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Lady Amor und der Lord

Henrietta Cynster hat ein Gespür für unglückliche Verbindungen und schon manche Londoner Lady davor bewahrt, den Falschen zu heiraten. Auch die Auserwählte von James Glossup konnte sie überzeugen, die Verlobung zu lösen. Was Henrietta nicht wusste: Der junge Adelige verliert sein Erbe, wenn er nicht schnellstens eine Frau präsentiert. Um ihm zu helfen, muss Henrietta erstmals auf Amors Wegen wandeln. Und je länger die Suche dauert, desto mehr fühlt sie selbst sich zu dem charmanten Lord hingezogen …

Die Bücher von Stephanie Laurens muss man einfach lesen!"

New York Times-Bestsellerautorin Linda Howard


  • Erscheinungstag: 05.12.2016
  • Aus der Serie: Cynster Sisters
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499777
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Stephanie Laurens

Lady Amor und der Lord

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Gisela Grätz

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

And Then She Fell

Copyright © 2013 by Savdek Management Proprietary Ltd.

erschienen bei: Avon Books,

an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Period Images

ISBN eBook 978-3-95649-977-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

1. Kapitel

London, April 1837

Es war Zeit, sich umzukleiden für den zweifellos anstrengenden Abend, der vor ihr lag.

Henrietta Cynster eilte die Treppe im Haus ihrer Eltern in der Upper Brook Street hinauf und ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie ihrer Freundin Melinda Wentworth mitzuteilen hatte, wenn sie sie nachher wie verabredet auf Lady Montagues Ball treffen würde.

Sie ging den Korridor entlang, öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und blieb verblüfft auf der Schwelle stehen. Ihre jüngere Schwester Mary saß am Frisiertisch und stöberte in der Schatulle, in der Henrietta ihren Schmuck aufbewahrte. Das Erscheinen der großen Schwester registrierte das Mädchen mit einem gelassenen Seitenblick und fuhr unbeeindruckt fort, in dem Durcheinander von Ketten, Ohrgehängen, Broschen und Perlen zu wühlen.

Nachsichtig lächelnd wandte Henrietta sich ihrer Zofe zu. Hannah war dabei, die neue königsblaue Ballrobe ihrer Herrin vom Bügel zu nehmen, und bedachte Mary mit einem langen, missbilligenden Blick.

Henrietta trat ins Zimmer und schloss die Tür. Genau wie sie hatte auch Mary es nicht eilig gehabt, sich umzuziehen, und trug noch ihr Tageskleid. Neugierig musterte Henrietta die entschlossene Miene ihrer jüngeren Schwester. Mary war das Nesthäkchen der Familie, aber wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen, konnte sie so hartnäckig sein wie ein Terrier. „Wonach suchst du?“

Ungeduld stand in Marys Blick, als sie kurz hochsah. Sie schob die mittlere Schublade des Schmuckkästchens zu und zog die unterste heraus. „Das … Ah, da ist sie ja!“ Sie griff in den Wirrwarr glänzender Gegenstände, zerrte einen heraus und hielt ihn mit beiden Händen in die Luft. „Das hier habe ich gesucht.“

Eine bemerkenswerte Wandlung ging in Marys Zügen vor, wie Henrietta staunend feststellte. Ihre Miene zeigte den Triumph eines Generals, dessen Truppen soeben eine kriegswichtige feindliche Stellung erobert hatten. Henriettas Blick fiel auf den Anhänger aus geschliffenem Rosenquarz, der an der feingliedrigen Kette mit schimmernden Amethystperlen funkelte. Sie wedelte wegwerfend mit der Hand. „Bei mir richtet die Kette nichts aus. Du kannst sie gerne haben.“

Mit ihren lebhaften blauen Augen sah Mary sie durchdringend an. „Ich habe sie nicht für mich herausgesucht.“ Sie hielt ihrer Schwester das Schmuckstück hin. „Du musst sie tragen.“

Es hieß, eine schottische Gottheit, die Lady genannt wurde, habe den Cynster-Mädchen den Schmuck zum Geschenk gemacht. Angeblich half die Kette der Trägerin, den Mann ihrer Träume zu finden – den Ehegatten, an dessen Seite sie für den Rest ihres Lebens glücklich sein würde.

Praktisch und verständig wie Henrietta war, hatte sie an der Wirksamkeit des Talismans immer gezweifelt und auch nie glauben können, dass jedes der sieben Mädchen der Familie Cynster ihr Glück in den Armen eines Mannes finden sollte, der sie liebte. Henriettas Meinung nach war es mehr als wahrscheinlich, dass mindestens eine von ihnen nicht dieses wünschenswerte Ergebnis erzielte – nämlich sie.

Sie würde diejenige sein, der das Schicksal einer alten Jungfer bevorstand, und da Mary und sie als Einzige der Cynster-Mädchen noch nicht verheiratet waren, schien sie bereits auf dem besten Wege dahin zu sein. Inzwischen war sie neunundzwanzig und kannte keinen Gentleman, den sie für eine Heirat auch nur entfernt hätte in Erwägung ziehen mögen. Umgekehrt konnte sich kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammenhatte, vorstellen, dass die zweiundzwanzigjährige, zielstrebige, energische und unbeirrbar auf ihr zukünftiges Leben konzentrierte Mary ihr erklärtes Ziel, aus Liebe zu heiraten, nicht erreichen würde.

Henrietta ließ ihren Schal von den Schultern gleiten. „Ich sage dir doch, bei mir wirkt die Kette nicht. Nimm sie, du hast meinen Segen. Denn das ist es doch sicher, worauf du aus bist – deinen Traummann zu finden, nicht wahr?“

„Ja, natürlich.“ Marys Züge verdüsterten sich. „Aber ich kann sie nicht einfach tragen. So funktioniert es nicht. Zuerst musst du sie anlegen und deinen Traummann finden, und dann erst darfst du sie mir geben, so wie Cousine Angelica sie dir gegeben hat und Eliza zuvor Angelica und Heather davor Eliza – am Abend deines Verlobungsballs.“

Henrietta hängte den Schal über eine Stuhllehne und unterdrückte ein Lächeln – das einer älteren, reiferen Schwester, die sich über den ungebrochenen Glauben der jüngeren an den Zauber amüsierte. „Ich bin sicher, wir müssen uns nicht strikt an die Abfolge halten. Meiner Ansicht nach spricht ohnehin nichts dafür, dass es bei uns allen klappt.“

„Oh doch, und ob!“ Der auftrumpfende Ton in Marys Stimme war nicht zu überhören. Als Henrietta sich zu ihr umwandte, fuhr sie fort: „Ich habe nämlich Catriona gefragt, und sie ist mit der Lady in Verbindung getreten, denn schließlich ist es ihr Zauber, und Catriona zufolge war die Antwort der Lady eindeutig. Die Kette muss von einem Mädchen zum anderen weitergegeben werden, und zwar in der vorgeschriebenen Reihenfolge. Die Kette wirkt bei mir nicht, wenn sie vorher nicht bei dir gewirkt hat und du deinen Verlobungsball feierst. Das heißt …“, Mary holte tief Luft und hielt Henrietta das Schmuckstück hin, „… du musst sie tragen. Von jetzt an, bis du deinen Traummann findest – und bete zur Lady und allen anderen Göttern, dass das bald geschieht.“

Stirnrunzelnd streckte Henrietta die Hand aus und hob die Kette zögernd von Marys Fingern. Sie nicht zu nehmen stand nicht zur Debatte. Henrietta mochte älter, reifer, gesellschaftlich erfahrener, ja sogar einen ganzen Kopf größer sein, und sie war auch alles andere als willensschwach, aber in der Familie Cynster wusste jeder, dass es ein vergebliches Unterfangen war, Mary von etwas abhalten zu wollen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und das galt umso mehr, wenn sie vernünftige Argumente vorbrachte, um ihr Anliegen zu untermauern.

Henrietta ließ die zierlichen Kettenglieder durch ihre Finger gleiten und musterte Mary streng. „Warum legst du ausgerechnet jetzt so viel Wert auf die Kette? Du wusstest die ganze Zeit, dass ich sie habe. Angelicas Verlobungsball liegt immerhin fast acht Jahre zurück.“

„Genau.“ Angriffslustig kniff Mary die Augen zusammen. „Du hattest acht Jahre Zeit, sie zu tragen und den Mann deiner Träume zu finden. Stattdessen lag die Kette unbenutzt in deiner Schmuckschatulle. Solange ich noch zur Schule ging, konnte mir das egal sein. Selbst nachdem ich in die Gesellschaft eingeführt war, wollte ich mich auf eigene Faust umsehen, und es war kein Problem, dass ich die Kette nicht tragen konnte. Aber jetzt bin ich zweiundzwanzig und möchte weiterkommen. Ich will so schnell wie möglich meinen Traummann finden, heiraten, meinen eigenen Haushalt haben und alles, was damit zusammenhängt. Im Unterschied zu dir will ich die nächsten sieben Jahre nicht damit verbringen, mich mit etwas anderem zu beschäftigen, und das bedeutet …“ Mary stupste den Schmuck mit dem Finger an, „… dass du sie tragen, deinen Traummann finden und sie anschließend mir geben musst. Erst wenn ich die Kette habe, kann mein Leben weitergehen.“

Jemand anderes hätte Marys Worten unbesehen Glauben geschenkt, doch dafür kannte Henrietta ihre kleine Schwester zu gut. „Weil …?“, ergänzte sie vielsagend und sah Mary auffordernd an.

Mit lebhaften blauen Augen erwiderte das Mädchen den Blick, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Henrietta legte langsam den Kopf schräg, zog die Augenbrauen hoch und wartete …

„Ja, gut, also schön!“ Mary hob kapitulierend die Hände. „Weil ich meinen Traummann wahrscheinlich gefunden habe, aber ich brauche den Schmuck, um sicher zu sein. Die Kette soll mir raten und für mich wirken, bevor Lucilla sie bekommt, also werde ich darauf warten müssen, ehe ich die Entscheidung fälle, zumal es … nun, ich bin sicher, es würde den Absichten der Vorsehung und der Lady widersprechen, wenn ich eine endgültige Wahl träfe, ehe der Schmuck an mich übergeht. Es muss alles seine Ordnung haben.“ Mary nickte entschieden und maß Henrietta mit einem durchdringenden Blick. „Was so viel heißt wie: Erst musst du sie tragen und deinen Traummann finden.“

Henrietta nahm die Kette in Augenschein, besah sich die harmlosen Goldglieder. Sie seufzte. „Einverstanden. Dann lege ich sie heute Abend um.“

Mary ließ ein begeistertes Jauchzen hören.

Henrietta sah sie ernst an. „Es wird nicht wirken bei mir. Setz also keine Hoffnung darauf.“

Mary sprang lachend auf und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. „Trag sie einfach, Schwesterchen – mehr will ich gar nicht. Was die Wirkung angeht …“, mit funkelnden Augen stürmte sie zur Tür, „… da setze ich meine Hoffnung ganz auf die Lady.“

Henrietta verkniff sich abermals ein Lächeln und sah ihr kopfschüttelnd hinterher.

Die Klinke bereits in der Hand, wandte Mary sich noch einmal um. „Begleitest du Mama und mich heute Abend zu Lady Hammonds Gesellschaft?“

„Nein. Ich werde bei Lady Montague erwartet.“ In ihrem Alter besuchte Henrietta andere Veranstaltungen als die, zu denen ihre Mutter die kleine Schwester begleitete. „Viel Spaß!“

„Den werde ich haben. Wir sehen uns morgen.“ Mary winkte ihr zu, dann war sie aus der Tür.

Noch immer lächelnd, drehte Henrietta sich zu Hannah um. Die Zofe war dabei, das neue Abendkleid ihrer Herrin wieder in den Schrank zu hängen. Auf dem Bett lag eine Robe aus purpurfarbener Seide.

Henrietta fing Hannahs Blick ein, als die Bedienstete sich von der Kommode umdrehte, aus deren Schublade sie einen purpur- und goldfarben gemusterten Schal genommen hatte, und zog eine Braue hoch.

„Das königsblaue passt nicht, Miss.“ Die Zofe hatte den Gesichtsausdruck ihrer jungen Herrin richtig interpretiert. „Jedenfalls nicht, wenn Sie den Schmuck tragen.“ Mit dem Kinn deutete sie auf die Kette, die Henrietta in der Hand hielt. Ihre Augen leuchteten. „Und wir wollen doch, dass Sie gut aussehen, wenn Sie Ihrem Traummann begegnen.“

Henrietta seufzte unhörbar.

Zwei Stunden später stand sie zusammen mit Mr. und Mrs. Wentworth in einer ruhigen Ecke von Lady Montagues Ballsaal. Zu dritt beobachteten sie Melinda, die Tochter der Wentworths, beim Kotillon.

Melinda tanzte mit dem Ehrenwerten James Glossup.

Es waren James’ Beweggründe, ihrer Freundin den Hof zu machen, die Henrietta hergebracht hatten, und sie ertappte sich dabei, wie sie den jungen Mann musterte und die Einzelheiten seines Erscheinungsbildes in sich aufnahm, während sie gleichzeitig bewunderte, welch gute Figur er beim Tanzen machte. Wie so oft in den letzten Tagen fragte sie sich auch jetzt wieder, warum James, der so unübersehbar attraktiv war und so viel vorzuweisen hatte, ausgerechnet diesen Weg gewählt hatte, um eine Braut zu finden.

Mrs. Wentworth, eine kleine, angenehm rundliche Dame in einer braunen Bombasinrobe, seufzte. „Es ist eine Schande – da sie doch so ein hübsches Paar abgeben.“

„Nimm es nicht so schwer, meine Liebe.“ Mr. Wentworth, ein solider, konservativ gekleideter Gentleman, tätschelte die in seiner Armbeuge liegende Hand seiner Gattin. „Es gibt noch mehr gut aussehende Burschen auf dieser Welt, die sich für Mellie interessieren, und da sie entschlossen ist, einen Mann zu finden, der sie liebt … nun, jedenfalls bin ich froh über das, was Miss Cynster in Erfahrung gebracht hat.“

Henrietta zwang sich zu lächeln, während sie sich am liebsten gewunden hätte vor Unbehagen. Sie kannte James Glossup nicht besonders gut. Er war der beste Freund ihres Bruders Simon und bei dessen Heirat vor zwei Jahren Trauzeuge gewesen. In der Folge hatten sich ihre Pfade gelegentlich bei Familienfeiern gekreuzt, doch abgesehen von seiner Bekanntschaft mit Simon gab es keinen Grund, warum sie sich hätte näher mit James befassen sollen.

Seit Kurzem allerdings war sein Interesse an Melinda so auffällig geworden, dass es an seiner Absicht, ihr einen Antrag zu machen, keinen Zweifel mehr geben konnte. An diesem Punkt hatte Melinda sich mit dem Einverständnis ihrer Eltern an Henrietta gewandt und sie gebeten, ihr, wie sie es ausdrückte, Klarheit über James’ Motive zu verschaffen.

Schon mit Anfang zwanzig hatte Henrietta eine Berufung darin gesehen, ihren Altersgenossinnen aus der feinen Gesellschaft Antworten auf die kritischen Fragen zu geben, die jede junge Dame in Bezug auf den Gentleman bewegten, der um ihre Hand anhielt: Liebt er mich, oder warum hegt er den Wunsch, mich zu heiraten?

Es war nicht immer einfach, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, doch Henrietta, die ein Mitglied der einflussreichen Familie Cynster mit ihren unendlich vielen Beziehungen und Verbindungen war, hatte sich als sehr geschickt darin erwiesen, herauszufinden, was sie herausfinden wollte.

Sie war kein Klatschweib; im Gegenteil, meist beschränkte sie sich darauf, die Fragen zu beantworten, die man ihr stellte. Aber sie war eine gute Beobachterin, und die Genauigkeit, mit der sie Dinge wahrnahm, hatte sich mit den Jahren ständiger Übung und wachsender Erfahrung nur vergrößert.

Während Matronen und Anstandsdamen ihre Schutzbefohlenen bei den Gesellschaften des ton um etwaige Klippen herumsteuerten und als Ehestifterinnen für die jungen Damen fungierten, bot Henrietta die entgegengesetzte Dienstleistung an – so erfolgreich, dass ein paar verärgerte Gentlemen sie bereits als „die Eheverderberin“ bezeichneten. Für die weibliche Hälfte des ton dagegen war sie die Instanz, an die eine junge Dame sich wandte, wenn sie eine Liebesverbindung anstrebte und Gewissheit über die Aufrichtigkeit ihres angehenden Verlobten erlangen wollte.

Und nachdem Liebesheiraten im ton in den letzten Jahren immer populärer geworden waren, standen Henriettas Fähigkeiten und Erkenntnisse hoch im Kurs.

Es war sehr gut möglich, dass ihre weitreichende Erfahrung der Grund für das nebulöse Unbehagen war, das sie erfüllte, wenn es um James Glossup ging. Irgendetwas an seiner Situation passte nicht recht ins Bild. Aber Melinda hatte sich an sie gewandt, und trotz der merkwürdig unklaren Vorbehalte, die Henrietta verspürte, würde sie der Bitte nachkommen und ihrer Freundin die Wahrheit sagen.

Sie beobachtete, wie elegant James sich drehte, bewunderte die unglaubliche Anmut, mit der er sich zur Musik bewegte, und unwillkürlich glitt ihr Blick über seine breiten Schultern, die hochgewachsene, schlanke Gestalt in der tadellosen, stilvoll zurückhaltenden Abendkleidung und das modisch zerzauste braune Haar. In dem Lächeln, das er Melinda schenkte, lag weltmännische Liebenswürdigkeit, und Henrietta fragte sich aufs Neue, warum er sich dazu entschlossen hatte, aus finanziellen Gründen statt der Liebe wegen zu heiraten.

Vielleicht weil er ein Feigling war, der Angst vor der Liebe hatte und das Risiko scheute? Nein, beschied Henrietta im Stillen. Die Erklärung klang nicht sehr glaubhaft.

James eilte im ton der Ruf eines ausgewiesenen Schürzenjägers voraus. Als beste Freunde hatten er und Simon die Salons unsicher gemacht, doch seit Simons Hochzeit im Sommer vor zwei Jahren ließ James sich nur noch selten in London blicken. Erst zum Beginn dieser Saison war er wieder in der Stadt aufgetaucht. Als Spross der Glossups aus Dorsetshire und Enkelsohn des Viscount Netherfield hätte er seine Wahl unter zahllosen passenden jungen Damen treffen können, die mehr als geneigt gewesen wären, sich in ihn zu verlieben, doch stattdessen hatte er sich fast von Anfang an auf Melinda konzentriert.

Und Melinda war eine von Henriettas Freundinnen.

Die Musik verklang. James machte eine Verbeugung, Melinda knickste. Als sie sich erhob, blickte sie kurz zu ihren Eltern, sah, dass Henrietta bei ihnen stand, und verabschiedete James mit einem pflichtbewussten höflichen Lächeln, ehe sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte.

Als die Freundin auf sie zukam, setzte Henrietta eine ausdruckslose Miene auf, doch sobald Melinda zu ihrer Mutter sah, wusste sie Bescheid. Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Oh.“ Vor ihren Eltern blieb sie stehen, nahm die Hand ihrer Mutter und blickte Henrietta an. „Keine guten Neuigkeiten, nicht wahr?“

Henrietta zuckte mit den Schultern. „Nicht die, die du hören wolltest, jedenfalls.“

Melinda wandte sich kurz um, doch James war bereits in der Menge verschwunden und nirgends mehr zu sehen. Tief durchatmend umfasste sie die Hand ihrer Mutter fester, hob den Kopf und sah Henrietta an. „Ich höre.“

Mrs. Wentworth blickte vielsagend um sich. „Dies ist nicht der geeignete Ort, eine solche Angelegenheit zu besprechen, Liebes.“

Melinda zog die Stirn kraus. „Aber ich muss es wissen. Wie soll ich ihm sonst noch einmal unter die Augen treten?“

„Vielleicht sollten wir nach Hause fahren und die Sache unter uns bereden“, schlug Mr. Wentworth ruhig vor. Er wandte sich zu Henrietta. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Cynster?“

Henrietta hatte nicht vorgehabt, den Ball der Montagues schon zu verlassen, doch nachdem ihre Freunde sie bittend ansahen, neigte sie zustimmend den Kopf. „Natürlich nicht. Ich bin mit der Kutsche meiner Eltern gekommen und fahre Ihnen in die Hill Street hinterher.“

Sie folgte den Wentworths zu Lady Montague. Während Melinda und Mrs. Wentworth sich bei Ihrer Ladyschaft für die Abendunterhaltung bedankten, trat Henrietta zurück und ließ den Blick über die Menge schweifen. Es waren nur wenige Gäste auf dem Ball zugegen, die sie nicht kannte, und noch weniger, bei denen sie nicht sofort wusste, zu welcher Familie sie gehörten und welche Verbindungen sie hatten.

Geistesabwesend beobachtete sie einige am Kopfende des Saals stehende Gäste, bis sie auf einmal James Glossup unter ihnen entdeckte, der unverwandt zu ihr herübersah. Sie hatte Mühe, ihren Blick von ihm loszureißen, doch als die Wentworths sich zum Gehen wandten, verabschiedete sie sich von Lady Montague und ging ihren Freunden hinterher.

Sie verbot es sich, zurückzuschauen, konnte der Versuchung indes nicht widerstehen und warf einen Blick über die Schulter.

Die Augen zusammengekniffen, starrte James ihr hinterher. Seine attraktiven Gesichtszüge erschienen ihr härter als zuvor, sein Mienenspiel war abweisend.

Henrietta begegnete seinem Blick, erwiderte ihn einen Moment lang fest, dann drehte sie sich um und verließ den Ballsaal.

Am anderen Ende des Raumes stieß James Glossup eine leise Verwünschung aus.

„Ich habe herausgefunden, dass Mr. Glossup heiraten muss, um zusätzliche Geldmittel aus dem Besitz seiner Großtante erhalten zu können.“ Henrietta saß in einem Lehnsessel im Salon der Wentworths und unterbrach sich, um einen Schluck Tee zu trinken. Mrs. Wentworth hatte ihn servieren lassen, weil sie der Meinung war, sie alle könnten eine Erfrischung gebrauchen.

Melinda und ihre Mutter hatten auf der Chaiselongue Platz genommen. In dem Sessel gegenüber Henrietta saß Mr. Wentworth. Er runzelte die Stirn. „Dann ist er also kein Glücksritter, der es auf Mellies Mitgift abgesehen hat?“

Henrietta stellte ihre Tasse auf dem Unterteller ab und schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat selbst Vermögen. Aber damit das Guthaben freigegeben wird, das ihm seine Großtante vererbt hat, muss er heiraten. Die alte Dame wollte sichergehen, dass er das tut, und soweit ich weiß, hat sie es in ihrem Testament zur Bedingung gemacht.“

Mr. Wentworth schnaubte verärgert. „Mag sein, dass sie den Schnösel auf die Art vor den Traualtar zwingt, aber nicht mit meinem Mädchen.“

„Auf keinen Fall!“, pflichtete Mrs. Wentworth ihrem Gatten umgehend bei, dann schien sie sich zu erinnern, dass es Melindas Meinung war, die in dieser Angelegenheit zählte, und wandte sich zu ihrer Tochter. „Oder … Mellie?“

Tasse und Untertasse auf dem Schoß haltend, hatte Melinda geistesabwesend ins Kaminfeuer gestarrt. Als ihre Mutter sie ansprach, blinzelte sie und sah hoch. „Er ist nicht verliebt in mich, habe ich recht?“ Fragend blickte sie zwischen Mrs. Wentworth und Henrietta hin und her.

Wie stets hielt Henrietta sich streng an die Wahrheit. „Das vermag ich nicht zu beurteilen. Ich kann dir nur sagen, was ich weiß.“ Fest erwiderte sie Melindas Blick und fuhr in sanftem Ton fort: „Du bist viel eher als ich dazu in der Lage, diese Frage zu beantworten.“

Melinda sah sie einen Moment lang an, dann presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Er mag mich, aber verliebt ist er nicht in mich, nein.“ Sie schwieg und trank einen großen Schluck des bis dahin nicht angerührten Tees. „Um ehrlich zu sein, war das der Grund, weshalb ich dich bat, herauszufinden, was immer dir möglich ist“, gestand sie leise, nachdem sie die Tasse abgesetzt hatte. „So wie er sich benahm, hatte ich das Gefühl, dass es ein anderes Motiv als Liebe für sein Interesse an mir gab …“ Ihre Lippen zitterten, sie winkte ab und sah beiseite.

Henrietta trank aus und stellte ihre Tasse auf den niedrigen Tisch vor der Chaiselongue. „Dann gehe ich jetzt. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen, und du und deine Eltern werdet über alles nachdenken wollen.“ Sie erhob sich.

Auch Melinda stand, ebenso wie ihre Eltern, auf. „Ich bringe dich zur Tür.“

„Danke, dass Sie Mellie eine so gute Freundin sind.“ Ein wenig ungeschickt tätschelte Mr. Wentworth Henrietta die Hand.

Henrietta lächelte und verabschiedete sich von dem Ehepaar, dann folgte sie Melinda in die Eingangshalle. Sobald der Butler die Salontür hinter ihnen geschlossen hatte, murmelte sie so leise, dass nur Melinda, die vor ihr herging, es verstehen konnte: „Es tut mir leid, dass ich die Überbringerin so schlechter Neuigkeiten bin.“

Melinda blieb stehen und drehte sich um. Ein mattes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie ihr in die Augen sah. „Ich gebe zu, ich hatte gehofft, dass meine Einschätzung falsch ist, aber in Wahrheit bist du ein Gottesgeschenk, denn ich will keinen Mann heiraten, der mich nicht liebt, und deine Informationen haben nur bestätigt, was ich längst wusste. Dafür bin ich dir wirklich dankbar. Es macht die Entscheidung so viel einfacher für mich. Zumal ich mir meiner Gefühle gar nicht sicher bin.“

Sie legte Henrietta die Hände auf die Schultern und hauchte ihr einen Kuss auf jede Wange. „Und, ja, ich werde für ein, zwei Tage trauern, aber dann bin ich wieder obenauf – du wirst schon sehen.“

„Hoffentlich.“ Henrietta lächelte ihre Freundin aufmunternd an.

„Ganz bestimmt.“ Melinda wirkte von Minute zu Minute überzeugter. „Du hast schon in so vielen Fällen geholfen, denn ohne dich hätte keine von uns gewusst, was sie tun soll. Durch deine Bemühungen wurde zahllosen jungen Damen eine enttäuschende Ehe erspart – wenn du mich fragst, verdienst du einen Orden.“

„Hm“, machte Henrietta zweifelnd, dann schüttelte sie den Kopf. „Unsinn. Mir stehen bloß überdurchschnittlich gute Informationsquellen zur Verfügung.“ Und obwohl sie es in der gegebenen Situation nicht zu erwähnen gedachte, hatte sie in der Vergangenheit auch sehr viele Verbindungen empfehlen können, weil sie auf wahrer Liebe beruhten.

Sie gestattete dem Butler, ihr den Umhang umzulegen, wartete, bis er die Tür für sie geöffnet hatte, und wandte sich zum Gehen. Melinda begleitete sie nach draußen und blieb fröstelnd auf der obersten Stufe der Eingangstreppe stehen.

Henrietta fasste nach ihrer Hand und drückte sie. „Geh ins Haus, sonst holst du dir noch den Tod – meine Kutsche steht da drüben.“ Mit dem Kinn deutete sie zur anderen Straßenseite, wo die zweite Kutsche ihrer Eltern am Bordstein wartete.

„In Ordnung.“ Melinda erwiderte den Händedruck. „Gib auf dich acht. Wir sehen uns bald.“

Henrietta lächelte. Sie wartete, bis die Freundin die Haustür hinter sich geschlossen hatte, dann eilte sie, noch immer still in sich hineinlächelnd, die Treppe hinunter. Melindas bereitwillige Einsicht, dass sie nicht wirklich in James verliebt war, beruhigte sie.

Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass ihr selbst jemals die wahre Liebe begegnete, glaubte sie doch unerschütterlich an Liebesheiraten als solche. Ihrer Ansicht nach war Liebe die einzige Garantie dafür, dass eine Frau in ihrem Eheleben Glück und Zufriedenheit fand …

Sie trat an den Bordstein und wollte die Straße überqueren, als wie aus dem Nichts eine hochgewachsene Gestalt von der Seite gegen sie prallte – so heftig, dass sie strauchelte. Nur die Tatsache, dass der Gentleman – und um einen solchen handelte es sich – sie geistesgegenwärtig bei den Schultern packte und festhielt, bewahrte sie vor einem Sturz.

Aus dem Augenwinkel nahm sie den silberbeschlagenen Knauf eines Spazierstocks wahr, dazu die behandschuhte Hand, die ihn hielt, registrierte die erlesene Qualität des weichen, geschmeidigen Leders. Sie blinzelte, versuchte das Gesicht des Mannes zu erkennen, doch er hatte die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn gezogen. Das Licht der Straßenlaterne hinter ihm reichte nicht, um seine Züge zu erhellen.

Sein Kinn war alles, was Henrietta sehen konnte. Es war recht markant.

„Entschuldigen Sie. Ich habe Sie nicht gesehen.“ Die Stimme des Mannes war tief, sein Redestil knapp, aber kultiviert.

Sie atmete durch. „Ich Sie auch nicht.“

Er schwieg, und Henrietta war sich sicher, dass er ihr Gesicht betrachtete, ihre Augen.

„Miss Henrietta! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Henrietta hob den Blick, der Gentleman sah über die Schulter – genau in dem Moment, da der Lakai vom Dienertritt der Kutsche sprang und auf sie zugelaufen kam.

„Aber ja, Gibbs, keine Sorge“, rief sie dem Bediensteten entgegen. Der Gentleman wandte sich wieder zu ihr um, ließ sie los. Er nickte brüsk und ging weiter. Einen Moment später war er im aufkommenden Nebel verschwunden.

In Gedanken schüttelte Henrietta den Kopf, strich sich die Röcke und den Umhang glatt, dann überquerte sie die Straße und ließ sich von Gibbs in die Kutsche helfen.

Als der Schlag zufiel, sank sie seufzend gegen die ledernen Polster der Sitzbank. Mit einem Ruck rollte die Kutsche an. Die Upper Brook Street war nur wenige Minuten entfernt.

Henrietta entspannte sich, wartete auf die vertraute erhebende Gefühlsaufwallung, die einer erfolgreichen Überprüfung der Beweggründe eines Bewerbers zu folgen pflegte, doch stattdessen waren ihre Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Dem Anblick von James Glossup nämlich, wie er in Lady Montagues Ballsaal gestanden und sie konzentriert beobachtet hatte. Und seinem Gesichtsausdruck, als er erkannt hatte, dass sie gemeinsam mit seiner Angebeteten das Fest verließ.

Er war mit Simon befreundet. Er kannte ihren Ruf.

Sie fragte sich, was er nun von ihr dachte.

2. Kapitel

„Ist Ihnen auch nur im Entferntesten klar, was Sie angerichtet haben?“

Henrietta fuhr zusammen, sah über die Schulter – und in ein Paar gefühlvoller brauner Augen, die in diesem Moment indes alles andere als gefühlvoll wirkten. Genau genommen ließ James Glossups Miene vermuten, dass er sie am liebsten ermordet hätte.

Seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst, seine Züge steinern. „Ich nehme an, es wird keine Überraschung für Sie sein, wenn ich Ihnen sage, dass Melinda Wentworth mir gerade den Laufpass gegeben und meinen Antrag abgelehnt hat, ehe ich ihn ihr überhaupt machen konnte. Aber, ehrlich gesagt, eine Überraschung war es für mich auch nicht, nachdem ich gestern Abend sah, dass Sie Lady Montagues Ball zusammen mit den Wentworths verließen. Was mich erneut zu der Frage veranlasst, ob Sie auch nur den Hauch einer Ahnung haben, welche Folgen Ihre Einmischung nach sich zieht?“

Sein strafender, anklagender Ton ärgerte Henrietta. Sie wirbelte zu ihm herum. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Henrietta sie und Mary zu Lady Campbells Soiree begleitete, aber der Abend hielt wenig Interessantes für Henrietta bereit. Die meisten Gäste waren viel jünger als sie, Gentlemen, die sich das erste Mal in der Stadt aufhielten, und Debütantinnen mit ihren Müttern. Aber Lady Campbell war eine enge Freundin ihrer Mutter, daher hatte Henrietta nicht ablehnen können. Allerdings war sie, nachdem sie pflichtbewusst ihre Runde im Salon absolviert hatte, in eine Nische geflüchtet, vor der eine riesige Topfpalme stand und sie vor Blicken abschirmte. Dennoch hatte James sie gefunden.

Und so in die Ecke getrieben, dass sie nicht mehr an ihm vorbeikam, außer er trat mehrere Schritte zurück.

Nicht dass sie Angst gehabt hätte, trotzdem raste ihr plötzlich das Herz – ihr war schleierhaft, weshalb.

„Ich habe nichts weiter getan, als Melinda die Wahrheit zu sagen. Dass Ihnen ein Teil Ihres Erbes erst ausgezahlt wird, wenn Sie verheiratet sind.“ Henrietta kniff warnend die Augen zusammen. Sie war nicht verantwortlich für seine Versäumnisse. „Sie hatten vergessen, sie darüber aufzuklären. Melinda will unbedingt aus Liebe heiraten, aber obwohl sie danach fragte, weigerte ich mich ausdrücklich, mich zu diesem Aspekt zu äußern, sondern überließ es ihr, ein Urteil darüber zu fällen. Und wenn es Ihnen nicht gelang, sie von der Aufrichtigkeit Ihrer Gefühle bei Ihrer Werbung zu überzeugen, sollten Sie nicht versuchen, mir die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben.“

James verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Normalerweise waren sie von einem satten Schokoladenbraun, das den Wunsch, darin zu ertrinken, nicht im Mindesten abwegig erscheinen ließ, doch im Moment erinnerten sie an diamantharte Achate. „Dachte ich es mir doch – Sie haben keine Vorstellung von dem Chaos, das Sie gestiftet haben, in meinem Leben und in dem einer Menge anderer Menschen.“

Sie furchte die Stirn. Blinzelte. „Wovon sprechen Sie?“

Er schien ihr gar nicht zuzuhören, nur sein bohrender Blick war immer noch auf sie gerichtet. Sein Gesicht war eine Maske aus mühsam beherrschtem, ohnmächtigem Zorn. „Simon erwähnte, dass Sie sich gern überall einmischen und es unterhaltsam finden, am Leben anderer herumzudoktern.“

Sein Ton brachte sie zum Kochen. „Sie sind nicht in Melinda verliebt!“

„Richtig – aber habe ich es je behauptet?“

Er hatte den Kopf gesenkt, sodass er ihr Auge in Auge gegenüberstand. Sein Gesicht war nur einen Fingerbreit von ihrem entfernt, er sprach so abgehackt, dass sich die Worte beinahe anhörten wie Geschosse … wie Kugeln, die ihr pfeifend um die Ohren flogen.

Henrietta musterte ihn forschend, ihr Blick glitt über sein Gesicht, unter dessen harter Oberfläche die Gefühle zu brodeln schienen. Sie konnte spüren, wie zornig er war, wie verärgert, weil er seine Hoffnungen durchkreuzt sah. Aber gleichzeitig spürte sie auch Sorge bei ihm … Beunruhigung und Bangigkeit. Und unter allem eine Spur Angst, nicht um ihn selbst, sondern um jemand anderen – jemand, der ihm anvertraut war, auch das spürte sie genau. Plötzlich fühlte sie sich überfordert. „Was …?“

„Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass es Gentlemen gibt, die anderen Zwängen unterworfen sind – Zwängen, die mit Liebe nichts zu tun haben, die es aber erforderlich machen, dass sie heiraten? Wie in drei Teufels Namen denken Sie, soll ein solcher Gentleman sich im Falle einer notwendigen Heirat verhalten, zumal, wenn er sich mit Menschen Ihres Schlages herumplagen muss, die sich in Dinge einmischen, die sie nicht das Geringste angehen?“ Er holte Luft, dann stieß er noch wütender, wenn auch beherrscht, hervor: „Da Sie aus dem Durcheinander, das Sie verursacht haben, schon nichts lernen, kann ich Sie hoffentlich wenigstens dazu bringen, sich nicht mehr mit Angelegenheiten zu befassen, für die Sie nicht zuständig sind. Wenn mir das gelänge, wäre das mehr, als ich zu hoffen wagte.“

In dem Blick, den er ihr zuwarf, lag unverkennbar Abscheu, aber auch Enttäuschung. Er trat zurück und wandte sich zum Gehen, doch Henrietta hielt ihn am Rockaufschlag fest.

Er erstarrte, senkte den Blick auf ihre Finger, hob ihn wieder und betrachtete sie mit spöttisch hochgezogenen Brauen.

Ohne ihn loszulassen, reckte Henrietta das Kinn. „Wovon reden Sie überhaupt?“ Genau wie er betonte sie jedes einzelne Wort, ließ ihn ihren Zorn genauso spüren wie er sie seinen zuvor. Sie würde ihm nicht gestatten, dass er sie verleumdete und dann einfach davonmarschierte.

Er erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, dann sah er auf ihre Hand herunter. Sein Zorn war kein Jota abgeklungen, dennoch legte er eine beinahe träge Lässigkeit an den Tag, als er sagte: „Da Sie sich so für meine Heiratsabsichten interessieren, sollten Sie vielleicht die ganze Geschichte erfahren.“ Er sah sie durchdringend an. „Und erst recht die Probleme, die Ihre dreiste Einmischung hervorgerufen hat.“

Ganz in der Nähe ertönte eine Lachsalve, die sie beide veranlasste, in die Richtung zu blicken. Bei der Topfpalme versammelte sich eine Gruppe junger Leute und begann eifrig zu tratschen.

James wandte sich wieder zu ihr um. „Aber nicht hier.“

Unerschrocken begegnete Henrietta seinem Blick. „Wo dann?“ Sie ließ seinen Rockaufschlag los.

Er drehte sich halb von ihr fort, spähte in den Salon. Dann deutete er, den Kopf leicht schräg gelegt, mit dem Kinn zu einer Seitentür. „Kommen Sie.“

James führte sie aus dem Raum, durch ein kleines Foyer und einen Korridor entlang. Sie folgte ihm dichtauf, hielt Schritt mit ihm.

Zu ihrer Verwunderung fühlten die Amethystperlen an ihrer Kette sich auf einmal ungewöhnlich warm an, genau wie der Rosenquarzanhänger in ihrem Ausschnitt. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte Mary sich vor dem Aufbruch vergewissert, dass sie das Schmuckstück trug. Henrietta vermutete, dass ihre kleine Schwester und Hannah unter einer Decke steckten, denn die Zofe hatte nicht eher geruht, bis sie die Robe gefunden hatte, die sie heute Abend trug – eine außergewöhnliche Kreation in perlmuttartig schimmerndem Rosa mit einem herzförmigen Dekolleté, die perfekt zu der verwünschten Kette passte. Die weit gebauschten Röcke raschelten um ihre Beine, als sie James durch mehrere Gänge folgte.

Schließlich verlangsamte er seine Schritte, drehte sich zu ihr um und legte dabei den Finger auf die Lippen. Dann öffnete er vorsichtig die Tür, vor der sie standen, trat ein und bedeutete Henrietta, es ihm gleichzutun.

Bei dem Raum, den sie betreten hatten, handelte es sich eindeutig um das Arbeitszimmer Seiner Lordschaft. Die Lampe auf dem Schreibtisch brannte mit heruntergedrehtem Docht, und ebenso wie Henrietta blickte auch James sich vorsorglich um, doch außer ihnen war niemand anwesend.

James schloss die Tür hinter ihnen.

Dass Henrietta schnurstracks zu dem Sessel hinter dem Schreibtisch marschierte und Platz nahm, überraschte ihn nicht. Es war ein ledergepolsterter Drehstuhl mit Armlehnen, und sie schwenkte ihn in seine Richtung, als er rastlos vor dem Kamin auf und ab zu gehen begann. In seiner augenblicklichen Verfassung hielt er es nicht aus zu sitzen, und am liebsten hätte er Henrietta eine vernichtende Strafpredigt gehalten. Doch unter seinem schwindenden Ärger machte sich immer stärker ein Gefühl von Hilflosigkeit bemerkbar, und er fragte sich, was zum Henker er jetzt tun sollte.

Und was in aller Welt ihn dazu trieb, seine immer knapper werdende Zeit damit zu vergeuden, Henrietta Cynster Erklärungen zu geben. Lieber Himmel, sie war Simons kleine Schwester!

Er konnte es nicht benennen, doch irgendetwas an ihrer Einmischung hatte ihn kalt erwischt, ihn getroffen wie ein Vertrauensbruch – nein, mehr noch, wie ein Verrat. Von der Schwester seines besten Freundes hatte er etwas anderes erwartet, auch wenn er sie nicht besonders gut kannte. Aber zweifellos hatte sie sich ein Bild von seinem Charakter machen können und wusste, dass er nach den gleichen Grundsätzen lebte wie ihr Bruder. Umso mehr irritierte es James, dass sie ihn für einen unehrenhaften Menschen zu halten schien und offenbar glaubte, er habe Melinda belogen oder zumindest versucht, ihr etwas vorzumachen, anstatt sie über seine Situation aufzuklären. Doch Melinda hatte ihm den Laufpass gegeben, ehe es ihm möglich gewesen war, offen mit ihr zu sprechen.

„Also.“ Henrietta heftete den Blick ihrer blaugrauen Augen auf sein Gesicht. „Was steckt hinter all dem, was ich nicht verstehe? Wie lautet Ihre ganze Geschichte?“

Einen kurzen Moment sah er sie unverwandt an, dann begann er, immer noch auf und ab gehend: „Meine Großtante starb, wie Sie sich sicher erinnern werden, vor knapp einem Jahr – am ersten Juni, um genau zu sein. Ich war ihr erklärter Liebling, und sie wollte unbedingt, dass ich heirate. Das war immer ihr Ziel, und in ihren letzten Lebensjahren verfolgte sie es mit Nachdruck. Als sie erfuhr, dass sie bald sterben würde, verfügte sie in ihrem Letzten Willen, dass ich ihren Besitz erben sollte – das Anwesen in Wiltshire mit seinen ausgedehnten Ländereien und etlichen verpachteten Höfen sowie das Stadthaus in London, beides mit Dienerschaft und in einwandfreiem Zustand. Sie hinterließ mir sogar Geld für den Unterhalt der Liegenschaften – allerdings nur für ein Jahr. Um die Summe weiterhin zu erhalten …“, er blieb stehen und sah Henrietta in die Augen, „… bestimmte meine liebe Großtante, dass ich binnen zwölf Monaten nach ihrem Tod verheiratet sein muss. Also vor dem ersten Juni dieses Jahres.“

Unbewegt hielt Henrietta seinem Blick stand. „Was geschieht, wenn Sie es nicht sind?“

„Das Land, die Häuser, die Höfe bleiben in meinem Besitz und in meiner Verantwortung, aber es liegt gänzlich außerhalb meiner Möglichkeiten, den Unterhalt aus meiner eigenen Tasche zu finanzieren. Eine Tatsache, die meiner Großtante wohlbekannt war.“

„Was passiert, wenn Sie die Unterhaltszahlung nicht erhalten?“

„Dann muss ich das gesamte Personal entlassen. Die Häuser schließen, vielleicht Hausmeister einsetzen, die sich um das Nötigste kümmern. Was die Pachthöfe angeht, so habe ich keine Ahnung, wie ich sie erhalten sollte. Ach ja, und nur falls Sie glauben, ich könne Teile des Besitzes verkaufen, um den Rest zu retten – meine Großtante hat sichergestellt, dass das nicht möglich ist.“

„Aha.“ Henrietta überlegte. „Dann müssen Sie also bis zum ersten Juni verheiratet sein, um die Menschen, die auf dem Besitz Ihrer Großtante – pardon, auf Ihrem Besitz – in Lohn und Brot stehen, weiterhin beschäftigen zu können?“

Er nickte knapp.

Sie musterte ihn stirnrunzelnd. „Sie haben sich ein bisschen viel Zeit gelassen, nicht wahr?“

Ungeduld stand in dem Blick, mit dem er sie bedachte. „Als sie mir ein Jahr Zeit einräumte, um eine passende Braut zu finden und die Ehe zu schließen, ahnte meine Großtante noch nicht, mit welcher Geschwindigkeit sich die gesellschaftlichen Gepflogenheiten wandeln würden. Zu ihrer Zeit wurde eine Heirat im ton aufgrund finanzieller Überlegungen arrangiert, Liebe spielte dabei keine Rolle. Sie musste annehmen, dass ich eine Braut finde, sobald ich mich nur umsehe, und ihr rasch einen Antrag machen kann. Auch mit der Trauerzeit, die einzuhalten mein Großvater und mein Vater für die Familie angemessen fanden, konnte sie nicht rechnen, und genauso wenig mit der Zeit, die ich brauchte, um mir einen Überblick über das Erbe zu verschaffen. Der Landsitz liegt zwar in Wiltshire, nicht weit von Glossup Hall entfernt, und früher war ich oft dort, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie mir das gesamte Anwesen hinterlassen wollte, und war in keiner Weise vorbereitet, einen solchen Besitz zu leiten …“

Außerstande, länger still zu stehen, und aus einem unerfindlichen Grund auch außerstande, seine Unruhe weiterhin zu verbergen, strich er sich mit der Hand durch die Haare und nahm seine rastlose Wanderung wieder auf. „Können Sie sich vorstellen, in was für einer Bredouille ich nun stecke?“ Er machte eine ungehaltene Handbewegung. „Ich habe Monate damit verbracht, eine passende junge Dame zu finden, und meine Wahl fiel deshalb auf Melinda Wentworth, weil sie meines Erachtens am ehesten einen Antrag akzeptiert hätte, der nicht aus Liebe erfolgt. Sie war, soweit ich es beurteilen konnte, nicht in jemand anderen verliebt. Außerdem ist sie schon sechsundzwanzig und muss zusehen, dass sie nicht sitzen bleibt. Sie ist vernünftig – und eine Frau, von der ich mir gut vorstellen konnte, sie an meiner Seite zu haben und den Besitz zusammen mit ihr zu verwalten. Ich habe mehr als einen Monat damit verbracht, ihr den Hof zu machen.“

Unvermittelt drehte er sich um und sah Henrietta scharf an. „Doch nun kann ich meine Hoffnungen begraben – meine Anstrengungen waren zwecklos, vergebens.“ Mit der Hand beschrieb er eine Bewegung, als wischte er eine Schiefertafel sauber. „Mir bleiben vier Wochen, um eine geeignete junge Dame zu finden, die ich umwerben und zu meiner ach so dringend benötigten Braut machen kann.“

Er blieb vor Henrietta stehen. „Und für diese aufreibende Situation, die die Lebensgrundlage so vieler Menschen ausgesprochen nachteilig und dramatisch ändern könnte, sind Sie genauso verantwortlich wie ich selbst.“

Ein kalter Schauder überlief Henrietta. Dennoch erwiderte sie unverwandt James Glossups zornlodernden Blick, in dem, wenn sie sich nicht irrte, auch Sorge stand. Ein schwaches „Oh“ war alles, was sie vorbringen konnte.

Seine Beherrschung, die er die ganze Zeit an den Tag gelegt hatte, bröckelte. Ungläubig starrte er sie an. „Oh? Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen als oh?“

Ruckartig wandte er sich von ihr ab, lief ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Im nächsten Moment wirbelte er zu ihr herum und kam auf sie zugestürmt. „Nein, meine Liebe – es ist ein ganz kleines bisschen schlimmer.“ Er blieb vor ihr stehen und starrte sie an. „Denn was mir gerade klar wurde, ist, dass alle im ton, und vor allem diejenigen mit heiratsfähigen jungen Damen unter ihren Fittichen, über die Sache mit Melinda Wentworth Bescheid wissen. Das Urteil über mich ist gefällt, ich wurde für mangelhaft befunden. Für unwürdig.“ Er strich sich abermals durchs Haar und stieß einen zutiefst verzweifelten Laut aus. „Was zum Teufel soll ich jetzt machen? Wie soll ich unter diesen Umständen noch eine Braut finden?“

Statt einer Antwort erntete er lastendes Schweigen. Er nahm seine rastlose Wanderschaft wieder auf.

„Ich helfe Ihnen.“

Die Worte waren Henrietta entschlüpft, ehe sie hatte nachdenken können. Sie schienen sich ohne ihr Zutun geformt und gleichsam von selbst gesagt zu haben – als wären sie die einzige mögliche Antwort auf das, was sie gehört hatte, was sich vor ihren Augen abspielte, was sie tief in ihrem Inneren wusste.

James Glossup erstarrte, stand reglos mit dem Rücken zu ihr da, ohne sich umzudrehen. Stille senkte sich über den Raum. Nach einem Moment, der ihr endlos vorkam, wandte er schließlich den Kopf und sah sie stirnrunzelnd an. „Was sagten Sie?“

Sie befeuchtete sich die Lippen und wiederholte entschiedener: „Ich sagte, ich helfe Ihnen.“

Er trat auf sie zu. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. „Für den Fall, dass es Ihnen nicht bekannt sein sollte, man nennt Sie ‚die Eheverderberin‘. Verbindungen, die Sie missbilligen, pflegen mir nichts, dir nichts zu platzen, genau wie die zwischen mir und Melinda.“

„Das stimmt nicht.“ Henrietta holte tief Luft. „Ich sage jungen Damen, die mich aufsuchen, weil sie erfahren wollen, welche Motive ihre zukünftigen Verlobten dazu veranlassen, ihnen den Hof zu machen, lediglich, was ich herausgefunden habe. Und nur damit Sie es wissen: Ich heiße genauso viele Verbindungen gut, wie ich trenne. Außerdem sind lange nicht alle Verbindungen, die ich befürworte, Liebesverbindungen.“ Sie sah ihn ausdruckslos an. „Nicht alle jungen Damen wollen aus Liebe heiraten. Die meisten ja, aber einige nicht.“

Sie hielt inne, musterte ihn forschend. Weder seine Augen noch sein Mienenspiel gaben viel zu erkennen, dennoch glaubte sie einen Hoffnungsschimmer bei ihm zu spüren – stark genug, dass sie sich ermutigt fühlte, hinzuzufügen: „Ich hatte keine Ahnung von der misslichen Situation, in der Sie stecken, doch nun, da ich es weiß … helfe ich Ihnen. Ich werde Ihnen sagen, welche jungen Damen zu Ihnen passen könnten, und wenn die Matronen des ton feststellen, dass ich auf Ihrer Seite bin, werden sie daraus schlussfolgern, dass der Grund für die Trennung von Miss Wentworth nicht in einem Mangel Ihrer Person zu suchen war, sondern in Melindas Erwartungen, Wünschen und Zielsetzungen. Anders gesagt, in dieser Hinsicht gab es zwischen Ihnen beiden keine Übereinstimmung, aber mein Eintreten für Sie wird sämtlichen anderen Spekulationen den Boden entziehen.“

Sie legte den Kopf schräg, dachte nach und sah ihn ruhig an. „Ich gebe zu, es ist eine herausfordernde Aufgabe, in weniger als vier Wochen eine passende Braut zu finden. Aber wenn ich Sie unterstütze, könnte es gelingen.“

Nun war es an ihm, den Kopf schräg zu legen und sie zu betrachten, wenn auch aus leicht zusammengekniffenen Augen. „Das würden Sie tun?“

Den Kopf wieder aufrichtend, nickte sie entschlossen. „Ja, sicher. Ich entschuldige mich nicht, dass ich Ihre Verbindung mit Melinda verhindert habe, denn sie hätte nicht funktioniert. Doch angesichts Ihrer Situation und, wie Sie ganz richtig feststellten, der Auswirkungen, die mein Eingreifen hatte, und weil Sie Simons bester Freund sind, ist das Mindeste, was ich tun kann, Ihnen zu helfen, Ihre dringend benötigte Braut zu finden.“

Er starrte sie an, als könnte er kaum glauben, was sie sagte. „Die Eheverderberin mausert sich zur Ehestifterin?“, sagte er irgendwann vorsichtig.

Henrietta reckte das Kinn. „Ich verhindere nur die Verbindungen, die nicht gut gehen würden. Doch angesichts der Tatsache, dass dieser Aspekt zu vernachlässigen ist, können wir es, wenn wir zusammenarbeiten, gerade so schaffen bis zum Ablauf Ihrer Frist.“

Er musterte sie noch einmal ausgiebig, dann nickte er. „In Ordnung. Wann fangen wir an?“

Sie verabredeten ein Treffen im Hyde Park am nächsten Morgen.

In ein hübsches Ausgehkleid aus himmelblauem Twill gekleidet, stand Henrietta in der Nähe des Grosvenor-Tors, nicht weit entfernt von ihrem Elternhaus in der Upper Brook Street, und wartete auf James, der aus der Park Lane durch das säulengeschmückte Tor in ihre Richtung kam.

Bei seinem Anblick zog sich ihr Herz zusammen, und eine unerklärliche Enge schnürte ihr die Brust ein und machte ihr das Atmen schwer. Die Reaktion war so heftig, dass es keinen Zweck hatte, sich vorzumachen, sie habe nichts mit ihm zu tun. Zumal niemand sonst da war, der als Ursache infrage gekommen wäre. Aber James? Nein, das war absurd.

Zugegeben, mit seinem tadellosen Erscheinungsbild musste man ihn als Inbegriff eines eleganten Gentleman des ton bezeichnen, sein Gehrock aus bestem Wollstoff war ausnehmend gut geschnitten, die Weste aus blau und matt silberfarben gestreifter Seide ein Vorbild an zurückhaltender Eleganz, und zweifellos erregte seine kunstvoll gebundene Halsbinde den Neid seiner sämtlichen männlichen Bekannten. Ihre alberne mädchenhafte Reaktion auf seinen Anblick irritierte Henrietta dennoch. Liebe Güte, sie war neunundzwanzig – zu alt, um dahinzuschmelzen, wenn sie einen Mann sah. Sie schob die Gefühle beiseite, und als das nicht funktionierte, zwang sie sich mit aller Macht, an etwas anderes zu denken.

Als James sie entdeckte, beschleunigte er seine Schritte, und wider Willen bewunderte sie seinen athletischen Körperbau und die raubtierhafte Anmut, mit der er sich bewegte. Lächelnd trat er vor sie hin und beantwortete ihr höfliches Nicken mit einer kurzen Neigung seines Kopfes. „Guten Morgen.“

Henrietta erwiderte die Begrüßung und deutete auf eine leere Bank in der Nähe. „Vielleicht sollten wir uns setzen.“ Und hoffentlich hatte sie ihre unberechenbaren Gedanken bis dahin genauso gut im Griff wie den Knauf ihres hübschen blauen Sonnenschirms. „Dort sind wir weit genug entfernt von den überlaufenen Bereichen und können uns ungestört unterhalten“, fuhr sie fort und ging zielstrebig auf die Bank zu. „Ich möchte eine genaue Vorstellung von der jungen Dame bekommen, nach der Sie suchen, und dann mit Ihnen besprechen, wie wir sie ausfindig machen.“

Hochgewachsen, schlank und kraftvoll schlenderte er neben ihr her. „Letzteres halte ich für sinnvoll, doch was Ersteres angeht, so denke ich, ich kann nicht wählerisch sein.“

„Unsinn!“ Sie hatten die Bank erreicht, und Henrietta setzte sich mit einer schwungvoll graziösen Bewegung, die ihre Röcke rascheln ließ. „Immerhin sind Sie ein Glossup!“ Sie blickte ihn an. „Sie können keine x-beliebige Frau heiraten.“

Seinem zweifelnden Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er sich dessen keineswegs sicher. „Ich bin in einer verzweifelten Lage, wie Sie sich sicher erinnern.“ Er nahm neben ihr Platz und ließ den Blick über die kurz geschnittenen Rasenflächen schweifen.

„Was die verbleibende Zeit angeht, ja. Aber nicht im Hinblick auf Ihre Wahlmöglichkeiten.“

„Ich füge mich Ihrer Erfahrung.“ Er sah sie an. „Womit beginnen wir?“

Henrietta dachte nach. Sie hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich zu fragen, warum sie ihm ihre Unterstützung angeboten hatte. Warum sie einen fast zwanghaften Drang verspürte, ihm zu helfen. Ja, sie hatte sich dazu verpflichtet gefühlt, weil sie seine Schwierigkeiten durch ihr – fraglos berechtigtes – Eingreifen unwillentlich mitverursacht hatte. Ja, er war Simons bester Freund, und auch deswegen fühlte sie sich verpflichtet, doch am Ende war sie zu dem Schluss gekommen, dass es hauptsächlich Schuldgefühle waren, die sie zu ihrer Handlungsweise bewogen. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, hatte nicht erkannt, wie sehr sein Verhalten für ihn sprach und dass er ein Mann von Ehre war. Und für sie als Mitglied der Familie Cynster war Ehre ein hohes Gut, das nicht nur Männer, sondern auch jede vernünftige Frau zu schätzen wusste.

Es war unübersehbar, dass die aufopferungsvolle Sorge für die Menschen, deren Wohlergehen zu seinen ererbten Verantwortlichkeiten gehörte, sein Hauptantrieb und die Ursache für seine Verzweiflung war. Er hätte sich diese Bürde nicht auf die Schultern laden müssen, dennoch hatte er es getan, und nach allem, was sie bislang erfahren hatte, war es ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, sich ihrer zu entledigen. Dabei hätte er es ohne Weiteres tun können, denn auch ohne das Erbe seiner Großtante wäre er wohlhabend genug gewesen. Doch er hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen. Einen anständigeren Gentleman konnte man sich kaum vorstellen.

Über die ganze Bandbreite seiner Motive war sie sich auch jetzt noch nicht völlig im Klaren, doch eines wusste sie: Schuldgefühle wogen schwer unter ihnen.

Sie setzte sich bequemer zurecht. „Sagen Sie mir, welche Charaktereigenschaften Ihre Braut unbedingt haben sollte. Und welche auf gar keinen Fall.“

Den Blick auf die Bäume und Rasenflächen vor ihnen gerichtet, dachte er eine Weile nach. „Ich will keine oberflächliche, geschwätzige Person, auch kein einfältiges Dummchen. Und vorzugsweise sollte sie nicht zu jung sein. Ob sie eine Mitgift hat, ist nicht von Belang, doch wie Sie bereits feststellten, muss sie aus guter Familie kommen, am besten aus dem haut ton. Es wäre eine hübsche Dreingabe, wenn sie reiten könnte, aber gesellschaftliche Gewandtheit ist ein absolutes Muss.“ Er schwieg, dann fragte er: „Was noch?“

Um Henriettas Lippen zuckte ein Lächeln. „Sie vergaßen zu erwähnen, dass sie wenigstens halbwegs ansehnlich sein sollte, wenn schon kein Diamant reinsten Wassers.“

„In der Tat – aber Sie haben ja daran gedacht.“ Unter schweren Lidern hervor warf er ihr einen Seitenblick zu. „Sie kennen mich gut.“

„Hm.“ Sie spitzte die Lippen. „Ich kenne den Typ Mann, zu dem Sie gehören, gut, das ist richtig.“ Im Geist ging sie seine Antworten durch, dann fragte sie: „Gibt es bestimmte Äußerlichkeiten, die Sie bevorzugen? Sollte sie zum Beispiel eher blond sein als brünett, eher groß als klein – dergleichen Dinge?“

Dunkelbraunes Haar, überdurchschnittlich groß, sanfte blaue Augen – so wie Sie. James schluckte die Worte herunter und sagte stattdessen: „Um ehrlich zu sein, bin ich mehr an der Substanz als an der Verpackung interessiert, an den inneren Werten, nicht an der äußeren Erscheinung.“ Er musterte sie. „Wie die Dinge liegen, muss ich eine junge Dame von solidem Charakter heiraten; eine die mich so nimmt, wie ich bin, und keine Illusionen hegt über ihre Rolle als meine Gattin.“

Forschend erwiderte Henrietta seinen Blick, dann nickte sie und sah beiseite. „Eine bewunderungswürdige Haltung und eine ausgezeichnete Antwort.“ Sie schwieg einen Moment, dann atmete sie langsam aus. „Dann wissen wir jetzt, wie die junge Dame, die Sie suchen, sein sollte.“

„Und wie finden wir sie?“

„Haben Sie an die Einladungskarten gedacht, die ich Sie mitzubringen bat?“

Er griff in seine Rocktasche und brachte einen Stoß Karten zum Vorschein – Einladungen, die er erhalten hatte –, und reichte sie ihr.

Henrietta nahm sie entgegen, legte sie auf ihren Schoß und fing an, sie durchzublättern. „Sie sind nicht sortiert“, sagte sie nach einem Moment stirnrunzelnd und hielt inne.

Nein, da hatte sie recht … „Sollten sie es sein?“

Sie bedachte ihn mit einem verblüfften Blick. „Wie behalten Sie den Überblick?“ Als er unsicher blinzelte, so als wüsste er nicht recht, was sie meinte, schnaubte sie undamenhaft und winkte ab. „Schon gut, macht nichts. Hier.“ Sie gab ihm den Stoß zurück. „Ordnen Sie sie nach Datum, angefangen mit heute Abend. Wir berücksichtigen nur Veranstaltungen, bei denen heiratsfähige junge Damen des ton anwesend sein werden.“

„Gut.“ Auf diese Weise konnte er mindestens die Hälfte der Karten aussortieren. Ein wenig zögernd legte er Einladungen zu Abendessen mit Freunden im Klub beiseite und arbeitete sich so, wie sie es verlangt hatte, durch den unordentlichen Stapel.

Unterdessen öffnete sie ihr Retikül, wühlte darin herum und fischte ein kalbsledergebundenes Büchlein heraus. Sie legte es sich auf den Schoß und schlug es auf, dann glättete sie die Seiten.

Er riskierte einen kurzen Seitenblick und sah, dass es ihr Terminkalender war – etwa fünfmal so groß wie sein eigener und mit etwa fünfmal so vielen Einträgen pro Tag.

Ihre Ungeduld zügelnd, wartete Henrietta darauf, dass er mit dem Ordnen der Karten zum Ende kam. „Also dann“, sagte sie, als er fertig war mit seinem Werk. „Fangen wir mit heute Abend an.“ Sie tippte auf einen Eintrag in ihrem Kalender. „Haben Sie eine Einladung zu Lady Marchmains Gesellschaft?“

Die hatte er. Sie gingen die beiden kommenden Wochen durch, vermerkten die Veranstaltungen, die ihrem nunmehr geteilten Ziel zweckdienlich erschienen, prüften, ob er Einladungen dafür hatte. Wenn das nicht der Fall war, machte Henrietta sich eine Notiz, mit der betreffenden Gastgeberin zu sprechen. „Es gibt nicht eine einzige Dame der Gesellschaft, die sich weigern wird, Sie zu empfangen, besonders wenn sie davon ausgehen kann, dass Sie auf Brautschau sind.“

„Aha …“ Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Gedanke. „Wir werden es doch nicht öffentlich machen, dass ich dringend eine Braut suche, oder?“

„Nicht direkt.“ Sie musterte ihn, als überlegte sie, wie viel sie ihm zumuten konnte. „Abgesehen davon – nachdem Sie Melinda den Hof gemacht haben, nun aber wieder getrennt sind, wird man sich allgemein denken können, dass Sie sich nach einer Ehefrau umsehen. Aber solange Sie es in meiner Begleitung tun, unter meinen Fittichen sozusagen, wird man Ihnen nichts Schlechtes nachsagen, da bin ich sicher.“

„Gut.“ Er wusste nicht recht, ob er beruhigt sein sollte. „Ich habe es tunlichst vermieden, öffentlich zu machen, dass ich unter Zeitdruck stehe. Weil zu befürchten steht, dass ich mich, wenn meine verzweifelte Lage bekannt wird, nicht mehr in der Gesellschaft blicken lassen kann, ohne dass ich umgehend von Frauen umlagert bin.“

Sie lachte in sich hinein. „Wahrscheinlich. Dass Sie Ihren Stichtag geheim halten, ist zweifellos klug.“ Sie wandte sich wieder ihrem Terminkalender zu und blätterte durch die nächsten Wochen. „Andererseits – wenn ich nichts darüber wusste, obwohl ich alles andere herausfand, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine der jungen Damen davon Kenntnis hat. Was das angeht, sind Sie, glaube ich, auf der sicheren Seite.“

Er nickte, merkte im nächsten Moment, dass sie es nicht gesehen hatte. „Ich danke Ihnen.“

Sie sah ihn von der Seite an. Ihre sanften blauen Augen leuchteten, ihre schön geschwungenen rosaroten Lippen bogen sich in einem geistesabwesenden Lächeln nach oben. James fühlte, wie sein Herz einen Satz tat, der bis ins unterste Ende seines Rückgrats zu spüren war, erst recht, als er erkannte, wie ernst er die Worte meinte.

Er fing ihren Blick ein. „Und Danke auch für alles andere. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Wie ich hätte weitermachen sollen ohne Ihr Angebot, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen.“

Ihr Lächeln vertiefte sich, ihre schönen Augen funkelten. „Nun, es ist schon eine Herausforderung, und eine ungewohnte obendrein.“ Sie schloss ihren Kalender, schob ihn in ihr Retikül und deutete mit dem Kinn über die Rasenflächen. „Aber da wir die grundlegenden Aspekte unseres Projekts nun geklärt haben, sollten wir mit der engeren Eingrenzung beginnen.“

Sie standen auf. Er hätte ihr den Arm geboten, doch sie hob ihren Sonnenschirm und schüttelte ihn aus. Dann spannte sie ihn auf und hielt ihn leicht schräg, sodass er ihr Gesicht beschattete. Eine Braue hochziehend sah sie ihn an. „Wollen wir?“

Er bedeutete ihr vorauszugehen und schloss zügig zu ihr auf. Ohne seine innere Verzagtheit durchscheinen zu lassen, schritt er an ihrer Seite entlang über die Rasenfläche zur nächsten Allee, an deren Rändern sich Kutschen und Horden modisch gekleideter junger Damen und eleganter Gentlemen drängten, die in lebhafte Unterhaltungen vertieft waren und frische Luft schnappten.

James ging langsam, passte sein Tempo ihrem an. Obwohl ein eher misstrauischer Teil von ihm es immer noch kaum fassen konnte, dass sie – die Eheverderberin – sich bereit erklärt hatte, ihm zu helfen, war sie da, an seiner Seite, und half ihm tatsächlich, und er war unglaublich dankbar dafür.

Dass er von ihr träumen würde, hatte er nicht erwartet, aber letzte Nacht war genau das geschehen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt von einer bestimmten Frau geträumt hatte, statt von einer diffusen weiblichen Gestalt, doch vergangene Nacht war es ganz klar Henrietta gewesen, ihr Gesicht, ihr Mienenspiel, das ihn … nein, nicht verfolgt, sondern gefesselt hatte. Das ihn unbewusst in Bann gehalten hatte.

Der Traum war nicht schlüpfrig gewesen wie meist, wenn es in seinen Träumen um Frauen ging. Was ihm recht war, immerhin hatte er es bei ihr mit der Schwester seines besten Freundes zu tun. Aber der Tenor seines Traums hatte ihn dennoch erstaunt und ihn ebenso skeptisch wie verwundert zurückgelassen. Seine Haltung in dem Traum hatte sich verehrend angefühlt. Aber vielleicht war es nur seine Dankbarkeit, die sich auf diese Art zeigte.

So musste es sein. Er konzentrierte sich auf die Trauben von Menschen, denen sie sich näherten, und neigte den Kopf näher zu Henrietta. „Was soll ich tun?“

„Nichts Besonderes.“ Sie maß ihn mit einem abwägenden Blick, und ihm wurde bewusst, wie gut es ihm gefiel, dass sie so groß war. Auf die Art konnte er ihr ohne Weiteres ins Gesicht sehen. „Entspannen Sie sich und folgen Sie meinem Beispiel.“

Ihr Ton brachte ihn zum Lächeln. Er hob den Kopf und sah geradeaus. „Zu Befehl. Vorwärts – in die Bresche.“

Wie sich zeigte, gestaltete sich der Umgang mit den Menschen, denen sie begegneten, leichter, als er gedacht hatte. Jeder kannte Henrietta, und sie kannte ihrerseits sämtliche der anwesenden Matronen, sodass sie James vorstellen konnte und er im Gegenzug den unverheirateten Schützlingen der betreffenden Damen vorgestellt wurde.

Die nächste Stunde verging mit angeregter Unterhaltung. Irgendwann führte Henrietta ihn zwischen zwei Kutschen hindurch, um zur nächsten Gruppe zu kommen, und für einen kurzen Moment befanden sie sich außer Hörweite der anderen. Plötzlich zupfte sie ihn am Ärmel. Als er sie fragend ansah, wies sie unauffällig auf eine Traube von Menschen, die sich weiter hinten auf dem Rasen versammelt hatte. „Da drüben steht Miss Carmichael. Sie wäre eine Kandidatin, die Sie durchaus in Erwägung hätten ziehen können, doch den Gerüchten zufolge zeigt Sir Peter Affry ihr gegenüber neuerdings deutliches Interesse. Er ist der Gentleman, der neben ihr steht. Und da Ihre Frist bald abläuft, sehe ich keinen Sinn darin, dass Sie Zeit mit Miss Carmichael vergeuden. Im Übrigen denke ich, dass wir genügend Kandidatinnen haben und keiner jungen Dame hinterherlaufen müssen, auf die ein anderer Gentleman ein Auge geworfen hat.“

Neugierig geworden, blickte James über Henriettas Schirm hinweg zu der besagten Gruppe. Eine blonde junge Schönheit mit einer üppigen Ringellockenfrisur stand umringt von einer Schar Gentlemen, neben sich eine bemitleidenswert hässliche junge Dame. Der Gentleman an ihrer anderen Seite ließ den Blick über die Allee schweifen, dann sah er auf die goldhaarige Schönheit herab und lächelte. Er war ein klein wenig älter als die meisten anderen Gentlemen in der Gruppe und hatte dunkle Gesichtszüge. James nickte, als hätte er genug gesehen. „Selbst ich habe von Affry gehört. Aufstrebender Liberaler, dem Vernehmen nach.“

„Ja, aber er ist nur ein nicht ständiges Mitglied.“ Henrietta zog die Stirn kraus. „Ich weiß wirklich nicht, was der ganze Trubel um ihn soll, auch wenn ich zugeben muss, dass er recht charmant ist.“

„Ach was, Charme hat, wer gut aussieht, oder wie auch immer das Sprichwort lautet.“ Mit dem Kinn deutete James in Richtung der Gruppe, auf die sie zugingen. „Und wem, Centurion, nähern wir uns jetzt?“

Henrietta verkniff sich ein Lachen und sagte es ihm. Sie geleitete ihn von Gruppe zu Gruppe und war positiv überrascht von seiner kultivierten Art. Seine Liebenswürdigkeit wirkte unangestrengt, seine Haltung entspannter Weltläufigkeit durch und durch überzeugend. Ihn für oberflächlich und eingebildet zu halten, wie sie es anfänglich getan hatte, mochte eine falsche Einschätzung gewesen sein, doch wenn sie von einer Gruppe zur anderen gingen, ließ er seine Maske fallen. Und wenn sie ihre Eindrücke von den jungen Damen austauschten, die sie getroffen hatten, enthüllten seine Kommentare einen trockenen Humor und einen scharfen Blick. Beides gefiel Henrietta, und sie schätzte es, dass er niemals abfällig wurde, weder ausdrücklich noch in Andeutungen, und dass sein Benehmen nie anders war als besonnen, ehrenhaft und vornehm.

Er besaß eine Tiefe, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Was an sich schon irritierend war, aber bei Weitem nicht so irritierend wie die Tatsache, dass sie mit allen Sinnen jede noch so kleine Nuance seiner körperlichen Nähe wahrnahm – und es genoss. Henrietta konnte nur hoffen, dass sich seine Wirkung auf sie mit der Zeit abschwächte.

Wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass er diese Wirkung beabsichtigte, hätte sie das Vorhaben umgehend abgebrochen und ihn seine Braut selbst suchen lassen. Aber an seinem Verhalten war nichts Vorsätzliches – sondern sie war auf geradezu alberne Weise anfällig für ihn –, und obwohl er sich den ganzen Vormittag hervorragend gehalten hatte, brauchte er ihre Hilfe.

Und abgesehen von seiner verwirrenden Wirkung auf sie, amüsierte sie sich; es machte ihr Spaß, eine Braut für ihn zu finden, und sie fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl.

Nach etlichen weiteren Begegnungen mit jungen Damen, die in Gruppen die Allee entlangspazierten, schlugen sie den Weg zur Upper Brook Street ein. Es war halb zwölf, und in einer halben Stunde hatte Henrietta eine Verabredung zum Mittagessen, während James sich mit ihrem Bruder Simon und einem weiteren Freund, Charlie Hastings, in der Stadt treffen wollte.

Sie bogen in die Upper Brook Street ein. „Ich finde, Sie haben einen guten Anfang gemacht“, sagte Henrietta und sah ihn an. „Gibt es unter den jungen Damen, die ich Ihnen vorgestellt habe, eine, die Sie passend finden – eine, die Sie in die engere Wahl zögen?“

Ja – Sie. Den Blick geradeaus gerichtet, rieb James sich das Kinn und fragte sich, wo zum Teufel diese Worte hergekommen sein mochten. „Miss Chisolm scheint mir geeignet zu sein. Miss Digby ist auch nicht schlecht.“

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