht die Flügel stutzen, sie sind so selten heute. Und so viel Blond, so viel Blond für den trockenen Schnee. Es wird nichts geschehen, soll nichts geschehen. Bis zu jenem Traum von den Schuhen, aber dazu ist es noch zu früh.

Wir kommen an eine Straßenkreuzung. Sie tritt in den Wind. Erst lasse ich die Autos durch, die ohne Licht in den gedämpften Verkehr einspuren. Ein Bus singt vorbei. Busse rollen im Winter auf leisen Reifen. Sie sind elektrische Weihnachtsmänner mit großglasigen Schneestirnen und verneinenden Zeigefingern. Erst wenn die Straße wieder leer ist, fällt der Schnee von neuem ein, und ich gehe querüber. Dann klaube ich eine jener Zigaretten hervor, die ich vorletzten Herbst bei einem Theaterbesuch zu rauchen mir angewöhnte. Der hellblauen Packung wegen. Lungenzüge noch nie. Es ist eine Art aromatischer Nihilismus, was ich da betreibe.

Ja, hin und wieder singt ein Bus an uns vorbei, stadteinwärts. Wir verlassen jetzt den Platz, von wo die Straßen sich ungetauft verzweigen. Die Quartiere werden weißer, stiller, streng geometrisch ordnen sich die Gärten. Hier außen schneit es etwas dichter, aber auch trockener. Die Ausfallstraßen sind breit wie in der Innenstadt. Topfeben, da wir uns möglicherweise auf der obersten Terrasse eines zungenartig abfallenden Reliefs befinden, verlaufen sie geradeaus. Die Querstraßen rastern in mechanischen Abständen ein. So wird es kommen, dass der Winter hier wilder treibt, dass es stärker und nach mehr Schnee riecht, dass ich sicher bin, es wird noch bis in den Abend schneien und in die Nacht hinein. Wenn die Taxen vor dem Theater lagern, schneit es immer noch.

In den quergezogenen Straßen, die nur von niedersten Gartenpforten bewacht werden, gibt es eingeklemmte Lehrfahrzeuge, Bienen in den Winterwaben. Von oben gesehen müssen sie wie schwere, auf der Bauchseite verwundete Tiere zu lesen sein, die von der Peripherie an die Innenstadt herankriechen. Die Reifen spuren profilierte Spitzbogen aus dem weißen Pulver. Durch die beschlagenen Seitenfenster werden Fahrlehrer sichtbar, die sich übers Lehnpolster rückwärtsbeugen. Abstehende Motoren, fehl angesetzte Lenkradübungen erstarren zu Momentaufnahmen. Dann hört man das Schnaufen der überlasteten Scheibenwischer.

Sie biegt jetzt in einen birkenbestandenen Privatweg ein, dessen Ziel, wie das Ziel aller Privatwege, Villen sind mit Doppelgaragen und angeketteten Marschhunden. Einen Augenblick lang zögere ich sicher, ob ich ihr nicht nachstelle mit weichen Schritten. Ich begnüge mich dann aber, ein Spiel Karten – nur in Gedanken, versteht sich – hinter ihren Füßen zu legen, und wenn das Herz-Ass kommt, jedes Spiel hat ein Herz-Ass, es wie eine Blutspur im Schnee zu verwischen. Gehe, sage ich mir, weiter. Meide diesen Birkenweg, die Birke ist ein kalter Baum. Meide die Zeichen ihres Ganges, so viel Blond erträgst du nicht, willst du nicht ertragen. Weiter sage ich mir: Suche den Rand dieser Stadt, die äußerste Schneerinde, wo deine Gefühle restlos verwintern. Ich ertrage sie nicht diese Gefühle, immer diese Gefühle, ich ertrage sie nicht die Gefühle. Gefühle tragen heißt, das Gesicht einsinken zu lassen, bis es abgezinkt verwittert. Aber ich spüre noch nicht, dass der Schnee mir gilt, dass es nicht reicht, diesen Weg mit Birken zu meiden, unter denen sie ein Gelübde vor den Lippen trägt, und die verästelten Zweige tragen es mit ihr. Was will ich ihre Lippen meiden, die wie zwei weiche Stempelkisschen jene Schneeflocken anfeuchten, die mir gelten? Es genügt nicht, den Blick ihres Wohnzimmerfensters zu meiden, der mich auch außerhalb des Parkes trifft. Es ist schon schwer, im Winter ein Wohnzimmerfenster zu ertragen, hinter dem bald das Licht angedreht wird. Sie kann beruhigt sein, ich berühre keine Kugel ihres vorweihnächtlichen Glückes. Sie sind gut gedrechselt, und golden hängen sie in ihre Handteller. Und golden glänzt ihres, ihr Engelhaar unter der Bürstenmassage. Ich folge nurmehr Billardkugeln, weißen Bällen, die auf Marmorplatten, weiß mit Filz bespannt, abrollen. Und zu stehen kommen, einmal, aber am Rande. Trotzdem denke, wie ich die Weggabelung hinter mir lasse, ich eine Weile an Festlichkeit. An silberne Saxophonklappen, die mit weißen Polstern den Schnee drücken, an Nägel, die in weiße Korkplatten geschlagen werden.

Den Rand der Stadt erreiche ich ohne besondere Mühe, indem ich zehn zwölf Querstraßen des Quartiers achtlos überspiele. Zugleich aber erreiche ich den Rand des Nachmittags und die unverdaute Rinde der Weltgeschichte. Die letzten Häuser der Stadt grenzen wie aktuelle Daten an einen brachliegenden Raum, und man glaubt ihnen nicht recht, dass sie unbedingt stehen müssen. Die Innenstadt, das ist was anderes, sie gehört zum Verdauungsapparat.

Ich blicke über die leeren Felder zu den Waldrändern hin. Dämlicherweise hat es zu schneien aufgehört. Bauzone, leere Bauzone sehe ich bis hinüber zum Forst. Der Schnee liegt nur risttief, aber es wird heute nochmals schneien. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man die Spuren von Tieren, vielleicht diejenigen eines Menschen. Ich sehe nicht genau hin, nur die Zonen sehe ich, die Zonen. Jede Stadt hat eine Mauer, in Form einer Rinde, in Form von Zonen. Zonen, die drahtlos miteinander verhandeln. Wenn es wieder zu schneien anfinge, wären es Felder, Wachtelwiesen, und hinter dem Flockenschleier die Wälder wären stumme Urahnen. So aber der Schneefall aussetzt für kurze Zeit – Telegraphenstangen benützen solche Momente, ihre Abstände auszurichten –, stehe ich am Rande von Zonen und würde nie eine Bauzone betreten, auch wenn kein Stacheldraht gespannt ist.

Es ist jetzt die Zeit gekommen für den Traum, in dem ich gehe ohne Schuhe und ohne Fußbekleidung durch eine Winterlandschaft. In meiner Heimatgegend wandere ich mit einem Freund über Moränen. Ich weiß, dass es sehr kalt ist, trotzdem friere ich keineswegs an den Füßen, nicht einmal die Körnung des Pulvers spüre ich unter den Zehen. Wir kommen von weit her und haben dies und jenes besprochen, wie es so üblich ist während gemeinsamen Gängen. Wie wir nun in die Nähe meines Heimatortes gelangen, erblicke ich am Rande des Pfades einen blühenden Strauch. Es könnte Seidelbast gewesen sein oder Teerosen, ein höchst befremdliches Gewächs jedenfalls, das mir große Freude bereitet. Ich nicke dem Strauch lächelnd zu, mein Freund hat ihn auch bemerkt, blickt aber unentwegt geradeaus, als wollte er mich nicht stören bei mir wichtigen Gebärden. Ich beuge mich zu dem Busch hin und stelle meine Schuhe, die ich bei mir getragen habe, zu seinen Füßen. Darauf wandeln wir weiter, eine Art Religionsberg hinunter, ich fühle mich sehr heiter und beschwingt. Die Sonne steht im Zenit. Ein Gefühl von Heimwärtsziehen wird das Ende des Traumes gewesen sein.

Mir ist die Kälte jetzt doch unter den Mantel gekrochen. Die Schneedeltas auf den Schuhspitzen wachsen. Im Pärklein ist es grauer geworden. Das Krematorium blinzelt durch den schrägen Schneefall herüber, unten in der Bibliothek mussten sie bereits das Licht einschalten. Ich weiß heute, dass der erste Schnee mir gilt. Das Ende jenes Ganges, den ich tat meinen Abdrücken folgend bis an den Rand der Stadt, bleibt ungewiss. Zu lange habe ich Schnee gegessen, um noch etwas anderes registrieren zu können als meine Kälte und mich selber. Es wird ein Heimweg gewesen sein, denke ich, wie andere mehr; mit Stadtbussen, die einen überholen, mit Verszeilen vor den Lippen, die stanniolleicht abblättern.

In die Bibliothek hinuntersitzen, jetzt noch, hat keinen Sinn, man kann den Geist nicht auf Abruf konsumieren. Gehe ich also nach Hause in eines jener Häuser, gutgehaltene Häuser sind es, wo Studenten bei ihren Verwandten wohnen dürfen. Es wird noch eine Weile dauern, bis das Zimmer dunkel wird und weiß die Flocken vor den Scheiben. Der Schnee gilt mir, ich werde das abendfüllende Programm des ersten Schneesturmes nicht versäumen.

ZWEI KÜNSTLER

 

Parabel

 

Zwei Künstler, ein Schriftsteller und ein Maler – nennen wir sie Vim und Vago –, bewohnten zusammen ein Atelier. Vim mit seiner Schreibmaschine hatte sich in die dunkelste Ecke zurückgezogen. Meine Gedanken brauchen kein Licht, sagte er zu Vago, dem er den ganzen Dachraum überließ, damit er sich ausbreiten konnte mit Staffeleien, Leinwänden und Papierrollen. Der Maler war ein Tag-, der Schriftsteller ein Nachtmensch, so störten sie einander kaum. Manchmal sagte Vim: Ich beneide dich um deine Farben. Benötigst du Cadmiumgelb, kannst du auf eine Tube drücken, und das Cadmiumgelb leuchtet auf, während ich die Vorstellung von Cadmiumgelb oder Neapelgelb mit schwarzen Buchstaben und schwarzen Händen erzeugen muss. Gewiss, sagte Vago, was die Farben betrifft, bin ich dir gegenüber vielleicht im Vorteil. Dafür beneide ich dich um deine Wörter. Meinst du einen Stuhl in einem leeren Raum, genügt ein Satz, und der Stuhl steht da, verlassen wie nur ein unbenützter Stuhl sein kann. Am selben Bild habe ich eine Woche zu arbeiten.

Gemeinsam war beiden, dass ihnen die Welt, wie sie sie vorfanden, nicht genügte. Beide wollten sie verändern. Die Fingerfarben, die der Liebe Gott gebraucht hat, stimmen nicht zueinander, sagte Vago, und Vim: Die Menschen, die der Liebe Gott zusammengepfercht hat in Häuser, Dörfer, Städte, Länder und Erdteile, haben einander nichts zu sagen. Sie leben wortreich aneinander vorbei, so wie die Natur, wenn man so will, farbenprächtig an ihr selber vorbeilebt. In einer Landschaft kümmert sich der See nicht um das Blau des Himmels und der Birnbaum nicht um die Form des Apfelbaums. Das ist sträflich, das kann ins Auge gehen. Wir, indem wir Gesetzesmäßigkeiten herausfinden, korrigieren in einem fort den Lieben Gott. Wir sind die Lektoren und Korrektoren und Translatoren, ja letztlich die Lehrmeister des Schöpfers. Nicht der Mai macht alles neu, wir, wir machen alles neu. So dachten beide und trieben ihr Werk voran, Vim in seiner Kistenbretterecke unter der Tischlampe, die den Satz beleuchtete, an dem er gerade feilte, Vago in den Sonnenstaubfahnen des großen Atelierfensters. Wenn der Schriftsteller nachdachte, war das Schaben der Pinsel und Kratzen der Spachtel zu hören; trat Vago von seinem Gemälde zurück, um mit zugekniffenem Auge den Sitz eines roten Zwickels oder die Erdigkeit eines Umbraschattens zu prüfen, das Hackballett der Schreibmaschine.

Wie gesagt, sie störten einander nicht, denn beide hatten Erfolg. Vagos Bilder wurden ausgestellt, in kostspieligen Katalogen reproduziert und verkauft; Vims Bücher erreichten hohe Auflagen, wurden gelesen und öffentlich diskutiert. Wildfremde Menschen beharrten darauf, zu seinen Figuren Modell gestanden zu haben. Es gab Prozesse, weil A. B. streitig machte, C. sein zu dürfen oder auch zu müssen. Vagos Bilder waren kühn in der Konzeption und in der Farbgebung, doch so kühn nun auch wieder nicht, dass sie die Käufer, die sie in der guten Stube aufhängten, aus dem Gleichgewicht gebracht hätten. Einen Vago zu besitzen, war kein Sicherheitsrisiko, eher ein Platzproblem; keinen Vago zu besitzen, dagegen eine Kulturlücke. Vim zu lesen war äußerst anstrengend, der vielen Fremdwörter wegen; Vim nicht gelesen zu haben, durften sich allenfalls Professoren oder Redaktoren leisten, die über Bücher lesen beziehungsweise schreiben müssen. Viele hielten die beiden Künstler für Brüder, ja sogar Zwillingsbrüder. Und manch einer, der einen Vago über der Polstergruppe hängen und Vims Gesammelte Werke in der Bücherwand stehen hatte, erholte sich von der Lektüre der komplizierten Sätze beim Betrachten der kantigen Kompositionen. Ein Kritiker fand die Formel: Der eine ist des andern Komplementärfarbe im Menschlichen wie im Künstlerischen. Vim rief nach Vago, und umgekehrt, und das steigerte natürlich den Absatz sowohl der Bücher als auch der Bilder.

Während aber das Geschäft florierte, und beileibe nicht auf Kosten der Qualität, geschah etwas Schreckliches: Still und heimlich, sozusagen über Nacht, ohne dass sie sich dessen versahen, ging Vim der Stoff und gingen Vago die Motive aus. Eines Morgens musste sich der Poet eingestehen: Ich bin ausgeschrieben; und am selben Abend der Maler: Ich bin ausgebrannt. Das war das Unheimliche, dass beide zugleich von der Leere heimgesucht wurden, als ob sich die Krise des einen mit der Krise des andern verabredet hätte. Doch sie ließen sich nichts anmerken. Vim tippte stur weiter, schrieb ein fertiges Manuskript ab, an dem es nichts mehr zu verbessern gab; und Vago übermalte einen fertigen Schinken, der nur noch zu verderben war. Statt miteinander zu reden und zu fragen, was sie im Leben falsch gemacht hätten, dass in ihrer Kunst nichts mehr passiere, dachte Vim: Vago hat mir die Ideen gestohlen, sie standen ja förmlich im Raum; und der Maler glaubte, der Schriftsteller habe ihn der Inspiration beraubt. Aus Rache fand jeder einen vorläufigen Ausweg aus der privaten Wüste. Vim begann, ohne dass Vago es ahnte, einen Maler zu beschreiben, der am Ende ist; und Vago seinerseits porträtierte, ohne Vim etwas davon zu verraten, einen Schriftsteller im geistigen Konkurs. Jeder saß dem andern Modell für sein eigenes Debakel. Als die Novelle beendet war, rief Vim triumphierend aus: Vago, ich habe dich vernichtet. Kain hat sich wider seinen Bruder erhoben und ihn totgeschlagen. Beide können dem Herrn nicht opfern, ich will den Ruhm für mich alleine haben. Vago nahm das Porträt von der Staffelei und hielt es Vim mit gestreckten Armen entgegen wie einen Spiegel. Es sagte deutlicher, als Worte es zu sagen vermöchten: Du bist vernichtet, du! Das Bild war die vollkommene Illustration der Novelle, die Novelle der einzig mögliche Text zum Bild. Vim hatte Vago während der Arbeit an seinem Porträt beschrieben, also sich selbst. Und Vago hatte Vim während der Beschreibung seiner Situation porträtiert, also sich selbst. Erst stutzten, dann fluchten, dann lachten sie. Denn was ihnen gelungen war, war noch keinem Künstler gelungen: ein Selbstbildnis im Glauben, man pinsle seinen ärgsten Feind in Grund und Boden; eine Autobiographie im Frontalangriff. Eine neues Kapitel in der Kunst- und Literaturgeschichte war aufgeschlagen worden, es gab eine neue Gattung: die Gattung der sujetbezogenen Egozentrifugal-Reflexionen.

Damit wäre unsere Geschichte zu Ende, wenn sie hier nicht erst beginnen müsste. Beginnen damit, dass Vim und Vago begreifen lernten, warum sie als Künstler in eine Sackgasse geraten waren. Sie hatten sich nur noch um sich selber gedreht als Tanzfiguren des Kulturbetriebs. Sie hatten sich in ihr Dachatelier ein- und das Leben ausgesperrt. Sie waren wohl unter die Leute und in die Natur gegangen, aber nicht, um etwas Neues zu entdecken, sondern um zu kontrollieren, ob die Welt sich an die Vorschriften halte, die sie ihr mit ihren Werken setzten. Ihre Kunst kam wohl im höchsten Grade von Können, aber nicht, was die viel wichtigere Etymologie war, von Kennen. Landschaften, Gesichter, Begebenheiten hatten sich unter ihren Händen verwandelt, aber sie selber, Vim und Vago, waren die Gleichen geblieben. Es hatte nichts mehr geben dürfen, das größer war als sie.

Darum beschlossen der Schriftsteller und der Maler, das Atelier aufzugeben, die Leinwände und die Schreibmaschine verstauben zu lassen und sich im Leben umzusehen. Unsere Wege trennen sich, sagte Vim, wir begeben uns jetzt auf die andere Seite der Kunst. Und wenn wir uns nach vielen Jahren wieder treffen sollten, von der Öffentlichkeit vergessen, so dass sich der Ruhm vergeblich die Sohlen abgelaufen hat, uns einzuholen, dann werden wir vielleicht sagen können: Ein Glück, dass sich der Apfelbaum nicht darum kümmert, wie ein Birnbaum aussieht, ein Glück, dass das Meer sich erlaubt, azurblau zu schimmern, während der Himmel dilettantisch Indigo und Kobalt durcheinandermischt. Das Leben ist eine Kunst, rief Vim aus, und Vago pflichtete ihm bei, die einen höheren, ja höchsten Dilettantismus geradezu erfordert. Es darf, ob wir lieben oder hassen, keinen Goldenen Schnitt geben in der Wirklichkeit, die wir suchen, keine Symmetrien, keine Simultankontraste. Erst dann wird unsere Malerei und Schriftstellerei wieder einen Sinn haben, wenn in ihr aufgeht, was nirgendwo anders aufgehen kann.

So trennten sich Vim und Vago und holten lebend nach, was sie unautorisiert in ihren Bildern und Büchern vorweggenommen hatten. Und sie konstatierten: Große Kunst ist einfach, das kleinste Leben aber das komplizierteste. Im Märchen heißt es: Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch. Wir entlassen die beiden Künstler aus unserer Geschichte in der Hoffnung, dass sie lebten, weil sie einmal so gründlich aneinander gestorben waren.

DAS MITTAGESSEN

 

Variationen auf ‹Das Mittagessen im Hof› von J. P. Hebel

(für P. Bichsel)

 

Dann deckt sie die dampfende Schüssel mit seinem Teller. Sie vergisst immer wieder, dass ihn die Wassertröpfchen stören. Er hat es ihr einmal gesagt. Er esse ja gern in der Küche, aber ungern in einer Waschküche.

Anfangs hatten sie in der guten Stube gegessen und jeden Tag Mineralwasser getrunken, dann hie und da, dann nur noch sonntags. Die Möbel glänzten so ungewohnt, vor allem wenn die Sonne schien, und die Pendule tickte zu laut.

«Er kommt wieder einmal spät», denkt sie, als sie seine Schritte im Treppenhaus hört. Die Uhr muss kurz vor zwölf stehengeblieben sein.

Wenn er schlechter Laune ist, löffelt er hastig und wortlos seine Suppe. Er will beim Essen seine Ruhe haben. Einmal ist sie plötzlich aufgestanden und hat gesagt, sie sei nicht sein Dienstmädchen, sie habe das Recht auf ein paar Worte bei Tisch. Jetzt sagt sie nur noch: «Iss nicht so schnell, du verdirbst dir den Magen», oder: «Wart doch mit Essen, bis ich auch geschöpft habe!» Manchmal lässt er den Löffel in den Teller fallen.

Leute, die schnell arbeiten, essen eben auch schnell.

Zum Siedfleisch vergisst sie immer den Senf. Dann geht er zur Schublade, zieht sie halb hervor und sagt: «Wo hast du diesen ewigen Senf!»

Wenn er fertig ist, schiebt er den Teller von sich, schlägt die Zeitung auf und raucht. Manchmal schimpft er über eine politische Meldung und liest ihr die Stelle vor. Sie blickt in den Inseratenteil vor seinem Gesicht und denkt «Männersache». Vielleicht denkt sie: «Es ist gut, dass er schimpft.»

Dann öffnet sie das Fenster, um den Dampf abziehen zu lassen, und blickt in den Hof hinunter. Ein Streifen Frühlingssonne fällt auf den Tisch mit den schmutzigen Tellern. Aus einem der gegenüberliegenden Wohnblöcke tönen heiser und überdreht Mittagsnachrichten. «Siehst du, wie der Apfelbaum treibt», sagt sie schnell, als liefe er über den Hof davon.

«Frühling», murmelt er, ohne aufzusehen.

Eigentlich sollte man das Geschirr zum Fenster hinausschmeißen, denkt die Frau.

Sie stellt seinen Teller in ihren Teller, schiebt die Messer quer unter die Gabeln, fasst die Teller mit den Handflächen so, dass sie die Schüssel mit den Fingerspitzen auch noch fassen kann, und trägt ab.

«Wann gehst du?», fragt sie, obwohl sie weiß, dass er immer um Viertel nach eins geht. «Um Viertel nach», sagt er und legt die Zeitung gähnend weg.

Die Uhr steht wieder einmal.

Bevor er den Hut nimmt und geht, sagt er: «Ich gehe jetzt.»

«Ja», sagt sie, und: «Heute Abend wie immer!»

Wie immer.

ICH WILL PFARRER WERDEN

 

Eine Episode aus einer Kindheitsschilderung

 

Jeden Sonntag muss ich mit der Großmutter zur Kirche gehen. Unter dröhnenden Glocken schreiten wir durch die Allee auf den Eingang zu. Die Großmutter kennt alle Frauen in schwarzen Gewändern. Sie grüßt sie nickend, und sie nicken zurück. Beim Portal steht der Sigrist, ein hagerer Greis. Er bückt sich jedes Mal, wenn wir die Schwelle überschreiten, und flüstert mir ins Ohr, so dass ich es im Geläute kaum verstehe: Ich werde dir die Glocken zeigen, wir klettern zusammen in die Glockenstube und hängen eine Glocke aus. Dazu macht er mit seinem Arm und der knöchernen Faust einen Klöppel und schlägt damit an die Innenseite der vorgewölbten Hand. Während der Predigt, die für mich unverständlich ist und die viel zu lange dauert, verfolgt mich die ausgehängte Glocke. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine gestürzte Glocke vor mir, mit eingestauchten Wänden. Auf der Abbildung zu einem Märchen, das mir die Großmutter erzählt hat, ist ein Knabe mit furchtstarrem Blick zu sehen, der im Gebälk eines Glockenstuhls sitzt, rittlings, und mit dem Messer Rost von der Glocke kratzt. Mit dem Rost will er seine Schwester erlösen, das verzauberte Trudchen. Sie hat vom Kohl gegessen, den sie nicht mag, und ist in den Bann einer Hexe geraten. Ich überschlage die Seite mit dem Bild immer zu rasch aus Angst, die Glocke könnte zu läuten beginnen und den Knaben von seinem Sitz werfen.

In der Kirche ist es kühl, süßlich riechen die Steinfliesen. Meine Großmutter drängt mich in eine der hintersten Bänke unter der Orgelempore. Wie oft habe ich ihr schon erklärt, wie ungünstig, ja völlig aussichtslos dieser Platz für meine Beobachtungen sei! Aber die Großmutter bleibt schwerhörig. Man wolle sich doch nicht produzieren in den vordersten Rängen und die Frömmigkeit zur Schau stellen. Wo würde das denn hinführen, wenn alle Leute zuvorderst sitzen wollten. Es führt dahin, dass wir jedes Mal um zwei Plätze kämpfen müssen, weil alle zuhinterst sitzen wollen. Und vorne werden die dunkelbraun glänzenden Bänke nur dürftig besetzt, die mir freie Sicht erlaubt hätten. Denn während der ganzen Predigt gibt es nur einen einzigen spannenden Augenblick: wenn der Pfarrer, von der Orgel getragen, durch den Mittelgang schreitet und die Kanzel besteigt. Es ist ein rauschhafter Augenblick. Eingeklemmt zwischen alten Frauen, die ihre verwerkten Hände im Schoß ruhen lassen, warte ich auf jenen kühlen, mit Kampfergeruch vermischten Luftzug, der durch die Pendeltür weht, wenn der Pfarrer das Kirchenschiff betritt. Und dann schwebt er im Talar mit gesenktem Kopf durch den Gang, er schreitet auf Orgelklängen dahin wie übers Meer, die Bibel gegen die Brust gedrückt, er nimmt mit Leichtigkeit die flachen Stufen zum Chor und fasst mit der freien Hand, die aus dem Talarärmel hervorgleitet, das Geländer der Kanzeltreppe, als lege er sie segnend auf ein bußfertiges Haupt. Der Aufstieg nun, den ich nicht sehen kann, weil die Treppe hinter einem Mauervorsprung angebracht ist, scheint mir das Entscheidende an seinem Beruf zu sein. Wegen diesem Augenblick des Verschwindens und wieder Auftauchens auf der Kanzel habe ich mich entschlossen, Pfarrer zu werden.

In unserer Kirche predigen abwechslungsweise zwei Pfarrer, jeder hat seinen eigenen Stil im Besteigen der Kanzel. Von hinten, wenn sie der Talar verbirgt und sie wie Raben aussehen, kann ich sie nicht unterscheiden. Sobald sie aber die Kanzel in Angriff nehmen, weiß ich Bescheid. Der eine, brave Pfarrer hält sich nicht lange auf der Treppe auf. Kaum ist er aus dem Blickfeld verschwunden, erscheint er auch schon oben auf der Kanzel und nickt der Gemeinde kurz zu, als wolle er sich für sein Wegbleiben entschuldigen. Dann lässt er sich auf dem Stuhl nieder und lauscht der Orgel. Er dürfte während diesem unbedachten, geradezu hastigen Aufstieg kaum bemerkt haben, dass der Treppenläufer purpurrot ist wie in meiner Phantasie und dass die Messingstängelchen verführerisch golden blinken. Der andere, hochmütige Pfarrer, der, wie ich es bei Napoleon auf einem Bild gesehen habe, immer eine Hand unter dem Talar auf den Magen drückt, kostet den Kanzelaufstieg bis ins Letzte aus. Er bleibt so lange auf der Treppe und hinter der Mauer verborgen, bis man fast nicht mehr an ihn glaubt, und wenn er endlich oben zum Vorschein kommt, zeigt er sich nicht auf einmal dem Volk, sondern ratenweise. Umständlich drückt er seinen Körper um die Mauer herum, betritt die Kanzel wie einen Aussichtspunkt, saugt tief Atem ein und blickt vernichtend in die Runde.

Sobald die Orgel verstummt und sich der Pfarrer auf der Kanzel erhebt, beginnt für mich das quälende Absitzen eines Arrestes, den ich nur durch Husten erträglich gestalten kann. Wenn ich huste oder hüstelnd auf stärkere Anfälle hindeute, klaubt meine Großmutter die silberne Bonbonniere aus ihrer Handtasche, lässt die Dose aufschnappen und streut mir Gabas auf die Zunge. Sich selber schüttet sie die Gabas in die Hand, beugt das Gesicht tief darüber und schlägt die Tabletten in den Mund. Meistens rückt dann eine der Frauen näher, imitiert ein kränkliches Räuspern und greift, Nächstenliebe beanspruchend, die vielleicht gerade auf der Kanzel behandelt wird, frech in die Dose, wobei einzelne Gabas über den Rand springen, die meine Großmutter später wieder vom Holzboden aufklaubt. In diesen Augenblicken fürchte ich um den Gabavorrat und huste so laut, dass sich in den vorderen Reihen die Köpfe nach uns umdrehen. Ich versuche, die Gabas zwischen dem Zahnfleisch und dem Backenfleisch zu speichern und die Tabletten einzeln auf der Zunge zergehen zu lassen. Gabas speichernd und lutschend, zähle ich dann die Deckenornamente, vertiefe mich in die dutzendmal abgeweideten Wandbilder, folge dem dornigen Gerank des Kanzelschmucks und koste die brennenden Farben der Glasfenster aus, das Rubinrot und das Honiggelb, das Eukalyptusgrün und das Kardinalviolett. Während die Evangelisten stumm auf die Bibel deuten, spricht der Pfarrer eine Ewigkeit lang vor sich hin, strickt mit Sätzen eine Decke, unter der alle Kirchenbesucher bis auf den hintersten Schnapser Platz finden müssen, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit den Augen zu unterhalten, die meine Fassadenkletterer sind. Ich klettere die glatten Marmorsäulen hoch auf die Orgelempore, male die Wappenschilder in der geschnitzten Brüstung mit schräg schraffierten Blicken aus, ich schwinge mich affenartig von Lampe zu Lampe in schwindelnder Höhe über der andächtigen Menge, ich verklettere mich im Zierat der Orgel und verirre mich im Gebläse, werde zu Luft und in den Pfeifenröhren zu Ton, zittere als Akkord gegen die Buntglasfenster und lutsche an den glasigen Bonbonfarben – die Rosetten kratzen auf der Zunge –, ich verwandle mich in eine Zahl auf der Liedertafel und spreche mit den andern Zahlen über ihre Wohnungen. Die Vier bewohnt ein sonniges Zimmer, die Neun lebt im Schatten der Zehn, die Sieben steht unter goldener Abendsonne, die Elf wohnt gegen Morgen, die Zwölf hat immer Nebel, und die Dreizehn wird verregnet. Ich denke die Zahlen in Farben um: das Stahlblau der Acht, das Rostrot der Vier, der hellgelbe Emailton der Elf, das Kupfergrün der Neun. Und die angezeigten Lieder ergeben Farbakkorde, und wenn die Orgel spielt, ertönen die Glasfenster.

Und wenn ich müde bin vom Spielen, von den Verwandlungen, döse ich ein am Arm meiner Großmutter. Im Halbtraum verdüstert sich die Kirche, als zöge ein Gewitter herauf. Die Farben weichen aus den Glasfenstern, ein milchiges Regenlicht steht hinter den Scheiben. Zugluft weht, Kampfergeruch, das laute Schnaufen der Orgel. Und das kotgelbe Täfer an den Wänden öffnet sich lamellenartig, entlässt den Sigrist, der den Bankreihen entlangschleicht und nach mir Ausschau hält. Er versteckt sich unter der Kanzeltreppe. Im Chor stehen plötzlich schwarze Tuchkammern, und hinter den Kammern Babylonierzelte, ein Wald von Zelten. Der Sigrist irrt mit einer Kerze durch das Labyrinth der Kammern. Er sucht mich, um mir die Glocken zu zeigen. Der Pfarrer steht hoch über dem Lager und erzählt mit Donnerstimme von Schlachten und Rüstungen, die alten Weiber schaukeln hin und her. Plötzlich sitzt der Sigrist neben mir, wie ein Toter, mit großen, wächsernen Ohren. Eine Fliege kriecht ihm über die Backe und bleibt vor einer Narbe stehen, wetzt die Vorderbeine. Und über dem Sigrist hängt die Glocke. Er schlägt mit dem Kopf an die Wandung, zehnmal schlägt er; der Pfarrer sackt auf der Kanzel wie vom Schuss getroffen zusammen, die Orgel setzt mit dem Zwischenspiel ein, und es wird hell, die Zelte sind verschwunden.

Ich weiß, dass der Pfarrer, wenn er sich einmal gesetzt hat, nicht mehr gefährlich werden kann, dass die Ewigkeit ein Ende nimmt. Es folgen nur noch kleinere Qualen, Gebete, zu denen man aufstehen muss, Lieder, die zwar fünf endlose, aber immerhin abzählbare Strophen haben, und schließlich die Verlesung von Nachrichten. Die heimgegangenen Toten werden erwähnt, und wenn von Heimgehen die Rede ist, kann die Erlösung nicht mehr fern sein. Der Sigrist öffnet die Tür zum Vorraum und macht die beiden Flügel fest, der Kampfergeruch, der den Pfarrer ins Kirchenschiff entlassen hat, verlangt nach ihm zurück, das Gezwitscher der Konfirmanden, die draußen vor der Tür warten, fällt wie ein Spatzenchor in den Segen ein. Meine Großmutter hat die Gabadose verstaut, das Gesangbuch liegt zugeklappt auf der Bank, und die Orgel setzt zum brausenden Schlusschoral ein.

Zu Hause, im Flur, spiele ich Pfarrer. Meine Großmutter muss auf der Schuhtruhe Platz nehmen. Summend, die Orgel imitierend, trete ich aus der Küche in den Gang, das Gesangbuch gegen die Brust gepresst, und schreite voller Würde über den Teppich, indem ich wie der Pfarrer demütig vor die Füße blicke. Die Großmutter wird bei diesem Spiel stets ungeduldig und scheint vergessen zu haben, dass ich eine gute Dreiviertelstunde lang auf die Zähne beißen musste. Aber ich mache es kurz. Mir geht es einzig um das Verschwinden hinter der Treppe und das Auftauchen auf der Kanzel. Alles andere ist Nebensache. So zweige ich denn am Ende des Flurs ins Treppenhaus ab, setze mich, für die Großmutter unsichtbar, auf die zweite Stufe und warte eine Weile, wie ich es beim napoleonischen Pfarrer gelernt habe. Dieses Warten bringt die Großmutter zur Verzweiflung, sie verlangt energisch nach der Predigt. Die Stufe, auf der ich sitze, windet sich halbkreisförmig um den Geländerpfosten. Diese Plattform ist meine Kanzel, von da aus halte ich meinen Gottesdienst ab, verschwinde aber häufig hinter dem Pfosten, um meine Gegenwart rarer zu machen. Die Lieder werden nach Nummern angegeben, doch nicht gesungen, anstelle der Predigt erzähle ich eine haarsträubende Räubergeschichte, die zumindest mich als Zuhörer gläubiger gestimmt hätte als die gestrickte Decke des Pfarrers, und zum Abschluss spreche ich das Tischgebet. Die Großmutter läuft meistens aus der Predigt davon, um in der Küche das Futter für die Katze zurechtzumachen, setzt sich aber wieder nach dem Schlussgebet, wenn ich orgelnd die Kirche verlasse, weil sie weiß, dass ich auf diesen Abgang großen Wert lege.

Ich frage die Großmutter, wie man Pfarrer werde. Sie zögert, dann sagt sie, man müsse lang studieren. Was Studieren sei. Die Großmutter weiß es nicht genau, sie meint, man sitze jahrelang in einem kleinen Zimmer und lese Bücher über seinen Beruf. So stelle ich mir denn vor, man denke beim Studieren darüber nach, was man werden wolle, und da ich dies schon weiß, erscheint mir das Studium sinnlos. Ich begreife, weshalb die Pfarrer so endlose Reden halten: Sie haben zu lange darüber nachgedacht, was sie werden wollen.

Großmutter, glaubst du, ich werde ein guter Pfarrer?

Warte mal, bis du aus der Schule kommst, bevor du dich für einen Beruf entscheidest. Dein Onkel, der heute Pfarrer ist, wollte auch immer Tramschienenreiniger werden.

Im Zimmer meiner Großmutter nimmt mich eine Welt gefangen, die voll ist von fremdartigen Gegenständen. Da ist das Bild über dem Bett mit dem finster blickenden Petrus, der den sanften Blick von Jesus verscheucht. Er gleicht dem bronzenen Tell auf dem weißen, geschliffenen Steinsockel, der den Arm um Walters Schulter legt und finster zu den Bergen hinaufblickt. Da gibt es eine Pfaff-Nähmaschine mit einem Schwungrad, eine Nähkiste und die hölzerne Strumpfkugel, ein Buffet mit gedrechselten Säulchen und rautenförmigen Glasscheiben, einen Aschenbecher aus Porzellan, auf dem zwei glasierte Vögel auf Futter warten. In der Ecke schnurrt die Katze, die Ketten der Wanduhr mit den Tannenzapfen rasseln. Da ist das Bild von den törichten Jungfrauen, die ihr Öl vergossen haben und mit schmachtenden Gesichtern auf der Treppe sitzen, während die klugen Jungfrauen, die Ampeln vor sich hertragen, in langen, durchsichtigen Gewändern zum Tempel emporrauschen.

Die Großmutter ist in ihrem Lehnstuhl eingenickt, ich liege zu ihren Füßen auf dem Bauch vor den Büchern. In der Kinderbibel begegnen mir die grausamen Geschichten des Alten Testaments. Kain drückt dem Abel sein Knie in den Bauch und schwingt das Beil über seinem Kopf. Tief hängt die Rauchsäule, ein flatternder Tuchwulst. Da ist die Sintflut, die Engel gießen mit Kübeln Wasser über den Felsen, auf den sich ein paar Weiber und Männer gerettet haben und die Hände ringen, während im Hintergrund, zwischen schrägen Schraffuren die Arche schwimmt. Lots Frau blickt zurück und erstarrt vor den Flammen Sodoms zur Salzsäule. Da ist das zornige Gesicht Abrahams, er hält das Messer in der Faust und drückt Isaak auf den Scheiterhaufen. Am längsten verweile ich bei Josef, weil ich zu wissen glaube, was es heißt, im Brunnen zu schmachten. Den Mantel Josefs stelle ich mir vor, purpurrot, mit goldenen Sternen übersät. Und ich sehe, wie Josef vor dem greisen König steht, die Traumbilder deutet, die als Medaillons über seiner Krone schweben. Das Gesicht Josefs ist dunkel, wie mit Nacht bemalt, und seine Haltung hat die Elastizität eines Seiltänzers. Dann das Bild, auf dem Moses die steinernen Gesetztafeln zerbricht und das Volk zwischen den Zelten um das Goldene Kalb tanzt. Die Scherben der Tafeln liegen da mit römischen Zahlen. Und Moses zeigt dem Volk eine Schlange, die an einen Pfahl genagelt ist, und wiederum, wie auf dem Bild der klugen und törichten Jungfrauen, scheiden sich die Guten und die Bösen. Die Guten schauen auf die Schlange am Pfahl, strecken ihre Hände nach ihr aus, dieweil die Schlechten sich am Boden winden im Kampf mit lebenden Schlangen, die sich in Lenden beißen und Waden einschnüren, und eine Frau ist zu sehen mit aufgelöstem Haar, der die Schlange an die Brust fährt. Gideon bricht Fackel schwingend und Horn blasend ins Lager der Feinde ein, sein Brustpanzer glänzt im Flammenschein. Simson reißt die Säulen ein, unter dem eingestürzten Gebälk liegen zerquetschte Leiber. Frauenköpfe hängen mit Haaren, die wie Wurzeln aussehen, von der Decke. Simson zertritt die Leier mit dem Fuß, bevor er unter Säulentrommeln begraben wird. Und David zittert vor dem Speer Sauls, David, der den Goliath mit der Schleuder getroffen hat. Der Stein liegt neben dem Auge des gestürzten Riesen, aus dem Auge quillt ein Sturzbach, und der geschuppte Leib liegt auf dem Schild. Ich drehe das Bild auf den Kopf, so dass Goliath mit dem spritzenden Auge aufrecht steht und den Speer schwingt. Die Stirn ist zerfurcht, und das andere Auge gleicht einer zugenähten Muschel, übers Gesicht wuchert der Bart, krause Locken, das Gebiss klafft offen. David hat das Gesicht eines zornigen Engels, seine Rockstöße stehen vom Rücken ab wie Flügel.

Ein Spiel, bei dem ich mich stundenlang verweilen kann und das mich mehr reizt als die Geschichten selber, ist das Vergleichen der Figuren und Motive, wenn sie mehrmals in verschiedenen Größen vorkommen. Ich zähle die Riemen an den Sandalen Moses und frage mich, weshalb er hier drei und dort nur zwei habe. Die Nachlässigkeit des Zeichners will mir nicht in den Kopf. Oder auf dem einen Bild hält Moses eine Doppeltafel empor, auf dem andern zwei Einzeltafeln. Auch kontrolliere ich die Genauigkeit der Einzelheiten im Hintergrund. Warum wird die Öffnung nicht mehr angegeben, wenn sich die Zelte verkleinern gegen den Horizont zu? Gerade auf diese Öffnung käme es doch an. Wie werden die Häuser gezeichnet und ferne Paläste, warum verdeckt bei der Sintflut die Schraffur des Regens einen hervorguckenden Engel ganz und die Arche nur halb? So weide ich die Bilder ab mit Fragen, und überall, wo mir etwas nicht gefällt, mache ich in Gedanken ein Kreuz, das ich beim nächsten Mal überprüfe. Ich komme zum Schluss, dass die Sandalen des Moses und die Nägel in der Arche wichtiger sind als der Inhalt der Geschichten und dass die Bilder nie den Vorstellungen entsprechen.

Ich habe längst aufgehört oder gar nie angefangen, die Dinge so zeichnen zu wollen, wie sie zu sein vorgeben. Ich zeichne die Kanzeltreppe mit dem roten Läufer und dem verschnörkelten Geländer. Meine Treppe soll die Lust des Verschwindens und Auftauchens steigern. Sie führt außen an der Kirchenwand hoch, windet sich um den Turm, zieht sich durch die Glockenstube hinauf in den Dachstuhl und fällt steil ab zum First, wird flacher der Dachtraufe entlang, spiralt sich ein und erschließt zuletzt eine Kanzel, die über dem Portal angebracht ist. Diese Kirche, die einem Kristall mit geschliffenen Flächen gleicht, lässt keinen Besucher ein. Die Kirchgänger können sich während der Predigt auf der Treppe vergnügen, hören bald nah, bald fern die Stimme des Pfarrers, der eng an die Kanzelbrüstung gedrückt steht, damit die Leute an ihm vorübergehen und die Leiter hinunterklettern können. Neben dem Pfarrer auf der Kanzel gibt es Unterpfarrer auf verschiedenen Abschnitten der Treppe, ich zeichne sie nur schematisch, als schwarze Kreuze, die stumm auf das hinweisen, was der Hauptpfarrer sagt, damit es im Gedränge auf der Treppe nicht untergeht und nicht vom Vergnügen an den Stufen ausgelöscht wird. Und dann zeichne ich eine Kirche, die nur noch aus Treppen besteht, schmalen und breiten, sanften und steilen, gewellten und verdrehten, schwungvollen und verkehrten, ein Treppenhaus ohne Dach, und die Treppen führen auf Podeste, und die Podeste sind zu Kanzeln ausgebildet, von denen man auf andere Treppen und Kanzeln blickt. Am Eingang des Labyrinths steht der Pfarrer, verlangt Eintritt, und am Ende ist man wieder dort, wo man am Anfang war.

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