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Lady Sunshine und Mister Moon

hier erhältlich:

Showtime in Las Vegas! Eine sexy romantische Komödie von Bestsellerautorin Susan Andersen.

Sie sind wie Hund und Katze: die quirlige Revuetänzerin Carly Jacobsen und der nüchterne Security Guard Wolf Jones. Sie ist für ihn das leichte Showgirl mit den knallig roten Fingernägeln. Er für sie der humorlose Langweiler. Dabei entgeht keinem von beiden, dass es zwischen ihnen dennoch mächtig knistert. Und weil in Las Vegas niemand gern allein schläft, kommt es zu einem Deal: Sex ist okay, Gefühle verboten. Als Wolf aber seinen Umzug ankündigt und Carly von einem Stalker verfolgt wird, wendet sich das Blatt.


  • Erscheinungstag: 01.07.2010
  • Aus der Serie: Showgirls
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862782369
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ich weiß nicht, was ich noch mit ihm machen soll“, klagte Carly Jacobsen. Zusammen mit ihrer Kollegin Michelle posierte sie für eine Gruppe Japaner. Touristen ließen sich immer wieder gern mit echten Showgirls aus Las fotografieren. „Er ist stur und eigensinnig. Und er hört mir überhaupt nicht zu.“

„Mit anderen Worten: ein typischer Vertreter des männlichen Geschlechts.“

Carly schnaubte. „Das kann man wohl sagen.“ Obwohl ihre Füße schmerzten, lächelte sie freundlich in die Kameras. Sie versuchte sich nicht wie eine Amazone vorzukommen, weil sie die japanischen Touristen um Haupteslänge überragte. Gott sei Dank trugen sie die braunen Bubikopf-Perücken der letzten Vorstellung und nicht die Hochfrisuren vom Auftritt davor. Damit wären sie mindestens noch einen Kopf größer gewesen.

„Sieh es doch einfach mal so“, murmelte Michelle, während sie posierte. „Wenigstens hat er vier Beine – nicht wie der Kerl, mit dem ich zusammenlebe.“

„Da ist was dran“, stimmte Carly zu. „Rufus ist zwar ein eigensinniger kleiner Hund, aber es gibt immerhin etwas Hoffnung, dass er sich am Ende doch noch erziehen lässt.“

„Und das ist mehr, als man von den meisten Männern sagen kann.“

„Stimmt.“ Carly wollte nie mit einem Mann zusammenleben. Dennoch … „Andererseits hast du regelmäßig Sex, während ich nur noch eine schwache Ahnung davon habe, was das überhaupt ist.“

Sie änderten noch ein paarmal die Posen, bevor sie sich von den Touristen zurückzogen, die sich dankbar lächelnd vor ihnen verneigten. Carly bedachte sie ebenfalls mit einem strahlenden Lächeln. Sie mochte diese Japaner wirklich gern und schätzte ihre Freundlichkeit sehr, denn in ihrem Metier waren gute Manieren eher selten. Vor allem seitens der männlichen Hälfte der Bevölkerung.

„Wollen wir noch was trinken?“, fragte Michelle, als sie einen Augenblick später das Casino durchquerten.

„Nein, ich muss nach Hause. Da warten ein paar hungrige Mäuler auf mich.“ Carly ließ Michelle in der Lounge zurück und ging in die Garderobe. Dort tauschte sie ihr Kostüm gegen ihre private Kleidung. Sie tanzte schon so lange in „La Stravaganza“, einer großen Show im italienisch angehauchten Avventurato Resort Hotel and Casino; die Geräusche um sich herum nahm sie kaum noch wahr. In dieser Nacht war sie ganz besonders erschöpft. Sie hatte die letzte Nacht damit verbracht, sich über Rufus den Kopf zu zerbrechen. Er war ihr neuestes Baby – so nannte sie die Tiere, die sie aus dem Tierheim gerettet hatte. Die Grübelei darüber, wie sie ihm sein aufsässiges Verhalten abgewöhnen konnte, hatte ihr jedoch den Schlaf geraubt. Rufus wollte einfach nicht gehorchen. Und dank ihres neuen Nachbarn fürchtete sie, dass das Schicksal der kleinen Promenadenmischung bereits besiegelt war.

Deshalb bewirkten das Gedudel der Spielautomaten, das Klackern der Roulettekugeln und die Triumphschreie der Spieler nur, dass ihr Kopf von der linken Seite her zu schmerzen begann. Vielleicht aber geriet Carly, die normalerweise mit beiden Beinen auf der Erde stand, auch deshalb ins Stolpern.

Sie stieß mit einer kleinen weißhaarigen Dame zusammen, die einen Eimer voller Silberdollars und eine große Handtasche bei sich trug. Eigentlich nur ein kleines Missgeschick – wäre Carly nicht gerade dabei gewesen, die Treppe hinaufzugehen. Der Absatz ihrer einen Riemchensandalette brach ab. Carly verlor das Gleichgewicht und griff nach dem Geländer.

Ihre Fingerspitzen berührten es nur kurz, bevor sie abrutschte. Obwohl es ihr gelang, nicht hintenüberzufallen, landete sie mit einem verdrehten rechten Bein in einer ziemlich unwürdigen Pose auf dem Boden. Ihren Lippen entschlüpfte ein derber Fluch, als der Schmerz in ihren Knöchel schoss.

Um sie herum ertönten Schreie, und sie nahm entfernt wahr, dass sich Menschen näher drängten. Einer davon beugte sich über sie. „Ist alles in Ordnung?“

Carly blickte in sein Gesicht. Er hatte hellbraunes Haar, das die blinkenden Lichter der Spielautomaten reflektierte. Trotz ihres eingetrübten Bewusstseins bemerkte sie, dass er extrem gut aussah. Allerdings fehlte ihm genau die Schneidigkeit, die sie an Männern anzog – dieses gewisse Etwas, das Männer zu Testosteronbomben machte. So würde ihre Freundin Treena es zumindest ausdrücken.

Und so blieb sein Gesicht eines von vielen. Als sie den Blick von ihm abwandte, bemerkte sie, dass sich eine Menschentraube um sie gebildet hatte. Alle starrten sie an. Nur die alte Dame, die Carly umgehauen hatte, fehlte.

Verdammte fanatische Spieler!

Der Mann, der sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, kniete sich neben ihr hin und betrachtete sie besorgt. „Haben Sie sich was gebrochen?“

Behutsam bewegte Carly ihre Beine, bis sie ihren schmerzenden Knöchel befreit hatte. Sie sog scharf die Luft ein, weil die veränderte Lage einen starken Schmerz durch ihren Knöchel jagte. „Nein, ich glaube nicht. Ich habe mir den Knöchel nur verstaucht.“ Doch das tat so verdammt weh, dass sie nicht weitersprechen konnte, ohne zu wimmern. Sie hatte Schmerzen noch nie gut ertragen.

Ein Kerl, der offenbar zu glauben schien, Piercings, schwarzer Lippenstift und dunkel umrandete Augen seien der allerletzte Schrei, wandte seinen Blick gerade lange genug von ihren Beinen ab, um festzustellen: „Er schwillt an.“

Jemand anderes meinte: „Sie braucht Eis.“

„Also“, murmelte ein beleibter Mann, der seine Hose bis fast unter die Achseln gezogen hatte, „könnte ich jetzt ein Foto mit Ihnen machen?“

„Was ist denn hier los?“

Carlys Blutdruck schoss sofort nach oben. Scheiße. Diese Stimme kannte sie. Sie war tief und klang besonders akzentuiert. Und Carly hatte sie in den letzten Wochen weiß Gott wie oft gehört. Es war die Stimme von Wolfgang Jones, dem stellvertretenden Leiter der Security-Abteilung.

Ihrem neuen, nervtötenden Nachbar.

2. KAPITEL

Carly schielte durch ein Meer von Beinen nach dem Mann, der sich näherte. Um ehrlich zu sein, sprach Jones ohne den geringsten Akzent. Dennoch irritierte sie die Präzision, mit der er seine Worte formulierte. Das legte den Verdacht nahe, dass seine Gedanken ihm möglicherweise nicht auf Englisch durch den Kopf schossen.

Wenn sie sich nicht schon so darauf hätte konzentrieren müssen, nicht kläglich zu maunzen wie ein nasses Kätzchen, hätte sie sicher vor Wut geschnaubt. Bitte! Der Name Wolfgang sagte doch schon alles, oder nicht?

Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Er war groß, er war blond und er war durchtrainiert. Und er schaffte es, sie schon allein damit über die Maßen zu verwirren, dass er dieselbe Luft atmete wie sie. Außerdem war dieser Mann dafür verantwortlich, dass sie sich riesige Sorgen um Rufus machte. Aber jetzt biss sie erst mal die Zähne zusammen – sie wusste schließlich, was das Avventurato von seinen Angestellten erwartete. Und es gelang ihr, den Schmerzenslaut, der ihr schon beinahe entschlüpft war, noch einmal zurückzuhalten.

Manchmal, dachte sie, war es ganz schön anstrengend, das Hotelkasino zu vertreten.

Dem Ausdruck in Jones Augen nach zu urteilen, war er ebenfalls nicht sehr glücklich darüber, sie zu sehen. Nachdem er sich durch die Menge gekämpft hatte, blickte er die Menschen, die Carly umringten, mit ernster Miene an.

„Geht wieder zurück auf eure Plätze, Leute“, sagte er mit seiner üblichen strengen und durchaus überheblichen Art, die allerdings keinen Widerspruch erlaubte. „Ich werde mich um alles kümmern.“ Dann wandte er ihnen den Rücken zu und ging in seinem makellosen blauen Anzug, dem dunklen Baumwollhemd und der perlgrauen Krawatte vor ihr in die Hocke. Dabei schien er nicht im Geringsten daran zu zweifeln, dass die Touristen taten, was er ihnen gesagt hatte.

Und sie gehorchten ihm unbegreiflicherweise tatsächlich. Himmel, dieser Mann irritierte Carly wirklich sehr.

Im Kasino genoss er den Ruf, jemand zu sein, der die Dinge in die Hand nahm. Carly jedoch war eigentlich der Meinung, dass Jones überhaupt keine versöhnlichen Eigenschaften besaß. Wenn er sich jedoch nur halb so sehr auf seine Arbeit konzentrierte wie darauf, ihr den Schuh vom Fuß zu streifen, dann stand er seinem Ruf in nichts nach. Das musste sie ihm zugestehen.

Trotzdem: Er war und blieb ein Hundehasser, ein Schwachkopf, dem sie keinen Millimeter über den Weg traute. Auf die Ellbogen gestützt, beobachtete sie ihn skeptisch, um sicherzugehen, dass er keine Experimente mit ihrem Knöchel anstellte. Nicht dass ihr Fuß nachher noch mehr wehtat als jetzt.

Wie schon der gepiercte junge Mann mit dem Gothic-Make-up festgestellt hatte, war die infrage kommende Region geschwollen. Doch verglichen mit Wolfgangs Hand, die vorsichtig über ihre Ferse und Wade strich, um die Verletzung abzutasten, fühlte sich ihre warme Haut beinahe kühl an. Die Hitze seiner Berührung überraschte sie. Wer hätte denn auch geahnt, dass so ein grimmiger, kühler Kerl wie er so viel Hitze ausstrahlen konnte?

Er umfasste ihren Spann und bewegte vorsichtig ihren Fuß hin und her. Sein Blick wirkte besorgt. „Tut das weh?“

„Allerdings“, sagte sie feindselig, bevor sie der Fairness halber ergänzte: „Aber ich bin sicher, er ist nur verstaucht.“ Sie war oft genug verletzt gewesen, um das beurteilen zu können. In zwei Tagen war die Schwellung weg und sie hoffentlich wieder in der Lage zu tanzen. Sie wollte unbedingt vermeiden, Vernetta Grace, die Chefin der Show, anrufen und ihr mitteilen zu müssen, dass sie sich schon wieder verletzt hatte.

Carly betrachtete die halbmondförmige Narbe auf ihrem rechten Zeigefinger, die sie erst im letzten Monat zwei Tage von der Arbeit abgehalten hatte.

„Wie ist das passiert?“

Sie hob den Kopf und blickte in Wolfgangs leicht gebräuntes Gesicht unter dem hellen Haar. „Ich bin von einer kleinen alten Dame mit einer Monstertasche überfallen worden.“ Und weil sie wollte, dass er endlich die Hände von ihr nahm, streckte sie ihm die Hand entgegen. „Helfen Sie mir mal hoch.“

„Ich glaube nicht, dass Sie sich etwas gebrochen oder schlimm verstaucht haben“, pflichtete er ihr bei und nahm die Finger von ihrem Bein. Er schien es ebenso eilig damit zu haben wie sie und erhob sich mit einer einzigen leichtfüßigen Bewegung, bevor er ihr die Hand reichte, um sie hochzuziehen.

Sie stand schneller auf den Beinen, als sie erwartet hatte. Um einen Zusammenstoß mit Wolfgang zu verhindern, verlagerte sie ihr Gewicht auf den verletzten Fuß, ohne darüber nachzudenken. Der plötzliche Schmerz sorgte dafür, dass sie sich zusammenkrümmte; es war nur Wolfgangs schneller Reaktion zu verdanken, dass sie nicht an seine Brust sank. Die violetten und goldenen Fransen ihres Kostüms schwangen wie glitzernde Lamettafäden gegen seinen dunklen Anzug.

Mist. Mist. Mist. Weshalb musste ausgerechnet er ihr zu Hilfe eilen? Es gab doch so viele Männer im Kasino. War er nicht ein hohes Tier bei der Security? Warum zum Teufel musste dann ausgerechnet er Kindermädchen spielen?

Wahrscheinlich sah er eine weitere Gelegenheit, ihr unter die Nase zu reiben, wie verantwortungsbewusst er doch war. Wieder einmal. Als ob Pingeligkeit etwas Gutes wäre.

Er half ihr bis zum nächsten Sessel und verschob ihn so, dass sie das Bein ausstrecken konnte. Dann winkte er eine Kellnerin herbei.

„Bringen Sie uns bitte Eiswürfel und ein Handtuch“, sagte er. Es bestand kein Zweifel daran, dass es sich weniger um eine Bitte als um eine Anordnung handelte. Die Frau ging prompt los, um zu tun, was er gesagt hatte.

„Ich vermute, Sie haben nicht viele Freunde“, kommentierte Carly trocken.

Er kauerte vor ihr auf dem Boden, um den Knöchel erneut zu untersuchen, hob langsam den Kopf und blickte sie mit ausdruckslosen Augen an. „Ich brauche keine Freunde“, konterte er ganz offensichtlich unbesorgt.

„Sie machen Scherze.“ Er brachte sie echt aus der Fassung. Das war die höflichste Konversation, die sie beide je zustande gebracht hatten, seit Jones in ihr Apartmenthaus gezogen war. Bisher bestand sie eher aus hitzigen Konfrontationen.

Na gut – hitzig, was ihren Teil betraf. Er war eher der Typ Eisblock. Und dennoch – obwohl sie nichts mit Männern anfangen konnte, die nichts mit Tieren am Hut hatten, hatte sie angenommen, dass auch er irgendwie menschlich war. Jedenfalls am Rande.

Doch da hatte sie sich offenbar getäuscht. Er brauchte keine Freunde? Das war doch nicht normal! Es gab eine Menge Dinge auf der Welt, die sie nicht brauchte – um nur mal mit dem Nachbarn von nebenan zu beginnen. Aber Freunde standen auf ihrer Liste der absolutenLebensnotwendigkeiten ganz weit oben. Sie konnte sich schlicht und einfach gar nicht vorstellen, was sie ohne Treena und Jax oder Ellen und Mack tun würde. Hundehassende, grimmige Sicherheitsmänner standen auf einer gänzlich anderen Liste.

„Ich mache keine Scherze“, sagte er steif.

Sie schloss den Mund und betrachtete ihn genauer. Diese frostigen grünen Augen unter den geraden, dichten Brauen. Seine ausgeprägten Wangenknochen und den strengen, nicht lächelnden Mund. Dann atmete sie geräuschvoll aus und nickte ihm kurz zu. „Jetzt hab ich Sie erwischt! Sie haben ja wirklich keinen Humor.“

Seine Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. Doch bevor er etwas erwidern konnte, tauchte die Kellnerin mit einem Eisbeutel und einem Handtuch wieder auf. Wolfgang konzentrierte sich umgehend und ohne die leiseste Anerkennung auf die Dinge, die sie mitgebracht hatte.

„Danke, Olivia“, sagte Carly, um seine Unhöflichkeit wettzumachen. „Ich danke Ihnen für Ihre Mühe.“ Nachdem die Kellnerin ihr gute Besserung gewünscht und weggegangen war, richtete Carly ihre Aufmerksamkeit erneut auf Jones, der ein Handtuch um ihren Knöchel wickelte. „Ich nehme an, dass Sie es für überflüssig halten, Ihre Kollegen zu kennen oder gar höflich mit ihnen umzugehen?“

Er klatschte Eis auf ihren Knöchel.

Sie sog die Luft zwischen ihren Zähnen ein. Als die Sternchen vor ihren Augen verschwanden, betrachtete sie ihn feindselig. „Sie sind ein echter Schatz, Jones.“ Mit der Hand, die sie nicht vor Schmerz in die Sessellehne gekrallt hatte, versuchte sie ihn zu verscheuchen. „Gehen Sie lieber“, sagte sie und ergänzte widerwillig: „Danke für Ihre Hilfe.“

Er stand vor ihr und sah von oben auf sie herab. „Werden Sie in der Lage sein, Auto zu fahren?“

Vermutlich nicht. „Es wird schon irgendwie gehen.“

„Ihr Auto hat ein Schaltgetriebe, oder?“

„Ja“, sagte sie. „Ein süßes kleines Fünfganggetriebe. Aber ich bin sicher, Sie haben Wichtigeres zu tun, als hier herumzustehen, um mit mir über mein Auto zu sprechen. Also, bitte lassen Sie sich nicht von mir aufhalten.“

Er rührte sich nicht vom Fleck. „Wie gedenken Sie nach Hause zu kommen? Haben Sie vor, Ihre rothaarige Freundin anzurufen?“

Auf keinen Fall. Heute war Treenas freier Tag. Sie und Jax waren nach der gestrigen Show nach San Francisco gefahren. Sie wollten nicht vor morgen Nacht nach Hause kommen. Carly nickte trotzdem ganz ernsthaft. „Ja, genau das werde ich tun. Und jetzt tschüss.“

Wolf betrachtete sie noch einmal von oben herab. Er wusste, dass sie log. Er würde sie selbst nach Hause bringen müssen.

Er wollte zwar keine Minute länger in ihrer Gegenwart verbringen, ganz zu schweigen von der Zeit, die es dauern würde, bis er sie in sein Auto verfrachtet, nach Hause und in ihre Wohnung gebracht hätte. Sie war leichtfertig und ohne Verantwortungsbewusstsein. Wann immer er ihr begegnete, ging sie ihm dermaßen auf die Nerven, dass er am liebsten in die Tischkante beißen würde. Oder sie übers Knie legen und ihr den runden Hintern versohlen. Das hätte man sowieso schon vor Jahren tun sollen.

Eigentlich sah ihm so etwas gar nicht ähnlich. Und genau deshalb war es ja auch das Letzte, mit ihr zusammen sein zu müssen. Wie dem auch sei: Sie war mit ihrer Arbeit für heute fertig und er ebenfalls. Und sie wohnten Tür an Tür. Es war sonnenklar, dass sie mit diesem übel geschwollenen Knöchel nicht in der Lage sein würde, Auto zu fahren. Deshalb wäre es nahezu fahrlässig, extrem verantwortungslos und fast schon kriminell, sie sich selbst zu überlassen, obwohl sie beide in dieselbe Richtung mussten.

Ganz zu schweigen davon, dass er ihr noch etwas schuldig war. Für den Schmerz, den er mit dem Eis auf ihrem Knöchel verursacht hatte. Eine überflüssige Aktion, egal wie wütend ihn ihr kleiner vorlauter Mund gemacht hatte.

Er seufzte. „Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause.“

Sie sah ihn an, als ob er ihr statt der dringend benötigten Transportmöglichkeit angeboten hätte, ihren nervtötenden Hund zu verprügeln. „Nein!“, rief sie laut, bevor sie die Spieler am anderen Ende der Automatenreihe anlächelte, die von ihren Spielen hochblickten. Sie senkte ihre Stimme. „Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.“

„So können Sie nicht fahren.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Treena anrufe.“

„Sie haben gelogen.“

Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick aus ihren kühlen blauen Augen. „Und woher wollen Sie das wissen?“

„Weil ich gut bin in meinem Job. Ich kann in den Gesichtern von Menschen lesen, die viel abgebrühter sind als Sie.“

„Na gut, ich habe gelogen. Ich rufe Mack an.“

Er schüttelte angewidert den Kopf. „Sie würden Mr. Brody zu dieser späten Stunde stören, obwohl ich bereit bin, Sie nach Hause zu fahren? Sie sind wirklich die anstrengendste, unverantwort…“

„…lichste Frau, der Sie je das Pech hatten, begegnet zu sein. Ja, ja. Diese Unterhaltung hatten wir schon mal.“

Als ihre Wangen sich röteten, bemerkte Wolf zum ersten Mal, wie blass sie einen Augenblick vorher gewesen war. Sie hatte vermutlich große Schmerzen. Doch bevor er von Gewissensbissen geplagt werden konnte, reckte sie das feine, schmale Kinn in die Höhe.

„Gut. Danke. Wenn Sie mich nach Hause bringen würden, wäre das sehr … aufmerksam.“ Sie klang, als ob sie fast an ihren Worten erstickt wäre. Wolfgang konnte ihren Gesichtsausdruck allerdings nicht erkennen; sie beugte sich gerade nach vorn, entfernte das Eis und betastete den Knöchel.

„Können Sie auftreten?“, fragte er den Scheitel ihrer seidig braunen Perücke.

Abrupt hob sie den Kopf, und ihre geschminkten blauen Augen sahen zu ihm auf. „Was wäre denn die Alternative? Wollen Sie mich etwa zum Auto tragen? Nicht nötig! Natürlich kann ich gehen.“

Es juckte ihn in den Fingern. Wie erlösend wäre es gewesen, sie sich einfach über die Schulter zu werfen! Er deutete mit dem Kinn zum Ausgang, der zur Parkgarage führte. „Los, kommen Sie.“

Carly zog erst in aller Ruhe ihren zweiten Schuh aus, bevor sie ihm folgte. Irgendwie gelang es ihr, ihm hinterherzuhumpeln, aber, du lieber Himmel, war sie langsam! Wolfgang geriet mehr als einmal in Versuchung, sie sich doch noch zu schnappen. Doch natürlich widerstand er ihr. Er wollte der wilden Seite der Jones’ nicht nachgegeben. Anders als bei seinem Vater und seiner Schwester Katharina war es glücklicherweise auch nur ein kurzer Impuls, und Wolfgang hatte ihn unter Kontrolle. Er ging also mit zusammengebissenen Zähnen vor Carly her, blieb ab und an stehen, um auf sie zu warten, bis seine Ungeduld wieder überhand gewann und das Spiel von vorn begann. Als sie seinen Wagen endlich erreichten, öffnete er ihr die Beifahrertür.

„Wow“, sagte Carly. Sie streichelte mit einer Hand über das Autodach und betrachtete den Wagen bewundernd. „So einen Schlitten hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“

Er ging nicht auf ihre Provokation ein. Etwas so Auffälliges wie sein aufgemotzter Straßenkreuzer sah ihm tatsächlich nicht ähnlich. Aber seinen Traum von einem klassischen Angeberschlitten hatte er sich erfüllt. Er strich mit den Fingern über eine der Flammen, die in Bordeaux, Rot, Orange und Gold über das schwarz glänzende Blech züngelten, und öffnete die Tür. „Steigen Sie ein.“

Sie warf einen Blick auf das makellose Innere des Wagens. Zögernd betrachtete sie den schmelzenden Eisbeutel in ihrer Hand. „Ich fürchte, ich mache alles nass.“

Das war das Intelligenteste, was er Carly Jacobsen je hatte sagen hören. Einen Augenblick lang war sie ihm beinahe sympathisch. Er betrachtete sie zum ersten Mal etwas genauer, seit sie im Schneckentempo vom Kasino hierhergekommen waren. Sie war nicht nur wieder sehr blass geworden, ihr standen inzwischen auch Schweißperlen auf Oberlippe und Stirn. Sie fühlte sich eindeutig nicht besonders gut. „Steigen Sie ein“, wiederholte er mit ungewohnter Freundlichkeit.

Sie tat, was er gesagt hatte, und lehnte den Kopf an den Sitz, während er auf der Fahrerseite Platz nahm. Mit der Hand strich sie über das graue Leder des Sitzes. „Was ist das? Ein Ford?“

„Ja.“ Er ließ den Motor an und lauschte befriedigt dem dumpfen Grollen der Maschine. Das Lächeln blieb auch dann noch auf seinen Lippen, als er sich ihr zuwandte. „Ein 1940er Coupé.“

„Cooles Auto.“ Sie hob den Kopf. Langsam, so als ob der Kopf mehr wog, als ihrem schlanken Nacken guttat. Und dann entfernte sie die Perücke. „Wie schön“, murmelte sie. Ihr kurzes blondes Haar lag platt an ihrem Kopf an, aber nachdem sie es mit den Fingern verwuschelt hatte, standen die feinen Spitzen wieder nach allen Seiten ab. Sie sah aus wie immer – wie ein leichtsinniges, sorgloses Showgirl.

Aber eines mit Schatten unter den Augen.

Auf dem kurzen Weg bis zu ihrer Wohnanlage herrschte eine überraschend kameradschaftliche Stille zwischen ihnen. Wolf begann schon zu glauben, dass ein Wunder geschehen und der Abend tatsächlich höflich enden würde.

Er ließ Carly aussteigen, bevor er den Wagen in die Garage brachte. Sie wartete allerdings immer noch auf den Aufzug, als er sie einholte, so langsam kam sie voran. Kaum waren sie im zweiten Stock ausgestiegen, ertönte auch schon ein Bellen aus der Wohnung am Ende des Ganges. Wolf entfuhr ein genervter Laut.

Im gleichen Moment endete der Waffenstillstand zwischen ihnen. Carly drehte sich um und nötigte ihn zu einem umständlichen Ausweichmanöver. Sie drückte ihr Kreuz durch und wurde ein paar Zentimeter größer; ihre blauen Augen verfärbten sich dunkel. Er entdeckte den bekannten Ausdruck in ihrem Blick, der nichts anderes sagte als „Du kannst mich mal“, während der Hund im Hintergrund nicht aufhörte, wie wahnsinnig zu bellen.

Und seine zarte Hoffnung auf eine ruhige Nacht löste sich in Luft auf.

3. KAPITEL

Sie hatte es vergessen. Carly hatte nur wenige Augenblicke nicht aufgepasst und vergessen, dass Wolfgang Jones nur ein mit Vorurteilen beladener, hundehassender Blödmann war.

Gut. Rufus war ganz sicher eine echte Prüfung. Schlimmer als alle anderen Tiere, die sie je besessen hatte. Aber wenn Jones ihr ein bisschen mehr Freiraum lassen würde, dann würde sie auch endlich den Durchbruch in der Erziehung des Welpen erreichen, das wusste sie. Schließlich war ihr das mit den anderen Tieren, die sie gerettet hatte, auch gelungen.

Doch dieses Mal war sie in Panik. Was, wenn sie diesen Punkt nicht schnell genug erreichen würde? Bis jetzt hatte sie immer Glück gehabt, weil die Nachbarn ein Auge zugedrückt hatten. Eigentlich war pro Wohnung maximal ein Tier erlaubt.

Jones hätte es ihr ohne Weiteres vermasseln können. Das Recht war auf seiner Seite, und er war so ein offensichtlicher Verfechter von Regeln. Wenn er eine formelle Beschwerde einreichen würde, würde Carly nicht nur Rufus, sondern auch ihre anderen Babys verlieren.

Bei diesem Gedanken wurde ihr schlecht. Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Stinksauer darüber, dass Herr Obergrimmig sie in diese Situation gebracht hatte, bedachte sie ihn mit finsteren Blicken. Er war in jeder Hinsicht unnachgiebig. Körperlich und geistig. Obwohl sie es hasste, ihm etwas erklären zu müssen, schluckte sie ihren Stolz hinunter und sagte in einem möglichst neutralen Ton: „Es ist nicht Rufus Schuld, wissen Sie. In seinem Herzen ist er ein ganz feiner Hund. Er wurde verlassen, und ich habe ihn gefunden. Ich glaube, er hatte eine schlimme Zeit als Baby, und deshalb braucht er ein bisschen länger, um sich einzugewöhnen.“ Das Schloss klickte, und sie öffnete die Tür.

Als sie über die Schwelle trat, begrüßten ihre Hunde sie mit ihrem allnächtlichen Wie-schön-dass-du-wieder-da-bist-Ritual. Rufus kam bellend auf sie zugesprungen. Und obwohl Buster der ältere, ruhigere und zurückhaltendere Hund war, ließ auch er es sich nicht nehmen, sich kräftig an sie zu schmiegen und enthusiastisch mit dem Schwanz zu wedeln. Ihre Katzen sprangen von ihren jeweiligen Plätzen und bewegten sich quer durch den Raum, um am Begrüßungsritual teilzunehmen und lautstark miauend ihr Abendbrot einzufordern. Es ging laut und chaotisch zu, aber für Carly war dies der schönste Augenblick des Tages.

Jones war offensichtlich nicht so begeistert. Schon gar nicht, als Rufus ihn und seinen wunderbaren Anzug freudig wedelnd ansprang.

Nein, Jones freute sich nicht darüber. Überhaupt nicht.

Sie enthielt sich einer Äußerung und tat lieber so, als ob sie nichts bemerkt hätte.

Sitz!“, zischte er auf Deutsch.

„Wie bitte?“, wiederholte Carly irritiert. Doch Rufus hörte sofort auf zu bellen. Und als sie ihre plötzlich verstummten Hunde genauer betrachtete, entdeckte sie einen fast schon menschlichen Zug der Verwirrung in ihren Gesichtern. Wie einstudiert ließen sie gleichzeitig ihre Hinterteile auf dem Boden nieder und starrten den blonden Mann ebenso begeistert wie aufmerksam an. Sogar die Katzen verstummten eine Nanosekunde lang, bevor sie fortfuhren, ihrer Forderung nach Abendessen lautstark Ausdruck zu verleihen.

Wolfgang drehte sich nach ihr um. Seine Haltung war aufrecht. In seinem Gesicht spiegelte sich seine Missbilligung wider. „Sie haben recht. Die Hunde können nichts dafür“, stimmte er ihr zu. „Es ist Ihr Fehler. Sie müssen endlich Zucht und Ordnung in den Laden bringen, verdammt noch mal.“ Mit der einen Hand entfernte er ein braunes Hundehaar von seinem Hosenbein. Mit der anderen griff er nach der Türklinke, die er anschließend vorsichtig hinter sich zuzog.

Carly sah ihm hinterher und spürte, wie ihr Blutdruck innerhalb von Sekunden von normal auf Herzinfarktniveau anstieg. Hätte sie in diesem Moment einen Spiegel zur Hand gehabt – sie hätte sich nicht darüber gewundert, Rauchwölkchen aus ihren Ohren aufsteigen zu sehen. Sie schnappte nach Luft und fletschte die Zähne vor Wut.

Es half nichts. „Idiot! Hurensohn!“ Wütend warf sie den tropfenden Eisbeutel gegen die Tür.

„Entschuldigt, bitte“, sagte sie schuldbewusst, als sie bemerkte, dass ihre Tiere sich erschreckt verkrümelt hatten. „Es tut mir leid. Aber ist euch schon jemals so ein verdammter Schwachkopf begegnet?“ Treena hatte sich einen blöden Zeitpunkt für ihren Urlaub ausgesucht. Normalerweise wäre sie jetzt in die Wohnung ihrer Freundin hinuntergegangen, um Dampf abzulassen und sich minutenlang wortgewaltig auszumalen, wie sie Jones ermordet hätte. Stattdessen musste sie nun alles hinunterschlucken. Um nicht gänzlich in Selbstmitleid zu versinken, humpelte sie in die Küche.

Das Geräusch des Dosenöffners und des Futters, das in Näpfe rieselte, lockte ihre Babys wieder aus ihren Verstecken hervor. Rufus und Buster machten sich über das Hundefutter her, während Rags und Tripod sich ungeduldig an allem und jedem rieben, weil sie es kaum abwarten konnten, bis Carly ihre Schüsselchen auf dem Boden abstellte. Die vertrauten Abläufe beruhigten Carlys aufgeriebene Nerven.

Etwas später entdeckte sie eine noch offene Flasche Wein im Kühlschrank und goss sich ein Glas davon ein. Ihr Knöchel schmerzte immer noch. Der unvorhergesehene Wurf des Eisbeutels hatte allerdings ein Leck hinterlassen, sodass das schmelzende Eis nun eine Wasserspur auf dem Boden hinterließ. Carly schnappte sich einen Isolierbeutel, verfrachtete die tropfenden Reste darin und entschied, dass das Wasser auf dem Boden auch ohne ihre Hilfe trocknen würde. Für heute Nacht war es einfach genug. So hüpfte sie ins Wohnzimmer.

Und erstarrte. „So ein Mist!“

Einige ihrer Kissen sahen aus, als ob sie explodiert wären. Federn, Schaum und Seidenfetzen lagen auf Möbeln und Holzboden verstreut. Wie hatte sie dieses Chaos auf dem Weg in die Küche nur übersehen können? Vermutlich hatte ihr Zorn auf Jones sie zeitweilig blind für alles andere gemacht. „Rufus!“, rief sie wutentbrannt.

Der Hund kam aus der Küche und kauerte sich zusammen, bis sein Bauch den Boden fast berührte. Er schaute sie über seine Schulter mit großen braunen Augen an, während er sich in einer Art und Weise zusammenkrümmte, die Carly nur allzu gut kannte.

„Nein!“, rief sie. „Verdammt noch mal, Rufus! Wenn du da jetzt dahin machst, bist du ein toter Hund!“

Doch sobald der Welpe nervös wurde, begann er zu pinkeln, und jetzt war er nervös. Und schon breitete sich unter ihm eine Lache auf den italienischen Kacheln aus.

Natürlich! Heute musste ja wieder ausgerechnet so eine Nacht sein.

Carly biss die Zähne zusammen und versuchte, ihr bedenklich zitterndes Kinn zu ignorieren. Sie würde verdammt noch mal nicht weinen. Ganz sicher nicht!

Sie ließ sich auf einen voll beladenen Sessel fallen, legte ihren Fuß auf einen Hocker, verteilte Eis auf ihrem geschwollenen Knöchel und stürzte den Inhalt ihres Weinglases hinunter.

Rags sprang ihr auf den Schoß und drehte sich zweimal um sich selbst, bevor er sich als schwarzes Fellbündel auf ihren Oberschenkeln niederließ. Sein Schnurren setzte zeitgleich mit den Streicheleinheiten ein. Tripod eroberte die Armlehne und stolzierte mit einer, für einen Kater mit nur drei Beinen, erstaunlichen Eleganz um sie herum. Er ließ sich schließlich ganz nah bei ihr nieder und gab sich einer ausgiebigen Katzenwäsche hin.

Das erinnerte Carly daran, dass sie immer noch ihr Kostüm trug. Großartig! Zusätzlich zu allem anderen hatte sie nun wahrscheinlich auch noch die Garderobiere am Hals. Carly hoffte, dass ihre Verletzung sie davor bewahrte, auf der schwarzen Liste dieser Frau zu landen. Anderenfalls würde sie am nächsten Tag extra noch einmal zum Kasino fahren müssen, um Perücke und Kostüm zurückzubringen – und zwar ohne Rücksicht auf ihren freien Tag. Mal ganz abgesehen davon, dass sie sich eine Mitfahrgelegenheit organisieren oder ein Taxi würde rufen müssen, weil ihr blödes Auto noch immer im Parkhaus des Kasinos stand.

Buster kam angetrottet und legte ihr seinen Kopf aufs Knie. Carly hob die Hand, mit der sie eben noch Rags gestreichelt hatte, um ihn zwischen den Fellbüscheln zu kraulen, die ihm oben vom Kopf abstanden. Rufus blieb in der Diele, aber er wirkte nicht mehr sehr zerknirscht, sondern saß da und blickte erwartungsvoll zur Tür. In einer plötzlichen Eingebung begriff sie, was ihn vermutlich dort festhielt.

„Du kleiner Mistkerl! Du wartest doch nicht etwa darauf, dass dieser Blödmann zurückkommt?“

Der Hund stellte plötzlich die Ohren auf und wand sich auf dem Boden, während er bedrohlich grollte. Ein Geräusch, das Carly sehr gut kannte.

„Bitte, Rufus! Schluss jetzt“, bat sie ihn. „Lass es gut sein für heute Nacht, okay? Glaub mir, dass Jones jetzt schon wieder auf dich aufmerksam wird, ist das Letzte, was du willst.“

Doch es war zwecklos. Der junge Hund veranstaltete ein Riesentheater. Die stakkatoartigen scharfen Töne, die seiner Kehle entwichen, hörten sich an wie ein Maschinengewehr.

Die Schmerzen in Carlys Kopf und dem geschwollenen Knöchel steigerten sich mit Rufus Hysterie. „Ruhig!“, flüsterte sie, wie sie es in der Hundeschule gelernt hatten.

Ein Befehl, der bei Rufus fehlschlug.

„Verdammt noch mal, Rufus, du bringst uns in große Schwierigkeiten.“ Wütend darüber, dass sie dieser Gedanke so einschüchterte, erhob sie die Stimme. „Ruhig!“

Der Welpe bellte weiter.

Ja, klar. Herr Oberschlau hatte Rufus mit einem einzigen Wort zum Verstummen gebracht. Lag wahrscheinlich an seiner dunklen Stimme. Aber trotzdem … Wie war das noch mal?

Zits!“, blaffte sie wütend und fühlte sich dabei wie eine Idiotin.

Und zu ihrer Begeisterung hörte das Bellen auf. Rufus kam angerannt, um sie in freudiger Erwartung anzustarren.

„Oh Gott“, flüsterte sie und lachte. „Oh Gott! Du stehst auf so etwas, hm? Ich wusste, dass Jones Deutsch spricht. Ich meine, das war doch Deutsch, oder?“ Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ach, wen kümmert’s?“ Sie streckte die Hand aus, um Rufus davon abzuhalten, sich auf dem Boden zu wälzen, und kraulte ihm stattdessen den Kopf. „Braver Hund! Braver, braver Hund!“

Buster drängte nun seinerseits Rufus von ihr weg und platzierte seinen Kopf unter ihrer Hand, während der jüngere Hund zur Seite stolperte.

„Ja, du auch“, erklärte sie, amüsiert darüber, wie Buster trotz Rufus’ um Aufmerksamkeit heischender Art seine Streicheleinheiten einforderte. Sie streichelte den älteren Hund zwischen den Ohren. „Carlys Hunde sind alle beide gute, brave Jungs.“

Sie schob die Tiere vorsichtig von sich weg und erhob sich sichtlich weniger erschöpft. Wenigstens die Pfütze würde sie wegwischen und die gröbsten Spuren des Kissenmassakers beseitigen. Der Rest würde bis morgen warten müssen.

Und dann schoss ihr beim Anblick ihrer Tiere ein Gedanke durch den Kopf, der sie zum Lachen brachte. „Wisst ihr was, Kinder? Es sieht so aus, als wären wir dank des Blödmanns von nebenan einen großen Schritt weiter gekommen. Vielleicht ist der Kerl am Ende gar nicht so überflüssig.“

Als Wolf seine Wohnung betrat, läutete das Telefon. Er ignorierte es, während er unruhig von Zimmer zu Zimmer wanderte und seine Sachen auszog, die er nicht mit der üblichen Sorgfalt ablegte wie sonst. Er warf das Jackett über einen Stuhl in der Küche. Dann löste er den Krawattenknoten, zog sich die Krawatte über den Kopf und warf sie in Richtung Nachttisch. Als sie an der Leselampe hängen blieb, ignorierte er die möglichen Schäden, die die teure Seide bei dieser Behandlung davontragen könnte. Stattdessen führte ihn sein Weg erneut ins Wohnzimmer. Die Knöpfe des Hemds öffnete er im Gehen. Eine nervöse Verstimmung hatte Besitz von ihm ergriffen. So wie er jetzt musste sich ein Rodeoreiter vor einem Ritt fühlen. Himmel! Was war denn nur los mit ihm? Er verstand es einfach nicht.

Na gut, das stimmte nicht ganz. Er wusste eigentlich haargenau, was sein Problem war. Oder, um präzise zu sein, wer sein Problem war.

Carly Jacobsen.

„Mist!“ War es die Heimsuchung von nebenan oder das blöde Telefon, das trotz der späten Stunde bimmelte, was ihm so auf die Nerven ging? Obwohl er keine Lust hatte, ging er schließlich zum Küchentresen, nahm den Hörer ab und blaffte: „Was ist denn?“

„Wolfgang, bist du das?“

Mom?“ Seine Mutter war wirklich die Letzte, die er am anderen Ende der Leitung erwartet hatte. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die bis Mitternacht aufblieben – und in La Paz in Bolivien, wo sie und sein alter Herr sich im Augenblick aufhielten, war es sogar noch später. Der kabellose Hörer drückte gegen seine Schulter, während er nur mit halbem Ohr ihren Höflichkeitsfloskeln zuhörte, mit der sie jedes Telefongespräch begann. Er zog seinen Hemdzipfel aus dem Hosenbund, schlüpfte aus dem Hemd und schleuderte es in Richtung Ledercouch. Doch schon auf halbem Weg landete es auf dem Holzfußboden. Er achtete nicht weiter darauf, sondern starrte gegen die Wand, die seine Wohnung von der Nachbarwohnung trennte.

Verflucht. Seine Nachbarin irritierte ihn mit ihrem Mangel an Organisationstalent, ihren prompten Meinungsäußerungen, ihrer Schlampigkeit, den langen Beinen und ihrer unbekümmerten Verantwortungslosigkeit. Viel hatte er von ihrer Wohnung nicht gesehen, aber das, was er gesehen hatte, war ein einziges Durcheinander gewesen. Da hatte nicht ein Ding zum anderen gepasst. Der vollkommene Überfluss an Farben und Mustern, und alles lag überall herum. Von den bunt zusammengewürfelten Katzen und Hunden ganz zu schweigen.

Und dann dieser rote Nagellack auf ihren Zehennägeln!

Wolfgang schnaubte und goss sich zwei Fingerbreit Scotch ins Glas, den er hinunterstürzte, während er seiner Mutter zuhörte. Okay, das mit dem Nagellack war vielleicht ein bisschen zu heikel. Eine Menge Frauen trugen roten Nagellack. Natürlich nicht die Sorte Frau, mit der er vielleicht eines Tages zusammenleben würde. Er war fast am Ziel seiner Träume: endlich selbst Chef einer Security-Abteilung zu sein. Aber dieses Ziel würde er in einer realen Stadt erreichen und nicht in diesem Fantasiegespinst Las Vegas. Sobald Wolfgang den Wüstenstaub hinter sich gelassen hatte, würde er nicht eine Sekunde zurückblicken.

Und wenn mit seiner Karriere alles geregelt war, dann würde er damit anfangen, sich um den zweiten Teil seiner Wunscherfüllungsagenda zu kümmern: eine Frau zu finden, die zu ihm passte und mit der er seinen Erfolg teilen konnte. Vielleicht eine nette Kindergärtnerin oder etwas in dieser Richtung. Er könnte wetten, dass so eine ausgeglichene, verlässliche und gebildete Frau hellrosa Nagellack verwendete.

Doch dann unterbrach seine Mutter seine Gedanken. „Was? Paps geht schon wieder in Pension?“

„Um Himmels willen, Wolfgang“, erwiderte seine Mutter streng. „Hast du mir auch nur eine Sekunde lang zugehört?“ Netterweise ersparte sie ihm die Antwort. „Wir werden in einem, vielleicht zwei Monaten nach Deutschland umziehen. Wir haben für diesen kleinen Biergarten in Rothenburg ein Angebot abgegeben.“

Sie holte seinen Vater ans Telefon. Doch als der begeistert begann, Wolf das Lokal zu schildern, das sie in der hübschen mittelalterlichen Stadt zu kaufen gedachten, schweiften seine Gedanken erneut ab. Verflucht noch mal, Carly Jacobsen verstieß mit der Tierhaltung in ihrer kleinen Wohnung gegen alle Vorschriften! Es wäre sein gutes Recht, sie deshalb anzuzeigen.

Doch bei allem Respekt für die Vorschriften: Tatsächlich hatte er noch nie in Erwägung gezogen, sie zu verpfeifen. Er hatte nicht vor, sich in einen Denunzianten zu verwandeln. Er würde am besten einfach aus ihrem Dunstkreis verschwinden und hoffen, dass sie sich eines Tages besinnen und ihren außer Kontrolle geratenen Hund ordentlich erziehen würde.

So würde er es machen. Er hatte eine Entscheidung getroffen und würde sie auch umsetzen. Das sollte dabei helfen, dass sich seine ungewöhnliche Unruhe wieder etwas legte.

Aber es funktionierte nicht.

Wer brauchte so ein Durcheinander? Hatte er im Avventurato nicht schon genug am Hals? Er musste sich doch nicht auch noch zu Hause mit diesem Mist beschäftigen. Nein! Er hatte seinen Kurs bestimmt, und er würde nicht davon abweichen.

Sein Vater übergab das Gespräch wieder an seine Mutter. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihn aus dem Haus seiner Schwester anriefen, aus Indiana. Aber anstatt nachzufragen, ob Katharina seiner Mutter schon wieder die Verantwortung für ihren Sohn überlassen hatte, stellte er sich seine Nachbarin vor, die Tänzerin von nebenan. Bildlich. Mit ihrem eisblauen, arroganten Blick und diesem atemberaubenden, verführerischen Körper.

Er straffte seinen Rücken und konzentrierte sich auf seine Mutter. „Moment, Moment, Moment!“, rief er dann. „Was soll ich für euch tun?“

Als er wenig später das Gespräch beendet hatte, fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar. Er starrte gegen die Wand am anderen Ende des Zimmers und fluchte.

Auf einmal hatte er ein viel größeres Problem am Hals als eine verrückte Nachbarin mit einem gefährlich unwiderstehlichen Sex-Appeal.

Seine Eltern wollten zu Besuch kommen. Und sie kamen nicht allein.

Am folgenden Morgen klopfte Carly bei ihrer Nachbarin aus dem zweiten Stock.

Ellen kam an die Tür. „Hallo, Kleines!“, sagte sie warmherzig und trat einen Schritt zurück, um die Wohnungstür ganz zu öffnen. „Komm rein.“

Aber als Carly ihrer Bitte folgte, zog Ellen besorgt die Brauen zusammen und reichte ihr die Hand, um sie vorsichtig am Ellbogen zu packen. „Du humpelst ja.“

„Ja, ich bin gestern im Kasino auf den Hintern gefallen. Wegen einer kleinen alten Dame mit einer großen Tasche.“

„Höre ich da etwa Carly?“, fragte die tiefe männliche Stimme von Mack, Ellens zukünftigem Ehemann, der mit dem Sportteil der Tageszeitung unter dem Arm in die Diele kam. „Dachte ich mir doch, dass mir diese Stimme bekannt vorkommt. Wie geht es dir, Süße? Bist du verletzt?“

Die Sorge des Pärchens ließ ihr das Herz aufgehen. Ihre eigene Mutter hätte die Verletzung ihrer Tochter nur als etwas betrachtet, das ihren Tag ruiniert hätte. Oder sie hätte das Hausmädchen beauftragt, sich um Carly zu kümmern. „Ich hab mir den Fuß verknackst. Die Schwellung ist schon zurückgegangen. Sie ist bestimmt weg, wenn ich wieder zur Arbeit muss.“

„Ach ja, richtig. Sie haben deine freien Tage ja auf Dienstag und Mittwoch gelegt, stimmt’s?“, fragte Mack. „Wenn du dich schon verletzen musstest, hast du dir einen guten Moment dafür ausgesucht.“

„Ja, das hab ich mir auch schon gedacht.“

„Ich bin sicher, es tut höllisch weh“, meinte Ellen und winkte sie ins Wohnzimmer hinein. „Setz dich lieber mal dahin. Willst du Eis haben, zum Kühlen?“

„Nein, danke. Vielleicht kann ich den Knöchel trotzdem einen Augenblick kühlen. Es fühlt sich jedenfalls besser an, wenn ich ihn hochlege.“

„Natürlich. Mack, hilfst du ihr bitte? Sieh zu, dass sie es gemütlich hat. Ich hole uns Kaffee.“

Der stämmige grauhaarige Mann bugsierte sie in einen Sessel in dem wundervoll eingerichteten Wohnzimmer und räumte einen Stapel Zeitschriften von einem Kissen, um es unter ihren Fuß zu schieben. „Soll ich mit den Hunden Gassi gehen?“, fragte er, als er ihr noch zwei Kissen unter die Ferse schob.

Carly freute sich über seine Aufmerksamkeit. „Habe ich dir schon mal gesagt, wie sehr ich dich vergöttere, Mack?“, fragte sie. „Aber das mit den Hunden ist nicht nötig. Ich habe es vorhin geschafft, mit Rufus und Buster rauszuhumpeln. Ich hoffe, mein Knöchel wird mir heute Abend schon einen längeren Spaziergang erlauben.“

„Habe ich dich richtig verstanden?“ Mack blickte sie vielsagend über den Rand seiner Lesebrille an. „Du bist mit deinem verletzten Fuß Gassi gegangen? Und Rufus ist nicht abgehauen?“

„So, da bin ich.“ Ellen betrat den Raum mit einem Tablett, auf dem sich nicht nur Kaffeetassen befanden, sondern auch selbst gebackene Kekse, die sie auf einem Teller aus chinesischem Porzellan drapiert hatte.

„Carly war heute Morgen schon mit den Hunden draußen“, informierte Mack sie.

Die Freundin hob die Brauen, bis sie fast ihren grau melierten Pony berührten, und musterte Carly erstaunt. „Und Rufus ist nicht ausgebüxt?“

Carly lachte. „Ist das nicht wunderbar?“ Das ist übrigens auch der wahre Grund, weshalb ich hier bin.“ Sie nahm sich eine Tasse Kaffee und einen mit Puderzucker bestäubten Schokoladenkeks. „Er wollte abhauen und ist direkt auf den Parkplatz zugestürmt, aber dann hab ich einfach ‚Zits!‘ gesagt, und er kam wieder zurück.“

Zits?“ Mack schnaufte. „Was für ein Zauberwort ist das denn, wenn ein Hund, der noch nie auf irgendwen gehört hat, plötzlich pariert?“

„Es heißt nicht ‚Zits‘„, warf Ellen ein und wandte sich an Carly. „Es heißt ‚Sitz‘, hab ich recht? Es ist ein deutsches Wort und bedeutet ‚sitzen‘, glaube ich.“

„Ach so? Das ist ja cool! Rufus kann Deutsch.“ Carly konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. „Er kann es nicht nur – Rufus liebt Deutsch. Er reagiert darauf, als ob es seine Muttersprache wäre, und er gehorcht sofort. Na ja, er hat sich zwar nicht hingesetzt, aber er ist zurückgekommen, und das ist bei Weitem mehr, als er gestern getan hätte. Sag mal, Ellen …“ Sie betrachtete die Bibliothekarin im Ruhestand liebevoll. „Glaubst du, du könntest noch ein paar deutsche Kommandos für mich im Internet finden?“

„Oh Kleines, nichts, was ich lieber täte – aber mein PC lässt mich seit letzter Nacht nicht mehr ins Netz. Es gibt irgendein technisches Problem, aber die Hotline konnte mir leider nicht sagen, bis wann es wieder behoben ist. Tut mir leid! Aber das mit Rufus ist trotzdem ein echter Durchbruch.“

Carly grinste. „Ja, ist das nicht toll? Und so ungern ich es auch zugebe, das habe ich Herrn Superkorrekt zu verdanken.“

„Wem? Oh, du meinst Wolfgang?“ Mack beugte sich ein wenig nach vorn. „Aber – wenn du das Wort von ihm hast, warum fragst du ihn dann nicht?“

„Und gebe zu, dass ausgerechnet das Wort funktioniert, das er benutzt hat, während er mich beleidigt hat? Nee, eher friert die Hölle zu.“

„Wo habe ich nur meine Gedanken“, schmunzelte Mack mit einem Achselzucken. Er war der Vater zweier erwachsener Töchter. „Ich vergaß für eine Sekunde, dass ich es mit einer Frau zu tun habe.“

„Das ist wirklich sehr witzig, mein Lieber“, antwortete Ellen trocken, bevor das Paar einen so liebevollen Blick austauschte, dass Carly vor Rührung ihre Kaffeetasse abstellen musste.

„Genug davon“, sagte sie. „Sind die Fotos von eurem Italienurlaub endlich fertig? Gibt es was Neues von der Hochzeit? Bringt mich mal auf den neuesten Stand.“

Doch als sie schließlich die Fotos betrachtete und sich anhörte, was ihre Freunde geplant hatten, schoss ihr durch den Kopf, dass der Tag, an dem die Hölle zufror, vielleicht schon bald gekommen war. Rufus zuliebe wäre sie möglicherweise doch bereit, ihren Stolz ein zweites Mal hinunterzuschlucken. Und Wolfgang Jones um Hilfe zu bitten.

4. KAPITEL

Wolfgang schritt in der Wartehalle des McCarran International Airports auf und ab. Das Flugzeug hatte Verspätung, und er konnte sich nicht entscheiden, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Er freute sich darauf, seine Familie wiederzusehen. Der verrückte Einfall seiner Mutter würde trotzdem niemals funktionieren. Doch es war ihm nicht gelungen, sie ihr am Telefon auszureden.

Er würde persönlich mit ihr darüber reden. Darüber, dass seine Eltern aus unerfindlichen Gründen seinen Neffen Niklaus nach Vegas mitbrachten.

Natürlich konnte seine Mutter nichts für diese Situation. Und Wolf war erst recht klar, wie schrecklich es für Niklaus sein musste, schon wieder woandershin zu gehen. Beim bloßen Gedanken daran verhärtete sich seine Miene, denn er kannte diese Situation nur zu gut. Wie oft wollten seine Eltern ihre Adresse denn noch ändern?

Er hatte schon längst den Überblick darüber verloren, wie oft sie seit seinem elften Lebensjahr umgezogen waren. Sein Vater war G.I. gewesen, als er Wolfgangs Mutter Ende der Sechzigerjahre in Stuttgart kennengelernt hatte. Er hatte sie prompt geheiratet, und als Wolfgang vier Jahre später in Fort Benning, Georgia, zur Welt kam, waren sie schon zweimal umgezogen. Seine Schwester Katharina kam in Camp Zama zur Welt – in Japan. Wolf war noch ein Teenager, als er schon in Heidelberg in Deutschland und in Shape-Chievres in Belgien gelebt hatte und in zwei oder drei amerikanischen Städten, an deren Namen er sich nicht mal mehr erinnern konnte. Bis sein alter Herr schließlich in den Ruhestand trat, hatten sie den Bundesstaat noch x-mal gewechselt.

Aber es war auch nicht so, dass seine Eltern danach aufgehört hätten zu reisen. Im Gegenteil. Sein Vater …

„Hallo, mein Sohn!“

… schritt durch die Wartehalle auf ihn zu. Wolfgang riss sich von seinen Erinnerungen los und beobachtete die Ankunft mit denselben gemischten Gefühlen, die sein alter Herr schon immer in ihm ausgelöst hatte: hilflose Liebe, bei der es Wolfgang ganz warm ums Herz wurde, gepaart mit dem beunruhigenden Wunsch nach Aufmerksamkeit und einer unterschwelligen Abneigung, die ihn jedes Mal zur Weißglut brachte.

Rick Jones war ein großer, schlaksiger Mann. Er kam auf Wolfgang zu, drückte ihn an sich und klopfte ihm auf die Schulter. Wolf bemerkte eine leichte Bierfahne, doch dann löste sich sein Vater von ihm, um ihn aus Armeslänge zu betrachten.

„Jetzt sieh dich nur an!“, sagte Rick. „Du siehst aus wie der Erfolg persönlich! Hast du alles erreicht, wovon du all die Jahre geträumt hast, während du in den Botschaften Trübsal geblasen hast?“

„Ich arbeite daran.“ Wenn Wolfgangs Stimme etwas rau klang, dann lag es daran, dass seine Erinnerungen ihn zu überwältigen drohten. Erinnerungen an all die Botschaften, in die man ihn als Teenager mitgeschleppt hatte, nachdem Rick aus der Army ausgeschieden war. Erinnerungen an das Gefühl, immer auf der falschen Seite der Botschaftstür gestanden zu sein, weil sein alter Herr eben kein Botschafter war. Und Erinnerungen an seinen damals aufkommenden Wunsch, einmal mehr zu sein. Einmal auf der richtigen Seite der Tür zu stehen.

Doch dann schob er diese Gedanken beiseite. „Wo sind Mom und Niklaus?“

„Sie kommen gleich. Er hat während des Flugs wohl zu viel Limonade getrunken, und du kennst ja deine Mutter. Sie glaubt immer, dass ohne ihre Hilfe niemand irgendwohin finden würde.“

Vielleicht fand seine Mutter auch nur, dass Niklaus nicht allein auf einem fremden Flughafen herumlaufen sollte.

„Sie freut sich schon so auf dich, weißt du?“, fuhr Rick fort. „Wie lange ist es her, Junge? Zwei Jahre? Drei?“

Junge. Bilder schossen durch Wolfgangs Kopf, verblasste Bilder eines viel jüngeren Ricks, der ihn in die Luft warf und wieder auffing, immer wieder, während Wolf vor Vergnügen jauchzte. Junge. Wie ein Echo. Wie geht es meinem kleinen Jungen? Warst du heute ein braver Junge?

Dann wurden diese Bilder durch andere ersetzt. Einem Mann, der nie da war, auch dann nicht, wenn es gar keinen Grund für seine Abwesenheit gab. Der immer dann nicht da war, wenn man ihn am meisten brauchte.

„Etwas mehr als zwei Jahre“, antwortete Wolfgang kühl. „Das letzte Mal haben wir uns in Santiago gesehen, als ich dich und Mom besucht habe.“

Wolfgang?“

Er drehte sich um, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Ihm wurde warm ums Herz. Ihren schwäbischen Akzent hatte sie auch nach all den Jahren noch nicht verloren. Mit rosigen Wangen und in ihrer üblichen bequemen Kleidung eilte sie auf ihn zu. Ein schlaksiger Teenager trottete mit Händen in den Hosentaschen neben ihr her. Das musste Niklaus sein. Großer Gott, war es wirklich schon so lange her, seit Wolf ihn zum letzten Mal gesehen hatte? Der Junge hatte sich von einem pausbackigen kleinen Jungen in einen baumlangen Teenager mit den typischen langen Jones-Knochen verwandelt. Das Einzige, das Wolf noch bekannt an ihm vorkam, war Niklaus’ glänzendes braunes abstehendes Haar und seine braungrünen Augen.

Wolfs Mutter bedachte Rick mit einem strafenden Blick. „Du hättest ruhig auf uns warten können, Richard“, sagte sie ungewöhnlich direkt.

Doch ihr Blick milderte sich, und auf ihren Wangen zeigten sich Grübchen, als sie ihren Sohn lächelnd betrachtete. Sie streckte ihre molligen Hände nach ihm aus. „Hallo, mein Liebling.“ Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen, um ihn zu umarmen.

Er drückte sie fest an sich und atmete ihren vertrauten Vanillegeruch ein. Maria Jones mochte zwar nie so witzig gewesen sein wie sein Vater, aber sie war immer die feste, verlässliche Größe in seinem Leben gewesen. „Guten Tag, Mom. Herzlich willkommen!“ Als er ihr über die Schulter blickte, begegnete er dem Blick seines Neffen. „Hey, Niklaus. Schön, dass du da bist.“

Der Teenager grunzte.

Maria Jones löste sich von Wolf, trat einen Schritt zurück und strich ihm mit den Händen am Revers entlang. „Jetzt sieh sich mal einer diesen wunderbaren Anzug an! Du wirkst so erfolgreich, so stattlich.“ Dann packte sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich. „Lass uns gehen. Ich bin so neugierig auf deine Wohnung!“

Sie scheuchte sie hinaus auf den Parkplatz, wo sein Wagen stand. Rick stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er den Ford sah. Und selbst die Augen seines Neffen erhellten sich ein wenig, obwohl er sich bemühte, möglichst gelassen zu wirken und zu cool, um sich zu einem Kommentar hinreißen zu lassen.

Eine gute halbe Stunde später waren sie da. Niklaus wartete ungeduldig darauf, dass Wolfgang den Kofferraum öffnete, um einen Fußball aus seinem riesigen Rucksack zu fischen. Während er ihn fachmännisch von einem Knie auf das andere springen ließ, schaute er seine Großmutter an und sagte: „Ich werde mir mal den Pool ansehen, Grandma.“

„Es gibt mehrere Pools“, erklärte Wolfgang ihm. „Wir wohnen in diesem Häuserblock dort, Apartment 301, falls du später zu uns reinkommen möchtest.“

Der Teenager nickte, ließ den Ball auf dem Boden aufkommen und kickte ihn mit der Hacke in die Luft, wo er ihn auffing und unter den Arm nahm, bevor er wortlos davonging.

Maria sah ihm hinterher. Zwei Sorgenfalten erschienen zwischen ihren Brauen, und Rick schlang seine Arme um sie.

„Es wird ihm hier gefallen“, sagte er fröhlich.

Wolf war sich da nicht so sicher. Er war schon öfter an Niklaus’ Stelle gewesen. Auch er war von einem Ort zum nächsten geschleppt worden, aber er hatte wenigstens auf die stetige Gegenwart seiner Mutter zählen können. „Ich hole eure Koffer“, sagte er hilflos. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Eine verdammt schwache Leistung.

Sie wandte sich nach ihm um. „Nein, Liebling, lass sie, wo sie sind. Wir wohnen im Hotel.“

„Sei nicht albern, Ma. Ich habe genug Platz, falls es Niklaus nichts ausmacht, auf der Couch zu schlafen.“

„Ich habe ihm versprochen, dass wir im ‚Circus Circus‘ wohnen“, sagte sie und zuckte hilflos mit den Achseln. Das passte so gar nicht zu ihr. „Ich dachte, es könnte … nach dem letzten Umbruch ein wenig helfen, wenn wir ihm erklären …“ Ihre Stimme versagte. Doch dann straffte sie ihren Rücken und überreichte Wolfgang eine Schachtel, die sie mitgebracht hatte. „Ich habe dir einen Kuchen gebacken.“

„Ach Mom.“ Das war so absolut typisch für Maria. Sie backte einen Kuchen nach dem anderen und brachte zu jeder Gelegenheit einen mit – auch wenn sie ihn über einen Kontinent hinweg transportieren musste. Wolfgang nahm ihn ihr mit derselben Vorsicht ab, mit der er zweifellos die letzten dreitausend Meilen behandelt worden war. Und dann begleitete er seine Eltern nach oben in seine Wohnung.

Als sie im Flur vor seiner Wohnung standen, hielt Wolfgang kurz inne, um auf seinen Vater zu warten. „Du wirst jetzt also Biergartenbesitzer?“ Er achtete darauf, seinen Tonfall möglichst neutral klingen zu lassen. „Das passt zu dir.“

Maria, die bereits in seiner Wohnung verschwunden war, tauchte noch einmal in der Tür auf, um ihm einen warnenden Blick zuzuwerfen. „Ich werde es nicht erlauben, dass du frech wirst, Wolfgang“, ermahnte sie ihn streng, bevor sie erneut verschwand. Vermutlich unterzog sie seine Küche einer sehr gründlichen Inspektion.

„Ich bin nicht frech. Ich stelle nur Tatsachen fest. Damit hab ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.“ Und so war es auch. Sein Vater war schon immer ein Partylöwe gewesen.

Ein paar Dinge hatte Wolfgang sehr bald gelernt: dass seine Mutter auch Nein meinte, wenn sie Nein sagte, zum Beispiel. Oder dass die Armee allen anderen militärischen Einrichtungen haushoch überlegen war. Und dass Rick, wenn er nicht im Dienst war, aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinen Freunden im Offiziersclub saß. Nach der Pensionierung seines Vaters hatte sich nicht viel verändert – der Name des Clubs vielleicht und dass seine Kumpane nicht mehr zwangsläufig beim Militär waren. Wann immer Rick mit seiner Familie in eine neue Botschaft gezogen war, hatte er als Erstes ein neues Lokal ausfindig gemacht, wo er sich ein paar hinter die Binde gießen und unter Leute kommen konnte.

„Lass den Jungen in Ruhe, Maria“, sagte Rick. „Er hat ja recht. Es passt wirklich perfekt zu mir.“ Er wandte sich voller Enthusiasmus und mit seinem ganzen Charme an Wolfgang. „Lass mich mal die Fotos raussuchen, während deine Mutter uns einen Kaffee macht, Junge, und dann zeige ich dir, was uns erwartet. Rothenburg ist eine tolle Stadt, und der Donisl ist das schönste kleine Lokal, das du je gesehen hast.“

„Ich sehe mir die Fotos gerne an, Paps“, sagte Wolf. „Aber zuerst müssen wir über Niklaus reden.“

„Einverstanden“, stimmte Rick zu, doch dann eilte er hinaus. „Besprich das mit deiner Mutter!“, rief er noch, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Wolf schluckte. Ein bitterer Geschmack stieg ihm die Kehle hoch, als er das Wohnzimmer betrat. „Das ist ja wieder mal typisch“, sagte er, womit er eine bemerkenswerte Sanftmut an den Tag legte.

Seine Mutter, die die Kaffeemaschine entdeckt hatte, war damit beschäftigt, Krümel in den Mülleimer zu fegen. „Es ist doch alles schon viel zu lange her, Wolfgang Richard. Du solltest – wie sagt man – etwas nachsichtiger mit deinem Vater sein.“

„Warum?“, fragte er. „War er jemals da, wenn es etwas Schwieriges zu besprechen gab? Nein“, sagte er, ohne auf ihre Antwort zu warten. „Er geht aus und amüsiert sich. Himmel, selbst seinen Job hat er immer als große Party betrachtet, anstatt …“ Er verstummte.

Zu spät. Maria warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und deutete auf einen seiner Stühle.

Wolf setzte sich.

Seine Mutter stand ihm direkt gegenüber. „Ich bin es leid, dass du immer so auf deinen Vater herabblickst, nur weil er kein großes Tier gewesen ist. Es tut uns beiden sehr leid, dass es für dich so schmerzhaft war, auf der falschen sozialen Stufe geboren zu sein. Aber es ist keine Schande, hart zu arbeiten, und genau das hat dein Vater getan. Er war immer sehr gut in seinem Job, und Gott sei Dank hat ihm die Arbeit gleichzeitig auch noch Spaß gemacht.“

„Ja, Gott sei Dank.“ Wolf verkniff sich einen abfälligen Ton. „Ihm hat es gefallen. Aber was ist mit dir, Mom? Welche Rolle hast du dabei gespielt, abgesehen davon, dass du immer alles geregelt und die Verantwortung getragen hast?“

„Ist dir nie in den Sinn gekommen, Wolfgang, dass eine Frau nicht achtunddreißig Jahre lang mit einem Mann zusammenlebt, ohne zu wissen, worauf sie sich eingelassen hat? Ich trage gern Verantwortung. Es entspricht eben meiner Natur.“

„Aber wann amüsierst du dich denn einmal?“

„Was veranlasst dich zu der Vermutung, ich würde mich nicht amüsieren? Aber, was noch viel wichtiger ist, wann hast du denn mal Spaß?“ In ihren Augen spiegelte sich eine tiefe Traurigkeit, als sie ihn ansah. „Du trägst traumhafte Anzüge und machst Karriere. Aber du bist jetzt vierunddreißig und hast weder Frau noch Kinder. Du hast nicht mal einen Hund. Der Weg, den du gewählt hast, scheint dich nicht besonders glücklich zu machen.“

Er lehnte sich über den Tresen. „Das wird er aber noch, Mom. Ich habe Pläne, und ich bin kurz davor, mein Ziel zu erreichen. Es müssen nur noch ein paar Dinge zusammenkommen. Und dann werde ich glücklich sein.“

„Ach Liebling. Glücklichsein ist doch kein Ziel, das man sich steckt. Es ist vielmehr etwas, das dich aufrecht halten soll, während du daran arbeitest, deine Ziele zu erreichen. Du bist halber Amerikaner. Glücklichsein gehört zu deinen unveräußerlichen Rechten.“

Sie irrte sich. Glück war etwas, für das man hart arbeiten musste. Es war sozusagen die Belohnung. Es würde ihn erwarten, sobald er alles richtig gemacht hatte.

Doch Maria war seine Mutter, und er würde ihr niemals sagen, dass sie sich irrte. Stattdessen dachte er noch einmal über seinen Neffen nach. Er wechselte das Thema. Was seine Mutter sich da ausgedacht hatte, war doch einfach verrückt!

„Du weißt doch, dass es absolut unmöglich ist, dass Niklaus hier bei mir bleibt?“, fragte er vorsichtig. Gut – vielleicht war das doch so ähnlich, wie ihr zu sagen, dass sie sich irrte. Aber diese Idee war eben auch völlig abwegig. „Ich arbeite nachts, Mom! Niklaus wäre ziemlich auf sich allein gestellt.“

„Der Einfluss eines stabilen erwachsenen Mannes wird ihm jedenfalls besser bekommen als das Zusammenleben mit seiner Mutter – selbst wenn es hier nicht ganz ideal ist. Aber es kann einfach nicht so weitergehen! Katharina schiebt ihn beiseite, sobald ein neuer Mann in ihrem Leben auftaucht oder etwas anderes, was sie begeistert. Und irgendwann erinnert sie sich dann plötzlich wieder daran, dass sie ja einen Sohn hat.“ Sie musterte Wolfgang aufmerksam. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir den Biergarten in Rothenburg bekommen werden. Und das würde bedeuten, dass wir Niklaus mit nach Deutschland nehmen müssten, Wolf. Er hat schon genug Schwierigkeiten. Wenn wir ihn auch noch in ein anderes Land verpflanzen … ich fürchte, das würde ihm den Rest geben.“

„Was soll das denn heißen? Steckt er in Schwierigkeiten?“

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