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Liebeszauber am Chiemsee

Als Buch hier erhältlich:

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Am Chiemsee wartet das Glück

Nach einem Unfall fällt es Model Emma schwer, sich selbst schön zu finden. Sie hält es nicht länger in London aus und flüchtet sich zu ihren Großeltern an den Chiemsee. Dort kann sie auf den im Sonnenlicht funkelnden See schauen, den Wellen lauschen und wieder zu sich kommen. Als ihre Großmutter sie bittet, einige Bücher aus ihrer Bibliothek ganz bestimmten Menschen zu bringen, die darauf warten, lernt Emma den Geschichtenerzähler Johannes kennen. Mit seinen Worten kann er Herzen heilen, sagen die Menschen im Ort. Ob er auch Emma helfen wird?

Eine berührende Liebesgeschichte zwischen verwunschener Bibliothek und dem Bauwagen des Geschichtenerzählers

Im Sonnenlicht am See die Seele baumeln lassen: beste Urlaubslektüre!


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905799
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle, die nicht gern in den Spiegel gucken.

Für alle, die schon einmal davongelaufen sind.

Und für alle, die eine Geschichte brauchen,

die ihr Herz heilt.

Diese Bibliothek hat tausend Türen. Wenn es dir nicht gut geht, dann such dir eine aus. Mach sie auf, und renn davon.

Prolog

Oma sagte immer: Bücher bringen dich, wohin du willst. In fremde Welten, in fremde Zeiten, weit über den Ozean. So weit wollte die fünfjährige Emma gar nicht, sondern nur hinauf zum Lesepult. Denn dort oben hatte Mama ihre Handtasche vergessen. Und da war der tolle dunkelgrüne Lidschatten drin, der so gut zu ihren grünen Augen passte. Der, den Mama ihr schon seit Wochen verbot.

Ein Buch noch, vielleicht auch zwei. Zufrieden betrachtete Emma ihr Werk. Heimlich hatte sie sich aus der Transportwanne der Bibliothek ein paar dicke Wälzer geschnappt und sie übereinandergelegt. Kante auf Kante gaben die Bücher einen prima Schemel ab. Vielleicht fand sie noch ein, zwei Bücher in derselben Größe, und der Stapel war endlich hoch genug, um den Tisch zu erreichen. Mama würde schimpfen, wenn sie es wüsste – sogar heute. Und heute war schließlich Emmas Geburtstag.

In der Bibliothek ihrer Großmutter verkroch sich Emma dann, wenn die Gespräche der Erwachsenen bei Themen angekommen waren, die sie nicht interessierten – ihre Großmutter aber umso mehr. Der schlimme Husten von Onkel Matthew zum Beispiel. Die neuen Medikamente, die Matthews Frau Abigail seit der Geburt der Zwillinge nehmen musste. Und der eingewachsene Zehennagel von Großtante Gillian.

Der Lesesaal war ihr Lieblingszimmer. Er war hell und riesig groß. Durch die Fensterfront, die eine komplette Wand ersetzte, blickte man direkt auf den Chiemsee. Man sah die Segelboote und die großen Dampfer, die Möwen und die Enten. Jede einzelne Welle. Wenn die Fenster geöffnet waren – so wie heute –, dann wehte der Sommerwind herein und trug den Geruch von Seewasser ins Zimmer und von all den bunten Blumen, die Emma nicht unterscheiden konnte. Die Decke des Zimmers war so weit oben, dass Emma ihre Mama, ihren Papa und sich selbst übereinanderstapeln könnte, aber niemand mit dem Kopf oben anstoßen würde. Oma stapelte sie vorsichtshalber nicht, ihr Rücken machte das nicht mehr mit.

Omas Haus war voller Bücher, jedes einzelne Zimmer. Aber hier waren so viele davon, dass Emma sie nicht mehr zählen konnte. Unten und oben und alle Regale bis hoch zur Galerie waren voller Bücher. Sie wusste nicht einmal, welche Farbe die Wand hatte. Vielleicht zog sie irgendwann mal eins raus und guckte nach.

Emma seufzte, als sie die beiden schweren Bücher auf den kleinen Bücherturm hievte und zurechtrückte. Kante auf Kante, ganz säuberlich. Der Stapel schwankte leicht, als sie hinaufkletterte.

»Du tust ihnen weh«, ertönte plötzlich eine Kinderstimme hinter einem großen Regal.

Emma erschrak. Viel zu schnell drehte sie sich in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatte. Das mit dem Gleichgewicht bekam sie auch nicht mehr hin. Sie ruderte mit den Armen und griff ins Leere. Bevor sie reagieren konnte, kippte der Stapel um. Bücher polterten zu Boden, Emma stürzte auf die dunklen Holzdielen und fing an zu weinen. Und zwar richtig doll. So sehr, dass ein paar Strähnen ihrer kupferroten Haare, die ihr ins Gesicht hingen, nass und dunkel wurden. Das Handgelenk tat weh, und ihr rechtes Knie brannte. Die Schürfwunde hatte ein winziges bisschen Blut auf ihrem weißen Geburtstagskleid hinterlassen. Was sie schrecklich ärgerte, schließlich hatte sie das Kleid sehr gern.

»Tut mir leid.« Zerknirscht kam ein Junge aus seinem Versteck. Er schien kaum älter als Emma, die dunklen Haare hingen ihm ins Gesicht. Durch ihre Tränen sah sie ihn nur verschwommen. »Hast du dir wehgetan?«

»Bisschen.« Emma wischte sich über die Wangen. Die Sonnencreme auf ihren Händen trübte die Sicht, sie brannte so sehr, dass Emma wieder weinen musste. Dann sah sie geradewegs in seine dunklen Kulleraugen.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er zog ein frisches Taschentuch aus seiner Hosentasche. Ganz behutsam tupfte er ihr die Tränen von den Wangen. »Nicht weinen.«

Sie griff nach dem feuchten Taschentuch, das er ihr jetzt hinhielt, und schnäuzte sich erst einmal. »Warum versteckst du dich da?«

»Also, ich …«, fing er an, zögerte aber. »Ich hole dir erst mal ein Pflaster.«

»In Mamas Tasche sind welche.«

Der Junge nickte. Mit ein paar Sprüngen versuchte er, den Henkel zu fassen, der über die Kante ragte.

»Du musst auf die Bücher steigen.«

Sein Blick streifte kurz ihren, irgendetwas glitzerte in seinen Augen. »Auf so was Wertvolles darf man nicht drauftreten. Deine Oma sagt, jedes Buch hat eine Seele.«

»Aber …«, setzte Emma an. Doch genau in diesem Moment sprang der Junge noch einmal hoch, erwischte den Henkel und zog die Tasche von der Ablage. Geschickt fing er sie auf und stellte sie auf den Boden.

Dann ordnete er erst einmal die Bücher wieder zu einem Stapel. Sorgsam zog er eines davon heraus. So vorsichtig, als wäre es ein kleines Baby. Oder irgendetwas anderes, das auch so leicht kaputtgeht. »Schau mal«, sagte er. Er wischte ein bisschen Erde weg, die bestimmt von Emmas Schuhen stammte. »Das ist hübsch, oder?«

Sie nahm es ihm ab. Schwer war es. Und es roch nach altem Papier. Samtig weich fühlte es sich an, goldene Buchstaben zogen sich über die dunkelblaue Vorderseite. Lesen konnte Emma sie nicht. »Schön.«

Der Junge hatte inzwischen die Handtasche ihrer Mutter durchsucht und ein großes Pflaster gefunden. Er pfriemelte daran herum, um die Klebeseiten zu lösen. »Deine Oma sagt immer: So viele Seiten dein Lieblingsbuch hat, so viele Seiten hat auch dein Herz.«

Sie streckte ihm ihr verletztes Bein hin. »Was bedeutet das?«

»Weiß nicht.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. Immer wieder drehte er das Pflaster, um die Wunde perfekt abzudecken. Seine Berührung war so sanft, dass Emma sie kaum spürte. »Aber es klingt schön. Deine Oma sagt öfter solche Sachen.«

»Woher weißt du das überhaupt? Dass Oma meine Oma ist?«

»Du bist doch Emma, oder nicht?« Fast liebevoll drückte er das Pflaster fest, dann sah er auf. »Du lebst in England und bist die Enkelin von Josefine.«

»Und du? Wie heißt du?«

»Johannes.« Der Junge lächelte. »Ich bin oft hier. Deine Oma hat gesagt, ich darf kommen, wann ich mag. Und Bücher lesen.«

»Du kannst schon lesen?«, fragte sie neugierig.

»Na ja.« Jetzt wirkte er fast wieder ein bisschen schüchtern. »Ich bin in der ersten Klasse.«

Ihr Finger zeigte die Regale hinauf. »Und hast du die alle gelesen?«

»Nein«, sagte er. »Das sind bestimmt hundert oder tausend, oder so.«

»Noch mehr.« Sie nickte begeistert.

Johannes’ Augen strahlten. »Wenn ich erwachsen bin, will ich alle Bücher auf der Welt gelesen haben.«

Eigentlich hatte sie sich nie für die Bücher ihrer Oma interessiert. Doch wenn Johannes davon erzählte, dann klang das spannend. So spannend, dass sie glatt den grünen Lidschatten vergaß. »Kannst du mir was vorlesen?«

»Klar.«

Emma streckte ihm das Buch hin. Das dunkle, samtige mit den goldenen Buchstaben auf der Vorderseite. Sie tippte auf die Schrift. »Was steht da?«

Ganz sachte nahm er es ihr aus den Händen. »Die schöne … Kö…Königstochter«, las er vor.

»Ich mag es gern hören«, flüsterte sie und lehnte sich zurück, gegen das Lesepult.

Als er das Buch aufschlug, betrachtete sie ihn. Seine großen braunen Kulleraugen. Die zerstrubbelten dunklen Haare.

»Es war einmal eine … Königstochter«, begann Johannes zu lesen. Sein Finger fuhr langsam über die Zeilen, und Emma hing schon an seinen Lippen, während er Wort für Wort entzifferte. »Doch sie wusste nicht, dass sie eine Königstochter war … Sie war so schön, dass alle Vögel sangen und alle Pflanzen …« Er stockte kurz. »… er-blüh-ten, wenn sie … vo-rüber-ging. Doch sie wusste nicht, wie schön sie war … Sie lebte in einem Schloss, das ganze sieben Schritte lang und fünf Schritte breit war. Doch sie wusste nicht, dass es ein Kö-nig-reich war.«

»Wo ist Johannes?«, schallte plötzlich eine Frauenstimme draußen durch den Flur. Freundlich klang sie nicht.

»Mist!« Panisch sprang er auf, klappte das Buch zu und schob es zurück auf den Stapel. »Du hast mich nicht gesehen, okay?«

»Aber …«

»Psssssst!«, machte er.

Emmas Knie schmerzte, als sie es beugte. Umständlich zog sie sich am Lesepult hoch. Ausnahmsweise brauchte sie nun dafür so lange wie Oma, wenn sie aus dem Wohnzimmersessel aufstand, um die Chipsschüssel aufzufüllen.

»Warte, ich helf dir.«

Sie fasste nach der Hand, die er ihr hinstreckte. Er zog Emma mühelos auf die Beine. »Danke.«

»Ich bin nicht da!«, flüsterte Johannes noch, dann verschwand er hinter einem Regal.

»Das Versteck ist doof!«, wisperte Emma zurück. Sie humpelte zum Regal hinüber, griff nach Johannes’ Hand und zog ihn mit sich. Durch die weit geöffneten Fenster der Glasfront hinaus ans Chiemseeufer. »Komm mit!«

Emma biss die Zähne zusammen und lief ihrem Schmerz davon. Sie beide rannten, so schnell ihre Beine sie trugen. Über die Terrasse, an der kleinen Sitzgruppe vorbei, hinunter zum Wasser. Am Ufer entlang. Warfen nervöse Blicke zurück, denn zwei, drei Erwachsene liefen wild gestikulierend hinterher.

Ihr wütendes Rufen ließ Emma so schnell laufen wie noch nie. Ihr Herz klopfte, als würde es jeden Moment zerspringen. Enten flohen laut schimpfend ins Wasser, ein paar Möwen flatterten auf.

Der warme Sommerwind blies ihnen ins Gesicht, der Chiemsee rollte unbeeindruckt in kleinen Wellen heran. In der Ferne segelten ein paar Boote. Mit jedem Meter ließen die Schmerzen in Emmas Knie nach, ihre Schritte wurden immer schneller. Hand in Hand rannten die beiden über Kiesel und Sand, sprangen über große Steine und stapften schließlich durch das seichte Wasser. Die Schuhe sogen sich voll, ihre Zehen wurden nass und kalt.

Als sie das Schilf erreichten, das sie von allen Blicken abschirmte, atmete Johannes hörbar auf. Mit jedem ihrer schnellen Schritte spritzte Wasser auf. Im knietiefen Wasser wurde das Laufen zur Herausforderung. Laut keuchend bahnte Emma sich den Weg durch die Halme. Irgendwo hier hatte sie gestern doch …

»Da!«, flüsterte sie strahlend, sie suchte Johannes’ Blick. Ihr Atem ging schnell vom Rennen.

»Ein altes Boot!« Überrascht fuhr er mit den kleinen Fingern über das Heck. Auch er kämpfte um Luft. »Super Versteck!«

»Hilfst du mir?«, fragte Emma.

Johannes drehte sich zu ihr um. Beide standen sie nun fast bis zu den Oberschenkeln im Wasser, das Boot schaukelte neben ihnen. Jede Welle spielte um ihre Beine. Das Versteck im Schilf war so klein, dass sie ganz dicht voreinanderstanden. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von Emma entfernt.

»Du hast grüne Augen«, sagte Johannes.

»Ich weiß«, antwortete Emma.

»Und Sommersprossen.«

Kurz standen sie voreinander und starrten sich einfach nur an. Emma wusste nicht, wieso, aber sie guckte ihn sehr gern an. Sie mochte seine braunen Augen. Und er, er schien sie auch gern anzusehen. Vielleicht zählte Johannes gerade ihre Sommersprossen. Aber in der ersten Klasse zählte man nur bis zwanzig, hatte ihre Oma erzählt. Und das würde wahrscheinlich nicht reichen.

»Hebst du mich hoch?«, fragte Emma, und Johannes nickte.

Vorsichtig schlang er die Arme um ihre Hüfte. Emma kicherte, weil es kitzelte. Er gab es nicht zu, aber Emma bemerkte, dass er sich mit ihrem Gewicht abmühte. Bestimmt war er kaum schwerer als sie. Doch er hob sie trotzdem ins Boot, das so friedlich auf den Wellen schaukelte, und kletterte selbst hinterher.

Dann lagen sie auf dem hölzernen Boot und sahen zum Himmel hinauf.

Emma zupfte an ihrem Kleid, das sich nass und kalt und schwer an ihren Oberschenkeln festzusaugen schien. »Mir ist kalt.«

Johannes zog sie näher zu sich. Nur mit Mühe verbarg er sein eigenes Schlottern. »Ich wärme dich.«

Wellen rauschten, als sie sich am Bug brachen. Wenn Emma durch die alten, zersprungenen Holzlatten lugte, erspähte sie eine Wand von Schilfhalmen – und dahinter ein paar Segelboote.

»Du hast dich vor der Frau versteckt. Stimmt’s?« Sie sah Johannes an, der sich an der morschen Sitzbank abstützte, um näher zu ihr zu rutschen. Das Boot schaukelte heftig unter ihnen.

Er nickte.

»Was tut die?«

Die Wellen gluckerten unter dem Boot, mit einem sanften Rauschen wiegte sich das Schilf im Wind.

»Das ist meine Mama. Sie holt mich ab. Und wir fliegen nach Italien.«

»Und dafür rennen wir so?« Emma zog ihre Stirn in Falten, trotzig sah sie ihn an. »Magst du keinen Urlaub?«

»Doch, mag ich.«

Eine Ente schwamm an ihnen vorbei, Emma lauschte ihrem Quaken. »Warum magst du dann nicht mit?«, fragte sie schließlich.

Johannes schwieg. Und Emma betrachtete ihn prüfend. In seinem Gesicht spiegelten sich die Lichter, die auf dem See tanzten. Die Sonne warf ihre Strahlen ins Wasser und versprühte dort ihren Glitzerregen, den Emma mehr liebte als alles andere auf dem Chiemsee. Die Funken schienen beinahe durch die Luft zu wirbeln. Sie flogen über die Schilfhalme, über die Wasservögel und drangen sogar durch die morschen Holzlatten des Bootes. Und dann war die ganze Welt für einen Moment aus Glitzer.

»Warum …«, setzte Emma erneut an, als er sie unterbrach.

»Deine Oma sagt, Italien ist ein schönes Land«, sagte Johannes leise. Er schluckte.

»Wenn es da schön ist«, flüsterte Emma, »warum bist du dann so traurig?«

Sanfte Wellen schwappten gegen den Bug, das Boot schaukelte ein wenig stärker. Emma spürte es unter ihrem Rücken schwanken.

»Weiß nicht.«

Emma sah ihn von der Seite aus an. Dichte Wimpern umrahmten seine dunklen Augen. »Deine Eltern …« Sie zögerte.

»Sie haben …«, begann er, und seine Stimme war noch ein bisschen leiser als zuvor.

»Psssst.« Emma legte einen Finger auf seine Lippen, sie beugte sich so nah zu ihm, dass ihr warmer Atem bestimmt in seinem Ohr kitzelte. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, presste ihn tiefer ins Boot. »Leise! Ich glaube, da kommt jemand.«

»Emma! Johannes!«, dröhnten Stimmen vom Ufer. Schnelle Schritte hetzten vorbei, und in der Ferne hupte ein Ausflugsdampfer, als fordere auch er wütend, dass sie sich endlich zeigten. »Johannes!«

»Ich will nicht nach Italien«, flüsterte er.

»Was ist so schlimm dran?«, wisperte Emma zurück. »An Italien?«

Johannes blickte plötzlich so traurig drein. »Meine Mama hat mich sehr lieb.«

»Dein Papa nicht?«

»Doch.« Er guckte durchs Schilf auf den Chiemsee hinaus. »Ich glaube schon.«

»Ich kann dich auch lieb haben«, flüsterte sie, beugte sich vor und drückte ihm einen schüchternen Kuss auf die Wange.

Ein Lächeln schlich sich auf Johannes’ Gesicht. Er legte seinen Arm um Emmas Schultern, zog sie ein wenig näher zu sich. »Und ich kann auch dich lieb haben.«

»Weil ich so schöne Sommersprossen habe.«

»Lieb haben kann man auch ohne Sommersprossen«, sagte Johannes – und es war eine süße Traurigkeit, die in seinem Lächeln lag.

»Da ist was«, hörte Emma eine energische Frauenstimme.

»Wo?« Fußtrappeln näherte sich wieder.

»Im Schilf! Siehst du das?«

»Oh nein!« Emma packte Johannes an der Hand.

Leise ließen sie sich aus dem Boot ins Wasser gleiten.

»Ach nein, war nur eine Ente! Falscher Alarm!«

Panisch wechselten die beiden Kinder einen Blick. Sie hatten ihr Versteck umsonst verlassen.

»Da sind sie!«, rief jemand.

Emma packte Johannes’ Hand und rannte los. Ein paar Enten flogen aufgeschreckt davon. Das Wasser spritzte links und rechts von ihnen, Schilfhalme peitschten ihnen ins Gesicht. Die Stimmen der Erwachsenen kamen immer näher.

Und plötzlich stand da Oma im knietiefen Wasser.

Um ein Haar hätte Emma sie umgerannt. Bevor einer von beiden reagieren konnte, hatte sie schon die Zipfel der nassen Kleider gepackt. »Was ist denn los, ihr beiden? Ihr tut ja so, als wäre ein Italienurlaub die schlimmste aller Strafen! Ach herrje. Kommt mit, ich gebe euch was Trockenes.«

Kapitel 1

Das Tageslicht spiegelte sich auf der von Fingerabdrücken verschmierten Scheibe. Landschaften zogen verschwommen dahinter vorbei, als der Zug die Geschwindigkeit drosselte.

Ich sah hinauf in den Himmel. Mächtig und strahlend kämpfte sich die Sonne zwischen den Wolken hindurch, die seit dem Morgen schwer und dickbäuchig über dem Land hingen. Also schien sie doch. Ganz egal, wo man war. Und ganz egal, wie viele Regenwolken die Sicht auf sie versperrten. Sie war da.

»Uuuuhaaaa«, hörte ich einen kleinen Jungen rufen, das Poltern eines Koffers folgte kurz darauf. »Dad? Archie hat seinen Teddy verloren.«

Der junge Vater in Jeans und Shirt, der gerade mit seinen zwei Söhnen durch den Mittelgang eilte, hielt sich im letzten Moment an den Sitzen rechts und links fest, als der Zug im nächsten Bahnhof über ein paar Weichen die Gleise wechselte und anschließend abrupt bremste. Ein Teddy flog durch die Luft und landete vor meinen Füßen. Ohne zu zögern, bückte ich mich danach.

Stechender Schmerz zog sich durch meinen Oberschenkel. Seit dem Unfall war ich einfach nicht mehr beweglich genug.

»Na, junger Mann?« Lächelnd hob ich das Kuscheltier hoch und hielt es dem kleineren der beiden Kinder entgegen, das ihm panisch hinterherkrabbelte.

Ich verstellte die Stimme und wedelte mit den flauschigen Armen des Teddys. »Huuii, das hat Spaß gemacht. Ich kann fliegen! Aber vielleicht sollte ich mir noch mal von Frau Amsel erklären lassen, wie das geht. Mein Fell ist ganz zerzaust! Und bestimmt hab ich jetzt einen blauen Fleck am Popo.«

Der kleine Junge starrte mich erschrocken an. Ein paar Sekunden lang glomm etwas Undefinierbares in seinen Augen auf, dann riss er mir den Teddy aus den Händen und fing lauthals an zu weinen.

»Keine Angst.« Ich schluckte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich meine Mütze abgelegt hatte. »Ich tu dir nichts.«

»Bitte entschuldigen Sie.« Der Vater hob den kleinen Jungen hoch, der heftig strampelte. »Er sieht so was zum ersten Mal. Kinder wissen da einfach nicht so genau, wie man sich verhält …«

Erwachsene auch nicht. »Schon gut«, antwortete ich und zwang mich zu lächeln.

Der junge Vater schob seine Kinder und das Gepäck auf die Plätze des Vierertischs gegenüber.

Ich wandte mich ab. Um seinen Bruder nicht auch noch zu schockieren, zog ich mir meine Mütze über. Zumindest den oberen Teil der riesigen Narbe würde sie verdecken. Das wulstig wuchernde Narbengewebe, einen Krater, der sich von der rechten Schläfe aus quer über das komplette Gesicht zog.

Seufzend lehnte ich den Kopf an die Scheibe und schloss die Lider.

Die Wärme lullte mich bald ein. Traumbilder formten sich vor meinem inneren Auge – und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

Ich sauste mit dem Mini meiner Mum zwischen den kahlen Feldern hindurch, die sehnsüchtig den Beginn des Frühlings erwarteten. Die Landstraße flimmerte im sanften Licht des ersten Februartags. Die Lüftung blies auf höchster Stufe warme Luft in das vom Stehen abgekühlte Auto, meine Haare flogen. Nach der Kurve drehte ich das Radio auf. Mit dem Kopf wippte ich zum Beat und sang so laut und so falsch mit, dass alle Mitfahrer bei nächster Gelegenheit ausgestiegen wären, hätte ich welche gehabt.

Heute durfte ich das. Schließlich kam ich gerade aus London, vom Fotoshooting meines Lebens: Bald würde ich auf dem Cover der Vogue zu sehen sein! Vogue! VOGUE!

Ich sang noch lauter. Später würden Mum, Dad, mein Freund Tyler und ich nobel essen gehen, um zu feiern. Zu unserem Lieblingsinder in der Innenstadt von Birmingham. Mum und Dad würden vor Stolz platzen. Vermutlich würden sie so viele Exemplare der Zeitschrift kaufen, dass sie damit ihr Wohnzimmer tapezieren könnten. Und sicher würden sie Oma und Opa ein riesiges Paket nach Bayern schicken. Und allen anderen Verwandten.

Gorgeous!, hörte ich die Stimme des Fotografen noch in meiner Erinnerung. Super, genau so!, hatte er immer wieder gerufen, während die Nebelmaschine die eiserne Brücke hinter mir in weiße Schwaden hüllte und ich vor der Kamera alles gab. Mehr, als ich je zu träumen gewagt hatte.

Vor einer engen Kurve bremste ich ab.

Leise summte ich zur Musik. Ein seliges Lächeln auf den Lippen, drehte ich das Lenkrad.

Dann sah ich mit einem Mal nur noch die Sonne. Gleißend hell spiegelte sie sich auf der Windschutzscheibe eines entgegenkommenden Autos, das gerade die Kurve schnitt. Die Sonne selbst raste mir entgegen. Auf meiner Spur. Für einen Moment stand die Zeit still.

Krachen. Splittern von Glas.

Schwerelosigkeit. Orientierungslosigkeit.

Adrenalin.

Leere. Mein eigener Atem.

Und dann wurde alles schwarz.

»Miss?«

Ich stöhnte.

»Miss, Ihre Fahrkarte bitte.«

»Sorry«, murmelte ich. Verschlafen schob ich die Mütze ein wenig hoch und blinzelte gegen die Helligkeit an. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich die verknickte Fahrkarte aus meiner Hosentasche gepfriemelt hatte. Ich hielt sie dem Schaffner hin.

Der nickte und wandte sich ab. Undeutlich hörte ich seine Stimme ein paar Sitzreihen weiter hinten. »Fahrscheine, bitte!«

Ich rieb mir die Augen. Mit einem verhaltenen Gähnen setzte ich mich auf. Dieser Traum verfolgte mich seit dem Unfall. Jede Nacht wieder die Erinnerung. Seit Wochen.

Wenn der Schaffner mich nicht geweckt hätte, wäre der Film in meinem Kopf weitergelaufen. Das Aufwachen nach ein paar Minuten im Wrack. Das Adrenalin, das mich glauben machte, ich sei unverletzt. Der Qualm, der mich umwaberte wie der künstliche Nebel beim Vogue-Shooting. Und die Todesangst, als ich merkte, dass ich ein Bein nicht bewegen konnte. Dass sich die Autotür nicht öffnen ließ. Dass ich eingeklemmt war in einem Auto, das jede Sekunde zu brennen anfangen konnte.

Auf dem Viererplatz gegenüber stritten die beiden Jungen um den letzten Schokoriegel. Die Augen des kleinen Archie waren tränenverschmiert, in den Mundwinkeln klebte etwas Braunes, vermutlich Schokolade. Geduldig wischte sein Vater ihm den Mund mit einem Taschentuch sauber. Aus dem Augenwinkel warf er mir ein paar unauffällige Blicke zu. Ich zog mir wieder Halstuch und Mütze über das Gesicht und drückte meine Wange an den Sitz.

In dieser Hitze schnürte es mir beinahe die Luft ab, Schweiß rann über meine Schläfen. Dieser Sommer war viel zu warm. Trotzdem. Lieber halb ohnmächtig unter einer Mütze als noch mehr Blicke auf meinem Gesicht.

Nicht einschlafen, Emma. Nicht einschlafen. Sobald ich die Augen schloss, würde es mich wieder zurückbringen an jene Landstraße kurz hinter Londons Vorstadt. Wo mein Handy unerreichbar im Fußraum lag und ich eingeklemmt zusehen musste, wie ein Autofahrer nach dem anderen abbremste, wendete und weiterfuhr – ohne zu gucken, ob ich Hilfe brauchte. So, als wäre mein Auto nichts als ein umgestürzter Baum, der eine Straße versperrte … Bis nach einer Ewigkeit endlich jemand stehen blieb …

Ein Klingeln ließ mich zusammenzucken. Ich schob die Mütze wieder ein Stückchen hoch und kramte im Rucksack nach meinem Handy, auf dessen Display mich Omas Gesicht anstrahlte.

»Oma? Bist du’s?«, fragte ich und zog mir das Halstuch vom Mund, damit sie mich besser verstand. »Ihr seid ja früh wach.«

»Ja! Wie geht’s dir?« Omas Stimme klang wohlig vertraut. »Du hast die letzten Tage immer wieder mal angerufen, oder? Opa und ich waren unterwegs, haben ein paar kleine, urige Buchhandlungen abgegrast und neue Bücher für die Bibliothek ausgesucht.«

»Wie schön.« Ich versuchte, munter zu klingen. Fröhlich. »Die musst du mir unbedingt zeigen, sobald ich da bin.« Nebenbei griff ich nach meinem Thermobecher, öffnete den Verschluss und nahm ein paar Schlucke Schwarztee.

Oma lachte vergnügt. »Ich freue mich schon so sehr darauf, wenn du in zwei Wochen endlich nach Bayern kommst. Und mir deinen Tyler vorstellst! Wie geht’s euch?«

»Ganz gut, denke ich.« Unwillkürlich musste ich schlucken. »Kann ich auch schon früher kommen?« Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Stimme gepresst anhörte.

»In der Früh statt am Abend?«, fragte Oma vorsichtig. »Oder … einen Tag früher?«

»Nein, ich dachte eher so an … heute.«

»Oh.«

Das war nicht die Reaktion, auf die ich gehofft hatte. Ich stützte mich auf die Armlehne, als der Zug an der nächsten Haltestelle abbremste. Starrte aus dem Zugfenster, wo ein Werbebanner von Yorkshire Tea an mir vorbeizog. Let’s have a proper brew. »Tut mir leid, ich hab euch nicht früher erreicht«, sagte ich. »Bin davon ausgegangen, dass es okay ist. Wenn ich meinen Unfall nicht gehabt hätte, wäre ja sowieso Ende Juni ausgemacht gewesen …« Am anderen Ende der Leitung blieb es still. »Keine gute Idee?«, fragte ich, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte mich so leise wie möglich.

»Emma, Liebling.« Oma seufzte. »Du darfst immer und jederzeit bei mir auftauchen. Auch ohne dich anzumelden. Ich freue mich riesig. Es ist nur …«

»Ja?« Grandios. Schließlich war ich es gewesen, die darauf bestanden hatte, dass meine Eltern trotz des Unfalls zu ihrer großen Afrikareise aufbrachen, die sie schon vor einem Jahr gebucht hatten. Überstürzt war ich zu meinen besten Freunden gezogen, die sich eine Wohnung im Süden Londons teilten, gleich beim Croydon University Hospital. Ich schaffe das, hatte ich gesagt. Und hatte allen die Unverwundbare vorgespielt, manchmal sogar mir selbst. Doch das funktionierte nur bedingt, wenn ständig eine Ambulance vorbeirauschte, die schreckliche Erinnerungen an den Unfall hochkommen ließ.

Abstand. Das war es, was ich brauchte. Ich wollte nur noch vergessen. Mir vorgaukeln, nichts sei passiert. Also hatte ich meine Sachen gepackt und einen Flug nach Deutschland gebucht, ohne nachzudenken.

»Siehst du, es ist nicht so einfach.«

»Weil?« Ich räusperte mich, meine Stimme fühlte sich schon wieder so belegt an. Schnell nahm ich noch einen Schluck Tee.

»Mäuschen. In der nächsten Woche ist hier alles voller Menschen. Ich weiß nicht, ob es dir so guttut, wenn du … Na ja, ich meine … Vermutlich wäre es besser, du würdest erst kommen, wenn …«

»Am Chiemsee sind doch immer viele Urlauber«, warf ich ein. »Darauf habe ich mich schon eingestellt.«

»Schätzchen.« Oma druckste ein wenig herum. »Das meine ich nicht. Bei uns im Haus … Siehst du … Es ist momentan recht schwierig.«

»Habt ihr die Handwerker da?« Sag es. Sag, was wirklich los ist.

»Nein. Mäuschen … Magst du nicht noch zwei Wochen warten?«

Dafür war es zu spät. »Ich … sitze im Zug, bin schon bald am Flughafen. Mein Flug nach München geht in drei Stunden.«

Einen Moment lang schwieg sie. »Hat Tyler dich sitzen lassen?«, fragte sie leise.

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Das will ich hoffen.«

Wieder schwieg sie. Im Hintergrund hörte ich die Vögel zwitschern, irgendwo dröhnte das Horn eines Ausflugsschiffes. Als ich nichts erwiderte, seufzte sie.

»Welchen Zug nimmst du?«

»Uff, lass mich kurz überlegen …«

Auf der Sitzbank neben meiner quengelte der ältere der beiden Jungs. Daaaaaad, dröhnte seine Stimme von rechts an mein Ohr. Daaaaaddyyyy? Währenddessen musterte mich der kleine Archie aus sicherer Entfernung. Die Stirn in Falten, den Mund leicht geöffnet.

»Mein Flug geht in drei Stunden. Wenn ich den Anschluss erwische und der Umstieg in Rosenheim klappt, bin ich um kurz nach vier an der Bushaltestelle.«

»Okay«, sagte sie, und ich fragte mich, wo die Beschämung herrührte, die ich in ihren Worten hörte. »Rufst du an, sobald du im Bus sitzt? Ich hole dich dann von der Haltestelle ab.«

»Ich könnte erst mal bei Biene übernachten«, schlug ich vor und konnte nicht verhindern, dass es ein wenig trotzig klang. Theoretisch könnte ich das. Allerdings hatte sich meine Kindheitsfreundin über die letzten Wochen hinweg nur per SMS und Sprachnachricht gemeldet. Meinen Vorschlägen, doch mal zu telefonieren, war sie immer ausgewichen.

Anfangs hatte ich es darauf geschoben, dass sie besonders im Mai viel als Hochzeitsfotografin unterwegs war. Aber nach Wochen der Reha begann ich, mir Sorgen zu machen. Vielleicht war etwas passiert. Ob sie mich für ein paar Tage aufnehmen konnte, stand demnach sowieso in den Sternen.

Oma gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Ihr Zimmer misst zwei Quadratmeter.«

Jetzt musste ich trotz allem lachen. »Na, ganz so schlimm ist es auch nicht.«

»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, sagte sie, doch ich konnte hören, dass ihre Stimme ein wenig schwankte. »Ich stehe pünktlich an der Bushaltestelle.«

Der kleine Junge quengelte wieder. Dad, hörte ich ihn laut und deutlich neben mir. Was hat die Frau da? Und fast ebenso laut das genervte Psssssst des Vaters.

»Danke.«

»Bis später, Mäuschen. Ich freu mich auf dich. Sehr!«

Die Verbindung brach ab, Oma hatte aufgelegt und ließ mich verwirrt zurück. Ich sank tiefer in meinen Sitz und schob das Halstuch wieder über Mund und Nase.

»Daaaad, was hat die Lady im Gesicht?«, fragte der Junge im selben Moment.

»Pssssst«, zischte der Vater nur. »So was fragt man nicht.«

Vielleicht wäre es gut gewesen, dem Jungen meine Narbe zu zeigen. Ihm zu erklären, dass es nicht schlimm war, danach zu fragen. Dass in England jedes Jahr mehr als hunderttausend Verkehrsunfälle passierten, wie mein Doc mir erklärt hatte. Dass ungefähr dreißigtausend Menschen dabei schwer verletzt wurden und über tausend von ihnen starben.

Dann hätte ich dem Kleinen gesagt, dass ich eine von denen war, die überlebt hatten. Dass ich stolz darauf sein konnte. Und dass mein Gesicht davon eine Geschichte erzählte.

Stattdessen zog ich meine Mütze noch ein wenig tiefer über die Augen und tat so, als hätte ich nichts gehört.

Kapitel 2

Ein frischer Luftzug drang in den Bus, als sich die hinteren Türen an der nächsten Haltestelle öffneten. Ich quetschte mich zwischen zwei verschwitzten Herren hindurch, warf meinen Koffer mit Schwung hinunter ins Gras und sprang hinterher. Falls man es springen nennen kann, wenn man sich bei der Plumpsaktion mit beiden Händen am Haltegriff der Bustür festhalten muss. Schmerz bohrte sich in mein rechtes Bein, mir entfuhr ein Stöhnen. Kurz presste ich eine Hand auf den Oberschenkel, um durchzuatmen.

»Brauchen’s Hilfe?«, dröhnte der Bass des Busfahrers bis zu mir hinaus.

Im Außenspiegel sah ich sein besorgtes Gesicht. »Danke, alles gut!«, rief ich verlegen zurück und spürte meine Wangen warm werden.

Ein Zitronenfalter flatterte an mir vorüber. Leicht und frei zog er in der Luft seine Kreise, wohingegen mich jeder Schritt Energie kostete. Dennoch. Jeden davon wollte ich genießen.

»Emma, hier bin ich!«, hörte ich auch schon Oma von Weitem rufen, als der Bus die Türen hinter mir schloss und weiterfuhr.

Gebückt stapfte sie mit kleinen Schritten den Feldweg entlang in meine Richtung. Die vielen Perlmuttknöpfe ihres ärmellosen Baumwollkleides reflektierten das Licht. Links und rechts von ihr wogten Weizenfelder, die Ähren bogen sich im Wind, als duckten sie sich vom Leben weg.

Ich winkte. Biss mir auf die Lippe, bis der Schmerz stärker war als das flaue Gefühl in meinem Magen.

»Wie schön, dass du da bist!«, rief sie, als sie näher kam. Ihre Hand fand meine, bevor ich richtig vor ihr stand. Sie drückte kräftig zu. »Ich hab dich so vermisst!«

»Oma!« Jetzt stahlen sich doch ein paar Tränchen in meine Augen. Wie lange war es her, dass ich Oma und Opa das letzte Mal besucht hatte? Ein Jahr? Oder länger? »Moment, ich muss nur kurz …« So weh es auch tat – wenigstens vor Oma wollte ich mich nicht verstecken. Erschöpft löste ich das Halstuch und zog mir die Mütze von der verschwitzten Stirn. Eine Scheißidee, das mit der Mütze.

Ich konnte sehen, wie sehr Oma sich bemühte, mir geradewegs in die Augen zu gucken.

»Lass dich drücken, meine Kleine.«

Für sie würde ich immer die Kleine bleiben. Auch wenn ich längst zweiundzwanzig Jahre alt war und sie um fast zwei Köpfe überragte.

Ich drückte mich an sie. Sie erschien mir noch ein wenig runder als letztes Jahr, und sie roch nach Penatencreme. Ihr dunkles Kleid war warm von der Sonne. Aus ihrer Hochsteckfrisur hatten sich einige weiße Strähnen gelöst.

»Lass mich leben! Du erdrückst mich ja.«

Ihr Lachen klang so vergnügt wie eh und je. »Entschuldige.« Tatsächlich hatte ich nicht einmal gemerkt, wie fest ich zugedrückt hatte.

Oma sah mich an. Liebevoll strich sie mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich schwitzte unter ihrem Blick. Ein prüfender Blick, der wehtat.

»Hübsch bist du … Wie immer.«

Ich öffnete und schloss meinen Mund wie ein Fisch. Momentan gab es viele Adjektive, mit denen ich mich identifizierte. Hübsch gehörte definitiv nicht dazu.

Ihr Lächeln bekam einen Hauch von Bitterkeit. »Hab ich was Falsches gesagt?«

»Nein, nein«, antwortete ich und schluckte meinen Unmut hinunter. Was war jetzt schon falsch? Und überhaupt, was wäre richtig? Ehrlich gesagt wüsste ich das selbst nicht mal so genau.

»Komm.« Oma nahm mich an der Hand und führte mich den Feldweg hinab. So, wie sie es schon getan hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Du hast dich nicht verändert.«

»Doch«, sagte ich und konnte nicht verhindern, dass es verbittert klang. Den Plan, hier am Chiemsee alles zu vergessen, konnte ich wohl knicken. Der Koffer schleifte schwer hinter mir durch das Gras.

»Ach, Mädchen.« Unsicher blinzelte sie. »Auch wenn ein Buch in einer Schmuckausgabe erscheint, ist es noch immer dasselbe Buch. Oder nicht?«

Für einen Moment geriet mein Herz aus dem Takt. Hatte sie gerade ernsthaft Schmuckausgabe gesagt?

»Entschuldige.« Ein, zwei Male setzte sie noch an, etwas zu sagen, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie drückte meine Hand angestrengt, als sie über ein paar größere Mistbrocken stieg, die wohl ein Traktor auf dem Feldweg verloren hatte.

Mit einem Seitenblick half ich ihr darüber hinweg, auch wenn ich nach der komplizierten Fraktur im Oberschenkelknochen selbst kaum besser auf den Beinen war als sie. »Schon gut.«

Selten hatte ich Oma sprachlos erlebt. Doch mein Anblick schien sie zu verunsichern. Was ich ihr nicht verdenken konnte. Ihr Blick war dennoch warm und fürsorglich wie immer – und das war es, was mir das Gefühl gab, endlich an dem einen Ort angekommen zu sein, an dem ich alles hinter mir lassen konnte. Ich warf ihr ein Lächeln zu, das sie erwiderte.

In der Ferne, zwischen den Stämmen einer Birkengruppe, blitzte bereits der Chiemsee hindurch, der mir heute grauer und trauriger vorkam als in meiner Erinnerung.

»Weißt du …« Oma blieb einen Moment stehen. Eine Strähne ihrer weißen Haare wippte im Wind. Dann winkte sie ab. »Ach.«

»Ich weiß«, sagte ich und versuchte ein Lächeln, auch wenn es nicht ganz gelingen mochte.

Ich sog die Landluft ein und lauschte in die Stille. Hier herrschte immer Ruhe. Im Gegensatz zu London und Birmingham, wo alles laut und eng und hektisch war.

»Zumindest die Natur hat sich nicht verändert.« Ich deutete auf die Weizenähren, die in der Sonne golden leuchteten. Beinahe so, als hätten sie sich extra herausgeputzt, um mir ein mieses Gefühl zu geben.

Omas Blick, der mich traf, war noch ernster als erwartet.

»Du kennst hier nur den Sommer. Aber jedes Jahr wieder stehen die Felder voll Stoppeln, die langsam verdorren. Schnee liegt drauf, es wird kalt und matschig. Und irgendwann ist von der goldenen Weite nur noch elendes Gestrüpp übrig.«

»Das klingt trostlos.«

»Ist es nicht.« Erneut drückte sie meine Hand. »Weil jeden Frühling wieder alles zum Leben erblüht.« Sie zögerte. »Verstehst du, was ich meine? Oder macht dich das irgendwie … traurig?«

»Nein. Mir geht es gut«, log ich und fingerte an meinem Halstuch herum, das inzwischen locker um meinen Hals lag.

»Aber … vielleicht hilft das ja? In deinen Gedanken, meine ich?«, stopselte sie herum und fand schließlich ein Lächeln. Ein vorsichtiges Lächeln, mit einer Prise Unsicherheit, doch immerhin. Es schien, als sei meine Großmutter genauso überfordert mit meiner Verletzung wie ich. »Alles erblüht zum Leben.«

»Ja, das ist … schön.«

Hoffentlich würde Oma nicht die ganze Zeit damit verbringen, vorsichtig um mich herumzutänzeln. Meine ganze Kindheit lang war sie die Starke gewesen. Die nichts aus der Ruhe bringen konnte. Nerven wie Stahlseile – und dabei immer ein Lächeln auf den Lippen. Sogar damals, als mein Kindheitsfreund Johannes und ich beim Küchendienst eine kräftige Ladung Waschpulver in die Spülmaschine kippten und der Schaum, den es kurz darauf aus allen Ritzen presste, Omas Küche zu einer Schaumparty verwandelte.

Ein paar Schritte weiter, dann gaben die Bäume vor uns den Blick auf den See frei. Ich atmete tief durch, als wir in den Uferweg einbogen. Wie oft hatte ich vom Chiemsee geträumt, als mich ein dicker Gips an das Bett des Krankenhauses gefesselt hatte. Und nun kam er mir so fremd vor.

Groß und dunkel erhoben sich die Berge über dem See, zu ihrem Fuße floh das Wasser in kleinen Wellen Richtung Ufer. Mit jeder Bewegung veränderten sich ihre Farben. Segelboote glitten durch das Durcheinander an Grün- und Blautönen. Der Chiemsee hatte viele Gesichter. Gelegentlich kam es mir vor, als durchlebte er Stimmungen wie wir. Besonders dann, wenn wir seine schlechte Laune ertrugen, erkannte ich mich in den Wellen wieder.

Ich wartete auf Oma, deren Schritte noch ein wenig langsamer wurden. Gemeinsam steuerten wir auf ihr Haus zu, das einsam und friedlich am Ufer lag und auf das Wasser hinauszublicken schien. Hier schien die Welt noch in Ordnung. Rosen rankten sich die Hauswand entlang, Fensterläden blinzelten verschlafen auf den See hinaus. Ein paar Hühner pickten zufrieden im Gras, die meisten hatten sich vermutlich auf den Misthaufen eines nahe gelegenen Bauernhofes verkrümelt.

Genau hier hatte alles angefangen – als ich meine Modelkarriere beinahe aufgegeben hätte, weil die Laufstege dieser Welt sich nicht für mich interessierten. Und dann hatte sich alles gefügt. Mit der Empfehlung einer Anwohnerin unseres Dorfes (Oma bestritt tatsächlich bis heute, bei ihr ein gutes Wort für mich eingelegt zu haben!) stand mir plötzlich die Tür zu einer namhaften Modelagentur offen. Ein Covershooting für die Vogue folgte ein paar Monate später – und plötzlich hatte ich mich kaum retten können vor Angeboten. Hätte ich den Unfall nicht gehabt, meine nächsten Auftraggeber wären Armani gewesen, Dior und Chloé. Doch statt Fotos gab es Röntgenbilder, statt Mailand und Paris nur eine Rehaklinik nahe Birmingham.

Gedankenverloren sah ich einem Falken nach, der über den Feldern kreiste. Bald würde er im Steilflug nach unten schießen und sich sein Mittagessen fangen. Grausam und blutig, wie das Leben eben war.

»Woran denkst du?« Oma strich mir liebevoll über den Rücken.

»Daran, wie schön es hier ist.« Knapp daneben war auch vorbei. Beiläufig verfrachtete ich meinen Koffer in die andere Hand. Seine Rollen wirbelten ein wenig Sand auf, als der Weg direkt am Haus staubiger wurde. Hoffentlich saß nicht gerade die ganze Terrasse voller Leute. »Ich hoffe …«

»Du musst nicht hoffen«, unterbrach Oma mich, bevor sie wusste, was ich hätte sagen wollen. »Da kannst du völlig sicher sein … Darf ich dir das so sagen, meine Kleine? Am Chiemsee werden alle Lebensgeschichten gut. Auch deine.«

Schweigend starrte ich auf das Ufer. Hier endete die Flucht der Wellen im Nichts, rauschend und gluckernd zerbrachen sie an den Steinen. Und mit ihm kleine Sonnenstrahlen, die in den Wellen funkelten. Wie die Abbilder unzähliger Sternschnuppen, die Hunderte stille Wünsche mit sich trugen und nun verschwanden.

»Komm mit.« Oma nahm mir den Koffer aus der Hand. »Geht die kleine Steigung zum Haus? Mit deinem verletzten Bein? Ja? Dein Gepäck bringen wir später nach oben. Hier klaut niemand was.«

Sie deutete auf die Terrasse. Eine Sitzgruppe lud dort zum Verweilen ein, direkt neben der dichten Rosenhecke, die ich so liebte. Die große, sechs Meter breite Fensterfront zum Lesesaal stand weit offen, der Geruch von Büchern, altem Papier und warmen Erinnerungen mischte sich mit dem der Rosen.

Hätte ich nicht die Nase in die Luft gereckt und geschnuppert, dann wäre mir die feine Nuance von Kaffeeduft gar nicht aufgefallen, die beinahe schüchtern hinter all den anderen Gerüchen zurücktrat. Ich ging näher. Topfblumen zierten den Tisch, die weiße Tischdecke mit den edlen Borten wehte im Sommerwind. Neben einer Kanne dampfendem Kaffee warteten bereits ein Marmorkuchen und eine Tarte. Himbeeren und weiße Schokolade, wenn ich mich nicht täuschte.

»Sag mal, kenn ich diese junge Frau?«, tönte eine tiefe, gut gelaunte Stimme aus dem Haus.

»Opa?«

»Das gibt’s ja nicht!«

Ein braun gebranntes Gesicht lugte hinter einem Bücherregal hervor. Bei seinem breiten Lächeln gruben sich unzählige Falten in seine Wangen.

»Du bist da! Und ich dachte tatsächlich, deine Großmutter macht Scherze. Heute Morgen, als du am Telefon warst. Hast dem Piloten gezeigt, wo das Gaspedal ist?«

Ich musste grinsen.

»Flugzeuge haben kein Gaspedal«, tönte eine kräftige Frauenstimme aus dem Lesesaal, offenbar hinter einem anderen Regal.

Ich blickte irritiert nach drinnen, doch mir blieb keine Zeit, nachzusehen, denn da kam Opa bereits auf mich zu, die Arme weit ausgebreitet. Erst einen Schritt vor mir stutzte er und starrte auf die Mütze, die ich noch immer in der Hand hielt.

»Mädchen! Was willst du denn um Himmels willen mit der Mütze? Es hat dreißig Grad im Schatten! Wir sind hier nicht im kalten England, was?«

Grinsend fiel er mir um den Hals, schloss die Arme fest um meine Hüften und hob mich hoch. So schwungvoll und unerwartet, dass ich quiekte.

»Franz, jetzt pass doch auf!«, schimpfte Oma. »Du weißt doch nicht, ob sie … na ja.«

Opa ließ mich vor Schreck fallen. Glücklicherweise landete ich auf den Füßen. Trotzdem. Schmerz zuckte durch mein verletztes Bein, geradewegs bis zur Hüfte.

»Bist du …? Hab ich was kaputt gemacht?« Sein prüfender Blick scannte mich von oben bis unten. »Naaaahach, sieht gut aus. Alles noch dran, oder?«

»Franz!« Warnend hob Oma die Augenbrauen. »Jetzt sei mal ein bisschen sensibler. Denk doch mal, was sie alles durchgemacht hat.«

Opa hob beschwichtigend beide Hände.

»Ist ja alles gut«, schaltete ich mich ein und versuchte, mir den Schmerz in meinem rechten Bein nicht anmerken zu lassen. Durch das beschädigte Gelenk hatte ich noch immer mit Schmerzen zu kämpfen, die bei einem einfachen Bruch längst ausgestanden wären. Ich zwinkerte Opa zu. Es tat gut, dass er keine Sekunde mit meinem Unfall verschwendete. Oder darauf, mich wie ein rohes Ei zu behandeln. Für ein paar Augenblicke war ich einfach nur Emma, die mal wieder zu Besuch war. Wenngleich er solche Aktionen nicht oft bringen durfte, wenn mir mein Bein lieb war.

Grinsend fasste er nach meiner Hand und führte mich zum gedeckten Tisch. »Wir beide setzen uns jetzt erst mal in Ruhe hin und trinken Kaffee. Oma kann dir derweil von der Post einen Aufkleber holen. Vorsicht, zerbrechlich.«

Ich musste lachen.

»Fragile! Handle with care. So heißt das! So steht das immer drauf, oder?«, fragte er.

»Ja. Ganz genau so steht es drauf.« Ehe ich mich versah, hatte er mich an der Schulter herumgedreht und mich auf einen Gartenstuhl geschoben.

»Und vorsichtshalber auch noch einen, der markiert, wo oben und unten ist!«, rief er Oma zu.

Die lachte nur und setzte sich zu uns. Liebevoll strich sie über meine Schulter. »Kaffee oder Tee?«

»Tee, ich danke dir«, sagte ich. Ein kurzer, stechender Schmerz fuhr durch mein verletztes Bein, und ich lehnte mich für einen Moment zurück, um durchzuatmen.

So starrte ich auf den Chiemsee hinaus und konzentrierte mich auf die Wellen, die ans Ufer plätscherten, atmete mit dem Rhythmus gegen den Schmerz an.

»Und Kuchen!« Opa streckte sich quer über den Tisch, um den großen Stapel Teller zu erreichen. »Ich habe gebacken wie ein Wilder, weil deine Großmutter sagte, heute brauchen wir ein bisschen mehr davon.«

»Warte, ich mache das«, bot ich an. Energisch strich ich mit den Händen über meinen Oberschenkel, als könnte ich damit den Schmerz vertreiben, und nahm drei Teller vom Stapel.

Ein Lächeln kitzelte meine Mundwinkel. Dieser Stapel mit Geschirr stand jeden Morgen wieder auf dem Gartentisch, solange ich denken konnte. Und würde auch immer dort stehen. Es könnte ja jemand zu Besuch kommen, das war seit jeher Opas Philosophie. Egal, wer diese Terrasse betrat, ein Stuhl, eine Kaffeetasse und ein Kuchenteller sollten bereits auf ihn warten. Und Servietten natürlich!

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