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Leuchtturmträume

Als Buch hier erhältlich:

Mit Nordseemagie und Wellenflüstern: Eine zweite Chance für die Liebe

In St. Peter-Ording will Anneke nicht nur ihren Job als Hoteltesterin erledigen, sondern auch endlich mal wieder Zeit in der Natur genießen und ausspannen. Dass sie hier außerdem die romantischsten Orte der Küste aufsuchen soll, trifft sich gut. Bis sich herausstellt, dass ausgerechnet ihr Ex Raik das neue Hotel leitet und sie nur allzu gern zu Strandspaziergängen und Picknicken an Geheimplätzen begleitet. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er sich einen Neuanfang mit ihr wünscht. Und wenn Anneke seinen offenen Blick auffängt, spürt sie, wie viel er ihr immer noch bedeutet. Aber kann sie sich wirklich der Vergangenheit stellen und Raik verzeihen?

»Herrliche Lektüre für den Strandkorb!«
Neue Woche über Strandrosensommer


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950553
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Papa.
Du wolltest so gerne wieder
nach St. Peter-Ording fahren.
Leider hat es nicht mehr geklappt.

Prolog

Vier Jahre zuvor

»Jetzt bleib gefälligst da, du dummes Ding!« Kaum nahm Anneke die Hand von der Haarspange, fielen die langen blonden Strähnen wieder auf ihre Schultern herab.

Entnervt ließ sie die Spange ins Waschbecken fallen und blickte resigniert in den Spiegel.

»Mit wem schimpfst du eigentlich so?« Raik zwinkerte ihrem Spiegelbild amüsiert zu, nachdem er das Bad betreten hatte, und schlüpfte in sein Jackett.

»Ach, diese blöden Haare! Sie lassen sich einfach nicht bändigen.« Wieder griff sie nach der Spange und unternahm einen neuen Versuch, scheiterte jedoch abermals. »Es hat keinen Zweck! Ich gebe es auf!«

Raik trat von hinten an sie heran und berührte zärtlich ihre Schultern. Wieder einmal wurde Anneke bewusst, wie gut er roch. Es war eine eigenwillige Mischung aus Minze und Zitrone, eine prickelnde Frische, die sie an italienische Mandarinen erinnerte und die sie über alles liebte.

»Ich mag dein Haar am liebsten, wenn es ungebändigt ist«, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr und küsste sie dann auf den Hals.

»Ach, du.« Anneke genoss seine Berührung und konnte das Lächeln nicht unterdrücken. Trotzdem verdrehte sie die Augen. »Wenigstens beim Kapitänsgala-Abend wollte ich einmal halbwegs elegant aussehen.«

»Du siehst auch mit offenen Haaren elegant aus.« Raik löste die Spange an ihrem Hinterkopf ganz und hielt sie ihr hin.

Anneke griff danach. »Das ist so ungerecht.«

Er runzelte die Stirn. »Was genau?«

Seufzend zog sie eine Bürste aus ihrem grünen Kulturbeutel und kämmte dann mit energischen Handbewegungen ihr Haar. »Männer binden sich einfach eine Fliege um, und schon sind sie fertig. Frauen dagegen müssen stylistische Höchstleistungen vollbringen, um wenigstens einigermaßen vorzeigbar zu sein. Ich möchte mal wissen, wer sich den Quatsch ausgedacht hat.«

»Mir kommen gleich die Tränen!« Raik lachte. »Zu deiner Information: Frauen sehen immer gut aus, nur merken es die meisten wohl nicht. Und abgesehen davon bist du für mich immer die Schönste.« Er gab ihr einen weiteren Kuss auf die Wange, bevor er sich umdrehte, um das Bad zu verlassen.

Ihr fehlte die Wärme seiner Berührung sofort. »Wohin gehst du?«

Über den Spiegel warf er ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. »Zur Brücke. Kapitän Paulsen wollte uns vor der Gala noch mal sprechen.«

Stirnrunzelnd wandte sie sich um. »Geht Aaron auch mit?« Eigentlich wollte sie ihren Bruder noch sprechen, bevor der Festakt begann.

»Klar. Alle Stewards müssen antanzen, damit die Gala ja perfekt abläuft. Du kennst doch Paulsen, er überlässt nichts dem Zufall.«

Anneke nickte. »Dann sehen wir uns später. Ich begleite Frau von Ohooven in die Lounge.«

»Seit wann bist du denn als Senioren-Betreuerin tätig?«

»Raik! Manchmal kommt du mir so emphatisch vor wie ein Kühlschrank.« Sie schüttelte den Kopf. Durch ihre Arbeit als Übersetzerin auf dem Kreuzfahrtschiff Dreamline Paradise hatte sie natürlich engen Kontakt zu den Passagieren. Das Gleiche galt auch für Raik und ihren Zwillingsbruder Aaron, die als Barkeeper auf dem Luxus-Liner für das leibliche Wohl der Gäste in flüssiger Form sorgten und sich nebenbei deren Lebensgeschichten anhörten.

Frau von Ohooven war Anneke gleich am ersten Abend auf dem Schiff aufgefallen, weil sie Probleme mit ihrem Rollator gehabt hatte. Ein Rad hatte sich verklemmt, sodass sie nicht weitergekommen war. Anneke hatte sie auf dem Außendeck angesprochen und ihre Hilfe angeboten. Dabei waren sie ins Gespräch gekommen, und Anneke war beeindruckt von der alten Dame. Mehr als achtzig Jahre alt, reiste Frau von Ohooven allein. Es war schon ihre siebte Schiffsreise in Folge. Seit dem Tod ihres Mannes war sie fast ununterbrochen unterwegs gewesen und hatte unter anderem Australien und Tansania, Florida und die Bahamas bereist. Allein in ihrer Berliner Stadtwohnung hielt sie es nicht aus, hatte sie gesagt. Und über den gut gemeinten Vorschlag ihrer Nachbarin, sich einen Wellensittich zuzulegen, hatte sie nur müde gelacht.

»Stellen Sie sich das mal vor«, hatte sie zu Anneke gesagt. »Dann hockt der arme Vogel in seinem Käfig, zusammen mit mir in der Altbauwohnung, und beide träumen wir von der Freiheit.« Mit der linken Hand hatte sie sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel gewischt. »Welch absurde Vorstellung!«

Frau von Ohooven war finanziell gut abgesichert; und solange es ihr gesundheitlich möglich war, wollte sie noch einiges von der Welt sehen und dabei unter Menschen sein. Anneke fand ihre Lebenseinstellung bewundernswert.

»Du weißt ganz genau, dass Frau von Ohooven ohne Begleitung unterwegs ist«, erinnerte sie Raik nun und warf ihm einen tadelnden Blick zu.

»Klar weiß ich das!« Er warf ihr eine Kusshand zu. »Grüß mir Frau von Ohooven. Wir sehen uns später!«

»Bis dann!«

Nachdem Raik die Meerblickkabine verlassen hatte, schlüpfte Anneke in ein luftiges hellgelbes Abendkleid. Sie legte ein unaufdringliches Make-up auf und schlang sich ein leichtes Tuch um die Schultern. Ihre neue bordeauxfarbene Clutch, die sie beim letzten Zwischenstopp in Venedig in einem kleinen Laden unweit vom Markusplatz entdeckt hatte, bot genug Platz für ein Päckchen Taschentücher, einen Kamm, ihr Handy und die Bordkarte, die gleichzeitig als Kabinenschlüssel fungierte. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, strich sich noch einmal einige Haarsträhnen hinter die Ohren und machte sich auf den Weg.

Um kurz vor 20 Uhr klopfte sie an Frau von Ohoovens Tür auf Deck neun. In dem Teil des Schiffes befanden sich luxuriöse Verandakabinen und Suiten.

Es dauerte einen Moment, bis die alte Dame ihr öffnete. »Was sehen Sie hübsch aus«, empfing Frau von Ohooven sie und schob ihren Rollator langsam auf den Flur hinaus.

»Danke.« Anneke lächelte. Zur Feier des Abends trug Frau von Ohooven ein mitternachtsblaues Kleid aus eleganter Spitze mit Chiffonüberwurf und dazu goldene Ohrringe. »Das Kompliment kann ich nur an Sie zurückgeben.«

Amüsiert zwinkerte die alte Dame ihr zu. »Ach was, bei mir ist längst der Lack ab. Da hilft auch kein Nachpinseln mehr. Aber wenigstens möchte ich eine lustige Witwe sein und kein Trauerkloß.« Gut gelaunt schob sie den Rollator über den Flur, auf dessen Ablagefläche sie ihre Handtasche platziert hatte.

Aus dem Augenwinkel betrachtete Anneke die Lachfältchen ihrer Begleiterin. Unglücklich wirkte sie jedenfalls nicht. Im Gegenteil, sie schien ihr wesentlich jünger als achtzig zu sein.

»Freuen Sie sich auf den Gala-Abend?«, erkundigte sich Anneke höflich.

Frau von Ohooven blieb kurz stehen, um Anneke verwundert anzusehen. »Natürlich. Es ist immer etwas Besonderes und jedes Mal anders. Aber noch mehr freue ich mich auf Athen.«

»Bald sind wir da.«

Lächelnd gingen sie weiter.

»Mein Mann Herbert und ich wollten uns immer zusammen die Akropolis ansehen, wissen Sie? Das hatten wir uns fest vorgenommen. In unserem letzten Urlaub sind wir in Ägypten bei den Pyramiden gewesen, und ein halbes Jahr später wären wir nach Griechenland gereist. Doch so lange hat sein Herz nicht mitgespielt.« Sie senkte kurz den Blick. »Ich habe die Reise kurz nach seinem Tod storniert. Ohne ihn zu fahren, das erschien mir irgendwie nicht richtig. Schließlich war es unser gemeinsamer Traum, und ich dachte, ich würde ihn irgendwie verraten, wenn ich allein führe.«

Sie warf Anneke ein Lächeln zu. »Aber der Gedanke an Athen hat mich aus unerfindlichen Gründen trotzdem nicht losgelassen. Ich habe dann tief in mich hineingehorcht und wusste schließlich, was mein Mann zu mir gesagt hätte.«

»Was hätte er denn gesagt?« Anneke hielt ihr die Tür zur Lounge auf, damit sie ihren Rollator hineinschieben konnte.

»Dagmar, hör auf mit dem Mumpitz«, erzählte Frau von Ohooven über die Geräuschkulisse hinweg und imitierte dabei die Stimme ihres verstorbenen Mannes. »Worauf wartest du? Im Sarg kannst du später nur eine Reise machen, und die geht auf den Friedhof.« Sie musste lächeln. »Mein Mann war eher von der pragmatischen Sorte. Große Dramen haben ihm nicht gelegen.«

»Es ist gut, dass Sie die Reise machen. Manchmal braucht es eine gewisse Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen.«

Der Raum und die Tische waren festlich dekoriert. Die meisten Passagiere saßen schon an ihren Plätzen und warteten auf den Beginn der Veranstaltung. Als Anneke und Frau von Ohooven ihren Platz gefunden hatte, rückte Anneke für die alte Dame den Stuhl vom Tisch ab und nahm anschließend neben ihr Platz. Ihr Tuch legte sie über eine Armlehne und die Clutch auf ihrem Schoß ab. Zwei Ehepaare mittleren Alters setzten sich kurz darauf zu ihnen, mit denen sie schnell ins Gespräch kamen.

»Wann sollte der Gala-Abend noch mal beginnen?«, fragte Frau von Ohooven nach einer Weile.

Anneke öffnete ihre Tasche und warf einen Blick auf ihr Handy. »Eigentlich liegen wir schon über der Zeit.« Beruhigend lächelte sie ihre Tischgesellschaft an. »Manchmal kommt es kurzfristig zu Verspätungen. Aber keine Sorge, es geht bestimmt gleich los.«

Sie schaute zur Bar, konnte aber Raik und ihren Bruder nicht entdecken. Von Kapitän Paulsen und den Offizieren fehlte bislang auch jede Spur. Es schien eine längere Besprechung zu sein. Anneke zuckte den Mundwinkel. So eine Verspätung war zwar sehr selten vor der Kapitänsgala, aber nichts, worüber sie sich Gedanken machen musste.

Nach einer weiteren Viertelstunde des Wartens entstand allmählich Unruhe unter den Passagieren. Die Gespräche wurden lauter, und einige Gäste reckten ungeduldig den Hals. Alle warteten auf das Erscheinen des Kapitäns, doch er kam einfach nicht. Die Mitarbeiter in der Lounge beantworteten Annekes fragende Blicke mit demselben ahnungslosen Schulterzucken, das sie ihnen zeigte. Eine Verzögerung um eine Viertelstunde war nicht weiter bemerkenswert, aber so lange ließ Kapitän Paulsen die Schiffsgäste normalerweise nicht warten. Mit jeder Minute, die verstrich, kam Anneke die Situation ungewöhnlicher vor. Dennoch bemühte sie sich, die anderen Gäste nicht zu beunruhigen.

Frau von Ohooven neigte sich ihr zu. »Jetzt könnte es aber wirklich langsam mal losgehen. Ich habe mich schon den ganzen Tag auf das Essen gefreut und deswegen nur gefrühstückt. Sollten Sie ein Grummeln hören, dann ist es nicht der Schiffsmotor, sondern mein Magen.« Die Dame lachte verschmitzt.

»Bestimmt müssen Sie nicht mehr allzu lange warten.« Anneke lächelte die alte Dame aufmunternd an.

Dann ließ sie den Blick erneut zur Bar schweifen. Wo blieben Raik und Aaron nur? Unruhig begann sie, mit dem Fuß zu wippen.

Aus ihrer Clutch ertönte der Klingelton ihres Handys. Hastig warf Anneke einen Blick auf das Display. Der Anruf kam von ihrem Bruder. Vermutlich würde sie gleich erfahren, was der Grund für die Verzögerung war. Sie wollte das Gespräch allerdings lieber nicht vor den Gästen führen. »Entschuldigen Sie bitte!« Anneke erhob sich von ihrem Platz und verließ schnellen Schrittes die Lounge.

»Aaron?«, fragte sie, als sie den Flur erreicht hatte.

»Na, endlich! Ich dachte schon, du hörst dein Handy nicht.« Ihr Bruder klang aufgeregt.

»Ich war in der Lounge. Was ist denn los? Wieso seid ihr noch nicht da?«

»Du kannst doch Arabisch, oder?«, überging Aaron ihre Frage.

»Bloß ein paar Fetzen. Warum?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Du musst sofort zum Casino auf Deck sieben kommen. Beeil dich!«

»Ja, aber …«, entgegnete Anneke, doch ihr Bruder hatte bereits aufgelegt. Sie warf einen Blick zurück zur Lounge. Unter anderen Umständen hätte sie Frau von Ohooven Bescheid gesagt, doch in Aarons Tonfall hatte etwas so Dringliches gelegen. Ihr blieb keine Zeit für Höflichkeiten.

Hastig streifte sie sich ihre Sandaletten ab und eilte so schnell sie konnte über die Flure und Treppen zum Deck sieben. Je näher sie dem Casino kam, desto stärker wurde ihre innere Anspannung.

Von Weitem sah sie schon die Menschenansammlung. Stewards und Techniker kamen und gingen, einige redeten aufgeregt miteinander, andere schleppten Wasserkanister. Kapitän Paulsen stand mit einem Offizier und dem Schiffsarzt zusammen. Sie schauten konzentriert durch Ferngläser auf die offene See hinaus, auf deren Oberfläche die tief stehende Sonne glitzerte.

Instinktiv folge Anneke ihrem Blick. Trotz des fortgeschrittenen Abends war es noch taghell, und auf den ersten Blick schien alles friedlich zu sein.

»Anneke!« Ihr Bruder hatte sie entdeckt und winkte ihr zu.

Ohne zu zögern, eilte sie auf ihren Bruder zu. Manchmal erschien es ihr, als würde sie auf einen Spiegel zugehen. Sie hatten das gleiche hellblonde Haar, die hellblauen Augen, die markante Kinnform und ein Muttermal, das sich bei ihnen an der identischen Stelle über der Lippe befand. Aber in diesem Moment wirkte ihr Bruder deutlich blasser, als sie ihn kannte.

»Was ist denn eigentlich los?«, fragte sie ein wenig atemlos, als sie vor ihm stand.

»Wir haben einen Notfall. Aber hier, schau selbst.« Aaron hielt ihr seinen Feldstecher hin.

Anneke blickte hindurch, konnte jedoch auf den ersten Blick nichts Auffälliges entdecken. »Ich sehe keinen Notfall.«

In diesem Moment trat Raik zu ihr und schob das Fernglas in ihren Händen in eine andere Position, etwas weiter nach rechts. »Auf drei Uhr.«

Wieder sah sie angestrengt hindurch. Plötzlich nahm sie eine Bewegung auf dem Wasser wahr. Und wenig später erkannte sie, was die Ursache für die allgemeine Aufregung war. In der Nähe des Kreuzfahrtschiffs trieb ein Schlauchboot, das zu kentern drohte. »Um Himmels willen! Da sind ja viel zu viele Menschen auf dem Boot!«

Sie hatte gerade fassungslos das Fernglas gesenkt, da trat Kapitän Paulsen zu ihnen. Ihm stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben. »Können Sie Arabisch? Das Flüchtlingsboot kommt vermutlich aus Libyen.«

Anneke zuckte mit den Schultern. »Ein paar Brocken, die ich mal aufgeschnappt habe.«

Er nickte ernst. »Das reicht.«

»Was passiert mit den Menschen? Nehmen wir sie an Bord?«, wollte sie wissen.

Kapitän Paulsen winkte ab. »Wir sind voll besetzt. Selbst mit ganz viel gutem Willen hätten wir keine Kapazitäten für so viele Flüchtlinge frei. Das sind …« Er nahm ihr das Fernglas aus der Hand und schaute durch. »Das sind mindestens dreißig Menschen in dem Boot«, schätzte er. »Die Küstenwache ist bereits verständigt. Sie schicken ein Flugzeug. Und ein Frachtschiff ist ebenfalls informiert, das die Menschen an Bord nehmen wird.«

Der Schiffsarzt meldete sich zu Wort. »Kapitän, wir sind fast so weit. Wir machen jetzt ein Rettungsboot fertig und bringen Wasser zu den Flüchtlingen.«

»Ist gut, Doc.« Der Kapitän gab Anneke das Fernglas zurück. »Fahren Sie bitte mit. Ich muss alles vom Schiff aus koordinieren.«

Anneke schlug das Herz bis zum Hals. Sie nickte. »Mach ich.«

»Okay. Kommen Sie bitte gleich nach.« Kapitän Paulsen ging voraus zum Rettungsboot, das von der Crew startklar gemacht wurde. Irgendetwas schien das Vorhaben zu verzögern. Vielleicht gab es ein kleineres technisches Problem? Anneke sah, wie die Männer konzentriert hantierten und Befehle weitergaben.

Es war für Anneke nicht die erste Begegnung mit einem Flüchtlingsboot auf hoher See. Solche Zwischenfälle ereigneten sich immer wieder. Sie wusste, dass die Menschen ausschließlich mit Trinkwasser versorgt wurden, um auf der sicheren Seite zu sein. Niemand konnte wissen, ob sie Krankheiten hatten und welche möglichen gesundheitlichen Auswirkungen Nahrung verursachte.

Raik legte ihr einen Arm um die Schulter. »Dann fällt die Senioren-Betreuung heute wohl aus.«

»Ach, du … Das ist im Moment das geringste Problem.« Schon hob sie erneut das Fernglas, und er zog seinen Arm zurück. »Hoffentlich ist das Frachtschiff schnell da.« Sie vergrößerte noch einmal das Sehfeld und bekam einen Schrecken. »Da sind Kinder im Wasser! Sie ertrinken!«, rief sie entsetzt.

»Zeig her!« Unsanft riss Aaron ihr den Feldstecher aus der Hand. »Oh, nein!«

Hektisch sah er zum Rettungsboot und dann zu Raik, der ihm schweigend zunickte. »Das dauert alles zu lang!« Aaron zog seine Schuhe aus, streifte das Jackett ab und knöpfte sein Hemd auf.

»Was habt ihr vor?«, fragte Anneke, als Raik ebenfalls damit begann, sich auszuziehen.

»Bis das Boot dort ist, sind die Kinder ertrunken.« Aaron schnappte sich einen Rettungsring, Raik tat es ihm gleich. Beide liefen los.

Anneke rannte hinter ihnen her. »Das ist doch Wahnsinn, was ihr vorhabt!«, rief sie.

Aaron blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Er fasste sie an der Schulter und schaute sie entschlossen an. »Wir sind Rettungsschwimmer. Es wäre Wahnsinn, wenn wir nichts tun würden, denn dann kann die Küstenwache vermutlich bloß die Leichen der Kinder bergen.«

»Aber es ist gefährlich«, protestierte Anneke mit klopfendem Herzen. »Wir sind mitten auf offener See!«

»Wir werden die Kinder retten. Versprochen!« Aaron küsste sie auf die Stirn und sprang dann mit dem Rettungsring in einer Hand vom Deck aus ins Meer, ehe Anneke noch etwas erwidern konnte.

»Bis gleich.« Raik zwinkerte ihr zu und verzog seinen Mund zu einem Lächeln.

Anneke merkte ihm seine Nervosität an; die konnte er vor ihr nicht verbergen. Dafür kannte sie ihn zu gut. »Und wenn euch was passiert?«

»Wird schon schiefgehen.« Raik küsste sie auf die Lippen und sprang kurz darauf ebenfalls in die Tiefe.

Anneke beugte sich über die Reling und schnappte nach Luft. Sie hielt angsterfüllt Ausschau nach ihrem Bruder und Raik. Dann entdeckte sie sie. Beide schwammen unweit vom Schiff, direkt auf die Kinder zu.

Sie musste sich zwingen, den Blick von den beiden Männern abzuwenden, die sie am meisten liebte. Das Rettungsboot war bestimmt gleich fertig.

Anneke lief zurück und drückte einer Frau aus dem Animationsteam ihre Schuhe und die Clutch in die Hand. »Bitte pass gut darauf auf«, sagte sie und hastete dann zum Kapitän. »Wir haben Kinder im Wasser entdeckt, die zu ertrinken drohen. Aaron und Raik sind vom Schiff aus ins Meer gesprungen.«

Kapitän Paulsen raufte sich die Haare und fluchte. »Diese zwei Wahnsinnigen darf man auch keine Sekunde aus den Augen lassen!«

Anneke zuckte mit den Achseln und streifte sich eine Schwimmweste über. »Was hätten Sie an ihrer Stelle getan?«, fragte sie den Kapitän, bevor sie ins Rettungsboot stieg.

Er sah sie nur schweigend an.

»Dachte ich mir.« Anneke setzte sich auf den Platz neben dem Schiffsarzt. Sie nahm einen Kanister zwischen ihre Beine. Während das Boot zu Wasser gelassen wurde, musste sie unentwegt an Aaron und Raik denken und hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief ein und wieder aus.

»Wird schon schiefgehen«, hörte sie Raik im Geiste sagen. Als sie die Augen wieder aufschlug, war das Boot fast auf dem Wasser. Anneke wollte nur eins: dass es schneller ging.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Schiffsarzt besorgt und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie sind ganz blass um die Nasenspitze.«

»Nein, nein. Alles in Ordnung.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

Das Boot setzte schließlich auf dem Wasser auf und nahm Kurs auf das überfüllte Flüchtlingsboot. Sie würden den Menschen gleich helfen. Aaron und Raik waren bestimmt schon bei den Kindern und hielten sie auf den Rettungsringen. Bald würde alles wieder gut sein. Sie würde zurück in die Lounge gehen und Frau von Ohooven von ihrem Abenteuer mit Happy End berichten. Anneke krallte sich an ihrem Sitz fest. Es musste schneller gehen. Was war, wenn sie zu langsam waren?

1. Kapitel

Anneke drückte auf den Knopf im Erdgeschoss und wartete. Ihr Blick glitt zur Außenanzeige an der Schachttür. Der Fahrstuhl befand sich in der vierten Etage.

Ungeduldig klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden und schaute nach rechts durch die gläserne Vorderseite des Bürohauses. Auf der Straße standen die Autos im Stau und wurden mühelos von flinken Fahrradfahrern überholt. Anneke hatte schon befürchtet, zum Termin mit ihrer Vorgesetzten zu spät zu kommen. Sie hasste Verspätungen. Doch der pfiffige Taxifahrer, zu dem sie am Hamburger Flughafen eingestiegen war, hatte auf einer »Geheimroute«, wie er es genannt hatte, den Stau tatsächlich geschickt umfahren und sie pünktlich an der Hamburger Zentrale des Touristikunternehmens abgesetzt, für das sie seit zwei Jahren als Hoteltesterin arbeitete. Gern hatte sie sich mit einem großzügigen Trinkgeld erkenntlich gezeigt und im Gegenzug seine Visitenkarte angenommen.

Ein Pling kündigte den Aufzug im Erdgeschoss an, bevor die silberne Tür zur Seite glitt. Anneke ließ zuerst die Leute aussteigen, bevor sie die Kabine betrat. Zufrieden stellte sie fest, dass sie allein nach oben fahren würde, und drückte den Knopf für die achte Etage. Sie stand nicht gern dicht gedrängt mit fremden Leuten in Aufzügen und genoss jede Fahrt, bei der sie ungestört war.

»Halt!« Ein Mann, der eine dunkle Mappe unter dem Arm trug, zwängte sich im letzten Moment durch den Spalt der Tür.

Enttäuscht verzog Anneke den Mund und trat einen Schritt zurück an die Kabinenwand. Vielleicht fährt er ja bloß in die erste oder zweite Etage, dachte sie hoffnungsvoll.

Die Tür schloss sich. Anneke schaute auf die ihr gegenüberliegende Wand und sah aus den Augenwinkeln, welchen Knopf der Mann drückte.

»Da haben wir ja das gleiche Ziel«, sagte er und wandte sich ihr zu. »Ach … Anneke?«

Erst jetzt schaute sie ihm ins Gesicht und erkannte, mit wem sie zusammen im Fahrstuhl fuhr. »Peter?«, fragte sie, ebenso erstaunt wie er. »Na, so was …«

»Haben wir uns lange nicht mehr gesehen! Und jetzt stehen wir auf einmal zusammen im Fahrstuhl. Das ist echt ein Ding!« Er machte eine Handbewegung, die seine Überraschung unterstrich.

»Ja, was für ein Zufall«, erwiderte Anneke immer noch perplex. »Nach so langer Zeit …«

»Wie lange ist es her? Als wir damals zusammen durch die norwegischen Fjorde geschippert sind, war Sommer …« Er überlegte kurz. »Das ist doch mindestens sechs Jahre her, oder?«

»Das kommt hin. Arbeitest du auch für Feelgood Tours?«, fragte sie und hoffte inständig, damit das Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit auf dem Kreuzfahrtschiff zu beenden.

Peter nickte stolz. »Seit Januar in der IT. Haben mich direkt von Sonnig Reisen mit einem unschlagbaren Angebot abgeworben.«

»Das ist ja genau dein Ding. Freut mich für dich!«

»Danke. Und du?«, fragte er.

»Nicht in der IT.« Sie zuckte scherzhaft mit den Augenbrauen und atmete erleichtert auf, als der Aufzug zum Stillstand kam. Sie hatten die Zieletage erreicht. »Ich mache seit etwas mehr als drei Jahren das Hotel-Quality-Management.«

»Oh, dann bist du ja pausenlos auf Achse. Für mich wäre das nix mehr«, erwiderte er und fügte lachend hinzu: »Und für meine Frau ein Scheidungsgrund.« Er hob seine rechte Hand, um ihr seinen Ehering zu zeigen.

Sobald sich die Tür öffnete, verließen beide den Fahrstuhl.

Höflich blieb Anneke mit ihm kurz im Flur stehen. »Ich bin immer noch gern auf Reisen.« Sie dachte kurz an ihr kleines Appartement in Ratingen, das unweit vom Düsseldorfer Flughafen lag. Oft war sie nicht dort. Und wenn, meistens nicht länger als drei Tage am Stück.

»Hatten deine Eltern nicht ein eigenes Reisebüro?«, fragte Peter.

»Genau. Das haben sie übrigens immer noch.«

»Dann bist du quasi mit Reisefieber auf die Welt gekommen. Das erklärt natürlich einiges.« Er zog die Augenbrauen hoch und lachte.

»Das vermute ich auch«, stimmte sie ihm zu. »Ich habe jetzt gleich übrigens einen Termin mit Frau Büscher. Weiß gar nicht genau, um was geht, aber sie meinte, es wäre wichtig … War jedenfalls schön, dich wiedergesehen zu haben.«

»Finde ich auch!«

Anneke zog einen Kamm aus ihrer Ledertasche und deutete auf eine gegenüberliegende WC-Tür. »Ich verschwinde dann noch einmal schnell, bevor ich ins Gespräch gehe.«

»Na klar! Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder zufällig über den Weg.«

Anneke nickte. »Vielleicht. Mach’s gut!«

Er hob eine Hand. »Du auch. Und viel Erfolg beim Gespräch!« Peter wandte sich um und ging auf eine Glastür zu, hinter der die Büroräume des Reiseveranstalters lagen.

Anneke war gerade im Begriff, die Türklinke des Waschraums runterzudrücken, als Peter sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Ach ja, bevor ich es vergesse, schöne Grüße an Aaron und Raik. Die zwei habe ich ja auch seit Urzeiten nicht mehr gesehen.«

Anneke hielt abrupt inne und spürte einen Stich in ihrem Herz. Sie schluckte und sagte dann halbwegs gefasst: »Danke. Werde ich ihnen ausrichten.«

Nachdem Peter ihr noch einmal zugenickt hatte, drückte er die Glastür auf.

Beklommen betrat Anneke die WC-Räume und schloss sich in einer der Toiletten ein. Innerlich aufgewühlt lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür. Ihr Herz klopfte schnell, und eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf, als hätte sie zu viel warmen Streuselkuchen mit Sahne gegessen.

Sie steckte den Kamm zurück in ihre Tasche und zog dafür ein Taschentuch hervor, mit dem sie sich die Stirn abtupfte. Mit einem Mal schwitzte sie scheinbar, als hätte sie die Treppen in die achte Etage genommen und nicht den Aufzug. Dabei hatte sie inständig gehofft, das Gespräch mit Peter weit weg von ihrem wunden Punkt gelenkt zu haben. Doch im letzten Moment hatte er sie doch noch eiskalt erwischt.

Er konnte es ja nicht wissen, versuchte sie, sich zu beruhigen.

Dass sie das alles noch immer so aus der Bahn warf … nach all der Zeit. Sie schaute auf ihr Handy. Bis zu ihrem Gespräch mit Frau Büscher waren es bloß noch ein paar Minuten. In ihrem Zustand konnte sie jedoch unmöglich zu diesem Termin erscheinen.

Sie öffnete die Tür und ging zu dem kleinen Waschbecken. Während sie Wasser über ihre Handgelenke laufen ließ, betrachtete sie sich im Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Sie sah erschöpfter aus, als sie für möglich gehalten hatte. In dem kalten Licht schimmerten ihre Augenringe dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte. Sogar die Mimikfältchen an ihren Augenwinkeln erschienen ihr tiefer als sonst.

Ständig auf Achse zu sein und vorwiegend in Hotels zu wohnen hinterließ eben irgendwann auch Spuren. Doch sie wollte es nicht anders und konnte sich auch nicht vorstellen, jemals wieder anders leben zu können. Sie brauchte die Abwechslung, das ständig Neue in ihrem Leben und vor allem den Umstand, nie lange an einem Ort verweilen zu müssen. Anneke holte ein kleines Kulturtäschchen hervor, in dem sie Kosmetik aufbewahrte. Sie tupfte etwas Concealer unter und neben ihre Augen, verblendete die Flüssigkeit mit einem Schwämmchen und puderte zum Schluss ihr Gesicht über.

Das sah schon besser aus. Sie lächelte sich aufmunternd im Spiegel zu und verließ dann das WC.

»Guten Tag, Frau Schrögelmann. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Frau Büscher deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

»Danke.« Anneke setzte sich.

»Prima, dass es gleich mit einem Treffen nach Ihrem Auftrag in Island geklappt hat. Möchten Sie einen Kaffee?«

Höflich nickte Anneke. »Ja, gerne.«

»Ist frisch gekocht.« Frau Büscher schenkte aus einer silbernen Thermoskanne dampfenden Kaffee in eine Tasse und stellte diese anschließend vor Anneke auf den Tisch. Ein kleines Tablett mit Zucker und Kaffeesahne stand ebenfalls bereit. Daneben befand sich der obligatorische Teller mit der Sorte Kekse, die kein normaler Mensch mehr essen konnte, wenn er länger als ein halbes Jahr im Büro gearbeitet hatte.

»Island und Norddeutschland liegen beim Wetter gar nicht so weit auseinander«, scherzte Anneke und gab etwas Milch in ihre Tasse.

»Wie war es denn in Island?«, wollte Frau Bücher wissen.

»Ach, es war wunderbar! Ich war zum ersten Mal in Island, und es ist wirklich eine Reise wert. Die Bevölkerung ist so gastfreundlich und herzlich. Zauberhaft ist auch ihr Glaube an ein Elfenreich. Wussten Sie, dass es in Island eine Elfenschule gibt und sogar Experten, die Straßenumfahrungen planen, damit das verborgene Volk nicht gestört wird?«

Um Frau Büschers Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Ich habe davon mal gehört. Das klingt wirklich wie ein absolut märchenhafter Ort.«

»Zweifellos wird die Reisenachfrage in den kommenden Jahren steigen, da bin ich mir sicher. Ich konnte einige hübsche Hotels für unseren neuen Markt akquirieren.«

»Neuer Markt ist übrigens das perfekte Stichwort«, nahm Frau Büscher den Faden auf und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Deswegen habe ich Sie zu einem persönlichen Gespräch hergebeten.«

»Aha? Ich dachte, es ginge vielleicht noch mal um Island.« Anneke trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee.

»Nein, es geht eher direkt vor die Haustür.« Frau Büscher stellte den Keksteller beiseite und schob ihr ein Strategiepapier zu. Es war eine Deutschlandkarte mit zahlreichen Markierungen. »Beim letzten Feelgood Tours-Meeting hat die Geschäftsführung beschlossen, verstärkt auf den deutschen Markt zu setzen.«

»Ach, das ist ja ganz was Neues«, sagte Anneke überrascht und studierte die Ortsnamen.

»Absolut. Und längst überfällig, wenn Sie mich fragen. Wie Sie wissen, waren wir bisher ausschließlich international orientiert. Dabei haben wir den Trend sträflich vernachlässigt, dass immer mehr Deutsche Urlaub im eigenen Land machen. Das wollen wir nun ändern.« Sie sah Anneke fest in die Augen. »Und dafür brauchen wir Sie.«

Anneke senkte den Blick auf die Karte und runzelte die Stirn. »Ich soll also die Schwäbische Alb für Sie erkunden?«

»Eher das nordfriesische Flachland. Für den Anfang wollen wir Hotels an der Nordsee ins Programm aufnehmen. Die neue Reisesparte soll neben einem Wohlfühlcharakter auch einen romantischen Aufhänger haben. Wir stellen uns die Einführung am Markt mit einer großen Aktion vor.«

Anneke nickte. »Klingt gut.«

»Ihr Auftrag wäre es unter anderem, die besten Hotels zu begutachten.«

»Unter anderem?« Anneke legte das Strategiepapier vor sich auf den Tisch und musterte ihre Vorgesetzte interessiert.

»Wir würden Sie für den Anfang gerne nach St. Peter-Ording schicken. Neben der Hotelbegutachtung vor Ort hätten wir dieses Mal den Wunsch, dass Sie außerdem auch die romantischsten Plätze in dem Küstenörtchen aufsuchen.«

Anneke war nicht sicher, was sie konkret erwarten würde. Aber eine Abwechslung wäre es allemal. »Das ist in der Tat mal etwas anderes.«

Frau Büscher lächelte. »Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, eine Art Reiseführer in einem kleinen Blog-Format zu schreiben? Mit diesem Gimmick könnten wir den Kunden unsere neue Sparte zusätzlich schmackhaft machen und hätten dafür gleich einen attraktiven Aufhänger. Liebe läuft ja immer.«

»Nur die Liebe zählt, oder wie heißt es so schön?« Anneke machte eine betont begeisterte Miene. Bei ihr persönlich lief die Liebe schon lange nicht mehr. Das Thema hatte sie auf Eis gelegt. Einen Mann brauchte sie schließlich nicht. Sie war eine erfolgreiche und unabhängige Frau. Und außerdem hatte sie überhaupt keine Zeit, um sich in ein amouröses Abenteuer zu stürzen.

»Könnten Sie sich denn vorstellen, unsere Romantik-Aktion vorzubereiten?«

Anneke lächelte. »Prinzipiell spricht nichts dagegen. Ich habe mal eine Zeit lang einen kleinen Reise-Blog geschrieben. Nichts Großes. Ich glaube, den haben bloß Freunde und meine Familie gelesen.«

Erfreut klatschte Frau Büscher in die Hände. »Das ist ja großartig! Ich wusste gleich, dass Sie genau die richtige Mitarbeiterin für unsere neue Sparte sind.«

Anneke nahm das Strategiepapier noch einmal zur Hand und suchte auf der Karte nach St. Peter-Ording. »Wann soll es denn losgehen?«

»Am besten gestern. Wir sind ja schon wieder mitten in der Planung für die nächste Sommersaison. Aber natürlich richten wir uns da ganz nach Ihnen. Falls Sie also für die nächsten Tagen etwas anderes …«

Kopfschüttelnd verneinte sie. »Nein, nein. Das passt gut in meine Planung.« So musste sie nicht erst von Hamburg nach Ratingen fahren, um dann ein paar Tage später wieder Richtung Norddeutschland aufzubrechen. »Ich kann mich direkt auf den Weg nach St. Peter-Ording machen. So weit scheint es nicht von Hamburg entfernt zu sein.«

»Bloß anderthalb Stunden mit dem Auto. Oder möchten Sie lieber mit dem Zug fahren?«

»Mit dem Auto wäre mir lieber. So komme ich besser von A nach B und bin nicht auf den Bus oder ein Taxi angewiesen.« Fahrten im überfüllten öffentlichen Nahverkehr mochte Anneke im Grunde genauso wenig wie volle Aufzüge. Im Auto war sie ungestört und konnte außerdem noch laut Musik hören.

»Dann besorgen wir Ihnen einen Mietwagen. Mit dem Sea & Spa Resort in St. Peter-Ording hatte ich übrigens schon vor geraumer Zeit wegen unserer Pläne telefoniert. Mir wurde zugesichert, dass dort immer ein Zimmer für uns frei ist. Hier, schauen Sie mal.« Frau Büscher reichte ihr die Hotelunterlagen über den Tisch hin, bevor sie zum Telefonhörer griff und eine Auszubildende damit beauftragte, einen Mietwagen zu buchen und Annekes baldiges Eintreffen im Sea & Spa Resort in St. Peter-Ording anzukündigen.

Zwei Stunden später lud Anneke ihre Koffer, die sie zuvor bei der Gepäckaufbewahrung am Hamburger Flughafen gelagert hatte, in einen geräumigen SUV. Sie legte ihren Business-Blazer auf den Rücksitz und gab die Adresse des Hotels in St. Peter-Ording in das Navigationssystem ein. Die Straße hieß Im Bad, was auf den ersten Blick ja schon nach Ruhe und Entspannung klang.

Das traf sich gut. Endlich mal wieder Zeit, die Natur zu genießen und auszuspannen. Anneke freute sich über das zu erwartende Kontrastprogramm. Das Wellness-Angebot des Hotels würde sie ausgiebig testen, und leckere Fischgerichte gab es bestimmt in jedem Restaurant. Gut gelaunt startete sie den Motor, fuhr los und hatte Glück. In einem Rutsch kam sie bis zur Autobahn 23 durch. Erst dort fädelte sie sich in zäh fließenden Verkehr ein, der sich jedoch gleich hinter Hamburg auflöste.

Vor sich eine weitgehend freie Fahrbahn, drehte sie die Musik im Radio lauter.

Obwohl sie tatsächlich nicht auf diesen Auftrag gefasst gewesen war, freute sie sich wirklich. Sie kannte St. Peter-Ording nur vom Namen, und dennoch hatte sie das Gefühl, dass ihr eine schöne Zeit bevorstand. Die Bilder im Hotelprospekt hatten sicherlich dazu beigetragen und in ihr die Lust auf Nordsee, Dünen und gemütliche Schmökerstunden im Strandkorb geweckt. Hinzu kam die direkte Strandlage des Sea & Spa Resorts, augenscheinlich eine der ersten Adressen in St. Peter-Ording.

Während sie das Lied im Radio mitsummte, wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich noch nie an der Nordsee gewesen war.

Familienurlaube hatten immer außerhalb von Deutschland stattgefunden, Klassenfahrten waren zum Skifahren in die Dolomiten, nach Berlin oder in irgendwelche Museen gegangen, die vom nordrhein-westfälischen Herten, ihrem Heimatort, in einem Tagesausflug erreichbar waren. Nach dem Abitur hatte sie ihr Tourismusstudium in Düsseldorf absolviert und war danach zusammen mit ihrem Bruder und Raik in die große weite Welt gezogen. Doch das war lange her. Seitdem war viel geschehen. Und wenn sie daran zurückdachte, kam ihr die Vergangenheit wie ein schlechter Traum vor, aus dem sie endlich erwachen wollte.

Ein Handyklingeln riss sie aus ihren grüblerischen Gedanken. Gut, dass der Servicemitarbeiter der Autovermietung ihr Handy mit der Bluetooth-Freisprecheinrichtung verbunden hatte. Anneke stellte das Radio auf lautlos und nahm das Gespräch an. »Hallo?«

»Ach, endlich erreiche ich dich! Hier ist die Mama.«

»Ach, hallo!«, sagte Anneke überrascht. Ihre Mutter klang vorwurfsvoll, und sie hatte auch allen Grund dazu.

»Wie geht es dir?«, erkundigte Anneke sich scheinbar leichthin. »Ich hätte dich auch bald angerufen.«

»Dein Bald kenne ich. Viermal habe ich schon probiert, dich zu erreichen. Nie bist du rangegangen. Mit deiner Mailbox habe vermutlich mehr Gespräche geführt als mit dir.«

»Tut mir leid! Ich war immer so viel unterwegs. Die Arbeit lässt mir kaum Zeit für Privates«, erwiderte Anneke. Sie wusste, warum ihre Mutter sie sprechen wollte. Und Anneke war auch klar, dass ihre Ausrede sehr lahm war. Sie hätte ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil sie nicht zurückgerufen hatte.

»Also, Anneke«, fuhr ihre Mutter tadelnd fort, ohne auf die Bemerkung über Arbeit und Privates einzugehen. »Was ist denn mit Papas Sechzigstem? Du kommst doch, oder etwa nicht?«

»Oje, Papas Geburtstag ist ja bald«, sagte sie zerknirscht.

Ärgerlich presste ihre Mutter hervor: »Jetzt sag nicht, du hast es vergessen!«

Anneke schluckte wieder. Sie sah fast vor sich, wie ihre Mutter die Hände in die Hüfte stemmte.

»Anne? Bist du noch da?«, fragte ihre Mutter, als sie nicht gleich antwortete.

»Ja, ich bin noch da. Und nein, ich habe den Geburtstag nicht vergessen«, antwortete sie hastig. »Ich bin nur gerade auf dem Weg von Hamburg nach St. Peter-Ording. Feelgood Tours hat mir ein sehr wichtiges Projekt übertragen. Ich werde wohl länger daran arbeiten. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich es schaffe …« Eigentlich kam ihr der Auftrag gerade recht. Vor dem anstehenden großen Familienfest graute es ihr schon lange Zeit. Und der Auftrag an der Küste bot ihr die perfekte Ausrede, an dem Jubiläum ihres Vaters – mal wieder – verhindert zu sein. Ihre Abwesenheit bei Geburtstagen, an Weihnachten und anderen Feiertagen hatte sie stets mit ihren beruflichen Reisen begründet und war bisher auch meistens auf Verständnis gestoßen – wenngleich ihre Eltern es oft nur zähneknirschend hingenommen hatten.

»Pfft!«, entfuhr es ihrer Mutter. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein! Die ganzen Jahre hast du dich kein einziges Mal bei uns blicken lassen, dass ich mich manchmal schon gefragt habe, ob ich überhaupt eine Tochter habe. Immer war was anderes, immer ist die Arbeit dazwischengekommen. Dein Vater wird aber nur einmal sechzig Jahre in seinem Leben, und er kann erwarten, dass auch du dabei bist.«

»Ich werde versuchen zu kommen.« Natürlich hatte ihre Mutter recht. Und zweifellos sollte sie als Tochter an dem Jubiläum ihres Vaters anwesend sein. Eigentlich sollte es darüber auch keine Diskussion geben. Aber sie konnte einfach nicht. Allein der Gedanke daran, mit ihren Eltern und anderen Familienmitgliedern zu Hause im Garten bei Kaffee und Kuchen zu sitzen, verursachte ihr Beklemmungen.

»Versuchen, versuchen. Man kann nicht immer nur arbeiten, Anne! Wie lange willst du denn noch diesen Lebensstil führen? Du bist jetzt vierunddreißig, ewig hältst du das nicht durch. Es gibt auch noch andere Dinge, außer die Firma.« Sie atmete hörbar ein und fuhr etwas leiser fort: »Irgendwann ist es dann vielleicht für bestimmte Dinge zu spät und dein Vater nicht mehr da.«

Anneke zuckte zusammen. Der letzte Satz ihrer Mutter hatte gesessen. »Ich werde es wirklich probieren«, versprach sie. »Vielleicht kann ich in St. Peter-Ording schneller fertig sein.«

»Eine Zusage hört sich anders an«, bemerkte ihre Mutter kurz angebunden. »Wir wollen im Schloss Westerholt feiern. Da wäre es von Vorteil zu wissen, wer alles kommt.«

Anneke nahm den Fuß vom Gaspedal und gab sich einen Ruck. »Ist gut. Plane mich für Papas Geburtstag ein.« Sie nahm sich fest vor, sich zusammenzureißen und es ihrem Vater zuliebe irgendwie hinzubekommen.

»Papa wird sich sehr freuen, wenn du kommst. Und ich mich auch. Wir alle werden uns freuen.« Ihre Mutter klang nun versöhnlicher. »Und Tante Rita wirst du vermutlich gar nicht los. Sie fragt so oft nach dir.«

Nachdem sie sich hinter einem Lkw in den Verkehr eingefädelt hatte und nun gemächlich weiter in Richtung St. Peter-Ording fahren konnte, seufzte Anneke. Sie musste ein paar Tränen fortblinzeln. »Was wünscht sich Papa eigentlich?«

»Dass du kommst«, lautete die prompte Antwort.

»Ich will aber nicht ohne Aufmerksamkeit erscheinen. Und jetzt sag nicht, dass es schon genug Geschenk ist, wenn ich komme.«

»Du kennst doch deinen Vater. Fragst du ihn, dann braucht er nie was. Die schönsten Geschenke sitzen für ihn mit am Tisch.«

Anneke seufzte. »Ich weiß. Ist wirklich schwierig bei ihm. Für dich fällt mir immer etwas ein.«

Jetzt lachte ihre Mutter kurz auf. »Ach, das ist bei Männern wohl im Allgemeinen nicht leicht. Lass dir was einfallen. Du wirst schon das Richtige finden. Er freut sich bestimmt. So, jetzt muss ich hier weitermachen. Im Backofen ist ein Kuchen, der muss bald raus.«

»Ist gut, Mutti. Dann bis demnächst.« Anneke beendete das Telefonat und drehte die Lautstärke des Radios wieder auf. Es lief der Klassiker Über sieben Brücken musst du gehen von Peter Maffay. Anneke schüttelte den Kopf, der Song passte gerade einfach zu gut.

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