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Let's be bold

Als Buch hier erhältlich:

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*** Limitierte Erstauflage mit farbigem Buchschnitt! Nur solange der Vorrat reicht! ***

Shae, Tyler, Ariana und Evie erleben alle früher oder später den bitteren Moment, in dem die eigenen Träume auf die harte Realität treffen. Doch die besondere Freundschaft zwischen den vieren hält sie aufrecht. Gemeinsam lernen sie voneinander, stärker, mutiger und freier durchs Leben zu gehen, und der Welt zu zeigen, wer sie wirklich sind.


  • Erscheinungstag: 27.06.2023
  • Aus der Serie: Be Wild Serie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703696

Leseprobe

Für Nina, Pia, Henrike und Vincent
Manifestation at its best!

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung. Achtung, diese Warnung enthält Spoiler für das gesamte Buch.

1

SHAE

Samstag, 1. Juni

»Ja!«, stöhnte ich, warf meinen Kopf zurück und krallte die Fingerspitzen tiefer in Cams Schulter. Er wiederum grub seine fester in meinen Po und gab mir den Halt, den ich brauchte, um nicht über die Küchentheke zu rutschen. Ich schloss die Augen, blendete die morgendliche Sonne in dem kleinen New Yorker Apartment aus und gab mich vollends Cams Berührungen hin. Seinen Lippen an meinem Hals, seinen Händen, die meinen Körper hielten, seinen Stößen, die mich immer lauter stöhnen ließen. Seinem herben Geruch, der mir mittlerweile so vertraut war, der dafür sorgte, dass ich mich fallen lassen konnte – oder aber mich, wie jetzt, in andere Sphären beförderte. Cam ließ eine Hand an meinen Bauch wandern, strich tiefer, noch tiefer – und massierte mich plötzlich an meiner empfindlichsten Stelle. Ich riss die Lider auf und begegnete seinen vor Lust verhangenen blauen Augen. Als ein Lächeln seine Züge umspielte, beugte ich mich vor und biss sanft in seine Unterlippe. Das Ganze entlockte auch ihm ein Stöhnen, und innerlich gab ich mir ein High five. Heute würde es klappen.

Ich rutschte ihm weiter entgegen, ohne meinen Mund von seinem zu lösen, schob mein Becken nach vorn. Die Beine schlang ich um seine Hüfte, zog ihn näher, so nah es nur ging. Cams Atem wurde schneller, lauter, seine Stöße fester. Er zuckte zusammen, als seine Bewegung irgendetwas neben mir von der Theke fegte, doch ich legte meine Hand an sein Kinn und zwang ihn somit, mich weiter anzusehen.

»Scheiß drauf«, murmelte ich und seufzte kurz danach auf, als Cam mich in genau dem richtigen Winkel nahm. »Oh Gott, ja! Hör nicht auf.«

Als würden ihn meine Worte anspornen, erhöhte Cam das Tempo, schob sich schneller und tiefer in mich. Ich biss mir auf die Unterlippe, um den Orgasmus, der sich ankündigte, hinauszuzögern. Ich wollte noch nicht kommen, wollte nicht, dass es vorbei war, wollte …

»Fuck!«, rief Cam, doch es war nicht die Art von Fuck, die ich hatte hören wollen. Seine Augen waren geweitet, und die Begierde war aus ihnen gewichen. Stattdessen starrte er an mir vorbei in Richtung Tür – die geräuschvoll ins Schloss fiel.

»Hi.«

»Was zur …?« Ich blickte über die Schulter, geradewegs in Tylers Gesicht, der uns mit erhobenen Brauen betrachtete und nicht einmal die Manieren hatte, den Blick abzuwenden, geschweige denn, betreten zu schauen.

»Ich hab mein Handtuch fürs Gym vergessen«, sagte Ty gelassen, machte jedoch keinerlei Anstalten, ins Badezimmer zu gehen und es zu holen. »Konnte ja nicht wissen, dass ihr hier zugange seid, sobald ich euch den Rücken kehre.«

Cam zog sich aus mir zurück und griff geistesgegenwärtig eines der Küchentücher, die am Herd hingen, um dieses vor seinen Schritt zu halten.

»Tut mir so leid«, sagte ich an ihn gewandt. Sein Kopf war mittlerweile hochrot, und es war nicht schwer zu erkennen, dass er am liebsten im Erdboden versunken wäre.

»Ich, ähm, warte vielleicht besser mal in deinem Zimmer«, murmelte er. Dann winkte er Tyler peinlich berührt zu und ging seitwärts, um meinem besten Freund möglichst wenig von seinem Hintern zu präsentieren, in Richtung meiner Tür.

»Nicht schlecht, man sieht, dass du trainierst«, kommentierte Tyler mit einem Grinsen, das deutlich machte, dass er die Situation wesentlich mehr genoss als Cam oder ich.

»Danke?«, nuschelte Cam und war kurz darauf verschwunden. Na, prima. Wenn ihn unsere WG-Partys noch nicht genug verstört hatten, war es nun definitiv um ihn geschehen.

»Tyler Alexander Mitchell!«, rief ich mahnend, sprang von der Küchentheke und bückte mich, um mein achtlos zur Seite geworfenes Shirt anzuziehen. Nun stand ich immerhin nicht länger nackt vor meinem besten Freund herum – nicht dass es auf ihn irgendeinen Effekt gehabt hätte. Wir kannten uns seit Ewigkeiten und hatten nie mehr als freundschaftliche Liebe füreinander empfunden. »Hast du sie noch alle?«

»Bitte? Ist doch nicht meine Schuld, wenn ihr es in unserer Küche treibt wie die Karnickel. Andere Leute wollen hier essen. Wart ab, bis Evie davon erfährt.«

»Du hast es zuerst in dieser Küche getrieben!«

»Ja, aber ich hab mich nicht dabei erwischen lassen«, erwiderte Tyler und spazierte auf mich zu. Plötzlich sog er die Luft ein und deutete auf den Boden. »Das war Tante Gertrudes Salzstreuer!«

Ich umrundete die Theke und folgte seinem ausgestreckten Finger mit dem Blick. Unser Salzstreuer lag in seine Einzelteile zerlegt auf dem Boden. Irritiert sah ich wieder zu Ty.

»Was redest du da, du hast überhaupt keine Tante namens Gertrude.«

»Stimmt, hätte ich aber haben können. Und dann wäre mein letztes Erinnerungsstück an sie jetzt hinüber dank eurer Sexkapade.«

»Du hast einen Schaden. Außerdem: Darf ich dich daran erinnern, dass du die Freundin meiner Cousine auf einem Traktor gevögelt hast? Auf einem Traktor, Ty! So viel zu Sexkapaden.«

»Daran darfst du mich natürlich sehr gern erinnern«, erwiderte Tyler mit einem breiten Grinsen. An manchen Tagen würde ich diesen Kerl gern von der Feuerleiter in meinem Zimmer schubsen. Heute war einer davon.

»Aber dann stör ich euch beide wohl besser nicht weiter und schnapp mir mein Handtuch.« Er legte sich spielerisch den Finger ans Kinn. »Hab ich noch was vergessen? Turnschuhe, Schlüssel, Mitgliedskarte …« Er zuckte mit den Schultern. »Na, sonst muss ich wohl noch mal vorbeikommen. Hoffen wir einfach, dass du bis dahin gekommen bist.«

Tyler lachte viel zu laut über seinen eigenen Witz. Dass ich vor Wut die Hände in die Hüfte gestemmt hatte, schien ihn nur noch mehr zu amüsieren.

»Ich verfluche dich! Auf dass du ein Jahr lang nur noch miesen Sex hast. Oh, oder noch besser: gar keinen!«

Nach wie vor lachend klopfte Ty mir auf die Schulter und verschwand daraufhin ins Bad. Seufzend fuhr ich mir übers Gesicht und sah missmutig zu meiner Zimmertür. Schon wieder nicht. Cam jetzt noch einmal in Stimmung zu bringen, konnte ich wohl knicken.

Ich warf Ty, der – nun mit Handtuch – aus dem Bad trat, einen letzten bösen Blick zu, dann verschwand er aus der Wohnung, und ich klopfte zaghaft an die Tür zu meinem Zimmer.

»Du musst nicht klopfen, das ist dein Apartment.« Ich konnte das Schmunzeln in Cams warmer Stimme hören, und Erleichterung flutete meinen Bauch. Langsam drückte ich die Tür auf. Cam lag in Jogginghose auf meinem Bett, sein Smartphone in der Hand.

»Schon, aber ich dachte, das ist das Mindeste an Privatsphäre, was ich dir nach der Szene gerade bieten kann.« Ich krabbelte zu ihm und legte meinen Kopf auf seiner Brust ab, atmete seinen Duft ein, der sich bereits so sehr nach Heimat anfühlte. »Tut mir leid. Tyler …«

»… ist Tyler, ich weiß schon. Ich kenn euch beide mittlerweile gut genug, dass mich das nicht mehr schocken sollte.«

Er zog mich enger an sich und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.

»Tut mir trotzdem leid«, wiederholte ich. »Es war grad so gut, und du warst so in Stimmung und …«

»Shae, es ist alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht entschuldigen.«

Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, doch ich konnte es nicht erwidern. Dafür war der Frust zu groß. Heute hätte es klappen können. Ich hatte extra gewartet, bis alle aus dem Haus waren, hatte farblich passende Unterwäsche getragen – am frühen Morgen wohlgemerkt –, und jetzt war alles umsonst gewesen. Es sei denn …

Langsam schob ich meine Hand von seiner Brust in Richtung des Bunds seiner Jogginghose, ließ die Finger über Cams nackte Haut wandern, seine Bauchmuskeln und verharrte schließlich an dem grauen Stoff. Doch noch bevor ich diesen nach unten schieben konnte, umschlossen Cams Finger meine, und er zog meine Hand zu seinem Mund, wo er sie küsste.

»Ich sollte mich besser langsam fertig machen.«

»Dein Shoot geht doch erst mittags los.«

»Ja, aber ich muss noch in meine Wohnung, mich umziehen, duschen, den Make-up-Koffer holen. Und der Shoot ist in Long Beach. Dahin brauch ich selbst ohne Berufsverkehr fast eine Stunde.«

Cam drückte mir einen Kuss auf die Nase, doch ich konnte nicht zulassen, dass dieser Morgen so endete. Ich hatte schließlich eine Mission.

Ich richtete mich auf und setzte mich genau auf Cams Schritt. Dieser hob die Augenbrauen und erwiderte meinen Blick. Langsam bewegte ich mich vor und zurück.

»Wir können da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben«, raunte ich. Cam lächelte, doch schon bevor er den Mund aufmachte, las ich das Nein in seinen Augen und rollte mich von ihm herunter. Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, die Abfuhr saß dennoch.

»Süße, hey.« Der mir so vertraute herbe Duft umhüllte mich wie eine warme Decke, als Cam die Arme von hinten um mich schlang. »Ich bin einfach nicht mehr in Stimmung nach der Szene in der Küche. Sei mir nicht böse.«

»Bin ich nicht!«, erwiderte ich eilig. Natürlich war ich Cam nicht böse. Vielmehr war ich wütend auf mich. Denn so oft wir auch Sex haben mochten – und wenn man unsere Mitbewohnerin Evie fragte, hatten wir den zu oft –, war Cam nicht ein einziges Mal dabei gekommen. Beim ersten Mal hatte ich es auf den Alkohol geschoben, den wir auf unserer WG-Party getrunken hatten, dann auf den Stress, Tylers Anwesenheit im Nebenzimmer … Doch wenn es selbst heute nicht klappte, wenn niemand im Haus war, wir keinerlei Verpflichtungen hatten und noch dazu stocknüchtern waren, dann musste es doch an mir liegen, oder etwa nicht?

»Hey«, sagte Cam erneut und strich mir sanft eine Strähne meines schwarzen Haars aus dem Gesicht. »Wir haben ein tolles Sexleben, da kommt es auf die eine Unterbrechung doch nicht an, oder?«

Ich nickte und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht, auch wenn ich wusste, dass seine Worte unmöglich der Wahrheit entsprechen konnten. Bevor ich mich zum hundertsten Mal innerhalb der letzten Tage fragen konnte, was zur Hölle mit mir nicht stimmte, klingelte mein Handy auf dem Nachttisch. Ich drückte Cams Hand und umrundete dann das Bett, um das Gespräch entgegenzunehmen.

»Es ist Emely«, stieß ich aus, und schlagartig pochte mir das Herz bis zum Hals. Wie immer, wenn meine kleine Schwester mich anrief, hatte ich Sorge, dass etwas passiert war. Noch dazu war ein Anruf um diese Uhrzeit mehr als ungewöhnlich. Mit ungutem Gefühl in der Magengrube drückte ich die grüne Taste auf dem Display.

»Hi«, sagte ich mit atemloser Stimme, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen.

»Shae!« Bei Emelys fröhlichem Ton entspannten sich all meine Muskeln innerhalb einer Sekunde. Das hätte ich mir denken können, die schlimmen Nachrichten waren meist von Mom und Dad oder von Ems Freund Laurence gekommen. Selbst diese lagen schon eine ganze Weile zurück. Seit Emely in der Klinik war, ging es ihr immer besser. Langsam erst, dann irgendwann war es gewesen, als hätte sich ein Schalter umgelegt.

Cam trat zu mir, strich mit sachten Bewegungen über meinen Rücken und musterte mich besorgt. Ich schenkte ihm ein Lächeln, ein aufrichtiges diesmal, damit er sich keine Sorgen machte. Denn das tat er. Dieser Mann sorgte sich um mich, und ich schaffte es nicht einmal, ihm das zu geben, was er brauchte.

»Du glaubst es nicht!«, quiekte Em mir ins Ohr und holte mich ins Hier und Jetzt zurück.

»Was denn?«

»Ich darf gehen!«

»Was?« Vor Aufregung machte ich einen Satz nach vorn und warf Cam einen entschuldigenden Blick zu, doch er lächelte sichtlich erleichtert. »Was meinst du, du darfst gehen?«

»Ich werd entlassen!«

»Oh mein Gott, das ist großartig!«

»Ja, sie reden schon länger darüber, aber ich wollte es dir noch nicht sagen, falls sie sich doch entscheiden, mich noch drinzubehalten. Aber nope. Ich bin eine freie Frau!« Emelys Lachen war ansteckend und vertrieb die Angst, dass es sich bei ihrer Entlassung um einen Schnellschuss handelte. Em hatte aufgrund ihrer Essstörung in eine Klinik gemusst. Sie hatte es erst allein versucht, war sogar schon einmal auf dem Weg der Besserung gewesen, hatte dann jedoch herbe Rückschläge erlitten. In den letzten Wochen und Monaten schien sie wieder ihre innere Mitte gefunden zu haben.

»Geht es dir denn gut?«, fragte ich dennoch. Doch Ems Antwort kam prompt.

»Ja. Glaub mir. Mom und Dad wissen es schon, sie holen mich heute Mittag mit Laurence ab.«

»Ich freu mich so sehr für dich! Ich wünschte, ich könnte auch dabei sein.« Ich fuhr mir durch die Haare und blieb an meinem Fenster stehen, wo ich auf das morgendliche Manhattan blickte. »Vielleicht kann ich dich besuchen übers Wochenende. So spontan krieg ich sicher keinen Urlaub, aber ich kann nachher nach Flügen gucken und zumindest zwei Tage nach Phoenix fliegen. Es sei denn, Laurence und du braucht erst einmal Zeit zu zweit, dann natürlich nicht. Aber sonst könnten wir feiern und …«

»Nicht nötig. Denn das waren noch gar nicht alle guten Neuigkeiten.« Emelys Lachen am anderen Ende der Leitung war glockenhell und trug Erinnerungen an meine Kindheit, die ich längst vergessen geglaubt hatte. In meiner Brust löste sich ein Knoten, von dessen Existenz ich gar nicht gewusst hatte. Tränen schossen mir in die Augen. Ich hatte meine kleine Schwester zurück.

»Was denn noch?«

Ems Lachen wurde noch eine Spur lauter. »Sag mal, heulst du? Spar dir das besser auf für Freitag.«

»Freitag?«

»Ich komm nach New York!«

»Wirklich?«

»Jap! Sponsored by Mom and Dad. Sie waren genauso aus dem Häuschen wie du und dachten sich schon, dass du sonst direkt den Heimflug buchst, und da ich noch nie in New York war …«

»Oh mein Gott. Wir müssen so viel Sightseeing machen! Vielleicht krieg ich spontan noch Tickets für den Broadway.«

»Seit wann stehst du auf Musicals?«

»Ich wohne mit Tyler zusammen, und meine Freundin Ariana ist auch ein Musical-Geek. Außerdem würde ich für dich gerade alles tun!«

»Notiert, das hättest du jetzt besser nicht laut ausgesprochen.« Em seufzte. »Ich freu mich so, Shae.«

»Ich mich auch. Für dich, für mich, für Laurence, für Mom und Dad … für deine Zukunft.« Eine Träne löste sich und rollte mir über die Wange, denn eine Zeit lang waren wir uns alle nicht sicher gewesen, ob Em diese Zukunft haben würde. Zu tief hatte sich die Krankheit in ihre Gedanken gefressen, ihr Handeln bestimmt, ihren Charakter geprägt. Em hatte in erster Linie mir zuliebe dem Klinikaufenthalt zugestimmt, doch sie hatte ihn sich selbst zuliebe durchgezogen.

»Ich bin so unendlich stolz auf dich.« Erneut rollte eine Träne über mein Gesicht. »Gibt es … Hast du Regeln? Muss ich auf irgendwas achten? Fear Foods aus dem Kühlschrank verbannen?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Em. »Mir geht es gut. Mir wird es auch wieder schlechter gehen, und es wird nicht immer einfach, da mache ich mir nichts vor. Es ist immer noch nicht leicht, aber ich kann es schaffen.«

»Das kannst du.«

»Ich pack jetzt aber mal besser alles zusammen. Ich hab mich vorher nicht getraut, falls es doch alles umsonst ist.«

»Ich hab dich lieb. Grüß Mom und Dad. Und Laurence.«

»Mach ich! Ich hab dich auch lieb. Ich schreib dir!«

»Bis dann!«

»Bye!«

Ich ließ das Handy sinken, drehte mich um und warf mich mit solchem Karacho in Cams Arme, dass er ächzte.

»Alles okay?«, fragte er lachend.

»Mehr als nur okay! Heute ist der beste Tag aller Zeiten!«

Noch in seinen Armen sprang ich aufgeregt von einem Bein aufs andere und gab ihm eine Zusammenfassung des Telefonats. Dann gab ich ihn frei, damit er seine Sachen für die Arbeit zusammensuchen konnte. Rastlos tänzelte ich dabei neben ihm hin und her, und gemeinsam gingen wir die verschiedenen New Yorker Sehenswürdigkeiten durch, die Em unter keinen Umständen verpassen durfte. Mit jedem weiteren Punkt auf der Liste wurde mein Lächeln noch größer. Vielleicht war ja doch alles okay.

2

TYLER

Samstag, 1. Juni

Gut gelaunt und vor mich hin pfeifend folgte ich der Treppe nach unten und nahm zwei Stufen auf einmal. Die Bilder von eben schossen mir durch den Kopf, was meine Mundwinkel weiter hob. Es war nicht das erste Mal, dass ich Shae beim Sex erwischte. Wir kannten uns, seit wir Kinder waren, und hatten früher so ziemlich jede freie Minute miteinander verbracht. Shae war die Erste gewesen, der ich mit elf erzählt hatte, dass ich einen feuchten Traum gehabt hatte, sie hatte mir ein Jahr später eröffnet, dass sie jetzt ihre Periode hatte. Wir hatten einander von unserem ersten Kuss genauso berichtet wie vom ersten Mal Sex. Wir hatten Nächte wach gelegen, geredet, gelacht, einander Geheimnisse anvertraut, die sonst niemand wusste. Wir waren Geschwister, die nicht miteinander verwandt waren. Über die Jahre hatte sich ein festes Band zwischen uns gewoben, das ich mit keinem anderen Menschen teilte. Spätestens bis heute Abend hätte sie mir verziehen, dass ich ihren Sexmorgen ruiniert hatte. Vermutlich fielen sie und Cam schon wieder übereinander her.

Vielleicht sollte ich mir auch Gesellschaft für später suchen. Ein wenig Spaß haben, abschalten, das Gleiche tun wie Cam und Shae eben … Ja, der Gedanke gefiel mir. Ich trat aus der Tür unseres Apartmentkomplexes in Midtown Manhattan und zückte mein Handy. Die Sonne lachte mir ins Gesicht, es wehte eine wundervolle warme Brise, die den New Yorker Lärm genauso zu mir trug wie diesen ganz speziellen Geruch nach Asphalt, Stadt und Freiheit. Shae und ich waren erst vor zwei Monaten von Phoenix, Arizona, hergezogen, aber ich liebte jeden einzelnen Moment hier. New York war so wild und aufregend, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Egal, wohin man blickte, überall brodelten das Leben, die Musik und diese ganz spezielle Energie, die so oft in Liedern besungen wurde. New York war ein Ort voller Magie und Abenteuer, und ich war jeden Tag dankbar, dass ich die Entscheidung getroffen hatte, mit Shae herzukommen.

Dass ich es wegen meiner ehemaligen Chefin zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte, spielte natürlich auch eine große Rolle. Ich kam ins Straucheln, als die Erinnerung an Rhianna in mir aufblitzte. Vor Kurzem hatte ich Shae das erste Mal davon erzählt, was diese Frau mir angetan hatte. Rhianna war scharf auf mich gewesen, hatte aber mein Nein nicht akzeptieren wollen. Es fiel mir noch immer schwer, an diese Zeit zurückzudenken oder überhaupt darüber zu reden. Der Umzug in den Big Apple sollte ein Neuanfang werden. Weit weg von Rhianna und dem ganzen Scheiß, aber wie es sich herausstellte, konnte ich nicht vor meiner Vergangenheit davonlaufen. Es ging schon damit los, dass so ziemlich jeder in meinem Umfeld die App nutzte, die ich damals in der Firma entwickelt hatte. Funvironment war das Flaggschiff geworden und spielte gerade Gewinne in Millionenhöhe ein. Gewinne, die Rhianna schön auf ihr Konto verbuchte, die aber eigentlich zum Teil mir gehörten.

Das Geld war mir tatsächlich ein Stück weit egal. Ich kam zurecht mit dem, was ich hatte. Shae verdiente gut, mein Gehalt war ebenfalls okay, und es reichte, um uns diese schöne Wohnung in Manhattan zu leisten. Viel mehr störte mich, dass Rhianna noch so viel Macht über mich besaß. Dass ich einfach nicht vergessen konnte, wie oft sie mich auf der Arbeit bedrängt und angefasst hatte. Sie hatte mich geküsst und …

Ich kam erneut ins Straucheln, aber dieses Mal nicht, weil ich gestolpert war, sondern weil mich jemand angerempelt hatte.

»Sorry, Mann«, rief der Typ, der gerade an mir vorbei zur Subwaystation hetzte. Ich schüttelte den Kopf, setzte meinen Weg fort und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Handy. Ehe ich weiter in Grübeleien über Rhianna verfallen konnte, öffnete ich TikTok und nahm ein kurzes Video von mir auf. Titel: »Mein Gesicht, wenn ich meine Mitbewohnerin beim S€chs erwische.« Ich hob eine Augenbraue, tippte mir ans Kinn und grinste schief. Dann packte ich den passenden Sound darauf und schickte es ab. Seit ich bei Greenwood & Steele arbeitete und dort einige Influencer kennenlernte, wuchs mein Account ziemlich schnell. Ich wurde öfter auf Stories oder TikToks verlinkt, manchmal postete ich auch ein Selfie mit einem unserer Kunden. Ich mochte den Austausch mit dieser virtuellen Community und hatte sogar schon ein Date darüber bekommen.

Apropos Date. Ich rief meine Kontaktliste auf und scrollte die Namen durch. Bei Heather blieb ich hängen. Die erste Frau, die ich in der Stadt kennengelernt hatte. Sie arbeitete im Metropolitan Museum of Art und hatte mir einige Sehenswürdigkeiten gezeigt. Inklusive ihres schönen Apartments Uptown. Ich grinste, drückte auf den Anrufknopf und lauschte dem Freizeichen. Heather und ich hatten nichts Ernstes laufen. Wir trafen uns ab und zu, hatten Spaß, gingen weiter.

»Tyler, hi«, sagte Heather.

»Stör ich?«

»Nein, aber ich hab nicht viel Zeit. Wir bereiten gerade eine neue Ausstellung vor.«

»Oh. Ich wollte dich fragen, ob du nachher Lust auf einen Kaffee oder so hast.« Sie verstand genau, was ich mit »oder so« meinte. Es war Heathers Idee gewesen, diese lose Beziehung zwischen uns aufrechtzuerhalten.

»Eigentlich gern, aber ich kann echt nicht. Ein anderes Mal, ja?«

»Klar.«

»Bis dann.«

Sie legte auf, ehe ich noch ein Wort sagen konnte. Ich runzelte die Stirn und scrollte weiter durch meine Kontakte, während ich meinen Weg ins Gym fortsetzte. Es war nur wenige Blocks entfernt, die ich in der Regel lief, um mich schon mal aufzuwärmen.

Als ich an der Subwaystation vorbeikam, drang leise Gitarrenmusik an meine Ohren. Dieses Geräusch gehörte für mich mittlerweile so zu New York wie die Sirenen und das Autogehupe. Der Kerl, der spielte, hockte jeden Tag an derselben Ecke. Von morgens bis manchmal spätabends. Vor ein paar Wochen hatte ich ihm extra einen Fünfziger gegeben, damit er Feierabend machen konnte, aber schon am nächsten Morgen war er zurückgekehrt. Er war verdammt gut, seine Stimme klang angenehm warm und weich, und er interpretierte die Songs immer auf seine eigene Art. An manchen Tagen spielte er ausschließlich Musicallieder, heute allerdings coverte er »Walking on Sunshine« in einer langsamen, getragenen Version.

Ich tastete meine Tasche ab, hatte aber kein Kleingeld dabei. Normalerweise legte ich ihm immer etwas hin, auch wenn es mir manchmal so vorkam, als wollte er gar kein Geld. Er blickte zu mir herüber und nickte mir zu, ohne sein Lied zu unterbrechen. Irgendwann musste ich ihn anquatschen und herausfinden, wie es kam, dass er auf der Straße musizierte. Vom Aussehen her könnte er auch locker als Model arbeiten. Er hatte gebräunte Haut, kinnlange dunkelblonde Haare, dunkelgrüne Augen und eine sympathische Ausstrahlung. Meistens trug er ein schwarzes T-Shirt und zerschlissene Jeans. Außerdem war er ziemlich durchtrainiert. Vielleicht arbeitete er nachts in einem Stripclub und die Musik war nur ein Nebenerwerb.

Irgendwann finde ich es raus. Heute allerdings nicht. Ich hatte eine Mission für den Abend. Ich scrollte weiter in meinem Handy die Kontakte durch und rief Samanthas Namen auf. Sie hatte ich vor einem Monat beim Einkaufen getroffen und ihr ’ne Tüte Milch spendiert, weil ihr Geld nicht gereicht hatte. Wir waren ins Gespräch gekommen und kurz darauf auf meiner Couch. Danach hatten wir noch zwei-, dreimal die Nacht miteinander verbracht. Mit Sam war es auch sehr lustig gewesen, vielleicht hatte sie heute Abend Zeit und Lust. Ich wählte ihre Nummer, aber es sprang nur die Mailbox an.

»Mh«, machte ich und legte wieder auf. Die Nächste wäre Charlotte, wobei ich mir bei ihr nicht sicher war, weil sie das letzte Mal angedeutet hatte, dass sie mehr wollte. Ich hätte zwar nichts gegen eine feste Beziehung, konnte mir das mit Charlotte aber nicht so richtig vorstellen. Wenn ich sie jetzt kontaktierte, machte ich ihr vielleicht falsche Hoffnungen.

In Gedanken ging ich die Bekanntschaften durch, die ich in New York in den letzten beiden Monaten gemacht hatte. Von den meisten hatte ich keine Nummer, weil es eine einmalige Sache gewesen war, aber ein paar konnte ich noch anrufen. Also wählte ich einen Namen nach dem anderen. Und kassierte eine Absage nach der anderen. Isabella war im Urlaub, Mia hatte kein Interesse, Eleonore war mit einem anderen Typen verabredet, Nova war nicht in Stimmung. Nach diesem letzten Anruf ließ ich gefrustet das Handy sinken und schüttelte den Kopf. Das war mir noch nie passiert. Irgendwer hatte immer Zeit, und ich war mit jeder dieser Frauen im Guten auseinandergegangen.

Shaes Worte von vorhin kamen mir in den Sinn. Ich verfluche dich! Auf dass du ein Jahr lang nur noch miesen Sex hast. Oh, oder noch besser: gar keinen!

Eigentlich war ich kein abergläubischer Mensch, aber das kam mir schon komisch vor.

Ich bog in die Straße ein, in der das Gym lag, und wäre fast in einen Stand gelaufen, der direkt an der Ecke parkte. Der war sonst nicht hier.

»Oh, Achtung!«, sagte die junge Frau, die das Ding anscheinend betrieb. Sie hatte dunkelbraune kinnlange Haare, warme Augen und ein offenes Lächeln. Gerade wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Tut mir so leid. Ich parke gleich um. Ständig kollidieren Leute mit meinem Stand.«

Ich musterte ihren Laden. Er war vollgestellt mit Smoothies in jeder Farbe und Größe. Dazu bot sie Obst wie grüne Äpfel, Bananen, Erdbeeren, Mangos und Heidelbeeren an.

»Kein Ding«, sagte ich.

»Wobei das vielleicht mein neues Geschäftsmodell wird. So bleibt gleich die richtige Kundschaft bei mir hängen.«

Ich grinste breit.

»Wenn du schon da bist, darf ich dir doch sicher einen Smoothie machen.«

»Klar.«

»Was hättest du denn gern drin?«

»Was auch immer du empfehlen kannst.«

»Dann probier den Spinat-Erdbeer-Bananen-Smoothie. Soll ich dir etwas Proteinpulver reinmischen?« Sie deutete auf meine Sporttasche, die über meiner Schulter hing.

»Gern.«

Sie klatschte in die Hände und bereitete den Smoothie für mich zu. Ich musterte ihren Stand. Oben war ein Schild angebracht mit der Aufschrift: »Berry’s Berries – Beste Smoothies der Stadt.«

Sie bemerkte meinen Blick und lachte. »Bescheuerter Name, oder? Ich heiße Berry. Meine Schwester Peaches meinte, ich solle ein Wortspiel draus machen.«

»Peaches und Berry?«

»Frag nicht.« Sie rollte mit den Augen und reichte mir den Smoothie. »Unsere Eltern haben ein Faible für Obstnamen. Es ist echt schlimm. Meinen Bruder wollten sie Apple nennen, aber das konnte ihnen zum Glück meine Oma ausreden. Jetzt heißt er Oliver in Bezug auf Oliven.«

Ich nahm den Drink entgegen und zahlte mit meiner Uhr. »Ich heiße ganz banal Ty.«

»Hi, Ty.« Sie schlug die Hände vor den Mund und kicherte. »Oh, Mann. Reime sind wiederum ein Tick von mir.«

Ich grinste und nahm einen Schluck von meinem Smoothie. »Ziemlich lecker.«

»Danke. Sind alles meine Rezepte.«

Ich nickte anerkennend und trank noch mal. »Wirst du ab jetzt öfter hier stehen?«

»Weiß noch nicht. Je nachdem, wie das Geschäft an dieser Straßenecke läuft, aber bisher ist die Kundschaft sehr nett.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und musterte mich.

Na also. Von wegen Fluch und so. Shae konnte mich mal kreuzweise.

»Wie lange machst du das schon?«

»Ist meine erste Woche.«

»Deine Smoothies sind auf alle Fälle ausgezeichnet.«

»Danke, aber du kennst bisher ja nur den einen.«

»Ich lerne gern noch mehr kennen.«

Ihr Blick blieb einen Hauch länger an meinen Oberarmen hängen. »Bist du aus New York?«

»Nein, aus Phoenix.«

»Ah, daher der leichte Dialekt.«

»Den hört man raus?«

»Nur ganz wenig.«

»Was ist mit dir? New Yorkerin?«

»Ich bin aus Queens. Auch wenn viele sagen, dass es nicht das echte New York sei, aber für mich schon. Findest du dich gut zurecht in der Stadt?«

»Wird von Tag zu Tag besser.« Ich trat einen Schritt näher und versuchte herauszuhören, ob sie offen für mehr war. Sie straffte die Schultern, atmete tief ein und leckte sich über die Lippen. Sah ganz danach aus. »Falls du nachher Zeit hast, könnten wir gern weiter Smoothies austesten.«

»Ich …« Ihr Mund öffnete sich leicht, schloss sich wieder. Sie war nicht abgeneigt, das spürte ich. »Ich kann nicht.«

Ich zuckte, weil ich ehrlicherweise nicht mit einer Abfuhr gerechnet hatte. »K-klar. Ein anderes Mal vielleicht?«

»Eher nicht. Tut mir leid.«

Wow. Das nenn ich direkt, aber okay. Vielleicht war ich nicht ihr Typ und deutete die Signale gerade völlig falsch. Wobei mir das eigentlich nie passierte.

Ich nickte und trat einen Schritt zurück.

»Also, du wirkst nett, und du siehst echt gut aus, aber ich … sorry.«

»Hey, kein Ding.« Ich hob den Smoothie, als wollte ich mit ihr anstoßen. »Ich danke dir für das Getränk und das nette Gespräch. Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Berry.«

»Ebenfalls. Danke, dass du meinen Smoothies eine Chance gibst.«

Ich hätte gern auch ihr eine Chance gegeben, aber sie machte keine Anstalten, ihre Meinung zu ändern. Mit einem weiteren Lächeln verabschiedete ich mich von ihr und ging zum Gym. Erst die ganzen Absagen am Telefon, jetzt das …

Ich wollte gerade eintreten, als mein Handy in der Tasche klingelte. Ich angelte es heraus und sah Samanthas Namen. Perfekt. Dass sie zurückrief, musste ein gutes Zeichen sein.

»Hi.« Ich drückte die Tür auf und betrat das Gym. »Wie geht es dir? Hast du Lust und Zeit, nachher abzuhängen?«

»Eher nicht, und es ist gut, dass wir sprechen. Ich … ich hab jemanden kennengelernt. Es ist was Ernstes.«

Ich stolperte über eine Stufe. »Glückwunsch, das ist toll.«

»Danke. Ich freu mich auch, aber das heißt natürlich, dass das zwischen uns nicht mehr stattfinden kann.«

»Hey, ganz klar. Wenn du einfach so mal was trinken gehen magst, sag gern Bescheid.«

»Ja, mal sehen. Danke für die schöne Zeit mit dir.«

»War mir ebenfalls ein Vergnügen.«

»Bis dann, Ty. Alles Gute für dich.«

»Ciao.« Ich legte auf und tippte mir mit dem Handy ans Kinn. Dann wählte ich Shaes Nummer. Sie hob nach dem dritten Klingeln ab.

»Hast du noch Sex?«

»Ja, wir treiben es gerade ziemlich heftig auf der Couch.«

»Was? Warum nimmst du dann das Gespräch an?«

»Weil du mein bester Freund bist und ich immer Zeit für dich habe. Das Gleiche erwarte ich übrigens von dir, wenn ich das nächste Mal anrufe. Egal, wo du bist und was du gerade tust.«

»Du machst Witze.«

»Sah ich heute morgen so aus, als wäre ich zu Witzen aufgelegt?«

»Eigentlich sahst du recht wütend und unbefriedigt aus.«

»Schön, dass dir das aufgefallen ist und du nicht nur damit beschäftigt warst, meinem Freund auf den Arsch zu glotzen.«

»Hey, es ist ein schöner Arsch, da kann man schon mal …«

»Was willst du, Ty? Und wehe, du bist noch nicht im Gym, nachdem du mir den Morgen versaut hast.«

»Dafür, dass du gerade tollen Sex auf der Couch hast, bist du ganz schön grantig.«

»Du hast noch fünf Sekunden, ehe ich dieses Gespräch beende.«

»Nein, warte! Wegen dieses Fluchs, den du vorhin ausgesprochen hast.«

»Hab jedes einzelne Wort genau so gemeint.«

»Du … das war aber … Kannst du den bitte zurücknehmen?«

»Auf keinen Fall.«

»Aber niemand will sich heute mit mir treffen, und eben hat mich ’ne echt heiße Frau abblitzen lassen, obwohl sie offenkundig Interesse an mir hatte.«

»Gut! Das hast du verdient.«

»Ganz schön hart von dir.«

»Hier sind andere Dinge auch ganz schön hart. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Shae, warte!«

»Geh ins Gym und tu Buße!«

Shae legte auf. Ich gab ein leises Grummeln von mir und wählte sofort wieder ihre Nummer, aber sie drückte mich tatsächlich weg.

»Die spinnt doch.« Kurz überlegte ich, so lange Telefonterror zu machen, bis sie abnahm, aber dann hängte sie mir bestimmt den nächsten Fluch an, und wollte ich das wirklich riskieren?

Chill mal, Tyler. Flüche sind Quatsch. Vermutlich ist gerade nur etwas Sand im Getriebe.

Ich steckte das Handy wieder weg, trat ins Gym und blickte mich um. An der Theke stand Avery. Sie arbeitete seit zwei Wochen hier und war immer sehr offen und charmant. Na also. Sie hatte letztes Mal recht heftig mit mir geflirtet. Ich straffte die Schultern und ging auf sie zu. Sie telefonierte gerade und lächelte, als sie mich sah. Ich wartete, bis sie fertig war.

»Hallo, Tyler. Wie kann ich dir helfen?«

Geh mit mir aus und brich den Fluch. »Hab mein Handtuch zu Hause vergessen, könnt ich mir eins von euch ausleihen?« Ob Shae noch mehr ausflippen würde, wenn sie hiervon erfuhr? Ich war extra wegen des Handtuchs zurückgegangen, weil mir die vom Gym zu kratzig waren.

»Kein Problem.« Sie griff unter die Theke und gab mir eins. Ich zahlte das Pfand mit meiner Uhr und hielt inne.

»Wie lange geht deine Schicht heute?«, fragte ich.

»Bis vierzehn Uhr.«

Bis dahin war ich locker mit dem Training fertig.

»Hast du Lust, danach was trinken zu gehen?«

Avery runzelte die Stirn, und ich zuckte zusammen, weil meine Frage vielleicht etwas zu offensiv war. Eigentlich ließ ich mir mehr Zeit und fiel nicht so mit der Tür ins Haus. »Ich meine, ich … will dich nicht überrumpeln oder so.«

»Tust du nicht.« Sie musterte mich kurz und seufzte. »Aber ich muss leider passen.«

Was? Warum? Liegt das am Fluch? Steht er mir auf die Stirn geschrieben? Was ist da los?! Statt mit all meinen Fragen rauszuplatzen, hielt ich mich zurück und rang mir ein Lächeln ab. »Okay. Klar. Danke fürs Handtuch.«

»Keine Ursache. Viel Spaß beim Training.«

»Ja.« Mal sehen, ob mir das half.

Ich stopfte das Handtuch in die Tasche, drehte mich um und zuckte zusammen. Lily Moore stand vor mir. Wir waren uns vor ein paar Wochen das erste Mal hier im Gym über den Weg gelaufen. Danach hatte ich sie nicht mehr gesehen, aber Shae hatte gemeinsam mit Evie an einer großen Kampagne mit ihr gearbeitet. Lilys Fotos hatten es sogar auf ein Billboard am Times Square und auf einige Busse geschafft. Seither explodierte ihr Fitnesskanal auf Instagram und YouTube noch viel mehr.

»Lily, hi«, stammelte ich.

»Guten Morgen.« Sie lächelte mich an, was ein angenehmes Kribbeln in mir auslöste. Lily war eine wunderschöne, selbstbewusste und gleichzeitig zarte Frau. Sie trug die dunkelblonden Haare wie beim letzten Mal in einem Pferdeschwanz gebunden und hatte bereits ihre Trainingsklamotten an.

»A-alles klar bei dir?« Fuck. Ich klang wie ein Fünfzehnjähriger, der das erste Mal ein Mädchen ansprach.

»Ja.«

Ich grinste dümmlich und wippte auf den Füßen vor und zurück. Lily steckte sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und atmete tief durch.

»Du und Shae …«

»Wir sind kein Paar, falls du das denkst.«

»Was?« Sie lächelte. »Davon bin ich ausgegangen, so heftig wie sie mit Cam beim Shoot geflirtet hat.«

»Ich … oh. Also … gut.« Gott, was redete ich denn da? »Ich sag das nur, weil unsere Mitbewohnerin Evie zu Beginn dachte, dass Shae und ich zusammen sind, aber wir sind nur Freunde. Beste Freunde. Meistens. Nicht, wenn sie mich gerade verflucht und verhindert, dass ich Sex habe.«

Lilys Augenbrauen wanderten nach oben. Ich gab ein Stöhnen von mir und rieb mir übers Gesicht. Shae hatte nicht nur mein Sexleben verflucht, sondern auch meine Fähigkeit, mit Frauen zu sprechen.

»Nicht so wichtig«, schob ich rasch nach. »Ich wollte einfach sagen, dass Shae und ich uns ziemlich gut verstehen.«

»Das freut mich. Die Zusammenarbeit mit ihr an der April Dreams-Kampagne war großartig. Darauf wollte ich auch gerade hinaus. Ihr wohnt zusammen?«

»Genau.«

»Ich habe dein Bild auf ihrem Handy gesehen und war recht erstaunt, dass ihr euch kennt.«

»Ja, die Welt ist manchmal ein Dorf.«

»Ich fand es vor allen Dingen schön. Nachdem unser erstes Treffen hier so plötzlich vorüber war, hatte ich gehofft, dir noch mal über den Weg zu laufen.«

Ach, hatte sie das? Sie hatte sich mir zwar vorgestellt, aber ich hatte nicht den Eindruck gehabt, als würde sie großen Wert auf ein Wiedersehen legen.

»Ich wollte gerade mit dem Training anfangen.« Sie deutete auf die Halle, in der heute nicht viel los war. Beim ersten Treffen war sie von ein paar Typen schräg angemacht worden. Sie war mit den Jungs zwar gut allein zurechtgekommen, aber der Frust darüber war ihr deutlich anzusehen gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das war, wenn man ständig erkannt oder angesprochen wurde. Lily hatte sich als Fitnessinfluencerin einen ziemlich großen Namen gemacht und war in der Branche eine Topmarke.

Sie sah mich erwartungsvoll an und wartete vermutlich darauf, dass ich etwas Kluges erwiderte.

Vermutlich sollte ich so was sagen wie: »Oh, ich auch. Wollen wir zusammen trainieren?« oder »Schön, kann ich dir helfen? Zu zweit macht es eh mehr Spaß.« Stattdessen starrte ich sie an. Wenn Lily mir heute auch eine Abfuhr verpasste, würde ich das nicht verkraften. Wir kannten uns kaum, aber sie wirkte nett, und ich war völlig durch den Wind.

»Ich muss leider los«, sagte ich und drehte mich um.

»Bist du nicht eben erst gekommen?«, erwiderte Lily.

»Ja, aber ich hab was vergessen.« Ich schulterte die Tasche und ging zum Ausgang.

»Das Handtuch, Tyler!«, rief Avery mir nach.

»Bring ich dir das nächste Mal zurück.« Mit raschen Schritten trat ich nach draußen und atmete tief durch. Ich blickte kurz nach links, wo Berry gerade einen Smoothie an ein junges Pärchen verkaufte. Da ich nicht an ihr vorbeiwollte, wählte ich die entgegengesetzte Richtung. Wenn Lily bisher noch nicht gedacht hatte, dass ich ’ne Panne hatte, dann spätestens jetzt.

3

ARIANA

Samstag, 1. Juni

»Hier hätten wir das Badezimmer.«

Der glatzköpfige Mann, Neal, wenn ich ihn richtig verstanden hatte, stieß die Tür auf, die mit einem lauten Quietschen nachgab und mir und den anderen, die zur Besichtigung da waren, einen Raum offenbarte, der den Namen eigentlich nicht verdient hatte. Jede Umkleidekabine auf der 5th Avenue hatte die doppelte Größe, hier würde ich mich kaum umdrehen können. Die Lampe erhellte flackernd die rissigen Fliesen, ein Fenster gab es nicht. Als kurz darauf die Lüftung ratternd zum Leben erwachte, fiel mir erst das größte Manko des Badezimmers auf.

»Es gibt keine Dusche?«

»Doch natürlich«, gab der Mann beinahe entrüstet zurück. Bevor ich mich weiter suchend umsehen konnte, drehte er ab und durchquerte den Flur, der im Vergleich zum Rest der Wohnung überproportional groß war. »Hier.«

Gemeinsam mit dem Pärchen und der Frau, die etwa in meinem Alter sein musste, trat ich durch die mir soeben geöffnete Tür und blieb auf dem Absatz stehen. »Die Dusche ist in der Küche?«

»Es handelt sich um einen alten Bau, einige der Wände wurden erst später reingezogen. Daher mag die Aufteilung unkonventionell erscheinen …«

Unkonventionell war eine Weise, diese Wohnung zu beschreiben. Katastrophal, lachhaft und an der Grenze zur Körperverletzung erschienen mir deutlich passender. Neal verlor sich in weiteren Erklärungen und führte mich dabei durch die Küche, doch ich strich diese Wohnung in Gedanken bereits von der Liste. Mit Rotstift. Genauso wie die drei anderen davor. In einer hätte ich mir das Badezimmer teilen müssen, in eine andere passten gerade einmal ein Bett und eine kleine Küchenzeile. Nur eine einzige Wohnung hatte mich bisher überzeugen können, und bei dieser hatte sich schnell herausgestellt, dass in der Anzeige ein Zahlendreher passiert war und ich mir die Miete definitiv nicht leisten konnte.

Ich entsperrte mein Handy und öffnete die Notiz-App. Das war die letzte Besichtigung für heute. Am Montag stünden drei weitere auf dem Programm, doch besonders positiv gestimmt war ich nicht. Dabei brauchte ich dringend etwas, denn das Hotel, in dem ich gerade hauste, würde ich mir nicht ewig leisten können. Außerdem nervte es gewaltig, nicht selbst kochen zu können. Tyler und Shae hatten zwar angeboten, dass ich weiterhin bei ihnen bleiben konnte, doch zu viert war auch ihre Wohnung etwas zu klein, außerdem wollte ich ihnen nicht länger zur Last fallen als nötig.

Ich umklammerte das Armband, das sich wie immer an meinem Handgelenk befand. Mein kleiner Bruder Quinn hatte es mir einst geschenkt, und es erdete mich für gewöhnlich – heute jedoch wollte das nicht ganz gelingen.

»Die Wohnung wäre sofort bezugsbereit, richtig?«

Die Frage der anderen Frau riss mich aus meinen Gedanken. Neal nickte. »Exakt, Sie sollten sich beeilen, ein solcher Glücksgriff bleibt nicht lange leer.«

Glücksgriff? Standen wir in derselben Wohnung? Erneut ließ ich meinen Blick durch die Duschküche schweifen. Hatte ich zu hohe Ansprüche? Es war New York, diese Wohnung war in Harlem und somit nicht zu weit ab vom Schuss … Was, wenn ich nur verwöhnt war? Das Apartment, das ich bis vor Kurzem mit meinem Ex Jared geteilt hatte, war ein Traum gewesen. Leider konnte ich es mir allein nicht leisten. Nicht dass Jared je etwas zur Miete beigetragen hätte, aber seine Eltern hatten es getan – und dank ihrer finanziellen Unterstützung hatte er unsere alte Wohnung mittlerweile mit seinen Kumpels zur WG umfunktioniert. Also brauchte ich dringend etwas Neues, denn meine Sachen standen nach wie vor bei ihm, und ich wollte ihn lieber früher als später komplett aus meinem Leben wissen.

Ich musterte die kleine Küche, die Dusche, deren Fugen bereits schwarze Spuren von Schimmel zeigten. Ansprüche hin oder her, so weit wollte ich sie nicht senken. Es musste doch etwas halbwegs Bezahlbares geben, ohne dass ich mich in meiner eigenen Küche würde waschen müssen. Shae und Tyler hatten es schließlich auch geschafft, etwas zu finden.

Ich verabschiedete mich von den anderen und nahm frustriert die Treppenstufen nach unten. Draußen angekommen, schloss ich die Augen, genoss die warmen Sonnenstrahlen und nahm einen tiefen Atemzug. Noch bevor ich richtig runterkommen konnte, klingelte mein Handy, das ich nach wie vor in der Hand hielt. Tyler. Irritiert kniff ich die Augen zusammen. Ich hatte ihm gesagt, dass ich heute nicht würde joggen können. Hoffentlich hatte er nicht auf mich gewartet.

»Hey, alles okay?«, nahm ich den Anruf entgegen.

»Ich hab mein Sex-Mojo verloren. Nichts ist okay!« Tyler klang verzweifelt, und ich biss mir auf die Lippe, um nicht loszulachen.

»Dein was bitte?«

»Mein Sex-Mojo! Meinen Charme, meine sexuelle Anziehungskraft! Ich bin verflucht!«

»Hattest du nicht gerade letzte Woche was mit der Frau von der Theaterkasse?«

»Das war, bevor Shae mich verflucht hat.«

Ich sah auf die Uhr. Es war gerade einmal elf. Zu früh für Alkohol, selbst an einem Samstag. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, aber magst du was trinken?«

»Jetzt schon?«

»Nur Kaffee. Ich könnte einen gebrauchen, mein Tag war bisher auch nicht gerade rosig.«

»Wo bist du denn grad? Sollen wir ins Orchard? Dort gibt es sicher auch Kaffee. Wir waren viel zu lang nicht mehr da.«

»Hat das denn schon auf?« Beim Orchard handelte es sich um die Kneipe, die Tyler, Evie, Shae und ich nach einem sehr turbulenten Gala-Abend besucht hatten. Sie hatte den Beginn unserer Freundschaft markiert, und sollte der Kaffee nicht reichen, hätten sie zumindest doch noch Hochprozentiges da, um den Frust hinunterzuspülen.

»Die Kellnerin ist bestimmt schon da. Wie hieß sie noch mal?«

»Layla«, erwiderte ich und erinnerte mich an den Abend zurück, an dem sie mich vor diesem aufdringlichen Typen verteidigen wollte – nur damit Evie ihr im Anschluss als Dankeschön in die Pflanze kotzte. Sosehr ich mich freuen mochte, sie wiederzusehen, war ich mir nicht sicher, ob das auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Stimmt! Die war cool und lässt uns bestimmt rein«, meinte Ty. »Ich fahr schon mal los und spreche unterwegs niemanden an. Nie wieder! Ich hab mich so blamiert.«

»Kannst du gleich erzählen. Ich nehm ein Taxi und bin in etwa einer halben Stunde da.«

Ich legte auf, verstaute das Handy in meiner Prada-Tasche, die ich mir damals von meinem ersten Gehalt gegönnt hatte und bei den New Yorker Mietpreisen wohl bald würde versteigern dürfen. Dann stellte ich mich an die Straße und streckte die Hand nach einem der vorbeifahrenden gelben Taxis aus. Ein Fahrer hatte Erbarmen mit mir und hielt kurz darauf am Bordstein an. Immerhin eine Sache, die heute gut lief. Bevor ich im hinteren Bereich des Wagens Platz nahm, sah ich noch einmal zu dem Haus zurück, aus dem nach wie vor keiner der anderen Interessenten getreten war.

Ich würde etwas Besseres finden, ganz sicher. Ich hatte schon viel größere Hindernisse bewältigt.

»Hi!«

Laylas freudige Stimme schaffte es, ein paar der dunklen Gedanken zu vertreiben, die sich während der Autofahrt nicht verflüchtigt hatten. Lächelnd trat ich zu ihr an die Theke. Außer mir war nur ein älterer Herr hier, der im Eingangsbereich am Fenster saß, ein Bier trank und etwas auf seinem iPad las. Tyler war noch nicht angekommen, was allerdings kein Wunder war, bei dem Tempo, das der Fahrer draufgehabt hatte.

»Dich hab ich ja ewig nicht gesehen.«

Ich ließ mich auf einem der Barhocker nieder und erwiderte Laylas Lächeln, was nicht schwerfiel. Diese Frau hatte einfach eine einzigartige Ausstrahlung. Ihre dunkelbraunen Haare waren etwas kürzer als zuvor, doch ihr warmes Lächeln sorgte noch für dasselbe wohlige Gefühl wie beim letzten Mal.

»Offensichtlich«, gab ich zurück. »Die Frisur ist neu. Und das hier auch, richtig?«

Ich deutete auf das Tattoo, das ihren Oberarm nun zierte. Es zeigte den Sensenmann, doch statt einer Sense hielt er einen Strauß Blumen über die Schulter.

Sie folgte meinem Blick und nickte. »Ja, das ist erst eine Woche alt.« Sie fuhr darüber. »Heilt gerade noch ab. Du hast keine Tattoos, oder?«

»Nein, dabei finde ich sie bei anderen total schön. Vielleicht irgendwann, wenn mir das richtige Motiv über den Weg läuft. Woher stammt deines?«

»Das hab ich selbst entworfen. Meine Interpretation des Sprichworts Kill ’em with kindness

»Wirklich?« Ich riss die Augen auf und deutete erneut auf das Bild. Dabei berührte mein Finger für den Hauch einer Sekunde ihren Oberarm. Mein Herz setzte aus, ein Kribbeln schoss von meinem Bauch bis hinauf in meine Brust. Sofort zog ich meine Hand zurück und schluckte.

Layla hatte meine Reaktion entweder nicht bemerkt, oder aber sie überspielte sie gut, denn sie nickte bloß.

»Ich … ich wusste gar nicht, dass du so gut zeichnen kannst.«

»Woher auch? Man sieht dich hier ja viel zu selten, als dass wir einander besser kennenlernen könnten.« Sie zwinkerte mir zu, und erneut war da dieses Gefühl in meinem Bauch. Es war nicht so, dass ich es nicht zuordnen konnte. Das konnte ich. Doch genau das beunruhigte mich. Layla war attraktiv, das war mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen, doch das letzte Mal, dass ich mich einer Frau gegenüber so gefühlt hatte, war Jahre her. Dass es nach all diesen Jahren wieder passierte, überraschte mich. Vielmehr aber machte mir Sorgen, dass ich überhaupt schon wieder für jemanden so empfand. Das mit Jared war doch gerade einmal ein paar Wochen her. Nicht dass die letzten Monate unserer Beziehung von viel Liebe gezeichnet gewesen wären, aber dennoch … sollte ich schon wieder so fühlen?

»Hey, Ari! Hi, Layla! Ich hoffe, du hast nicht so lang gewartet.«

Ich zuckte zusammen, als Tylers Stimme plötzlich direkt an meinem Ohr erklang. Kurz darauf schob er sich neben mich auf den Barhocker und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ihr glaubt nicht, was mir heute passiert ist. Oder besser gesagt, nicht passiert. Layla, kann ich einen doppelten Espresso haben, bitte?«

»Klar. Ariana?«

»Nehm ich auch, danke.«

Layla lächelte mir zu, und ich presste mir die Hand auf den Bauch, der bitte schleunigst aufhören sollte, so zu kribbeln, als wäre ich wieder vierzehn und säße mit Hayley Kennel am Camp-Lagerfeuer am Lake Ontario.

»Alles okay?«, fragte Ty und blickte besorgt zu meinem Bauch. Sofort ließ ich die Hand wieder sinken. Ich hatte genug Probleme mit der Wohnungssuche, für mehr war gerade wirklich kein Platz in meinem Kopf.

»Ja, alles bestens«, wiegelte ich ab. »Also: Du bist verflucht?«

»Sag das nicht mit so einem ironischen Unterton. Ich weiß, wie das klingt. Aber nachdem ich heute Morgen Shae und Cam beim Sex erwischt habe, hat sie mich verflucht, auf dass ich nie wieder Sex haben soll.«

Layla hielt in der Bewegung an der Kaffeemaschine inne und drehte sich um. »Was?«

»Ich weiß, total übertrieben. Aber anscheinend hat es geklappt, denn ich bin heute all meine Kontakte durchgegangen. Alle, wirklich. Keine von ihnen hat Zeit oder Lust oder … ich weiß teilweise nicht mal, warum sie abgesagt haben.« Tyler raufte sich die Haare und wirkte genauso verzweifelt wie ich noch vor wenigen Minuten.

Layla biss sich auf die Lippe, was jedoch nicht verhindern konnte, dass ihr breites Grinsen sich Bahn brach. Tyler schien jedoch keinen Blick dafür zu haben, denn er schüttelte bloß den Kopf. »Ich bin geliefert. Was mache ich denn jetzt?«

»Ty, das ist wie lange her? Vier Stunden? Fünf? Komm mal runter.«

»Wie soll ich runterkommen, wenn bei mir nie wieder was hochkommen kann? Das ist mir noch nie passiert. Und dann hab ich mir vor Lily noch komplett die Blöße gegeben.« Er seufzte. »Oh, Mann. Am Ende werde ich richtig frustriert und buche vor lauter Verzweiflung einen dieser seltsamen Dating-Coaches, die man ständig auf TikTok sieht.«

»Wirst du nicht, vorher schubse ich dich vor einen Bus«, sagte Layla trocken und stellte die zwei Tassen Espresso vor uns ab. »Diese Typen sind ein frauenverachtender Fluch.«

»Danke«, gab Ty zurück. »Für den Kaffee und die versprochene Hilfe, sollte es jemals so weit kommen.«

»Du hast sie nicht mehr alle«, meinte ich kopfschüttelnd und trank einen Schluck des noch viel zu heißen Espressos. Doch das Koffein konnte ich nach dem Morgen wirklich gebrauchen.

»Na ja, das war auf jeden Fall mein Tag bisher. Wieso war deiner nicht rosig?«

Ich seufzte und gab Tyler eine Zusammenfassung der Wohnungsbesichtigungen. »Auf jeden Fall war eine Besichtigung schlimmer als die andere, und am Montag werde ich mich dennoch erneut ins Getümmel stürzen und so tun, als ob schimmlige, überteuerte Einraumwohnungen der Traum einer jeden Mieterin sind«, beendete ich meinen Bericht.

»Du weißt, dass du jederzeit bei uns unterkommen kannst, bis du etwas gefunden hast. Das ist keine Dauerlösung, aber nimmt den Druck etwas raus. Du kannst ja nicht ewig das Hotel zahlen.«

»Das ist lieb, danke, aber nicht nötig.« Ich schenkte Ty ein Lächeln, das hoffentlich zuversichtlicher aussah, als ich mich fühlte. Es war unfassbar nett von den dreien, dass sie mich so unterstützten. Aber ich wollte ihnen nicht zur Last fallen. Sie hatten mir nach der Trennung von Jared schon genug geholfen. Ich war erwachsen, ich konnte meine Probleme lösen.

»Hm, wenn du meinst. Aber versprich, dass du Bescheid sagst, wenn du deine Meinung änderst, ja? Das Angebot läuft nicht ab.«

»Danke.«

Filigrane Finger schoben sich in mein Sichtfeld, als Layla nach der Untertasse meines Espressos griff.

»Ich will mich nicht einmischen, aber nach Tylers Sex-Misserfolgen war es schwer, nicht weiter zuzuhören.« Sie warf Tyler einen vielsagenden Blick zu, der jedoch unbeeindruckt mit den Schultern zuckte. »Über der Bar befinden sich einige Wohnungen, von denen eine seit einer Weile leer steht. Eigentlich wollte ich sie erst ein wenig aufpolieren, bevor ich sie zur Miete anbiete. Aber theoretisch könntest du sie dir anschauen.«

Überrascht sah ich Layla an. »Dir gehört das gesamte Gebäude? Ich dachte, nur die Bar?«

»Nein, ich hab das Haus geerbt. Sonst wär ich hier nie rangekommen, das war einfach Glück.« Sie verzog kurz das Gesicht. »Also … Glück im Unglück, meine Großmutter hat es mir vermacht. Ich kam erst kurz vor ihrem Tod nach New York und kannte sie nicht besonders gut. Wie dem auch sei … Wenn du magst, zeig ich dir die Wohnung mal?«

»Total gern! Wann passt es dir denn? Ich kann immer!«

Mein Enthusiasmus brachte Layla zum Lachen. Mein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer, und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, lag das nur zum Teil an der Aussicht auf eine neue Wohnung.

»Wir können gern jetzt kurz hochgehen.« Sie sah zu Tyler. »Kannst du so lange die Theke überwachen und raufschreien, wenn Kundschaft kommt? Bedien dich auch gern an den Getränken.«

»Na klar, ich schmeiß den Laden schon.« Tyler sah sich in dem Lokal um und bekam plötzlich große Augen. »Oh mein Gott!«

Fragend scannte ich die Bar, erkannte jedoch nicht, was ihn so überraschte.

»Evies Kotzpflanze, schau mal!«

Er deutete in die Ecke, in der wir an unserem ersten Abend hier gesessen hatten, und tatsächlich: Die Pflanze, in die Evie ihre Sorgen und ihren Überschuss an Alkohol erbrochen hatte, war ergrünt.

»Audrey geht es wieder gut. Das schick ich den anderen, das glauben sie mir nie!«

»Audrey?«, fragte Layla, doch er war bereits mit gezücktem Handy aufgesprungen und zu der Pflanze gelaufen.

»Wir haben sie an dem Abend getauft«, erwiderte ich stattdessen.

»Ihr seid ein sehr … spezieller Haufen.« Layla schmunzelte, stellte jedoch keine weiteren Fragen und bedeutete mir, ihr zu folgen. Ich tat genau das, jedoch nicht, ohne mich noch einmal zu Tyler umzudrehen. Ich konnte Layla nicht widersprechen, doch dieser Haufen seltsamer Menschen hatte mein Leben auf die bestmögliche Art und Weise beeinflusst. Genau wie die Pflanze, bei der wir bereits jegliche Hoffnung hatten fahren lassen, war auch ich wieder aufgeblüht.

Mit einem Lächeln folgte ich Layla, die in einer hinteren Ecke der Bar kurz stehen blieb und eine dunkelrote Tür entriegelte, von der aus schmale Stufen nach oben zu einer weiteren Tür führten.

»Die Wohnung wurde ursprünglich mal als Gästezimmer verwendet, daher der Eingang über die Kneipe. Der ist aber immer verriegelt, du musst dir also keine Gedanken machen, dass jemand plötzlich hereinplatzt. Die Frau, die bis vor Kurzem hier gewohnt hat, hat die Tür einfach mit Bücherregalen versteckt – brandschutztechnisch nicht die beste Idee, aber wenn es dich stört, könntest du das genauso machen. Es gibt einen weiteren Eingang über den Hinterhof, den du nutzen kannst.«

»Notiert«, sagte ich bloß und wartete voller Anspannung, bis Layla die Tür endlich geöffnet hatte und mich ins Innere führte.

»Da wären wir«, sagte sie, und ich trat hinter ihr in die Räumlichkeiten. Wir befanden uns in einem dunklen, länglichen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Also schon einmal keine Einraumwohnung.

»Sind Badezimmer und Küche getrennte Räume?«, rutschte mir die Frage raus, bevor ich sie zurückhalten konnte.

Layla blickte mich irritiert an und lachte. »Süße, in was für Wohnungen warst du denn vorher?« Sie ging voraus und drückte eine Tür auf. Sofort flutete Licht von außen den schmalen Gang. »Hier wäre die Küche und hier …« Sie drehte sich um und stieß die Tür zum gegenüberliegenden Raum auf. »Hier ist das Bad. Leider ohne Fenster, aber dafür sind die anderen Räume alle gut ausgeleuchtet.«

»Das ist gar kein Thema!«, sagte ich schnell. Die Dusche befand sich im Bad und sah noch dazu sauber aus. Damit war diese Wohnung schon tausendmal besser als alles, was ich heute angesehen hatte. Von der Küche aus blickte ich auf den Hinterhof, in dem gerade ein Vater Ball mit seiner kleinen Tochter spielte. Die Wohnung war zu niedrig gelegen, um etwas außer den gegenüberliegenden Wohnungen sehen zu können, aber durch den großen Innenhof drang dennoch viel Sonnenlicht nach innen. Außerdem war die Lage ein Pluspunkt, da ich in kürzester Zeit zum Central Park gelaufen war. Für mich als Joggerin ein absoluter Traum.

»Schau dich ruhig mal in Ruhe um. Wie gesagt, eigentlich wollte ich noch ein paar Arbeiten machen.« Layla klopfte an die Wand im Flur. »Es müsste dringend gestrichen werden, die Tür zum Schlafzimmer muss ich austauschen, die ist vollkommen hinüber, und die Heizungen wollte ich erneuern. Jetzt im Sommer nicht so tragisch, aber bevor der Winter anrückt, will ich das erledigt haben. Es war einfach zu viel zu tun bisher, aber du wärst der nötige Tritt in den Hintern, das endlich anzugehen.«

Ich ging den Flur entlang und betrat das geräumige Zimmer an dessen Ende. Es gab gleich mehrere große Fenster, was für warmes Licht im gesamten Raum sorgte. Der Boden war aus dunklem Holz und könnte, mit einigen Pflanzen und einem Teppich, zu einer gemütlichen Atmosphäre beitragen. In Gedanken nahm ich Maß und stellte zufrieden fest, dass auch meine Eckcouch, die noch bei Jared stand, problemlos in das Zimmer passen müsste.

»Wie viel würde die Wohnung denn kosten?«, stellte ich die Frage, vor deren Antwort mir bereits graute. Doch besser ich klärte es direkt, bevor ich mich zu genau umschaute, mich verliebte und dann eine herbe Enttäuschung erlebte, so wie beim letzten Mal.

»Zweitausendeinhundert Dollar im Monat.«

»Nur?« Ich sah zurück zum Flur. »Da hinten war noch ein Schlafzimmer, richtig? Ich meine, ich beschwer mich nicht, aber ich hab mir heute Studios angeguckt, die nicht einmal den Namen Einzimmerwohnung verdient hätten und teurer waren.«

»Mein Haus, meine Preise.«

»Ich nehm sie.«

»Magst du dir nicht erst einmal das Schlafzimmer anschauen?«

»Selbst wenn ich im Stehen schlafen müsste: Ich nehm sie. Hast du dir in letzter Zeit einmal Wohnungen in dieser Stadt angeschaut? Das hier ist ein Sechser im Lotto.«

Layla lachte bloß, legte eine Hand in meinen Rücken und schob mich in Richtung des letzten Zimmers, das ich noch nicht besichtigt hatte. Doch meine Entscheidung stand. Ich würde einziehen. Ich würde meine restlichen Sachen bei Jared packen, endlich aus dem Hotel auschecken und mich hier einrichten, diese Zimmer zu einem Zuhause machen. Dass Layla, deren Hand nach wie vor meinen Rücken berührte, somit nur wenige Schritte von mir entfernt wäre, war ein weiterer Vorteil – auch wenn ich mir diesen noch nicht ganz eingestehen wollte.

4

EVIE

Montag, 3. Juni

»… dieser Typ ist echt süß. Wir waren jetzt zweimal aus, und, Gott, kann der küssen, Evie! Wir sind nicht ein Mal mit den Zähnen aufeinandergeprallt.«

Ich wechselte das Handy von einem Ohr zum anderen, öffnete die Tür zu unserem Apartmentkomplex und hielt inne. Draußen regnete es in Strömen. Dazu wehte ein recht kalter Wind. So eine Scheiße. War das gemeldet? »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Oh, sorry. Ich wollte nicht mit ’nem komischen Thema um die Ecke kommen«, sagte Christin.

»Was?«

»Na ja, wegen dem Geknutsche und so. Ich halt mich zurück. Versprochen.«

»Das hab ich gesagt, weil es hier Hunde und Katzen regnet. Du kannst mir immer von deinen Eroberungen erzählen, das weißt du doch.« Ich stellte die Kameratasche, die ich auf der Schulter trug, neben mir im Haus...

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