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Liebe ohne Rezept

Als Buch hier erhältlich:

In der Liebe und beim Kochen ist alles erlaubt ...

Alma lebt auf St. Pauli ihren Traum von ihrem eigenen Restaurant mit veganer mediterraner Küche und hat damit die Cuisine, bei der sich vermeintlich immer alles um das Stück Fleisch oder Fisch auf dem Teller dreht, neu gedacht. Um noch mehr Gäste zu beglücken, hat sie bei der Stadt beantragt, die Parkplätze vor dem Restaurant als Terrasse nutzen zu dürfen. Eigentlich eine sichere Nummer, denkt Alma, ist man momentan doch eh bemüht, Parklets besser zu nutzen als nur für Autos.
Doch als eines Tages ein Transporter auf IHREN Parkplätzen steht, wird sie aus ihrer perfekten Welt gerissen. Schlimmer wird es noch, als sie sieht, was es mit dem Transporter auf sich hat: Denn die bis dato leerstehende Ladenfläche neben ihrem Restaurant wurde scheinbar wieder zum Leben erweckt – ausgerechnet mit einem Geschäft für Lederwaren. Totes Tier in der Auslage neben ihrem Restaurant? Garantierter Businesskiller. Und um das Chaos komplett zu machen, stellt der Inhaber des Ladens, der charmante Stefan, Almas Leben völlig auf den Kopf ...


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905386
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Alma strich die Tischdecke glatt. Sie strahlte blütenweiß, aber Alma wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Sie wusste nicht, was sie bevorzugte: die makellos eingedeckten Tische oder die Unordnung, die von einem Abend in bester Gesellschaft und mit hervorragendem Essen erzählte.

Von einem lauten Poltern wurde Alma aus ihren Gedanken gerissen. Arlo schob den Servierwagen mit Tellern und Gläsern aus der Küche in den Gastraum, und wie an jedem Vormittag blieb der Wagen an der Schwelle hängen, sodass ihre Chefkellnerin noch mal mit extra Druck anschieben musste. Es hatte sie einige Monate gebraucht, diese besondere Aufgabe zu perfektionieren, doch nun war sie die Einzige, die es schaffte, Geschirr aus der Küche in den Gastraum zu transportieren, ohne dass an dieser Schwelle mindestens ein Teller das Zeitliche segnete.

Arlo kam mitsamt Wagen neben ihrer Chefin zum Stehen und lächelte zufrieden. »Wieder ein Teller mehr, der nicht zu Bruch gegangen ist. Ich glaube, so langsam habe ich meinen Verschleiß aus meinen ersten Monaten wieder ausgeglichen«, lachte Arlo und begann, den Tisch einzudecken. Alma mochte ihre sonore Stimme, die sie immer an einen trocken-samtigen Rioja erinnerte.

Ja, sie verglich die Eigenheiten ihres Umfeldes immer mit Lebensmitteln. Sie konnte nicht anders, Essen und die ganze Kunst davor, dahinter und drum herum bestimmten ihre Arbeit, ihren Alltag, ihr ganzes Sein. Alma war die Leidenschaft für gutes Essen quasi in die Wiege gelegt worden. Kein Wunder, denn ihre Mutter Loretta – in Wesen und Küche waschechte Italienerin – betrieb schon seit Ewigkeiten ein kleines Feinkostgeschäft in Stade. Aufgewachsen war Alma umgeben von Pecorino, Antipasti und Bresaola, doch fürs Studium war sie vom Alten Land nach Hamburg gezogen. Hier kam sie zum ersten Mal mit dem Prinzip rein pflanzlicher Ernährung in Kontakt. Irgendwann fragte sie sich, ob sie die Leibspeisen aus ihrer Kindheit wohl auch vegan nachstellen könnte. Oder zumindest welche erzeugen, die ein vergleichbares Feuerwerk in jeder einzelnen Geschmacksknospe zündeten. Über ihre Selbstversuche startete sie einen Foodblog, der in kürzester Zeit so erfolgreich wurde, dass er Almas Berufsweg damit vorgab. Und auch ihren heimlichen Kindheitstraum vom eigenen Restaurant gar nicht mehr so abwegig erscheinen ließ.

Arlo reichte Alma zwei von den tiefen Pastatellern auf die andere Seite des Tisches. Dienstagmittags gab es keine Bestellung à la carte. Um in ihrem Restaurant das Gefühl eines Streetfoodmarkts aufkommen zu lassen, gab es jede Woche ein neues Thema. Die Servicekräfte schoben Wagen mit den verschiedensten Leckereien durch den Gastraum, und die Gäste konnten sich durch das Angebot probieren. »Oder halt wie ein Büfett ohne Anstehen«, hatte Arlo einmal gewitzelt, als Alma ihr von der Idee erzählt hatte. Doch seit sie sah, wie begeistert ihre Gäste das Dienstagskonzept annahmen, verkniff sie sich jeden weiteren Witz.

Arlo arbeitete fast von Beginn an im Dear Dairy, um sich ihr Studium zu finanzieren. Sie begeisterte sich brennend für die Themen Nachhaltigkeit, eine grüne und ressourcenschonende Lebensweise und die eigene Verantwortung der Welt gegenüber – und hatte das Gefühl, ihren eigenen Worten nach, im Dear Dairy eine Verbündete gefunden zu haben. Alma hatte es zu Beginn fast vor Arlos Überzeugung gegruselt, und sie hatte befürchtet, von ihrer neuen Servicekraft als Hochstaplerin entlarvt zu werden. Schließlich war dies nur ein Restaurant – und nicht die Schaltzentrale zur Rettung der Welt. Doch Arlos erstklassige Arbeit, ihr feines Gespür ihren Gästen gegenüber und ihr Talent für Service sorgten alsbald dafür, dass Alma jegliche Befürchtungen unter den Tisch fallen ließ. Sollte Arlo doch eines Tages das Licht aufgehen, dass Alma nicht die Jeanne d’Arc war, für die sie sie hielt – sie würde es mit Fassung tragen. Alma hoffte einfach, dass dieser Tag am besten gar nicht, und wenn, dann nicht allzu schnell kam. Auch Arlo schien sich so wohl im Dear Dairy zu fühlen, dass sie ihr Studium im vierten Semester pausierte – auf erst mal unbestimmte Zeit. Denn vielleicht, hatte sie einmal zu Alma gesagt, rettet man die Welt besser im Kleinen.

»Machst du hier fertig?«, fragte Alma eher rhetorisch und eilte in die Küche. Mit dem Aufdrücken der Doppelflügeltür strömte ihr ein verführerischer Duft von Muskatnuss in die Nase. Natürlich sehnte sie den nahenden Frühling ebenso herbei wie jeder andere Mensch in dieser Stadt, aber sie wusste auch, dass sie die deftigen Wintergerichte im Sommer wieder vermissen würde. Das Prinzip, dass ab Mai nur noch Salate und Wassermelone gegessen wurden, konnte sie nicht nachvollziehen.

Das Thema des heutigen Dienstags war Pasta – ein Klassiker, der sich natürlich besonderer Beliebtheit erfreute. Denn Alma produzierte ihre Pasta selber, und auch wenn Loretta das niemals zugeben würde, hatte ihre Tochter es geschafft, ihre Pasta mindestens genauso gut zuzubereiten wie sie selbst – in vegan.

Dass ihre Mutter ihr nicht mal diesen Erfolg zugestehen konnte, zeichnete eigentlich schon ein recht umfassendes Bild ihrer Beziehung. Loretta war schwierig, anders konnte Alma es nicht bezeichnen. Auf der anderen Seite war sie die einzige Familie, die sie hatte, denn ihr Vater spielte in ihrem Leben keine Rolle. Der hatte sich verabschiedet, als Alma noch klein war. Und bevor sie ganz ohne Familie dastand, richtete sie sich lieber mit ihrer charakterstarken Mutter ein.

Für heute standen Variationen mit Kürbis und Chili, Grünkohlpesto oder cremiger Wirsingsoße zur Auswahl. Nicht nur führte Alma mit dem Dear Dairy ein rein pflanzliches Restaurant, es war ihr auch wichtig, so saisonal und regional wie möglich zu kochen. Dass sie niemals hanseatische Cashewkerne würde verwenden können, war ihr klar. Und auch die eine oder andere obligatorische Avocado fand sich auf ihrer Karte. Aber bei ihren Hauptzutaten legte sie ein großes Augenmerk auf den Saisonkalender. Und dass man im Februar keine Himbeeren essen musste, leuchtete ja auch irgendwie ein. Die schmeckten eh besser, wenn man sie sich auf die Finger stöpseln und gegen das Sonnenlicht halten konnte. Und im Hamburger Februar gab es nun mal ähnlich viel Sonnenlicht wie Himbeeren.

Alma rührte den Topf um, in dem knapp fünfzig Liter Hafersahnesoße mit Wirsing köchelten. Sie warf einen Blick in den Ofen. Der Kürbis röstete vor sich hin und würde sich später mit der Pasta schön cremig vermengen. Das Pesto aus Grünkohl, Knoblauch, Cashews und einem Spritzer Zitrone hatte sie gestern schon angesetzt, damit es heute richtig durchgezogen war. Sie verkniff sich, es ein weiteres Mal zu kosten, sonst würden ihre Gäste am Ende noch leer ausgehen. Denn am Vormittag waren schon zwei volle Löffel in ihrem Magen gelandet.

Nachdem sie sichergestellt hatte, dass alles so köchelte, brutzelte und fusionierte, wie es sollte, verließ sie die Küche wieder, um sich einen Kaffee zu machen. In der Ecke stand sie, ihre La Marzocco Linea. Die Siebträgermaschine hatte sie sich selbst zur Eröffnung geschenkt, dieser Akt der völligen Unvernunft hatte Alma neuntausend Euro gekostet. Aber innerlich bedankte sie sich jeden Tag bei sich selbst, wenn sie die Maschine einschaltete. Sie ließ je zwei Kaffee aus jeder Gruppe laufen, bevor sie die Siebträger erneut unter die Mühle hielt, beobachtete, wie frisch gemahlenes Pulver reinrieselte, es festdrückte und die Träger in die Kaffeemaschine einhakte. Während der Kaffee schwer und zäh aus der Maschine floss, erwärmte sie Hafermilch an einer der beiden Milchdüsen und stellte drei Tassen bereit.

Wie wohl jeder Mensch mit einer Begeisterung für kulinarische Themen und zeitgenössische Ästhetik hatte sich auch Alma kurzzeitig an Latte Art versucht. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, Kraniche, Blumen oder Herzen in den Milchschaum zu malen. Als sie einem Gast nach einem weiteren missglückten Versuch einmal versehentlich Latte Art in Form eines Penis serviert hatte, hing sie das Projekt an den Nagel und befand, dass ein guter Kaffee eh mit geschlossenen Augen getrunken wurde.

Sie ließ in zwei Tassen je einen einzelnen Espresso und in eine einen doppelten laufen und füllte den verbleibenden Raum mit warmer Milch auf. Eine Tasse stellte sie auf die Theke.

»Für dich«, sagte sie, und Arlo nickte nur, während sie weiter Besteck auf den Tischen verteilte. Alma nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken, schlüpfte hinein, schnappte sich den normalen und den extrastarken Cappuccino und verließ das Restaurant. Kaum durch die Tür, schlug ihr die noch frische Morgenluft ins Gesicht. Zwar waren für heute zwölf Grad und Sonne vorhergesagt. Doch morgens um zehn Uhr war davon noch nicht viel zu spüren. Auch die Sonne versteckte sich noch recht verhalten hinter einer lockeren Wolkenkette.

Wird schon noch, dachte Alma, schaute kurz nach links und rechts, bevor sie die Wohlwillstraße überquerte. Auf der anderen Seite stand eine Parkbank, und auf dieser Bank saß Fiete.

»Moin, Fiete«, grüßte sie den älteren Mann, als sie auf ihn zulief. Dieser hatte sich über die drei Plastiktüten neben sich gebeugt und schien die Plastikflaschen zu zählen. Als er seinen Namen hörte, blickte er auf, und Alma konnte inmitten des grauen wilden Haars, das auf seinem Kopf und in seinem Gesicht wuchs, ein herzliches Lächeln ausmachen.

»Alma, meine Liebe, auf die Minute pünktlich. Wie immer.« Er schob die Tüten an den Rand der Bank und rückte nach, sodass Alma neben ihm Platz nehmen konnte. Alma reichte ihm die Tasse mit dem extrastarken Kaffee und lächelte. Sie kam jeden Morgen zu einer anderen Uhrzeit, je nachdem, wie es mit den Vorbereitungen im Restaurant lief. Aber in Fietes Augen war sie immer pünktlich.

Fiete war vermutlich jünger, als er wirkte. Doch er sah verlebt aus. Seine Haare waren grau bis weiß, gleich lang und standen wild in alle Richtungen ab. Almas Blick verweilte aber nie lange bei der Frisur, da seine eisblauen Augen sie sofort für sich einnahmen, eine so hypnotische Wirkung hatten sie. Feine Fältchen zeichneten seine Haut. An denen konnte man ablesen, dass er den Großteil seines Lebens draußen verbracht hatte. Er war groß und schlank und ein bisschen ausgemergelt. Alma konnte überhaupt nicht schätzen oder raten, wie alt er war, denn Fiete sah einfach unendlich alt aus. Auch wusste Alma nicht sehr viel über seine Vergangenheit. Er saß jeden Vormittag auf dieser Bank und machte seine Buchhaltung, wie er es nannte. Fiete war nicht wohnungslos, glücklicherweise. Dennoch stockte er seine augenscheinlich karge Rente mit Flaschensammeln auf. Er nahm das mit Humor und meinte, so würde bei ihm wenigstens keine Langeweile aufkommen. Denn für ihn war nichts so schlimm wie die Vorstellung, den ganzen Tag in einem Ohrensessel vor dem Fernseher zu verbringen.

Fiete hatte schon auf dieser Bank gesessen, bevor das Restaurant eröffnet war und noch mitten im Umbau steckte. Jedes Mal, wenn Alma an seiner Bank vorbeigekommen war, hatte er sie höflich gegrüßt. Alma hatte erst gedacht, dass er sie um etwas Kleingeld anschnorren wollte, aber eine solche Frage war ihm nie über die Lippen gekommen. Fiete war einfach ein höflicher und kommunikativer Mensch. Aus den Grüßen waren bald kurze Gespräche geworden, und irgendwann an einem Vormittag, als sie schon seit einer halben Stunde nebeneinandergesessen hatten, war Alma mit den Worten »Ist ja Quatsch so!« aufgesprungen und verschwunden, nur um ein paar Augenblicke später mit zwei Kaffeebechern in der Hand zurückzukommen. Damals noch vom Café um die Ecke, da das Dear Dairy nach wie vor eine Baustelle gewesen war. Aber so, ganz ohne, dass sie es merkten, hatten Alma und Fiete eine Tradition ins Leben gerufen, die keiner von beiden mehr missen wollte. Inzwischen war es sogar so weit, dass Alma sich fragte, was Fiete wohl montags am Vormittag machte. Denn da hatte das Dear Dairy zu, und Alma machte an diesen Tagen Homeoffice, um sich um den lästigen Kram wie Buchhaltung und Umsatzsteuervoranmeldungen zu kümmern. Ein herzhaftes Schlürfen, gefolgt von einem zufriedenen Ahhhhh holte Alma zurück in die Gegenwart.

»Na, schmeckt’s?«, fragte sie grinsend und nahm selbst einen Schluck.

»Hätte ja nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber diese Gemüsemilch, die du da reinkippst, schmeckt wirklich.«

Die Gemüsemilch, wie Fiete sie nur noch halb abwertend nannte, war Hafermilch. Am Anfang war er skeptisch gewesen, doch Alma, in ihrer stoischen Art, hatte ihm immer wieder einen Cappuccino mitgebracht. Inzwischen war er ein großer Fan von Hafermilch.

Alma beobachtete, wie Fiete seine Tasse mit beiden Händen an seine Lippen hielt, oder zumindest an die Stelle in seinem haarigen Gesicht, wo Alma seinen Mund vermutete, und sich an der Keramik wärmte. Seine Hände wollten dabei so gar nicht zu seiner restlichen Erscheinung passen. Alma konnte die eine oder andere Narbe am Handrücken ausmachen, natürlich. Aber ihre Hände sahen dank Backöfen und ihrem eigenen Ungeschick um einiges schlimmer aus. Fietes Finger hingegen waren lang und gerade, sie wirkten geradezu elegant. Als wäre der ganze Mann im Nachtleben von St. Pauli aufgewachsen, nur seine Hände hätten derweil eine erstklassige Klavierausbildung im Hamburger Konservatorium genossen.

Ein hellblauer Fiat Panda fuhr an ihnen vorbei, bog rechts in die Brigittenstraße und parkte vor dem leer stehenden Laden direkt neben dem Dear Dairy. Irgendwann wollte Alma das Dear Dairy erweitern. Vielleicht würde sie aus dem leer stehenden Laden eine Weinbar machen. Aber das war noch Zukunftsmusik. Und da der Laden seit jeher leer stand, machte sie sich keinen Stress, diese Zukunft überstürzt in die Tat umsetzen zu müssen. Denn wenn eine Fläche in St. Pauli so lange unverpachtet war, dann steckte da meist eine olle Immobilieninvestmentspekulation oder ein nicht enden wollender Erbstreit dahinter. Alma hatte also genügend Zeit, das Dear Dairy so groß zu machen, dass sie sich einen zweiten Laden leisten konnte. Außerdem kam ihr der Leerstand mehr als entgegen, da sie auf dem Parkplatz direkt vor dem Laden ihr Parklet plante.

Sie sah die Erweiterung ihrer Terrasse im Sommer ganz genau vor sich: Mit schlichten Holzmöbeln und vielen Pflanzen und Blumenkästen auf den beiden Parkplätzen würde sie eine Oase für ihre Gäste schaffen. Und ohne Pächter würde sich auch niemand über die Nutzung der Parkfläche direkt vor der Tür beschweren.

Fiete, der ihrem Blick gefolgt war, stupste sie mit dem Ellbogen leicht in die Seite. »Immer noch nichts von den Parkplatzleuten gehört?«, wollte er wissen, und der hanseatische Singsang schwang in jeder Silbe seiner Frage mit.

»Nee.« Alma schüttelte den Kopf. Sie wusste selbst nicht, was da so lange dauerte, immerhin hatte sie ihre Bewerbung für das Parklet schon vor fast einem Monat abgeschickt. So beschäftigt konnten die Angestellten des Bezirksamts Mitte doch gar nicht sein.

»Wird schon«, sang Fiete und leerte seine Tasse.

»Mhm«, brummte Alma, und Fiete drückte ihr kurz den Unterarm.

»So, dann muss ich aber mal«, sagte er, klatschte sich in deutschester Manier auf die Oberschenkel, bevor er voller Elan aufstand und nach seinen Tüten griff.

»Kommst du nachher vorbei? Ich pack dir eine Portion beiseite«, fragte Alma, die ihren Kaffee ebenfalls geleert hatte und beide Tassen in der Hand hielt.

»Du weißt doch, was ich von so Hasenfutter halte«, lachte Fiete. »Gemüsemilch ist ja das eine. Aber übertreiben muss man es auch nicht.«

Er sagte es mit einem solchen Augenzwinkern in der Stimme, dass Alma gar nicht anders konnte, als einfach zu lachen.

»Es ist Dienstag, Fiete. Heute gibt es Nudeln. Mit Kürbis.«

»Sag ich doch«, lachte Fiete.

»Wir sehen uns später!«, rief sie noch, als sie über die Straße lief. Alma öffnete die Ladentür, und automatisch legte sich ein Schalter in ihrem Kopf um. Ihre kurze Auszeit war vorbei, und die To-do-Liste der noch anstehenden Aufgaben bis zum Mittagsgeschäft rollte sich in ihrem Kopf auf. Arlo hatte die Tische fertig eingedeckt und überprüfte gerade die Getränkebestände. Sie kniete hinter der Bar und hatte die Kühlschubladen aufgezogen.

»Na, hat sich wieder jemand auf dein Parklet gestellt?«, neckte sie ihre Chefin, und Alma streckte ihr die Zunge raus. Klar, das Parklet würde mehr Tische bedeuten und das wiederum mehr Arbeit für Arlo. Aber es wäre auch der Beweis dafür, dass Almas und Arlos harte Arbeit Früchte trug, und es wäre das erste Vorpreschen zu Almas zweiter Fläche, mit der sie auch schon so lange liebäugelte. Wortlos verschwand Alma in der Küche. Dass sie verkopft und ehrgeizig war, war kein Geheimnis. Aber vermutlich konnten weder Fiete noch Arlo nachvollziehen, wie sehr sie dieses Parklet haben wollte. Und sie würde es bekommen.

2

»Das ist ja wohl nicht deren Scheißernst!«

Am liebsten hätte Alma den Topf mit der Sanddornkonfitüre, die gemächlich vor sich hin blubberte, durch die gesamte Küche geworfen. Im letzten Moment konnte sie sich aber noch zurückhalten. Das war es nicht wert. Zu lange tüftelte sie dafür schon an diesem Rezept.

Sie wollte eine Pannacotta kreieren, deren Vanillenote ganz wunderbar mit dem säuerlichen Sanddorn kontrastierte. Doch irgendetwas hatte immer gefehlt, wenn Alma dieses Dessert zubereitete – und tat es immer noch. Etwas, das diesem Dessert mehr Tiefe verlieh. Diese geheime Zutat, nach der Alma nun schon seit Monaten forschte, lag ihr förmlich auf der Zunge und ließ sich doch nicht greifen.

In diesem unfertigen Zustand schafften es ihre neuen Kreationen eigentlich nicht auf die Karte. Doch irgendwann waren Alma die Ideen ausgegangen, welches die gesuchte Zutat sein könnte, und sie hatte gehofft, einer ihrer Gäste hätte vielleicht eine Antwort. Jemand mit frischem Kopf und neutralem Gaumen. Also pries sie das Dessert als zehnte Sinfonie an, ein unvollendetes Meisterwerk.

Ihre Gäste, zumindest diejenigen, die regelmäßig ins Dear Dairy kamen, wussten um die Besonderheit der Pannacotta mit Sanddorn und waren immer wieder aufs Neue gespannt, ob die Komposition wohl zwischenzeitlich vollendet worden war oder, wenn nicht, welche geschmackliche Richtung Alma wohl diesmal eingeschlagen hatte. Heute hatte sie etwas Lavendel in die Konfitüre gestreut. Ein riskantes Unterfangen, das schnell zu geschmacklicher Seife führen konnte, aber Alma war heute abenteuerlich unterwegs. Seife? Vielleicht würde ja eine Garnitur aus frischem Koriander dem Dessert die gesuchte Note verpassen, falls sich auch Lavendel als Flop herausstellen sollte? Aus diesem Grund hatte Alma ihr Handy von dem Regalbrett genommen, um sich eine Notiz dazu zu machen. So kam es, dass sie die Mail in ihrem Postfach gesehen hatte. Nun wünschte sie sich, sie hätte gar nicht nach ihrem Handy gegriffen. Sie las die Mail noch mal. Und gleich noch mal.

Sie hatten ihre Bewerbung abgelehnt? Viel schlimmer noch: Sie hatten Almas Bewerbung mit einer Standardantwort abgefertigt und dann noch einen frechen Kommentar eingefügt? Sie las die Mail ein weiteres Mal und blieb bei den abschließenden Worten hängen. Arthur Hägele also. Nein, es verwunderte sie überhaupt nicht, dass ein alter, weißer Mann ihre Bewerbung ablehnte. Natürlich konnte Alma nicht wissen, ob es sich bei Arthur Hägele um einen alten, weißen Mann handelte, aber sie war sich sicher. Alles an seinem Namen klang alt und weiß.

Arthur Hägele. Der Name brannte sich in Almas Frontallappen ein. Sie rührte in ihrer Konfitüre, murmelte den Namen des Hamburger Sachbearbeiters vor sich hin – Arthur fucking Hägele – und malträtierte das Fruchtkompott so lange, bis Arlo die Küchentür aufdrückte.

»Ist alles okay?«

»Was?« Erschrocken blickte Alma auf.

»Ob alles okay ist, wollte ich wissen.« Erst jetzt traute sie sich, die Tür gänzlich zu öffnen und ihrem gefärbten Schopf den Rest ihres Körpers in die Küche folgen zu lassen. Arlos Afrolocken waren auf wenige Millimeter rasiert und aktuell lila gefärbt. Die Haarlänge blieb meistens gleich, doch die Farben wechselte sie ungefähr so häufig wie Alma die Rezeptur für die Sanddornkonfitüre. Dieses Mal hatte sich Arlo aber nicht nur auf ihren Kopf beschränkt, sondern auch ihre Augenbrauen in derselben Farbe gefärbt. Arlo, die in Almas Augen die personifizierte Coolness war, sah damit noch eindrucksvoller aus. Wenn die Wut über die Absage verflogen war, würde sie ihr ein Kompliment dafür machen, dachte Alma und setzte das als weiteres To-do auf ihre gedankliche Liste.

»Ach so, ja«, sagte Alma und zog den Topf vom Herd. »Ich habe das Parklet nicht bekommen.«

»Das tut mir leid«, antwortete Arlo und meinte es. Das konnte Alma in ihrer Stimme hören.

»Na ja«, sagte sie, zuckte mit den Schultern und streckte den Rücken durch, »werden wir sehen, ob Arthur fucking Hägele seine Meinung nicht doch noch ändern wird.«

Arlo nahm sich einen Löffel von der Ablage und tauchte ihn in die Sanddornmasse. Alma, die sonst mehr als pedantisch in ihrer Küche war, ließ es geschehen. Arlo hatte so oder so einen Sonderstatus, zudem schätzte sie ihre Meinung sehr. Sie schob sich den Löffel in den Mund, schloss die Augen und nahm sich einen Moment. Dann öffnete sie die Augen.

»Was hast du vor?«, fragte sie dann.

Alma entwich die Luft, die sie vor Spannung angehalten hatte, und sie stemmte die Hände in die Hüften. »Mehr hast du zum Sanddorn nicht zu sagen?«, fragte sie genervt.

»Ist gut«, murmelte Arlo. »Also, was hast du vor?«

»Nichts«, sagte Alma und versuchte, unschuldig auszusehen. Offensichtlich klappte es nur bedingt, denn Arlo zeigte sich kein Stück beeindruckt – oder überzeugt.

»Gib mir einfach nur rechtzeitig Bescheid, falls wir das Restaurant schließen oder uns ins Ausland absetzen müssen.« Damit verließ sie die Küche wieder, und Alma wusste immer noch nicht, was sie wirklich von der aktuellen Sanddornkomposition hielt. Alma überprüfte, ob sie den Herd ausgeschaltet hatte, bevor sie ebenfalls aus der Küche lief.

Aus dieser Perspektive, wenn sie aus der Küche kam, mochte sie den Anblick ihres Restaurants am allermeisten. Zu ihrer Linken begann die lange Theke. Sie ging über die Ecke des Raumes und an der Längsseite bis fast ganz nach vorne zur Front und war wie alle anderen Holzoberflächen aus Eichenholz mit stark strukturiertem Muster. Alma hatte so viele Thekenplätze wie möglich schaffen wollen und dafür auch in Kauf genommen, drei Tische weniger im Gastraum platzieren zu können. Die runden Tische im Gastraum standen relativ wild verteilt. Sie wurden flankiert von Stühlen in Gelb, Orange, Mintgrün und Rosa. Die Stühle aus Kunststoff waren alle unterschiedlich geformt, sodass sie erst in ihrer Summe ein stimmiges Bild ergaben und perfekt mit den metallenen knallorangen Barhockern harmonierten. Rechtsseitig stand die lange Tafel, Almas ganzer Stolz. Sie hatte die Eichenplatte eigenhändig geölt und wiederholte dieses Prozedere alle paar Wochen. So bekam die Tafel eine individuelle Patina, die in einigen Jahren von hoffentlich unvergessenen Abenden im Dear Dairy erzählen würde. Während im restlichen Raum die Fliesen weiß und matt waren, glänzten sie an der rechten Wand in Flaschengrün. Darauf prangte in etwa drei Metern Höhe ein großes Neon-LED-Schild mit dem Schriftzug Dear Dairy. Natürlich hatte sich dieser Ausschnitt zum Instagram-Hotspot etabliert, aber der Kontrast aus dunkelgrüner Fliesenoptik und neonpinker Leuchtschrift machte auch einfach viel her.

»Arlo«, rief sie in den leeren Gastraum, »du bist mir noch eine Antwort schuldig!« Sie wartete einen Moment, aber Arlo tauchte nicht hinter der Theke auf. Dann konnte sie nur draußen sein, mutmaßte Alma und durchquerte ihren Laden bis zur Tür. Und tatsächlich: Arlo stand vor dem Dear Dairy und arrangierte die Trockenblumen, die in einer gigantischen Vase neben dem Eingang thronten.

»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, wiederholte sie ihre Aufforderung von eben. Überrascht zog Arlo die Augenbrauen nach oben.

»Zum Sanddorn«, fügte Alma hinzu, weil Arlo immer noch nichts gesagt hatte. Doch Arlo kam nicht dazu zu antworten, da eine andere Sache die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zog. Ein weißer Lieferwagen fuhr im Schritttempo an ihnen vorbei, bog rechts in die Brigittenstraße und hielt auf dem Parkplatz, der doch eigentlich Almas Parklet werden sollte. Der Sprinter setzte in der Parklücke noch ein Stück zurück und riss dabei einen von Almas Stühlen um. Die Terrasse hatte sie erst ein paar Tage zuvor aufgebaut, und natürlich saß da am Abend noch niemand, aber mittags, wenn die Sonne sich blicken ließ, konnte man schon ohne Erfrierungserscheinungen draußen sitzen. Vorausgesetzt natürlich, dass kein Autofahrer in einem Lieferwagen ihre gesamte Terrasse umnietete.

»Siehst du, das passiert, wenn man das als Parkplatz belässt«, knurrte Alma und marschierte auf den weißen Sprinter zu. In dem Moment hörte sie die Tür auf der Fahrerseite schlagen, der Übeltäter war also ausgestiegen. Hinter dem Wagen erschien ein großer Mann mit hellbraunen kurzen Haaren und einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht.

»Oh«, sagte er überrascht, als er den Stuhl sah, der unter seiner Stoßstange eingekeilt war. Er bückte sich, um das Objekt aus seiner misslichen Lage zu retten, die glücklicherweise gar nicht so dramatisch war wie von Alma angenommen. Der Fremde konnte den Stuhl ohne Probleme hervorziehen und überprüfte, ob er noch heile war.

»Nicht verbogen oder kaputt«, sagte er, schaute sich kurz um und entdeckte dann den leeren Platz am Tisch neben ihm, an den der Stuhl gehörte. Er stellte ihn dorthin zurück und wandte sich wieder Alma zu.

»Tut mir sehr leid, das war keine Absicht«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen.

»Das wäre ja noch schöner.« Alma klang kalt, doch der Fremde ließ sich davon weder beirren noch beeindrucken. Er machte einen Schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand.

»Hi, ich bin Stefan.« Er wartete vergeblich, dass sie seine Hand ergriff, doch Alma hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

»Und hast du vor, hier lange zu parken?«, fragte sie stattdessen und schaute zu dem Sprinter. »Wie dir vielleicht auffällt, blockierst du meine halbe Terrasse.«

Zu ihrer Überraschung lachte der Mann auf, und das nicht mal hämisch oder zynisch. »Das tut mir natürlich leid! Junge, Junge, ich komme aus dem Entschuldigen ja gar nicht mehr raus. Das mit dem guten ersten Eindruck hab ich wohl verbockt«, sagte er und grinste Alma so unverhohlen flirtend an, dass sogar sie die Intention mitbekam, obwohl es ihr sonst so schwerfiel, solche Zeichen zu verstehen.

»In der Tat«, versuchte sie, cool zu bleiben. »Also?«

»Ja, äh, wir beeilen uns«, stotterte Stefan, just als die Beifahrertür aufgedrückt wurde und ein weiterer Mann ausstieg. Er war etwas kleiner als Stefan, dafür umso durchtrainierter. Seine Haut war schon jetzt im März so gebräunt, wie Alma mit Glück in einem guten Sommer mit viel Freizeit aussah – also nie –, und mit neidvollem Blick kam ihr der Gedanke, dass sein Anblick wohl das ganze Jahr über so blieb. Der Mann strahlte die pure Gesundheit aus. Er nickte Alma kurz zu, bevor er sich an Stefan wandte.

»Was’n jetzt, Golo? Legen wir mal los?« Erst dann begutachtete er den schmalen Abstand zwischen den Hecktüren des Transporters und Almas Außenbestuhlung. Unbeeindruckt zuckte der Mann mit den Achseln.

»Dann entladen wir eben über die Seitentür.«

Alma blickte verwirrt von dem Neuankömmling zum anderen Mann. »Golo?«, fragte sie. »Entladen?«

Stefan fuhr sich mit der Hand durch die hellbraunen Haare und wirkte, als hätte man ihn bei einem Streich ertappt.

»Golo ist mein Spitzname«, begann er. »Mein Vater wollte mich gerne so nennen, doch meiner Mutter gefiel das nicht, und so bekam ich den Namen Stefan. Aber mein Vater hat Golo einfach als Spitznamen etabliert. Es ist bis heute ein Streitthema bei den beiden. Und na ja, jetzt nennen mich meine Freunde eben so.« Und wieder folgte auf seine Worte dieses direkte Grinsen.

»Okay, Stefan, und was genau entladet ihr da jetzt?«

Alma bekam das kaum merkliche Zucken in seinem Gesicht deutlich mit, aber es war ihr egal. Sein Charme mochte bei allen anderen funktionieren, doch an ihr würde er sich die Zähne ausbeißen. Sie kannte diese Charmeure, die dachten, sie könnten sich in das Herz einer Frau lächeln, und so direkt flirteten, dass es eher einer feindlichen Übernahme glich. Sie hatte einmal ihr Herz an so einen Kandidaten verloren. Vermutlich konnte man von Glück sprechen, dass es passiert war, als Alma jung gewesen war. So hatte sie ihre Lektion frühzeitig gelernt. Seitdem konnte sie getrost auf diese Art Mann verzichten – und tat es auch.

Stefans Gesicht nahm eine neutrale Mimik an, und er ging die paar Schritte zur seitlichen Schiebetür des Sprinters. Alma folgte ihm und warf einen Blick ins Innere des Wagens. Zu ihrem persönlichen Schrecken sah das ganz nach einem Umzug aus. In dem Auto stapelten sich Kisten und bizarr aussehende Möbelstücke. Na toll, wenn Stefan hier heute eine Wohnung bezog, dann würde sein Wagen eine ganze Weile da stehen.

»Ich richte hier mein Atelier ein«, sagte Stefan freudestrahlend.

»Ähm, wo jetzt genau?«, fragte Alma, die sich nicht sicher war, ob sie ihn auch richtig verstanden hatte. Und als wäre dieser Tag nicht schon schlimm genug, zeigte Stefan ausgerechnet auf den leeren Laden, der an ihr Restaurant anschloss.

»Nein.« Alma schüttelte den Kopf. Wieder schaute Stefan recht amüsiert.

»Wie, nein?«, fragte er.

»Du kannst da nicht einziehen. Nicht in den Laden.«

»Wieso nicht?«

»Weil der seit Jahren leer steht! Weil da nie jemand einzieht!« Empört warf Alma die Arme in die Luft und stemmte sie anschließend energisch in die Hüften.

Stefan hob eine kleine Kiste aus dem Transporter.

»Na dann schau mir mal dabei zu, wie ich ganz genau das mache«, sagte er und verschwand im Innern des Ladens. Alma war so verdattert, dass sie sich erst mal nicht bewegen konnte. Stefans Freund kam wieder aus dem Laden und griff nach Almas Hand.

»Moin! Sorry, ich hab mich vorhin gar nicht vorgestellt. Aber weißte, wenn Golo einmal ins Schwafeln kommt, dann hört der so schnell nicht wieder auf. Und ich würde heute auch ganz gerne noch fertig werden mit dem Gedöns hier, die Kids warten zu Hause, und ich hatte ihnen eigentlich noch versprochen, auf den Spielplatz zu gehen. Ach so, Santino ist mein Name, aber bitte, nenn mich Santi. Freut mich!«

Er schüttelte Almas Hand. Sie konnte gar nicht richtig reagieren, weil sie noch immer auf den Eingang des nun nicht mehr leeren Ladens starrte. Dann sprang Santi in den Van, um die nächsten Sachen auszuladen.

»Golo, pack mal mit an. Die Werkbank schaff ich alleine nicht«, rief er. Der Angesprochene trat aus dem Eingang und stoppte vor Alma, die mitten im Weg stand. Da sie keine Anzeichen machte, sich zu bewegen – der Schock war nach wie vor zu groß –, packte er sie einfach sanft an den Schultern und schob sie einen Meter nach hinten. Er klopfte ihr mit einer Hand zweimal auf die Schulter, als sei sie ein alter Kumpel, und half Santi, das Ungetüm von Arbeitstisch aus dem Wagen und in den Laden zu verfrachten. Jetzt endlich kehrte auch wieder Leben zurück in Almas Körper, und sie folgte den beiden. Die Männer wuchteten die Werkbank gerade an die Seite des Raumes, der kaum breiter war, als seine Fensterfront erahnen ließ. Überall verteilt standen Kisten, Stefan musste also schon mal hier gewesen sein und einige Dinge vorbeigebracht haben. Wie konnte Alma das nicht mitbekommen haben?

Sie ging ziellos durch den Raum, strich über einige der Kisten und kam vor einer geöffneten zum Stehen. Neugierig warf sie einen Blick in die Kiste – und schreckte eine Sekunde später zurück. Nein. Bitte nicht. Also wirklich bitte alles, nur das nicht.

Sie drehte sich zu Stefan und Santi um, die neben der Werkbank standen und diskutierten, ob man diese nicht noch ein Stück nach links oder rechts verschieben sollte.

»Was für einen Laden machst du denn hier auf?«, fragte Alma. Überrascht drehten sich die beiden um. Offenbar hatte keiner von ihnen mitbekommen, dass Alma reingekommen war.

»Ein Atelier und eine Werkstatt für meine Designs«, antwortete Stefan, und es schwang Stolz in seiner Stimme mit.

»Designs?«, fragte Alma weiter und war bemüht, so gelassen wie möglich zu klingen. Vielleicht hatte sie sich ja auch getäuscht.

»Ja, ich bin Sattler. Oder eben Feintäschner, das klingt irgendwie – ästhetischer.«

Wieder lachte Stefan, doch Alma spürte, wie ihr Herz für einen Moment einfach den Dienst verwehrte und ein paar Etagen nach unten abrutschte.

Erwartungsvoll blickte Stefan sie an. Offensichtlich war er es gewohnt, eine bestimmte Art von Reaktion zu bekommen, nämlich Interesse, Faszination und vielleicht auch Bewunderung. Alma hingegen hatte große Mühe, ihm nicht an die Kehle zu springen und ihn direkt wieder aus dem Laden, der Straße und St. Pauli zu vertreiben.

»Du verarschst mich, oder?«

Stefan und Santi wechselten ein paar ratlose Blicke.

»Äh, nein, eigentlich nicht. Wieso sollte ich?«

Alma gab einen hohen tz-Laut von sich und strich sich ungläubig die Haare aus der Stirn. »Weil ich hier nebendran mein Restaurant betreibe. Mein veganes Restaurant! Das zufälligerweise das beste vegane Restaurant der Stadt ist. Da kannst du doch nicht deine toten Tiere ins Schaufenster legen. Du ruinierst mein Geschäft!«

Den letzten Satz brüllte sie fast. So laut, dass Santis Augenbrauen erschrocken versuchten, sich am Haaransatz zu verstecken. Und Stefan? Der blickte Alma ganz ungläubig an. Zuerst zuckte sein Kinn. Dann seine Mundwinkel. Und dann schüttelte sich der ganze Kerl aus vor Lachen.

»Oh bitte«, japste er nach einer Weile und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. »Kurz dachte ich schon … Aber keine Sorge, wir klauen uns gegenseitig schon nicht die Kundschaft.«

»Natürlich nicht, du vertreibst meine!«

»Ach, i wo«, tat Stefan ihre Sorge ab und unterstrich diese Frechheit auch noch mit einer entsprechenden Handbewegung. Wenigstens Santi war klug genug, um den Mund zu halten. Er hatte wohl verstanden, dass sie gar nicht zum Scherzen aufgelegt war.

»Du musst dir einen anderen Laden suchen«, sagte sie und ballte die Hände zu Fäusten.

»Pardon?« Dass Alma keine Witze machte, war nun wohl auch bei Stefan angekommen.

»Du musst dir einen anderen Laden suchen. Wenn du diesen hier gefunden hast, findest du auch einen anderen. Ich bin mit dem Dear Dairy seit Jahren hier, ich kann nicht umziehen. Aber für dich macht es ja keinen Unterschied, ob du nun hier oder in Eppendorf oder in der Rindermarkthalle verkaufst.«

»Tut mir leid, das geht nicht«, antwortete Stefan.

»Du solltest dir gut überlegen, ob das nicht doch geht«, antwortete sie gepresst.

»Wieso? Drohst du mir etwa?«

»Worauf du einen lassen kannst«, flüsterte sie. »Bleib nur hier, wenn du denkst, das sei eine gute Idee. Aber ich verspreche dir, ich werde dir das Leben so zur Hölle machen, dass du dir wünschst, du hättest meinen Vorschlag heute angenommen.«

Ein ebenso diabolisches wie siegessicheres Grinsen umspielte ihre Lippen, und nun war sie es, die Stefan aufmunternd die Schulter tätschelte. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort den Laden.

3

»Was war das denn?«, fragte Santi und klang äußerst amüsiert. Golo konnte es ihm nicht verdenken. Auch an ihm war diese Begegnung nicht spurlos vorbeigegangen. Und obwohl die Frau wirklich alles dafür getan hatte, ihn abzuschrecken, war er … hingerissen. Zugegeben, Golo war ein impulsiver Typ und verschenkte sein Herz schnell mal an Momentaufnahmen. Daher hatte er sich schon öfter die Finger verbrannt. Aber das eben? Diese Frau war ein Tornado. Ihre Leidenschaft für ihr Restaurant hatte ihn überrollt – und Golo hatte rein gar nichts dagegen. Und er war sich sicher, dass seine Lederwaren kein richtiges Hindernis darstellen würden.

Er machte ein paar schnelle Schritte nach draußen und warf einen vorsichtigen Blick nach links. Aber die Terrasse des Restaurants lag leer vor ihm. Wie hieß es doch gleich? Er würde später einen Blick auf den Eingang werfen. Dieser neue Lebensabschnitt versprach, auf mehr als nur der beruflichen Ebene interessant zu werden, dachte Golo, als er zwei Kisten aufeinanderstapelte und in sein Atelier trug. Santi schien seine Gedanken gehört zu haben, denn er griff dasselbe Thema auf.

»Meinst du, die ist immer so?«, fragte er, und ernsthafte Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.

Golo schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich hoffe es.« Er zwinkerte. »Aber nein, eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, wir haben sie vorhin einfach auf dem falschen Fuß erwischt.«

»Na, du wirst es schon rausfinden. Gib mir auf jeden Fall Bescheid, falls diese kleine Fehde bestehen bleibt, dann komme ich mit meinem Campingstuhl und meinen Karottensticks und schau mir das Theater aus der ersten Reihe an.«

Golo lachte, als er zwei weitere Kisten aus dem Sprinter holte. Santi war Fitnessinfluencer und betrieb sein eigenes Gym in Rotherbaum. Hinter dieser vermeintlichen Oberflächlichkeit verbarg sich aber erstaunlich viel Tiefgang, den Golo ihm eingangs nicht zugetraut hatte, als seine beste Freundin Toni Santi plötzlich angeschleppt und als ihren neuen Freund vorgestellt hatte. Sie hatten alle drei an der Humboldt-Uni in Berlin studiert, doch aufgrund verschiedener Studiengänge hatten sich ihre Wege erst im Laufe des Studiums gekreuzt. Es hatte nicht lange gedauert, und Santi hatte Toni die Position als Golos beste Freundin – oder eben nun bester Freund – streitig gemacht. Da die beiden aber eh seit jeher unzertrennlich waren, einigte man sich darauf, sich den Platz einfach zu teilen. Während Golo für seinen Master erst an die berühmte Businessschool nach Lissabon gegangen und dann nach Berlin zurückgekehrt war, hatte es Toni wieder zurück in die Heimat Hamburg verschlagen, und Santi war mitgekommen. Wieder in einer Stadt mit seinen besten Freunden zu leben, war vielleicht das größte Geschenk, das dieser neue Lebensabschnitt ihm bot.

Santi befreite einen Werkstuhl von Luftpolsterfolie. Er versuchte es zumindest, denn schnell verlor er sich darin, die kleinen runden Blasen so fest zwischen Daumen und Zeigefinger zusammenzudrücken, dass die mit einem leisen Knall platzten. »Mein Gefühl sagt mir ja, dass diese Köchin dafür sorgen wird, dass es hier nicht unspannend wird.«

»Nicht unspannend«, wiederholte Golo und schüttelte den Kopf. »Komplizierter kann man es wohl nicht ausdrücken.«

Doch Santi ließ unbeeindruckt weiter kleine Luftpolster platzen.

Golo hatte in den vergangenen Monaten sein Leben einmal von rechts auf links gedreht. Natürlich nicht auf einen Schlag, und auch heute konnte er nicht sagen, in welchem Moment er den Entschluss gefasst hatte, dass sich etwas ändern musste. Vermutlich war es der Sattlerkurs gewesen, den er als Ausgleich zu seinem sonst nur von Arbeit geprägten Leben gemacht hatte. Vielleicht war es schon davor passiert, in der einen Sitzung, als seine Therapeutin meinte, er bräuchte einen Ausgleich zu seinem Job. Vielleicht war es der Burnout gewesen, dem er gerade so noch mal entgangen war, woraufhin er eine Therapie begann. Diesen Faden konnte man vermutlich noch weiter verfolgen. Wo auch immer der Anfang lag, er hatte dazu geführt, dass Golo seine Anteile des Start-ups, in das er in den vergangenen Jahren all seine Lebenszeit gesteckt hatte, verkauft hatte. Das war eine wichtige Entscheidung gewesen. Und dann hatte er auch noch die Ladenfläche mit dazugehöriger Wohnung, die ein Stockwerk darüber lag, in St. Pauli von seinem Onkel geerbt. Es folgte eine weitere Entscheidung, nun also auch Berlin den Rücken zu kehren und sein altes Leben nicht nur gänzlich hinter sich zu lassen, sondern auch den einen oder anderen Kilometer dazwischen zu bringen.

Ein lautes Kreischen riss Golo aus seinen Überlegungen und Santi aus dem meditativen Zustand, den er der Luftpolsterfolie zu verdanken hatte. Ein kleines Wesen mit schwarzen Locken auf dem Kopf stolperte die paar Stufen in den Laden hinab, machte eine erstklassige Bruchlandung, ließ sich davon aber nicht beirren, rappelte sich wieder auf und kam mit ebenso ungeschickten wie schnellen Schritten auf Santi zugestürmt.

»Hi, Baby«, jauchzte dieser, ging in die Hocke und breitete die Arme aus, sodass Sheila, seine dreijährige Tochter, jetzt sicher und weich auf ihm landen konnte. Wobei ihr die Begegnungen mit Böden, Wänden, Türen, Stangen und Ähnlichem nicht so viel ausmachten wie ihren Eltern, die fast allabendlich überlegten, ob sie ihr nicht einen Helm aufziehen sollten. Und Knieschoner. Vielleicht auch welche für die Ellbogen und Handgelenke. Oder sie gleich in eine Art Ganzkörper-Airbag stecken?

Sheila machte keinerlei Anstalten abzubremsen, bevor sie ihrem Vater in die Arme rauschte, und riss ihn fast zu Boden, als sie gegen ihn krachte. Man hielt es nicht für möglich, aber die physikalischen Kräfte von Masse mal Bewegung, die von diesem kleinen Wesen ausgingen, waren fast übermenschlich.

»Ist noch alles an ihr dran?«, fragte Toni, die gerade den Laden hinter ihrer Tochter betrat.

»Ja, alles gut«, rief Santi zurück, nicht ohne den Kopf seiner Kleinen nochmals unauffällig abzutasten. Golo stand am Eingang und begrüßte Toni. Auf dem einen Arm trug sie ihren Sohn Diego, auf dem anderen eine große Tasche und im Gesicht den Ausdruck einer geübten Mutter, der sich irgendwo zwischen Besorgnis und Resignation befand.

Sheila war hinreißend. Was sollte man auch sonst erwarten, wenn man ihre Eltern betrachtete? Die Gene ihres Vaters waren irgendwo bei Enrique Iglesias und Antonio Banderas zu verorten, und ihre Mutter war groß, blond und sah zart aus. Sheila hatte die blauen Augen ihrer Mutter und den langen, dunklen Wimpernkranz ihres Vaters geerbt, dunkle Locken auf dem Kopf, und Golo hatte schon das eine oder andere Mal überprüft, ob sie nicht doch aus Zucker war. Aber Sheila war nichts für schwache Nerven. Offensichtlich kannte sie weder Schmerz noch Angst oder Vorsicht. Als Toni vor etwas über einem Jahr herausgefunden hatte, dass sie zum zweiten Mal schwanger war, hatte sie einen Nervenzusammenbruch vom Feinsten gehabt. »Eine zweite Sheila pack ich einfach nicht«, hatte sie unter Tränen gesagt, und Santi hatte sie getröstet – und ihr im Stillen zugestimmt.

Einige Monate später kam Diego zur Welt. Der Kleine war nun neun Monate alt, und immer noch überprüften seine Eltern regelmäßig, ob er atmete, da er so ruhig war wie Sheila nicht mal im Schlaf. So richtig traute aber keiner dem Frieden, weshalb Toni und Santi und auch Golo fast schon auf heißen Kohlen saßen und darauf warteten, dass Diego sich die liebliche Maske vom Gesicht zog und brüllte: »Haha, reingefallen, ihr Trottel – und jetzt Randale!«

Toni drückte Golo ihren Sohn in die Hand und ließ sich zielsicher auf dem Werkstuhl nieder. Ihr entfuhr ein langer Seufzer. Sie nahm ihre Tasche auf den Schoß, wühlte kurz darin herum und zog schließlich einen kleinen Spiegel hervor. Mit wenigen Handgriffen fing sie ein paar Strähnen ein, die aus der Reihe tanzten, und steckte sie an den für sie vorgesehenen Platz.

»So, was habe ich verpasst?«, fragte sie dann und blickte die beiden Männer erwartungsvoll an. Santi, der Sheila gerade davon abhielt, die Werkzeuge aus einer Kiste zu ziehen, schmunzelte.

»Ach nichts, nur einen Tornado in der Windstärke Sheila«, antwortete er. Beim Klang ihres Namens drehte die Kleine augenblicklich den Kopf und ließ den Hammer fallen, den sie gerade zu greifen bekommen hatte. Er landete auf ihrem Fuß, was sie aber gar nicht zu registrieren schien.

»Sheila?«, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf sich.

»Ja, nein, nicht du, Schätzchen.« Santi tätschelte ihr den Kopf und zog den Hammer von ihrem Schuh. Es wäre eine Lüge zu behaupten, Toni und Santi hätten nicht auch schon mal nach Schuhen mit Stahlkappen für Kleinkinder gegoogelt.

»Mpfh«, brummte Sheila, als sie begriff, dass sie keine Aufmerksamkeit abgreifen würde, und widmete sich wieder der Kiste vor ihr.

»Na, Golo, erzähl doch mal von deiner neuen Bekanntschaft mit der Frau vom Restaurant nebenan«, neckte Santi seinen Kumpel.

»Ein Restaurant?« Neugierig streckte Toni den Hals.

»Ja, hier direkt nebenan. Sind dir die Tische und Stühle nicht aufgefallen?«

Schon beim Aussprechen der Worte wusste Golo, dass das eine dumme Antwort gewesen war. Denn mit einer Sheila im Gepäck konnte man gar nicht mitbekommen, was links und rechts um einen so passierte. Der Blick, den Toni ihm zuwarf, bestätigte das. Beschwichtigend riss Golo die Arme hoch.

»Es tut mir leid! Das war idio… unüberlegt!« Vor der Kleinen jetzt noch mit klassischen Schimpfwörtern um sich zu werfen, die sie sich natürlich merken würde, hätte nicht gerade zu Tonis Beschwichtigung geführt. »Jedenfalls ist nebenan ein Restaurant. Wohl ein veganes, aber was genau sie da servieren, das weiß ich nicht.«

»Finden wir es raus«, sagte Toni und sprang überraschend energisch von ihrem Stuhl auf. Eine Sekunde später war sie aus dem Laden verschwunden. Golo drehte sich zu Santi.

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