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Letzte Halbzeit

Ausgerechnet vor dem entscheidenden Torschuss stirbt ein Stürmer im DFB-Pokalspiel im ausverkauften Stadion. Kommissar Hummel war gerade mit dem Sohn seiner neuen Angebeteten Karla in der Allianz-Arena, da wurde er schon wieder unfreiwillig Zeuge eines spontanen Todesfalls. Star-Fußballer Duvic brach vor der Südkurve zusammen: tot. Kurz darauf touchiert ein aufstrebender Fußballstar die Betonplatten unter dem Olympiaturm nach einem Besuch im Drehrestaurant.
In beiden Fällen gibt es erhebliche Zweifel hinsichtlich einer natürlichen Todesursache. Also viel zu tun für Maders Team, das derzeit außerdem einen Neuzugang zu verkraften hat. Dosi findet durchaus Gefallen an dem herben Marlon, der von der Sitte in die Mordkommission gewechselt hat, Hummel und Zankl hingegen bleiben auf Distanz.
Es gibt auch noch sehr amüsantes neues Personal: Zwei dubiose Bestatter kommen auf ganz eigene Ideen, als ihre Firma den Auftrag bekommt, diese beiden Bestattungen zu übernehmen. Und schließlich taucht noch ein von Interpol gesuchter Waffenhändler auf der internationalen Münchner Konferenz zur Sicherheitslage auf dem Balkan auf und sorgt für Turbulenzen.


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Aus der Serie: Chefinspektor Mader, Hummel & Co.
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907083
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Jojo & die 06er

Pressing, Pressing, Doppelpass!

Hey, ihr seid’s ned hier zum Spaß!

Geh halt vor, geh halt vor,

hinten ist nur die Eins im Tor.

Abwehr, Abwehr, bist du blöd,

siehst du denn den Zehner ned?

Pressing, Pressing, Doppelpass!

Hey, ihr seid’s ned hier zum Spaß!

Schiri, Foul! Ja, bist du blind?

Du Depp, das sieht doch jedes Kind,

Lass das Spiel nur weiterlaufen,

nächstes Mal werd ich dich kaufen.

Was sind denn so die Kosten

für ’nen Sieg bei dir, Vollpfosten?

Pressing, Pressing, Doppelpass!

Hey, ihr seid’s ned hier zum Spaß!

Jetzt lauft’s halt endlich mal, ihr Luschen!

Wer ned rennt, geht gleich zum Duschen!

Pressing, Pressing, Doppelpass!

Hey, ihr seid’s ned hier zum Spaß!

Letzte Halbzeit ist nach Isartod, Die schöne Münchnerin und Heiligenblut der vierte Kriminalroman rund um das Team von Kriminalrat Mader bei der Münchner Mordkommission.

Karl-Maria Mader: Chef der Mordkommission I in München, Mitte fünfzig, Dackelbesitzer, wohnhaft im betonierten Neuperlach, liebt Frankreich und Catherine Deneuve (Fernbeziehung, einseitig).

Soulman Klaus Hummel mag Musik und Krimis, fantasievoller Kriminalbeamter, unsterblich verliebt in die Kneipenwirtin Beate. Mit der groovt es im Moment leider gar nicht, sodass Hummel viel Zeit hat, über sich, seine Zukunft, die Liebe und seine Karriere als Krimiautor nachzudenken.

Frank Zankl ermittelt wie immer mit einer Prise zu viel Testosteron. Ausgleich für zu Hause. Da hat seine Frau Jasmin die Hosen an. Und Tochter Clarissa natürlich.

Dosi Roßmeier ist die niederbayerische Seele der Münchner Kripo: loses Mundwerk, fintenreich. Klein, stark, rothaarig – »das Sams« (Zitat Zankl). Ihr Freund Fränki will sie unbedingt heiraten. Sie weiß noch nicht, ob sie das gut findet.

Rechtsmedizinerin Dr. Gesine Fleischer kümmert sich hingebungsvoll um die Toten – in jeder Verfassung.

Dezernatsleiter Dr. Günther bewegt sich gerne in der Münchner Bussigesellschaft. Er mag Lyrikabende, gutes Essen, Champagner. Stets besorgt um das gute Ansehen der Polizei. Manchmal kümmert er sich auch um die eigenen Leute. Will Mader immer noch nach Regensburg wegloben.

Gerlinde von Kaltern, Hummels Literaturagentin, dreht etwas am Rad. Endlich schickt Hummel ihr neue Texte, aber keineswegs das, was sie will oder der Markt braucht. Sie zweifelt an Hummels geistiger Verfassung.

Bajazzo ist und bleibt der klügste Dackel Münchens. Teilt mit Mader so manche Ansicht und auch Brühwürfel. Behält den Überblick und zieht die Fäden im Hintergrund.

POKAL!

»Die Spieler kommen aus den Kabinen. Was wird noch geboten nach dieser rustikalen ersten Halbzeit in Giesing? DFB-Pokal! 1860 gegen Aichach 05. Ja, ein kleines Wunder: Der Regionalligist Aichach 05 im legendären Stadion an der Grünwalder Straße. Aichach hat kurzfristig auf sein Heimrecht verzichtet: Fliegerbombe unter dem Rasen. Das hat das altehrwürdige Stadion an der Grünwalder Straße vor ein paar Jahren erlebt. 2012 waren auch hier Hinterlassenschaften aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden worden. Nach schlecht besuchten Jahren in der Allianz Arena sorgen die Sechzger in der alten Heimat Giesing für ausverkaufte Spiele. Auch heute natürlich, denn DFB-Pokal steht auch nicht jede Woche auf dem Programm. Der Termin ist perfekt: ein wunderbarer Augusttag, 18 000 Zuschauer, Riesenstimmung. Im Moment allerdings vor allem aufseiten der Gäste. Denn Aichach hat die erste Halbzeit dominiert. Nicht schön, aber wirkungsvoll. Es steht 1:0 für Aichach durch Lucijan Djuvic. Der robuste Stürmer von 05 ist bisher der auffälligste Mann auf dem Platz. Großes Laufpensum, Rieseneinsatz.

Jetzt Anstoß Sechzig. Lex zu Mölders. Der spielt zurück in die Abwehr. Buchta leitet zu Dressel. Der legt quer zu Türk. Dazwischen ein Spieler von Aichach. Weg ist der Ball: Tschinga, der kleine Koreaner hat ihn. Wieselflink. Zieht ab. Nein, die Kugel landet bei Mölders. Der schiebt den Ball lässig zu Lex durch. Tikitaka vom Feinsten. Schön, dass die Sechzger so lange den Ball halten. Aber wozu? Der Strafraum der 05er ist meilenweit entfernt. Jetzt tritt Mölders an. Gute Aktion. Geht doch! Zurück zu Lex. Der überlegt lange, zu lange, erste Pfiffe. Was wird das? Das ist ein K.-o.-Spiel! Wenn Sechzig das Ding nicht klarmacht, ist schon in der ersten Runde Ende Geländer.

Präzises Zuspiel auf Willsch. Der lässt zwei Spieler einfach stehen, durchbricht die löcherige Abwehr von 05, wuchtiger Schuss aus 15 Metern, rechts oben, Parade Jentsch, der die Fäuste gerade noch hochbringt und den Ball ins Toraus befördert. Endlich Stimmung bei den Münchnern. Ecke Sechzig. Lex legt sich den Ball zurecht. Gerangel im Strafraum von 05. Warum deckt niemand Mölders? Kurz ausgeführte Ecke auf Mölders, der gibt die Kugel an Karger, Doppelpass. Doch jetzt geht Djuvic dazwischen. Was hat der groß gewachsene Mittelstürmer von 05 eigentlich im eigenen Strafraum verloren? Sich den Ball holen. Was sonst! Djuvic fliegt über den Rasen, dribbelt Lex und Karger aus, Willsch versucht, ihn zu stoppen. Wahnsinn! Getunnelt. Djuvic stürmt weiter, Karger und Wein bauen sich vor ihm auf. Warum geht kein 05er mit nach vorn?! Was für ein Konter! Djuvic schlägt einen Haken, zwei, der Ball verspringt ihm, Hiller weit draußen, jetzt spielt Djuvic auf Tschinga ab, die Kugel kommt postwendend zurück, zu hoch, aber Djuvic springt, der Ball perlt ihm von der Brust auf den linken Fuß, er legt ihn sich vor, sein rechter Fuß schnellt … Djuvic stürzt. Die Kugel kullert in die Arme von Hiller. Djuvic … bleibt liegen! Was ist da los?«

WEISSES LICHT

Lucijan Djuvic – oder Lucky, wie ihn seine Freunde nennen – liegt einfach da. Hört nicht den ganzen Lärm, die Pfiffe, die Schreie. Irgendwer tippt ihm an die Schulter. Jetzt ziehen ihn zwei Männer hoch. Mitspieler? Gegner? Er weiß es nicht, kapiert es nicht. Alles ganz weit weg. Sie legen ihn wieder ab. Die Pfiffe haben aufgehört, das Schreien auch. »Lucky, was ist los?«, vernimmt Djuvic eine Stimme. Vertraut. Sein Trainer. Nichts, würde er gerne antworten. Wenn er könnte. Er spürt weder die Kälte des feuchten Rasens noch die Spätnachmittagshitze des Augusttags. Keine Schmerzen. Gar nichts. Und jetzt kommt tatsächlich das Nichts. Aber nicht schwarz, sondern weiß, gleißendes Licht. Erstaunlich. Kein Ton mehr. Stille.

GAME OVER

»Schau da nicht hin, Paul!«, sagt Hummel.

Der Zwölfjährige, der neben ihm sitzt, sieht natürlich genau zu der Menschentraube auf dem Spielfeld. Wohin denn sonst?

»Was hat der Typ?«, fragt Paul.

»Vermutlich Kreislaufkollaps. Die Hitze.«

Es ist schon ein bisschen mehr, wie der Sanitäter auf dem Platz feststellt. »Herzinfarkt«, meint er und hebt die Augenlider des Fußballers, um mit seiner kleinen Stabtaschenlampe hineinzuleuchten.

»Schmarrn!«, giftet der Trainer. »Der Lucky ist topfit!«

»Topfit schaut anders aus. Der ist tot.«

»Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!« Der Mannschaftsarzt von 1860 drängt sich durch die Spieler des FC Aichach. Besieht sich Djuvics Augen, betastet Stirn und Brust, dann öffnet er den Mund des Toten. Weißer Schaum.

Im Stadion ist es totenstill. Es vergeht eine Ewigkeit, bis die Ansage des Stadionsprechers kommt. Er informiert die Zuschauer über den tragischen Todesfall und dass das Spiel abgebrochen und nachgeholt wird. Keine Proteste. Kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass man so was live sieht.

Hummel und Paul steigen die Tribüne runter zum Ausgang.

»Wow, mein erster Toter!«, sagt Paul. »Klaus, hast du schon mal einen Toten gesehen?«

»Äh, ja.«

»Wann?«

»Hat dir Karla denn nicht gesagt, was ich arbeite?«

»Doch. Du bist Polizist.«

»Na eben.«

»Du regelst den Verkehr, kommst, wenn die Nachbarn sich streiten.«

»Nicht ganz. Nur wenn nach dem Streit einer tot ist.«

»Echt? Passiert das oft?«

»Manchmal.«

»Cool.«

»Das würd ich jetzt so nicht sagen.«

»Bist du bei der Mordkommission?«

»So ist es.«

»Cool.«

»Wenn du meinst.«

»Klaus, ich hab Hunger. Ich will ’ne Bratwurst. Und ’nen Sechzger-Schal will ich auch noch.«

»Ich denk, du bist Bayern-Fan?«

»Sechzig geht auch. Notfalls. Aber für Bayern kriegst du ja keine Karten.«

»Hey, das heute war auch nicht gerade einfach. Das ist DFB-Pokal!«

»Ja, Sechzig gegen den FC Aichach. Elend trifft Elend.«

Hummel muss grinsen. Trotz des tragischen Zwischenfalls läuft es gar nicht schlecht mit seinem neuen Ziehsohn.

PAMPERS

Zankl flucht vor dem Fernseher. Jetzt hat er seit Menschengedenken seinen ersten freien Tag ohne Familie – Jasmin ist mit Clarissa bei ihren Eltern –, sein Plan war, den Nachmittag gemütlich mit einer Flasche Bier vor der Glotze zu verbringen, da wird das Pokalspiel abgebrochen! Nicht, dass er Fan von 1860 wäre – Bayern, was sonst! –, aber ob sich die von den Burschen aus Aichach aus dem Pokal schmeißen lassen, das wäre schon spannend geworden. So weit ist es nicht gekommen, noch nicht. Macht der Stürmer von Aichach mitten im Spiel die Grätsche. Tragisch. »Tja, Leistungssport ist gefährlich«, murmelt Zankl und trinkt das Bier aus. Er rülpst laut. Ist ja niemand hier, um ihn zurechtzuweisen. Was soll er mit dem angerissenen Abend machen? Zankl zappt lustlos durch die Programme. Als er eine Pampers-Werbung erwischt, schaltet er aus.

VIERUNDZWANZIG

Mader und Dosi stecken kurz vor Fröttmaning im Stau. Sie sind auf dem Rückweg von einer Fortbildung in Nürnberg. Neue Erkenntnisse in der DNA-Analyse. Dazu hat Günther sie verdonnert. Fortbildung ist momentan Günthers großes Thema. Warum hat er nicht Gesine und ihre Leute hingeschickt?, denkt Mader. Na ja, vermutlich weil die das schon alles wissen. Ist ja auch ein Kurs für Ermittlungsbeamte. Und eigentlich war es ganz interessant. Ein Wissenschaftsteam arbeitet mit Fördermitteln des Innenministeriums an neuen Analysemethoden. Viel genauer und schneller als die bisherigen Verfahren. Lauter hoch engagierte Wissenschaftler. Nerds. Oder Autisten. Wenn er an diesen Professor Breitenbach denkt – so ein Faun! Aber speziell die Entwicklung eines mobilen DNA-Blitztests zum Einsatz vor Ort ist schon gut. Datenabgleich via Internet. Eine große Chance für entlegene Tatorte und ländliche Bereiche, weil man Spuren viel schneller auswerten kann und nicht erst tagelang auf Laborergebnisse warten muss.

Mader sieht zu Dosi, die am Steuer des Dienst-BMWs sitzt. Er denkt an den gestrigen Abend und grinst. Dosi hat im Gasthaus Zum Hirschen sage und schreibe vierundzwanzig Nürnberger Rostbratwürste verdrückt. Vierundzwanzig! »Des is ja nur a kleiner Finger!«, hat sie gesagt, nachdem sie das erste Würstchen mit der Gabel aufgespießt hatte. Womit sie durchaus recht hatte. Aber vierundzwanzig! Mader hat gerade mal zwölf geschafft. Und Dosi hatte dazu noch eine Riesenladung Sauerkraut und zwei Semmeln verdrückt. Respekt!

»Was ist da los?«, flucht Dosi über den stockenden Verkehr.

»Unfall«, sagt Mader und grinst.

Jetzt sieht Dosi den Grund für Maders Heiterkeit: Ein Wohnmobil ist mit einem Dixi-Klo-Laster zusammengekracht. »Ach du Scheiße«, murmelt sie.

EWIGKEIT

»Warum nehmen wir nicht die Tram?«, mosert Paul.

»Weil die zu voll ist. Wir gehen zu Fuß.«

»Das dauert eine Ewigkeit.«

Hummel denkt an den Typen, der ihm bei der Hinfahrt in der überfüllten Tram fast auf die Schuhe gekotzt hat und er gerade noch zur Seite springen konnte. Den sauren Geruch und die Achselschweißschwaden der Fußballfans in ihren Plastiktrikots hat er noch lebhaft in der Nase. So viel Nähe ist er als Radfahrer nicht gewohnt.

»Jetzt komm, Paul. Leg einen Zahn zu.«

»Wir stoppen aber schon noch bei der Eisdiele!«

BESCHISSEN

Zlatan ist beschissen gelaunt. Heute Morgen hat er festgestellt, dass sein Auto geknackt wurde. Die Türschlösser waren okay. Aber was heißt das schon. Diese Funkschlösser lassen sich einfach austricksen, wenn man ein bisschen Ahnung von Technik hat. Jemand war an seinen Sachen. Die Kisten im Heck seines Minivans standen anders. Denn er hat seine ganz eigene Ordnung. Aber es hat nichts gefehlt. Er ärgert sich über sich selbst – er kann die Vitaminpräparate nicht einfach über Nacht im Auto lassen. Sind einen Haufen Kohle wert. Zumindest für die, die sich damit auskennen. Nicht auszudenken, wenn irgendwelche Freaks sich das Zeug reinpfeifen und nicht wissen, wie man es dosiert. Passiert ihm jedenfalls nicht noch mal, dass er die Mikronährstoffe im Wagen lässt.

Generell ein Scheißtag heute. Er ist sauer, weil er nicht ins Stadion konnte, sondern das Lager in der Boutique seiner Frau umräumen musste. Wasserschaden. Ausgerechnet heute! Bei dem wichtigen Pokalspiel. Das bislang größte Spiel seines treuen Kunden Lucky. Aber egal, manchmal kommt einfach alles zusammen. Wenigstens ist kein Fallrohr kaputtgegangen, das wäre jetzt richtig Scheiße. Und dann hat Sabrina nicht mal ein Radio im Laden. Dreck! Bis zur Halbzeitpause hat er immer wieder sein Smartphone gecheckt. Aichach schlug sich gut. 1:0. Lucky hat einen guten Tag. Topform. Auch sein Verdienst, ha! Dann hat er vor lauter Arbeit das Spiel ganz vergessen und weiß noch gar nicht, dass die zweite Halbzeit vorzeitig beendet wurde. Zlatan grunzt. So, das Lager ist umgeräumt! Das defekte Wasserrohr muss sich der Klempner ansehen. Hoffentlich muss nicht die ganze Wand aufgestemmt werden.

Jetzt sucht er den Karton mit seiner Bestellung. Bei der Räumerei sind die Sachen ein bisschen durcheinandergeraten. Na ja, muss eh alles ausgepackt werden. Er lässt sein Springmesser aufschnappen und knöpft sich den ersten Karton vor. Mit einem schnellen Schnitt teilt er das Klebeband der Länge nach und greift hinein. Seine Hand kommt mit neonfarbenen Bikinioberteilen wieder heraus. Schaumstoffgefüllte Körbchen in Türkis, Orange und Zitrone. Farben der Saison. Wer kauft jetzt im August noch Bikinis? Aber Sabrina führt das Geschäft. »Superschnäppchen«, hat sie gesagt. Zlatan schüttelt den Kopf und pfeffert die Stoffbonbons wieder in den Karton. Nach und nach öffnet er die weiteren Kartons. Im vorletzten findet er, wonach er sucht. Fußballtrikots in Rotblau. Sportfreunde Obergiesing. Er zählt sie durch und baut auf dem Boden ein Männchen, legt alle Einzelteile aufeinander: Trikot, Hose, Stutzen.

Plötzlich geht die Ladentür auf. Zlatan zuckt zusammen und greift zum Messer.

»Was wird das?!«, pfeift ihn seine Frau an und deutet auf die offenen Kartons.

Er lässt das Messer sinken.

»Zlatan, was macht die Kleidung da auf dem Boden?«

»Äh …« Er deutet hilflos auf die Trikots. »Gerade gekommen. Trikots.«

»Du und dein blöder Fußball.«

»Guckst du, Sabrina!« Stolz hält er das Trikot mit der 10 hoch. Auf der Brust steht in großen Lettern: Sabrina’s Buttique. Er strahlt. »Sponsoring. Wie Profi-Verein.«

»Profi? Dein Sponsoring ist der letzte Mist.«

»Spinnst du?«

»Das ist Müll.«

»Wieso Müll?«

»Weil man ›Boutique‹ nicht so schreibt.«

Zlatan sieht sie erstaunt an, dann das Trikot, stürmt aus dem Laden auf die Corneliusstraße raus und starrt nach oben auf das Ladenschild. Mit offenem Mund. Er kommt wieder in den Laden und zischt: »Goran ist so ein Trottel! Macht er mir neu! Was für ein Idiot! Kann keine Deutsch!«

»Zlatan, jetzt komm endlich, die Kinder warten im Auto. Die wollen heim!«

GUT DEFINIERT

Gesine gähnt herzhaft, als sie am Morgen ihr Reich betritt. Heute mal was Neues, ein Fußballer. Der Mannschaftsarzt von 1860 hat die Polizei verständigt. Verdacht auf Vergiftung eines Spielers. Ihre Assistenten haben den Mann schon für sie vorbereitet. Gesine zieht das Tuch weg und pfeift durch die Zähne. So einen durchtrainierten Mann hatte sie noch nicht auf dem Tisch. Und der hier ist nicht mal Profifußballer. Ausgesprochen gut definierte Muskeln. Oberschenkel dick wie Baumstämme, riesiger Brustkasten. Darauf die kroatische Fahne in A3 als Tattoo. Wegen des dichten Brustpelzes nicht ganz farbecht. Auf dem Penis noch mal das gleiche Tattoo in klein. Gesine runzelt die Stirn. Na ja, wer’s mag,denkt sie. Sie betrachtet sein Gesicht. Ein bisschen holzschnittartig. Zäh trotz junger Jahre, markante Nase und eng zusammenstehende Augen. Insgesamt eine archaische Erscheinung, über und über behaart. »Okay, Süßer«, sagt sie und lässt die Latexhandschuhe über ihre Handgelenke schnalzen. »Dann lernen wir uns mal näher kennen.«

COCKTAIL

Am Nachmittag gewährt Gesine ihren Kollegen Audienz, gibt einen kurzen Überblick zur Befindlichkeit des Fußballers: »Zahlreiche Blessuren. Hämatome am Jochbein, eine jüngere, schlecht verheilte Platzwunde am Hinterkopf. Ein Schneidezahn abgesplittert. Interessant vor allem das Innenleben, die Laborwerte: Dianabol, Nandrolon, Clenbuterol, Kortison, ein paar Amphetamine, Captagon, Ephedrin. Ein wilder Cocktail aus Anabolika und anderen Stimulanzien. Entzündungshemmend, gut fürs Muskelwachstum, erhöhte Risikobereitschaft. Keine Ahnung, wie das alles zusammen wirkt.«

»Tödlich«, sagt Mader.

»Jedenfalls war der Typ bis Oberkante voll gedopt.« Gesine winkt ihr Publikum an den Bildschirm ihres Laptops. »Das hier ist ein Querschnitt durch die Leber. Weitgehend zerstört durch langen Missbrauch. Der Typ hat die Mittel schon sehr lange eingenommen. Sagt auch sein Blutbild.«

»Geht das einfach so?«, fragt Dosi, »dauerhaft dopen, ohne dass einer was merkt?«

Zankl zuckt mit den Achseln. »Die Wahrscheinlichkeit, dass in der Regionalliga kontrolliert wird, ist wohl eher gering.«

»Der hat das seit Jahr und Tag gemacht«, bekräftigt Gesine.

»Aber wenn er schon so lange dopt, weiß er doch vermutlich, wie es geht, also, wie man richtig dosiert. Oder?«

»Ja, wahrscheinlich. Aktuell hat er allerdings eine geradezu unglaubliche Mischung starker Mittel intus. Die bringt Körper und Kreislauf fast zwangsläufig zum Kollabieren. Im Anbetracht des Spielverlaufs: kurzes, extremes Leistungshoch, dann Exitus.«

»Dann könnte es auch Mord sein«, sagt Mader. »Freiwillig wird er sich das kaum gemixt haben. Wir haben die Trinkflasche? Irgendwelche Spuren?«

Hummel schüttelt den Kopf. »Die Flaschen wurden nach dem Spielabbruch gereinigt. Ich hab mit dem Zeugwart telefoniert.«

Mader seufzt. »Wo kriegt man diese Dopingmittel?«

Gesine zuckt mit den Achseln. »Ich schätze mal vor allem im Internet. Zum Teil sind die Sachen nicht mal verboten, nur ihr Einsatz im Wettkampfsport ist nicht legal. Wenn man Doping langfristig betreiben will, braucht man allerdings jemanden, der sich mit der richtigen Dosierung auskennt. Zum Beispiel einen Arzt. Wobei ich hier skeptisch bin. Wie gesagt – das ist eine explosive Mischung. Die Laborwerte sprechen gegen jeden ärztlichen Rat.«

»Vielleicht hat dem Djuvic das in der Pause einer von der gegnerischen Mannschaft untergejubelt?«, schlägt Hummel vor. »Damit jeder sieht, dass er gedopt ist und vom Platz gestellt wird. Der war schon extrem auffällig.«

Zankl lacht. »Die Sechzger? Um in Überzahl zu spielen und nicht gleich aus dem Pokal zu fliegen? Das glaub ich nicht.«

Hummel überlegt weiter: »Das Ganze ist vor einer großen Zuschauermenge passiert. Achtzehntausend Zuschauer im Stadion und dann noch die Live-Übertragung im Fernsehen. Ein öffentlicher Tod. Wenn den Djuvic wirklich jemand mit einer Überdosis von dem Zeug vergiftet hat, dann hat er in Kauf genommen, dass Djuvic öffentlich stirbt. Warum? Rache? Oder eine Warnung? Aber von wem? Und an wen gerichtet?«

»Meinst du echt?«, sagt Dosi skeptisch.

»Ich überlege nur laut.«

»Ja, Leute, interessante Gedanken«, schließt Mader die Runde. »An die Arbeit. Kriegt raus, was der Djuvic für ein Typ war, ob er Feinde hatte, Schulden, der ganze Kram.«

BEZIEHUNGSSTATUS

»Sag mal, Hummel«, meint Dosi nach Dienstschluss auf der Straße, »hab ich dich gestern auf der Heimfahrt mit Mader in Giesing auf der Tegernseer Landstraße gesehen, bei der Eisdiele, mit einem Jungen?«

»Kann sein. Ich war mit Paul unterwegs.«

»Wer ist Paul?«

»Der Sohn meiner Freundin.«

»Beate hat ein Kind?«

»Nein. Das mit Beate ist aus.«

»Wie, aus?«

»Aus, eben. Finito.«

»Warum das denn?«

»Lange Geschichte. Ach, gar nicht mal so lang. Der Testfahrer ist wieder am Start. Ihr Ex ist nicht mehr ihr Ex. Aber ich will jetzt nicht darüber reden.«

»Okay. Paul also. Und der hat eine Mama?«

»Karla.«

»Sauber. Du machst Sachen. Lässt nix anbrennen.« Sie würde gern mehr wissen, merkt aber, dass Hummel nicht mehr dazu sagen will, und verabschiedet sich.

Nein, über seinen neuen Beziehungsstatus will Hummel im Moment keine Details erzählen. Ist alles noch so frisch. Fragil. Hummel sperrt sein Fahrrad auf und schiebt es durch die Fußgängerzone. Gedankenverloren durchpflügt er die Menschenmassen in der Kaufingerstraße. Karla. Er hat sie im Kabarett kennengelernt, wo er sich von seinen trüben Gedanken ablenken wollte. Die ihn überrollten, nachdem ihm Beate zugunsten ihres Ex den Laufpass gegeben hatte. Wie immer der das hingekriegt hat, was immer er ihr versprochen hat, der Depp.

Marienplatz: Japaner, Italiener, Amis, Sonnenbrillen, Sonnenhüte, Fotoapparate, Eisbecher, Bier und Coca-Cola auf den Bistrotischen. Ein wilder Mix. Und doch so normal. Hummel sieht zu dem wimpelgeschmückten Kiosk, dem lustigen Flattern im Wind: Deutschland, Bayern, FC Bayern, Sechzig, Regenbogenfahne – alles da. Fototapete aus Postkarten mit Dackeln, König Ludwig oder Sisi, Karl Valentin. Jodelalarm!

Hummel geht das Gespräch mit Dosi durch den Kopf. Dass er nix anbrennen lässt. So ein Quatsch! Er ist eine treue Seele, er überstürzt nichts. Aber manchmal passieren Dinge einfach so. Gerade war er noch in Trauer und drohte in Selbstmitleid zu ertrinken, da war alles schon wieder ganz anders. Alles voller Sonnenschein. Karla war im Theater im Fraunhofer neben ihm gesessen. Weil sie beide erst knapp vor Vorstellungsbeginn kamen, saßen sie nebeneinander in der ersten Reihe. Er hatte sich gewundert, warum so gute Plätze noch frei waren, bis er es gleich kapierte: Logisch – Sigi Zimmerschied rekrutiert Nebenrollen oft aus der ersten Reihe des Publikums. Das muss man mögen. Fiel ihm aber erst ein, als es schon zu spät war. Sie mussten jedenfalls beide kleine Nebenrollen einnehmen. Erst war es ihnen schrecklich peinlich, doch dann lachten sie ebenfalls. In der Pause tranken sie zusammen ein Bier und kamen ins Gespräch. Und kurz darauf wusste er, dass er verliebt war. Bing! In die Frau, die im Zuschauerraum des kleinen Theaters neben ihm saß. Lange braune Haare, fein geschnittenes Gesicht, Grübchen, dunkle Augen. Komplett anders als Beate. Nach der Aufführung musste Karla zu seiner Enttäuschung gleich nach Hause, aber er überwand sich und fragte nach ihrer Handynummer. Und sie hat sie ihm gegeben.

Er hat das Tal erreicht. Aus dem großen Secondhand-Kleidermarkt quillt eine Wolke muffiger Luft. Die Uhr am Isartor läuft wie immer links herum. Rauschender Verkehr am Altstadtring.

Nach einem Tag zittrigen Abwartens hat er Karla angerufen. Und sich mit ihr verabredet. Ein unglaublicher Abend. So schön. Wie im Märchen. Und jetzt sind sie ein Paar. So wie Beate und ihr blöder Testfahrer wieder ein Paar sind. Der Typ hat sich einfach in Beates Leben zurückgeschlichen. Hummel schüttelt den Kopf. Die Zeiten, in denen er sich deswegen in seiner dunklen Erdgeschosswohnung vergraben hätte, sind definitiv vorbei. Er staunt immer noch. So schnell kann es gehen: Jetzt hat er nicht nur eine neue Freundin, sondern gleich eine kleine Familie. Denn Karla hat einen zwölfjährigen Sohn: Paul. Natürlich gibt es da im Hintergrund noch einen Papa. Aber der interessiert ihn im Moment nicht. Er konzentriert sich ganz auf sein Glück.

Hummel hat die Museumsbrücke erreicht. Sieht runter in die glitzernde Isar. Sonnenreflexe im Wasser. Unzählbar.

SELTSAMES SPIEL

Die Liebe ist ein seltsames Spiel, denkt Zankl auf dem Heimweg. Wirklich seltsam. So vielen Prämissen unterworfen, die er nicht beeinflussen kann. Nach einem kurzen ertischen Höhenflug mit Jasmin hat er erneut die Sahara erreicht, die er nun mit hängender Zunge barfuß durchquert. Manchmal kommt ihm der Gedanke, dass Jasmin nur an Sex mit ihm interessiert war, um gleich wieder schwanger zu werden. Was ja geklappt hat. Er erinnert sich an die grausame Hormontherapie bei dem Fruchtbarkeits-Doc. Hätte er sich sparen können. Offenbar ist an der Qualität seiner Spermien nichts auszusetzen. Oder haben die Medikamente erst so richtig seinen Turbo gezündet? Vielleicht. Trotzdem – alles ein bisschen schnell. Kaum ist Clarissa aus dem Gröbsten raus, stellt ihn der konfuse Hormonhaushalt seiner schwangeren Frau erneut vor hochkomplexe Anforderungen, erfordert maximale Toleranz und Flexibilität. »Bitte, gerne. Ja, Schatz, überhaupt kein Problem.« Für jede einsame Minute ist er im Moment unendlich dankbar. Er sieht in den Wassernebel des sprudelnden Stachus-Brunnens. Kinder wuseln durch die Fontänen.

PLATIN

Dosi hat sich verlobt. Tatsächlich! Nicht ganz freiwillig. Sie hat nach langem Zögern den Platinring angenommen, mit dem Fränki sie eines Abends überrascht hat. Kalt erwischt sozusagen. Sie konnte es Fränki einfach nicht abschlagen, als er sie nach einem köstlichen Abendessen beim Italiener nach dem dritten Wein fragte, ob sie seine Frau werden will. »Ich bin geschieden«, brachte sie hilflos vor.

»Nicht mehr lange«, antwortete Fränki strahlend.

VIRTUELL

Und Mader? Ist da ein Sprung in seiner harten Neuperlacher Betonschale? Durch den ein fröhliches Gänseblümchen dem Tageslicht entgegenstrebt? Ist er nach wie vor solo unterwegs? Allein mit sich und seinen Gedanken an Catherine Deneuve. Ist virtuelle Liebe dasselbe wie alleine sein? Das überlegt er manchmal. Zumindest eine Einbahnstraße. Aber nein, ganz allein ist er nicht, es gibt ja noch Bajazzo. Und manchmal sind Hunde die besseren Menschen. Bajazzo muss er nichts erklären, bei ihm muss er sich für nichts rechtfertigen. Gerade durchqueren sie den Ostpark, nachdem sie auf dem Heimweg schon an der U-Bahnstation Michaelibad ausgestiegen sind. Mader bleibt stehen, um die bunten Drachen der Kinder am weiß-blauen Himmel zu betrachten.

Mader überlegt, wer morgen welchen Job übernehmen soll. Nein, er weiß es schon: Zankl soll dem Mannschaftsarzt von 1860 einen Besuch abstatten. Gefällt ihm bestimmt. Mal ein Blick hinter die Kulissen des Profifußballs. Dosi und Hummel wird er auf eine Expedition ins Münchner Hinterland schicken, nach Aichach, wo Djuvic wohnte und spielte.

SOMMERMOND

Brummende Biergärten, Krüge klirren, Gelächter, Stimmengewirr flattern durch die Münchner Sommernacht. Eine frisierte Vespa schießt die Rosenheimer Straße hinunter, die Tram quietscht den Gasteig-Berg hoch. Die Lichtinstallation auf dem Isarwehr beim Müller’schen Volksbad taucht den Wasserfall abwechselnd in blaues und rotes Licht. Liebespaare knutschen auf dem Isarkies, Grillkohle schwefelt die milde Luft. Am Himmel glänzen die Sterne, der Mond klebt fett und rund über Haidhausen. Darunter all das Leben, all die Liebe, all die Stimmen. So empfindet es Hummel, der noch eine Runde durch sein Viertel dreht.

HÖLLE

Möbelhaus, Teppichmarkt, Supermarkt, Möbelhaus, Tankstelle, Supermarkt, Drogeriemarkt, Möbelhaus, Drogeriemarkt, Tankstelle, Teppichmarkt, Supermarkt, Möbelhaus, Tankstelle, Drogeriemarkt, Möbelhaus … Seit Hummel und Dosi am späten Nachmittag von der Lindauer Autobahn abgefahren sind, kämpfen sie sich durch ein Dickicht monotoner Vorstädte mit Flachdachbunkern an riesigen Parkplätzen, umgarnt von Girlanden auf Jahrzehnte hin abzubezahlender Bauspar-Albträume – Spitzgiebelniedlichkeiten in frohsinnigen Pastellfarben mit Großgrill und Plastikmöbeln auf der Baumarkfliesenterrasse.

»Hölle, Hölle, Hölle!«, murmelt Hummel. »Der Eigenheimwahnsinn macht mich krank!«

»Ach«, meint Dosi.

»Verstehe, du wirst jetzt solide. Der Ring ist neu, oder?«

»Nur kein Neid!«

Bajazzo sieht von Hummel zu Dosi und zurück. Dieses Geplänkel geht schon die ganze Zeit. Die sind doch sonst immer cool? Vielleicht hätte er doch bei Mader im Büro bleiben sollen. Und hoffentlich sind sie bald da. Er muss dringend für kleine Jungs.

Hummel auch. Als sie endlich das Vereinsgelände am nördlichen Ortsrand von Aichach erreichen, rutscht Hummel schon nervös auf dem Beifahrersitz hin und her.

»Hast du was am Hintern?«, fragt Dosi.

»Nein, ich hab’s ein bisschen mit der Blase zurzeit.«

»Na dann, Prost.« Dosi lässt sich beim Einparken besonders viel Zeit, und Hummel platzt fast. Noch während Dosi rangiert, reißt er die Tür auf und stürmt nach draußen, hat die Hose bereits offen und nähert sich einem kümmerlichen Parkplatzbäumchen, als sein Blick auf die Jugendmannschaft fällt, die dort am Zaun auf den Trainingsbeginn wartet. Unverhohlene Neugier. Hummel schließt die Hose und stürmt ins Vereinsheim. Er probiert mehrere Türen, bis er schließlich eine offene Kabine findet. Saurer Schweiß und Feuchtigkeit schlagen ihm heftig entgegen. Er hastet weiter in den Dusch- und WC-Bereich, stürmt eine Toilette, sinkt mit lautem Stöhnen auf die Schüssel und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Es wird mehr als nur ein kleines Geschäft. Er atmet tief durch. Mission accomplished. Er hört, dass jemand die Dusche betritt. Wasser rauscht. Hummel lauscht. Ein paar Jungs machen grobe Späße. Nasse Handtücher knallen.

»Hörst auf! I sackl di glei aus!«

»Trau di.«

»Des hätt’st wohl gern?«

»Du Depp! Deine niederbayerischen Sportarten kannst mit wem anders machen!«

»Mei, du … San ma leicht was Besseres? Aus Oberbayern, ha?«

»Logisch! Jung und schee, i bin vom Tegernsee.«

Gelächter.

»Hauptsach, ned aus Schwaben.«

»Wo man halt hi muss wegen der Arbeit.«

»Sag a mal, gehst du zum Lucky?«

»Logisch. Du ned?«

»I woaß ned. Jetzt kriegt des Arschloch a Heldenbegräbnis. Bis oben voll und dann dern’s so, als wär er die Number One.«

»Die Number Ten.«

»Ja, freilich, wie der Madonna.«

»Maradona.«

»Sag ich doch. Der Madonna von Aichach 05. Wegen dem Pokalspiel kommen zur Beerdigung angeblich sogar welche von de Sechzger. Voll der Respekt. Und wer vom DFB

»Is doch ned schlecht. Kriag ma mal a gscheide Presse.«

»Weißt du, was eigentlich Scheiße ist?«

»Na, was denn?«

»Der Pokal. Dass ma noch mal spuin müssn. Ohne den Lucky san ma doch am Arsch.«

»Und wenn ma uns a was besorgen? Beim Zlatan.«

»Spinnst du, dass uns so geht wiam Lucky?«

»Schmarrn, des is nur a Frage der Dosierung.«

»Dosierung… Sag a mal – schorselst du die ganze Zeit so greislig?«

»Na, des kommt vom Scheißhaus.«

»Vom Scheißhaus, so …?«

Stille. Hummel lauscht andächtig. Nix mehr zu hören.

Plötzlich beginnt es zu regnen. Heftig. Von oben. Von wo auch sonst. Hummel öffnet die Tür und sieht zwei Testosteronbomber, die ihre muskulösen Lenden mit Handtüchern nur nachlässig verhüllt haben. Hummel blickt zu den Duschen. Zwei Duschköpfe sind nach oben gedreht und wässern die Toiletten. Die zwei Burschen grinsen und singen: »Schöner fremder Mann, du bist Schuld daran…«

»Sehr erfrischend«, sagt Hummel und schiebt die Jacke zur Seite, damit sie seine Waffe sehen können. Sie blicken ihn erstaunt an.

Hummel sagt »Bumm!« und durchquert feuchten Schrittes die Fußpilzkultur.

»Was is ’n passiert?«, fragt Dosi, als er klatschnass bei ihr ankommt.

»Hab mich angschifft – vor Lachen.«

»Jetzt komm, der Vereinspräsident erwartet uns.«

WUNDER

»Mei, der Lucky«, sagt Georg Haßlehner, im echten Leben Inhaber eines Autohauses, im zweiten Leben Präsident von Aichach 05. Mit Blick auf die hochglanzpolierte Glatze vermutet Hummel, dass ihn die Vereinsarbeit sämtliche Haare gekostet hat. Die zwei unterbelichteten Typen in der Kabine sind bestimmt nur die Spitze des Eisbergs. Auf Haßlehners Stirn oben links prangt eine unschöne fingerkuppentiefe Einbuchtung. »Autounfall«, erklärt Haßlehner, der Hummels Blick sofort registriert hat. »Der andere hat’s ned überlebt.« Er lächelt. »Verbrannt.«

»Sehr schön«, sagt Dosi. »Sie wissen, warum wir hier sind?«

Er nickt schwerfällig. »Ja, wegen dem Lucky.«

»Wieso eigentlich Lucky?«

»Lucijan hat den Djuvic kaum einer genannt. Außerdem war er ja unser Glücksjunge. Wenn er ein bisschen verlässlicher gewesen wäre, hätter er auch zweite Liga spielen können. Tja. Aber so … Sagen Sie: Der Lucky soll irgendwelche Sachen genommen haben, hab ich gehört.«

»Haben Sie gehört, so?«

»Ja, aber ned gwusst. Sonst hätt der gar ned spielen dürfen. Wir sind ein Fußballverein. Wir machen vor allem Jugendarbeit. Damit die Burschen von der Straße weg sind.«

»Und ihre Körperpflege nicht vernachlässigen«, ergänzt Hummel.

Dosi sieht ihn irritiert an, aber Haßlehner nickt heftig. »Genau. Auch das. Was meinen Sie, wie schwer des ist, den Jungs beizubringen, dass man nach dem Training duscht.«

»Siphifuß«, murmelt Hummel.

»Was?«

»Nix. Weiter bitte.«

»Na ja, der Pokal ist natürlich eine Riesensache, eine Wahnsinnsgeschichte. Da geht’s nicht nur ums Geld, da geht’s vor allem ums Image, um die Ehre. Wir sind ein kleiner Verein in der Provinz.«

Dosi nickt. »Stimmt des eigentlich mit der Fliegerbombe? Der Platz hier schaut doch ganz okay aus?«

Haßlehner räuspert sich. »Na ja, des war vielleicht doch blinder Alarm. Bislang ein paar rostige Metallteile im Boden. Wissen Sie, die Pokalteilnahme ist für uns Das Wunder von Aichach. Da ist die große Bühne in München schon willkommen. Jetzt ohne den Lucky wird’s allerdings schwierig. Aber wir haben noch ein paar Talente.«

»Zum Beispiel Zlatan?«, fragt jetzt Hummel.

»Der Zlatan? Wieso?«

»So halt. Was macht der?«

»Jedenfalls nicht spielen.«

»Sondern?«

»Sportbekleidung. Vom Zlatan bekommen wir unsere Trikots.«

»Sonst noch was?«

»Na. Wieso? Was denn?«

»Stimulierende Substanzen? Leistungssteigernde Mittel?«

»Schmarrn, der Zlatan ist doch auch Jugendtrainer.«

»Hier?«

»Na, in München. Wo er wohnt. Sportfreunde Obergiesing.«

Hummel schluckt. Das ist Pauls Verein.

»Können Sie sich erklären, warum sich der Lucky so in der Dosis vergriffen hat?«

»Hat er das?«

»Schaut ganz so aus. Der war gedopt bis oben hin. Das ist amtlich. Also, warum?«

»Na, wegen dem Pokal vermutlich. Vielleicht, damit ihn endlich mal die Scouts wahrnehmen. Das Ganze war ja im Fernsehen. Der Lucky war auch schon fünfundzwanzig. Da geht in dem Business nicht mehr viel.«

ÜBERDOSIS

»Schon fünfundzwanzig«, stöhnt Hummel im Auto. »Ich werd dreißig, erst dreißig! Super. Und der Typ lügt wie gedruckt, wenn er sagt, dass er nicht weiß, was seine Spieler so nehmen. Weißt du, was ich dir sag?«

»Dass der Ball rund ist?«

»Das auch. Jeder hat gewusst, dass der Djuvic das Zeug nimmt. Alle wussten das. Und irgendjemand hat mal schnell seine Dosis erhöht.«

»Eifersüchtige Kollegen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ging’s auch um Geld oder Wetten.«

»Wer ist dieser Zlatan, Hummel? Du fragst da Sachen, von denen ich keinen Schimmer hab.«

»Hab ich am Klo aufgeschnappt. Bei Luckys Mannschaftskollegen. Den schauen wir uns mal näher an. Klang ganz so, als stellt der die Versorgung der Spieler mit wichtigen Vitaminen und Mineralstoffen sicher.«

Bei diesen Stichworten fällt Hummel ein, dass Mader ihm noch eine Packung Brühwürfel für Bajazzo mitgegeben hat. Hummel pult einen Würfel aus dem Silberpapier und gibt Bajazzo die Hälfte. Nur keine Überdosis. Bajazzo schmatzt zufrieden im Fußraum. Hummel selbst erspart sich den zweifelhaften Genuss.

REINGECHIPT

Zankl hat gehofft, er könnte endlich mal hinter den Vorhang der geheimnisvollen Welt des Profifußballs schauen. Von wegen. Die speisen ihn alle mit ein paar harmlosen, nichtssagenden Gesprächen ab. Aber klar. 1860 hat schon genug Probleme, da ist niemand heiß drauf, dass hier auch noch ein Kripobeamter rumschnüffelt. Ob jemand von Sechzig für die Überdosierung von Luckys Vitamincocktail gesorgt hat? Aha, was weiß er schon. Nein. Dass ein Verein zu solch extremen Mitteln greifen würde, um ein Pokalspiel zu gewinnen, ist äußerst unwahrscheinlich. Egal, sein Verein ist sowieso der FC Bayern. Sonst müsste er auch noch als Fan leiden. Das kann er sich nicht leisten, wo doch schon sein Familienalltag aktuell so ein Trauerspiel ist. Also als Mann. Als hätten sich die beiden Damen gegen ihn verbündet. Aber vielleicht wird das zweite Kind ein Junge, mit dem er dann am Samstag ins Stadion gehen kann. Notfalls auch zu 1860. Und vielleicht hat er ja sogar Talent und wird einmal Fußballer.

So viele Gedanken, als er am Maschenzaun des Trainingsgeländes entlangmarschiert zu den hinteren Plätzen, wo gerade die Profis zum Training auflaufen. Das will er sich nicht entgehen lassen. Am Zaun sind bereits alle guten Plätze vergeben. Er zwängt sich zwischen zwei Zaungäste und entschuldigt sich mit einem Lächeln. Beobachtet die Dribbling-Übungen der Spieler. Staunt über die Präzision. »Jorge, Tempo!«, brüllt der Mann neben ihm. Adressat ist ein dunkelhäutiger Jugendlicher mit dichten schwarzen Locken, der den Ball traumhaft tanzen lässt. »Den kenn ich gar nicht«, sagt Zankl zu seinem Nachbarn.

»Jorge Fernandez, mein Junge.«

»Sie sind der Vater?«

»Sein Berater.«

Zankl sieht seinen Nebenmann von oben bis unten an. Berater – von denen hat er schon so viel gehört. Kennengelernt hat er noch keinen. »Berater – das klingt interessant.«

»Na ja.«

»Man hört so vieles.«

»Aha. Und Sie, auch im Fußballgeschäft?«

»Nur peripher. Frank Zankl, Kripo München.«

»Glücksspiel?«

»Nein, Mordkommission.«

»Der Tote vom Pokalspiel?«

Zankl macht eine entschuldigende Geste und lächelt.

Der Berater gibt ihm die Hand. »Raffael Stöger.«

Zankls Miene erhellt sich. »Raffael Stöger? Bayer Leverkusen?«

»Das ist lang her.«

Zankl strahlt übers ganze Gesicht. »Ist mir eine große Ehre. Damals der Elfer gegen Schalke, ganz großes Kino, großartig! Angetäuscht und einfach reingechipt. Sehr lässig. Und Sie sind jetzt Berater?«

»Ich kümmere mich um junge Talente.«

»Für Sechzig?«

»Auch für Sechzig. Ich suche gute Jungs und schaue, zu welchem Verein sie passen, bring sie zum Probetraining. Wenn sie genommen werden, sorge ich dafür, dass sie pünktlich sind, ihre Klamotten dabeihaben, dass sie ein Dach über dem Kopf haben, ich klär das mit der Schule. Das können die Eltern der Jungs oft gar nicht leisten. Oft kommen die Jungs aus ganz einfachen Verhältnissen. Mein kleiner Brasilianer da konnte vor zwei Jahren noch nicht lesen und schreiben. Vom Rechnen reden wir gar nicht.«

»Wow, das klingt anstrengend.«

»Es ist sehr befriedigend, wenn dann aus den Jungs was wird. Aber dafür haben Sie keine Garantie. Alle wollen Profis werden. Ganz wenige haben das Zeug und die Ausdauer dazu. Sie ermitteln wegen Djuvic?«

»Wir überprüfen, ob wirklich kein Fremdverschulden vorliegt. Kannten Sie Djuvic?«

»Ein Spielerberater kennt alle guten Spieler.«

»Und war Djuvic gut?«

»Vor ein paar Jahren schon. Großes Talent. Lucky gehörte aber zu den Jungs, die immer ein Talent bleiben, die nicht den nötigen Ehrgeiz haben, auch mal hart gegen sich selbst zu sein. Bei ihm ging’s neben dem Fußball immer nur um Autos, Frauen, Alkohol – das volle Programm. Und der Lucky hat sich alles Mögliche reingepfiffen, um trotzdem auf dem Platz Leistung zu bringen.«

»Und das fiel nicht auf?«

»Wie denn? Aichach 05! Das Pokalspiel ist die größte Bühne, die dieser Verein je hatte und haben wird. Und gleich da hat er es vermasselt. Wissen Sie, hinterher schreiben die Zeitungen über Doping im Fußball. Totaler Quatsch. Doping kann Sie bei der Tour de France weiterbringen, da sitzen Sie allein auf dem Rad. Aber Fußball ist ein Mannschaftssport. Wenn da einer abgeht wie eine Rakete, dann haben die anderen auch nichts davon. Seinen Platz in der Mannschaft optimal ausfüllen, das ist das Geheimnis. – Jetzt, Jorge!«

Auch Zankl dreht sich zum Platz. Der Ball vollführt eine elliptische Flugbahn. Einschlag im Tor links oben. Unhaltbar. Zankl nickt beeindruckt. Vielleicht ist der kleine Jorge in ein paar Jahren ein Megastar, der für zehn Millionen zu Bayern und dann für fünfzig Millionen zu Chelsea wechselt. Oder zu Real, PSG.

Zankl gibt Stöger seine Karte. »Darf ich Sie anrufen, wenn ich noch eine Frage habe?«

»Dienstlich oder privat?«

»Dienstlich. Wie gesagt – wir ermitteln im Todesfall Djuvic. Da wäre es gut, möglichst viel über das Fußballgeschäft zu wissen. Auch in der Regionalliga.«

»Sie gehen also nicht von einer Überdosis aus?«

»Uns interessiert, ob er selbst dafür verantwortlich war.«

Stöger nickt nachdenklich, gibt Zankl ebenfalls seine Karte und dreht sich zum Spielfeld: »Jorge, nicht Blümchen pflücken! Setz deinen Arsch in Bewegung!«

SAUSTALL

Dosi und Hummel besichtigen Djuvics enge Dreizimmerwohnung in einem Wohnblock südlich von Aichach. Mit bezaubernder Aussicht auf eine Industriebrache. Heruntergekommene Werkshallen, zersplitterte Fenster. Hummel steht in der zugemüllten Küche und sieht zu den Kindern hinaus, die zwischen den Hallen Fußball spielen und erstaunliche Tricks zeigen. Durchaus eine Möglichkeit, aus dem Dreck rauszukommen, denkt Hummel, wenn man entdeckt wird.

Er geht zu Dosi ins Wohnzimmer. Sie deutet auf ein Bild an der Wand. Das Foto zeigt drei junge schwer bewaffnete Männer vor dem Ortsschild von Vukovar. Ein Mann hat frappierende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Fußballer.

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