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Lonely Hearts Travel Club: Thailand - Indien - Chile (3in1)

hier erhältlich:

NÄCHSTER HALT: THAILAND

Georgia Green hat zwar keinen Verlobten mehr, dafür aber einen triftigen Grund, um nun ihrem Fernweh nachzugeben. Nachdem ihre Hochzeit geplatzt ist, verkauft sie ihr Haus, kündigt ihren Job und schnallt sich zum ersten Mal im Leben einen Rucksack um. In Thailand findet sie allerdings statt der erhofften Erkenntnis zunächst nur Mehrbettzimmer, Ungeziefer und extrascharfes Essen - aber auch ein paar unwiderstehliche Reisebegleiter. Und vor allem lernt Georgia, auf wie vielen Wegen das Glück zu erreichen ist.

NÄCHSTER HALT: INDIEN

Georgia Green gründet ihr eigenes Business, den "Lonely Hearts Travel Club". Die junge Frau ist fest entschlossen, ihre Freude am Reisen auch an andere Singles weiterzugeben. Aber ein Unternehmen aus dem Boden zu stampfen, ist kein Strandspaziergang. Beinahe droht Georgia in der Arbeit unterzugehen. Was könnte da besser helfen, als in eine vollkommen fremde Kultur einzutauchen? Also auf in das Land von Bollywood, Taj Mahal und Yoga. In Indien erfährt Georgia viel über sich selbst, und was noch alles in ihr steckt.

NÄCHSTER HALT: CHILE

So eine Gelegenheit ergibt sich nie wieder! In einer Abenteuer-Fernsehshow können Georgia und Ben ihren Lonely Hearts Travel Club bewerben - und das vor der wilden Kulisse Chiles. Doch beim Sandboarding in der Wüste und Fahrradrennen durch die Berge wird ihre junge Liebe auf eine harte Probe gestellt. Ein funkelnder Ring in Bens Koffer sorgt für zusätzlichen Wirbel. Ist Georgia wirklich bereit, sich wieder zu binden?

"Katy schreibt mit Humor und Herz. The Lonely Hearts Travel Club ist wie Bridget Jones auf Reisen." Holly Martin

"Ein Handbuch für Abenteuer und Überlebenshilfe, das jede Frau gut gebrauchen kann." Sarah Morgan


  • Erscheinungstag: 06.08.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1264
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769383
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Katy Colins

Lonely Hearts Travel Club: Thailand - Indien - Chile (3in1)

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:
Destination: Thailand
Copyright © 2016 Katy Colins
erschienen bei: Carina, an imprint of HarperCollins Publishers

Published by arrangement with
Harlequin Books S.A.

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung: Oliver Blondeau / Getty Images,
saiko3p / Shutterstock, Freepik.com
Redaktion: Anna Hoffmann

ISBN E-Book 9783955766719

www.harpercollins.de
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E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Pflücke die Rosen, solange Du noch kannst.

Grandad, das ist für dich.

Kapitel 1

Fernweh, das (Substantiv, Neutrum): starker Wunsch oder starkes Verlangen nach der Ferne, nach fremden Ländern und danach, die Welt zu erkunden.

Es war mein Hochzeitstag. Diesen Tag hatte ich mir schon seit ich ein kleines Mädchen war in meinen Träumen ausgemalt und nun die letzten zwölf Monate damit verbracht, ihn zu planen und zu organisieren. Es sollte eine rustikale englische Hochzeit auf dem Land werden, inklusive handgearbeiteten Wimpelgirlanden, die von den Balken eines ungeheuer teuren Gutshauses hängen sollten, und einem auf dem perfekt gemähten Rasen aufgestellten Partyzelt, das sich in der Brise aufbauschen würde. Ein Harfenist sollte ein einfaches, doch liebliches Stück zupfen, während wir in den großen Empfangsraum gleiten, in dem uns Familie und Freunde jubelnd und klatschend als Mr. und Mrs. Doherty begrüßen würden. Das war der Teil, vor dem ich am meisten Schiss hatte; all die Leute, die mich anstarren und eine strahlend glückliche Braut erwarten würden, obwohl ich in Wahrheit Höllenangst davor hatte, dass ich beim Schreiten auf den Hintern fallen und mich zum Affen machen würde. Wenn ich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe, wird mir immer flau im Magen, und ich fange an, wie wild zu schwitzen. Deshalb hatte ich diese Situationen auf ein Minimum reduziert, und genau genommen hätte ich ja nicht alleine im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden.

Eigentlich sollte ich schon in meinem cremeweißen, mit Spitze besetzten Kleid mit Schleppe stecken. Ich schaute auf die Uhr, und mir fiel auf, dass die Lieferung der handgebundenen Bouquets aus taubenblauen Vergissmeinnicht und süß duftenden Fresien vor zehn Minuten hätte da sein sollen. Eigentlich sollte ich gerade in dem weichen Sessel des teuren Friseurs versinken, während dieser meine schlappen Locken in ein Kunstwerk verwandelte.

Stattdessen saß ich auf einer ungemütlichen Sonnenliege aus Plastik und versuchte, die großen, dicken Tränen zu verbergen, die mir über die leicht sonnenverbrannten Wangen liefen, während meine beste Freundin Marie mir noch einen verdächtig wässrigen Sex on the Beach von der All-inclusive-Poolbar reichte.

In einer Stunde hätte ich meinen Verlobten Alex heiraten sollen, doch vor fünfzehn Tagen hatte sich alles geändert. Im Fernsehen war eine Wiederholung von Don’t Tell the Bride gelaufen, während ich die Sitzordnung mithilfe des 3-D-Modells, das mir Alex’ Schwägerin Francesca geliehen hatte, zum dritten Mal überprüfte. Sie war mit Kate Middleton zur Schule gegangen und hatte es geschafft, das in jedem Gespräch zu erwähnen, das wir je geführt haben. Alex hatte schon wieder eine Spätschicht eingelegt. Während ich auf ihn gewartet hatte, war ich so sehr in die Folge eingetaucht, in der ein Nichtsnutz von einem Bräutigam für seine kurvige Braut mit Größe 44 ein Kleid der Größe 36 ausgesucht hatte, dass es mir gar nicht auffiel, als Alex auf einmal in der Tür stand. Er kaute auf den Fingernägeln und lockerte sich die Krawatte.

„Wir müssen reden“, hatte er gesagt. Seine Stimme klang kühl und gepresst. Auf seiner Krawatte war ein Tintenfleck, wegen dem mir seine Mutter zweifellos Vorwürfe machen würde, weil ich nicht in der Lage war, ihn herauszubekommen. Über meine mangelnde Eignung zur Haushaltsgöttin hatte sie ihre Nase bereits unzählige Male gerümpft. Als letzter Single umgeben von geschniegelt-und-gestriegelten, verheirateten älteren Brüdern hatte sich Alex anfangs gewehrt, ebenfalls eine Freundin zu haben, die ihn bemuttert. Im Vergleich zu seinen perfekten Hausfrau-Schwägerinnen a là Martha Stewart war ich wie eine frische Brise gewesen. Nach fünf Jahren war dieser süße Duft zu Mief verkommen.

Kennengelernt hatten wir uns in einem zwielichtigen Nachtclub in Manchester, in den uns unsere jeweiligen besten Freunde in einer verregneten Samstagnacht geschleppt hatten. Über billigem Bier aus Halbliter-Plastikbechern kamen wir uns näher und quatschten zu den Klängen von The Smiths und den Kaiser Chiefs, als wären wir langjährige Freunde, die sich vor ewigen Zeiten aus den Augen verloren hatten. Währenddessen zogen unsere besten Kumpels miteinander ab. Nachdem wir auf dem Heimweg im Taxi unsere große Wertschätzung für arterienverstopfende überbackene Pommes miteinander geteilt und unsere gemeinsame Liebe für Aioli entdeckt hatten, wusste ich, aus uns würde etwas Besonderes werden.

Die Jahre gingen ins Land, und wir gingen nicht mehr oft aus, da das Vorankommen auf der Karriereleiter in den Vordergrund rückte. Jahrelang hatten wir in schimmelverseuchten Absteigen von windigen Vermietern gewohnt und dann genug zusammengespart, um unser eigenes Haus zu kaufen. Stolz hatte Alex das Angebot seiner Eltern abgelehnt, uns finanziell unter die Arme zu greifen, also konnten wir nicht wie der Rest seiner Familie Schulter an Schulter mit den Spielerfrauen in der Millionärsmeile wohnen. Doch er hatte den unkonventionellen Charme unseres Viertels genossen, auch wenn das bedeutete, dass die Wahrscheinlichkeit, unsere Nachbarn als Gäste in einer Nachmittagstalkshow zu sehen, ungleich höher war. Ich hatte es toll gefunden, wie fest er zu seinen Prinzipien stand, auch wenn wir hin und wieder ein wenig Hilfe hätten gebrauchen können.

Also war es vorprogrammiert, dass mich Alex in einer verregneten Juninacht fragte, ob ich ihn heiraten wollte. Okay, dann war es eben nicht der Antrag meiner Träume gewesen. Er war nicht einmal auf die Knie gesunken, sondern hatte mir einfach das Schmuckkästchen mit dem Ring über den Tisch geschoben, während wir uns beim Inder ein Essen teilten – jeder mit Blick auf sein iPhone. Zumindest hatte er mir das letzte Papadam überlassen, das war doch schon mal was, glaube ich. Diese Verlobungsgeschichte erzählten wir natürlich nicht unseren Bekannten. Nein, in der offiziellen Version hat er mich überraschend ausgeführt, mich mit Beweisen seiner unendlichen Liebe überschüttet und ein älteres Paar gebeten, ein Foto von uns zu schießen, ich vor Glück flennend und er vor Stolz platzend – eine Schande, dass sie die Kamera nicht richtig hatten bedienen können. So gab es keinen Beweis dafür. Aber das echte Leben ist eben auch kein Disneyfilm, nicht wahr?

Wie dem auch sei, da wir nun nicht nur das Haus abzahlen, sondern auch für eine Hochzeit sparen mussten, gingen wir noch weniger aus. Also ja, mag sein, dass unser Leben ein wenig langweilig geworden war. Routine gab den Ton an, und ich konnte das TV-Programm hoch und runter beten. Doch wir bauten uns eine gemeinsame Zukunft auf, und genau das wollten wir doch, oder?

Als ich in sein müdes Gesicht im Türrahmen blickte, erkannte ich ihn nicht wieder – den Mann, der vor Jahren mit federndem Schritt in den Keller-Club gekommen war und mich zum Tanzen aufgefordert hatte. Dann warf ich einen Blick auf mich selbst, sah den fleckigen und viel zu großen Pyjama, und das war auch nicht die junge Frau mit dem rosigen Gesicht, die Ja gesagt hatte.

„Es funktioniert einfach nicht … ich, ich kann dich nicht heiraten“, stammelte er, und seine schlanken Finger fummelten nervös an der befleckten Krawatte herum.

Er hatte eine andere kennengelernt, eine Frau aus dem Büro, und „Gefühle“ für sie entwickelt. Er hatte nicht gewollt, dass es so weit kommt, aber er hätte sich verändert, wir hätten uns verändert. Er musste es nicht laut aussprechen, aber seine Mutter hatte recht, ich war einfach keine Frau, die man heiratete. Genau wie die kurvige Braut im viel zu engen Kleid im Fernsehen bekam ich auf einmal keine Luft mehr. Noch in derselben Nacht hatte er seine Taschen gepackt und war verschwunden. Ich hatte schluchzend eine alte Flasche Pfirsichschnaps getrunken, wobei ich die Hälfte über Francescas Sitzplan verschüttete, mich zusammengerollt und konnte nicht glauben, dass die Welt um mich herum zusammenbrach.

„Na komm, lass alles raus.“ Marie strich mir über den von der Sonne erhitzten Rücken, während meine Tränen in das inzwischen warm gewordene Cocktailglas tropften. Sie hatte entschieden, dass wir uns für die Zeit, in der eigentlich der „große Tag“ stattfinden sollte, aus dem Staub machen mussten, und uns schnell eine einwöchige Last-minute-Reise in die Ägäis gebucht. Der Ort wurde als das St. Tropez der Türkei beworben. Dieser Ritterschlag war von jemandem erteilt worden, der offensichtlich noch nie in Südfrankreich gewesen war, denn das ehemals verschlafene türkische Fischerdorf war nun ein richtiger Partyort voller Kebab-Restaurants, Tätowierstudios und Bars mit Neonleuchtschildern. Wir trieben uns nicht wirklich in der Innenstadt rum. Die letzten Nächte hatten wir mit Kartenspielen auf dem Balkon verbracht und uns dabei ein oder zwei Flaschen billigen Weißwein reingeschüttet. Marie machte Alex runter, während ich ihn abwechselnd verfluchte und dann panisch schluchzend verkündete, dass ich nicht stark genug sei, um alleine zu sein.

„Danke. Es ist nur … Na ja, das war’s … vorbei.“ Ich wischte mir ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem rot gefleckten Gesicht und sah Marie mit meinen verheulten Augen an. Sie zuckte zusammen, und das nicht nur wegen meines Anblicks, sondern weil ihr Plan, mein Elend mit Sonne, heißen Männern und einer All-inclusive-Bar zu vertreiben, nicht aufging.

Einen Moment lang hielt sie inne und rutschte mit ihrem kleinen Hintern auf dem harten Sitz hin und her. „Denk mal drüber nach, Georgia, du hast vollkommen recht.“ Sie zögerte kurz. „Das alles ist jetzt Vergangenheit, und es ist an der Zeit, sich um die Zukunft zu kümmern. Und da wir jetzt beide Single Ladies sind, kommen wir am besten durch den Tag, indem wir Alex den Finger zeigen und zusammen einen draufmachen. Ab jetzt hab ich das Kommando hier, und ich sage, wir gehen zum Strand runter.“ Marie sprang auf, stopfte unsere Sachen in die extragroße Strandtasche von Primark und setzte sich ihren riesigen labberigen Sonnenhut auf.

„Na ja …“, murmelte ich niedergeschlagen und trank die letzten Reste meines Cocktails.

„Komm schon! Du schaffst das! Ich weiß, dass du es schaffst. Wir kümmern uns erst mal um unsere Bräune, und für heute Abend suchen wir uns einen richtig coolen Club und amüsieren uns, nur wir beide, so wie früher.“

Ich nickte, band meine vom Chlorwasser strohigen Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und verfiel in Laufschritt, um sie einzuholen. Meine billigen Flipflops klatschten laut auf den nassen Bodenfliesen.

Wir gingen den engen felsigen Weg entlang, der vom Hotel zum vollen Strand hinabführte. Mit einem Blick erkannten wir die endlosen Reihen mit Sonnenliegen.

„Mist, ist ganz schön voll, oder?“ Marie biss sich auf die Unterlippe. Und obwohl sie eine riesige Jackie-O-Sonnenbrille aufhatte, schirmte sie die Augen mit der Hand ab und blickte in die Ferne.

„Ja, könnte man sagen“, meinte ich seufzend, und meine Motivation sank, während ich sehnsüchtig an ein Mittagsschläfchen zwischen frischen weißen Laken in unserem Hotelzimmer dachte. Vom Lachen, den hupenden Autos und der Musik, die aus den in Konkurrenz stehenden Strandbars ertönte, wurde mir ganz schwindlig. Warum hatte Marie mich heute nicht einfach durchschlafen lassen und erst wecken können, nachdem die geplante Zeremonie, das Anschneiden der Hochzeitstorte und dazu noch der erste Tanz vorbei gewesen wären?

„Komm, Süße. Lass uns ein bisschen weitergehen, ich habe gehört, dass nicht weit von hier eine kleine Bucht ist“, sagte Marie fröhlich und tat so, als wäre sie eine Pfadfinderin, die sich in ein Abenteuer stürzen will – was nicht ganz den Tatsachen entsprach, denn bei den Pfadfindern war sie rausgeworfen worden, nachdem Tawny Owl eine Lebensmittelvergiftung erlitten hatte, als Marie ihr Kochabzeichen machen wollte.

Wir liefen in Schlangenlinien den Strand hinab, gingen an ein paar dichten duftenden Büschen vorbei, navigierten erfolgreich an felsigen Stufen entlang und erreichten bald eine idyllische hufeisenförmige Bucht, in der sich nur vereinzelte Sonnenliegen befanden. Ich registrierte, wie sich meine hochgezogenen Schultern etwas lockerten. Wir hatten eine kleine Oase der Ruhe vor dem Chaos der türkischen Stadt gefunden. Die ruhige, klare türkisblaue Bucht glitzerte vor uns, und ich grub meine Zehen in den Sand, atmete tief die milde Luft mit den vertrauten Gerüchen von Kokos-Sonnencreme und fettigen Pommes ein.

Wir ließen uns auf zwei Sonnenliegen nieder, zogen uns aus und brachten bereits gerötete Haut zum Vorschein. Wenn Marie nicht meine beste Freundin wäre, würde ich sie wirklich hassen. Ihrer schlanken Figur sah man nicht an, dass sie bereits einen Sohn hatte. Cole war das ungeplante Resultat einer durchzechten Nacht voller Leidenschaft mit Mike, einem Typen, den sie in ihrer Stammkneipe getroffen hatte. Sobald Marie einen Raum betrat, zog sie mit ihren langen feuerroten Haaren, die sie nur gelegentlich „auffrischen“ ließ, alle Blicke auf sich. Sie ist der fürsorglichste Mensch, den ich kenne, und sie hat oft die verrücktesten und auch schmutzigsten Gedanken. Ich wünschte, ich wäre mehr wie sie. Insgeheim habe ich immer gehofft, dass etwas von ihrem Glanz auf mich abfärbt, wenn wir zusammen abhängen.

„Hallo, Ladys. Ich heiße Ali. Nur die zwei Sonnenliegen, richtig?“ Ein einheimischer Mann Anfang vierzig mit einem Lächeln im gebräunten Gesicht sprang auf uns zu. Er trug kein T-Shirt. Nur eine Kette hing ihm um den Hals. Daran befand sich der Zahn eines Tiers, der auf seine Bauchmuskeln hinabzeigte. Seine wohlgeformte Brust zierte ein verblichener tätowierter Schriftzug, der sich unterhalb des Bunds seiner abgewetzten und zerschnittenen Jeans fortsetzte.

„Ja, bitte.“ Marie lächelte zu ihm hinauf.

„Hier ist es plötzlich ganz schön heiß geworden.“ Er zwinkerte uns zu und nahm das Geld entgegen.

Marie blickte seinem zugegebenermaßen knackigen Arsch hinterher, während er zu seiner Strandhütte zurückging, und sah mich dann grinsend an: „Lecker, oder?“

Darauf antwortete ich mit einer Mischung aus Seufzen und Schnaufen. Momentan war auch nur der Gedanke an das andere Geschlecht so weit weg, dass ich ein Fernglas nutzen musste, um dieses überhaupt wahrzunehmen.

„Ach, komm schon, Georgia. Du kannst mir nicht vormachen, dass so ein Anblick nicht irgendetwas in deinen stillgelegten Lenden in Bewegung bringt!“ Marie lachte, als ich die Augen verdrehte. „Weißt du was, ich habe plötzlich richtigen Durst. Willst du auch ein Bier?“

„Was für ein Zufall, dass die Bar gleich neben seiner Hütte ist.“

„Mag sein.“ Marie ignorierte meine hochgezogene Augenbraue und wühlte einen Stift und einen zerknitterten Flyer für eine Ladys-trinken-gratis-Nacht aus ihrer Tasche hervor. Sie versuchte, ihn wieder glatt zu streichen. „Ich habe eine Aufgabe für dich, solange ich fort bin. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du eine Liste schreibst. Ich weiß, wie sehr du Listen liebst, und außerdem sagt meine Mama immer: ‚Im Zweifel schreib es auf!‘“ Den Stiftdeckel an die Lippen gepresst hielt sie inne. „Ich möchte, dass du eine Liste mit all den Dingen schreibst, die du in deinem Leben tun und sehen möchtest. So wie eine Bucket List, nur dass du keinen Krebs im Endstadium hast, der dich antreibt.“ Sie reichte mir den Stift mit dem feuchten Deckel und den Flyer mit der unbedruckten Rückseite.

„Ich weiß nicht mehr, was ich will. Ich dachte, ich wüsste es. Ich hatte mir alles ausgemalt und zurechtgelegt, doch jetzt komme ich mir so vor, als wäre ich in einer Art grausamen Vorhölle“, jammerte ich. Dennoch nahm ich den angesabberten Stift, denn es stimmte, ich war ein großer Fan von ausführlichen Listen. Ich hatte das Gefühl, durch das Niederschreiben von Gedanken den Kopf frei und die Kontrolle zurückzubekommen. Dann war da noch die Befriedigung, die Liste mit einem dicken, fetten Haken versehen zu können, sobald man sie abgearbeitet hatte.

„Nein. Du hast genug Trübsal geblasen, und jetzt ist es an der Zeit, etwas zu verändern und loszulegen“, sagte Marie mit fester Stimme. Sie sah aus, als würde sie nach einem zum Werfen geeigneten Stein Ausschau halten, mit dem sie mir drohen würde, falls ich mich nicht fügte. „Was passiert ist, war scheiße. Richtig scheiße. Aber man kann das auch so sehen: Zumindest wirst du nie wieder mit seiner Monstermutter zu tun haben, und du musst dir nie wieder Sorgen machen, ob du bei ihren lächerlichen Familienausflügen auffällst. Du musst nie wieder ihr vornehmes Getue ertragen.“ Sie schürzte die Lippen, hob die Hand zum Gruß wie die Queen und versuchte, unterkühlt zu winken – um ehrlich zu sein, keine schlechte Nachahmung von Alex’ Mutter Ruth. „Es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn er sich die ganze Zeit über an dem Treuhandfonds bedient hat, den sie ihm angeboten haben, und dann einen auf ich bin einer von den gewöhnlichen Menschen gemacht hat. Blödmann.“

Ich schniefte laut.

„Ich weiß, dass das hart ist, aber versuche es bitte, überlege dir etwas Positives, meine Süße. Wenn du nicht weißt, was du möchtest, dann überlege dir vielleicht, was du nicht möchtest.“ Sie hielt inne. Ali hatte den Blick von einem Beachvolleyballspiel losgeeist und winkte ihr von seiner Strandhütte aus zu. Marie rückte ihre Sonnenbrille zurecht. „Du willst nicht mehr mit ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, zusammen sein. Du willst nicht für den Rest deines Lebens in meinem Gästezimmer leben. Du willst nicht irgendeine einsame, langweilige Katzenmama sein …“

„Aber nur, weil ich eine Allergie habe“, wandte ich ein.

„Nein. Du willst nicht nur jemandes andere Hälfte sein. Du musst ein Ganzes sein, und mit einem ausgeklügelten Plan werden wir dich wieder auf die richtige Bahn lenken.“ Sie lächelte mild. „Starte einfach einen Versuch, bitte.“ Sie drückte mir einen Kuss ins Haar, wickelte sich in ihren Sarong und machte sich mühelos über den Sand gleitend auf den Weg, uns etwas zu trinken zu holen.

Ich starrte das leere Blatt an, so unbefleckt und weiß, und hatte Angst, etwas aufzuschreiben, da ich das Gefühl hatte, ich würde mich dann verpflichten, es auch zu erreichen. Das Problem war, dass ich immer einen Plan gehabt hatte. Doch jetzt? Jetzt war alles, was vor mir lag, eine große Leere, so wie das Blatt Papier in meinen verschwitzten Händen.

Auf den Sonnenliegen neben uns hatte sich eine Familie niedergelassen, und sie unterhielten sich lebhaft in einer Sprache, die wie schnell gesprochenes Spanisch klang. Im Vergleich zu meinem ausgeprägt nordenglischen Akzent klangen ihre mir unvertrauten Laute geradezu exotisch. Abgesehen von Französisch, das ich vor dreizehn Jahren in der Schule gelernt hatte, und an das ich mich kaum noch erinnern konnte, sprach ich keine anderen Sprachen. Vielleicht wäre das etwas, was ich tun könnte?

Genau genommen war ich abgesehen von dieser Reise mit Marie schon seit Jahren nicht mehr im Ausland gewesen. Aufgrund all des Sparens für die Hochzeit und das Haus hatte ich alle meine Sommerurlaube mit Heimwerken oder Aufenthalten in der Zweitresidenz von Alex’ Familie in Edinburgh verbracht. Als ich jünger war, hatte ich immer davon geträumt, mein Einkommen für exotische Reisen auszugeben, doch mein erbärmliches Gehalt schien nie dafür auszureichen. Sogar wenn ich ein Last-minute-Angebot nach Benidorm gefunden hatte, hatte Alex gespöttelt, dass wir auch gleich mit unseren Nachbarn in den Urlaub fahren könnten, denn nur dieser Typ Mensch würde einen Pauschalurlaub buchen und dann die ganze Woche englisches Bier in einem Irish Pub trinken. Wenn ich protestierte, dass man meine Familie auch als „diesen Typ Mensch“ bezeichnen konnte, hatte er mich an sich gezogen und mir einen Kuss auf den Hals gedrückt. „Ach Gigi, du weißt, was ich meine. Ich liebe deine Familie, aber vielleicht sollten wir ans Geld denken. Meine Mutter hat gesagt, dass Ed und Francesca jemanden suchen, der eine Woche lang ihr Haus in Devon hütet …?“

Da Alex in seiner Kindheit und Jugend schon viel von der Welt gesehen hatte, war ich mit meinen Träumen vom Fernweh allein. Und um fair zu sein, ich habe sie gern für ihn geopfert, damit er glücklich ist. Ich habe mir eingeredet, dass ich die heiß ersehnten Stempel in meinem Reisepass eines Tages schon bekommen würde. Es schauderte mir fast dabei, so lahm klang das.

Die Nachbarfamilie breitete eine Picknickdecke aus und öffnete eine Kühlkiste, die vollgestopft mit mir unbekannten Dingen war. Gerichte, deren Namen ich nicht kannte, die ich noch nie gegessen hatte, die jedoch fantastisch aussahen und rochen. Das war es, was ich tun wollte. Ich wollte die Frau sein, die mühelos eine neue Sprache parler konnte, die exotische Gerichte mit Zutaten kochte, die ich im Augenblick nicht mal aussprechen konnte, die bei Dinner-Partys Geschichten erzählte: „… Oh, da muss ich an die Zeit denken, die ich bei einem Schweige-Retreat in einem indischen Ashram verbracht habe …“, die Fakten und Anekdoten von entlegenen Orten kannte, anstatt über die steigenden Preise am Immobilienmarkt oder über Steuerklassen herumzunörgeln.

Okay, ich kann das. Ich begann zu schreiben …

Ich will die Welt in vollen Zügen genießen. Ich will erkunden, reisen, lernen und meine Grenzen neu setzen. Ich will zu mir selbst finden. Gebirge und Ozeane werden meine besten Freunde sein, die Sterne werden mich nach Hause leiten in der Nacht und meine Stimme soll unbedingt über alles, das ich gesehen habe, berichten, um es mit anderen zu teilen. Ich will reisen.

Huch! Mein Stift hatte sich wohl irgendwie verselbstständigt. Ich schaute auf das Blatt in meiner Hand und setzte mich auf meine Knie. Scheinbar wollte ich der Reiseenthusiast Michael Palin werden. Okay, und wie sollte ich all das erreichen? Genau wie vor ein paar Minuten schien der Stift ein Eigenleben zu entwickeln.

Kündigen und losziehen.

So einfach war das also, was, Kuli?

Was hält dich davon ab? Weder Mann noch Kinder, und bald auch kein Zuhause mehr. Nur ein blöder Job, bei dem du dich ständig darüber beschwerst, wie wenig du wertgeschätzt wirst, und dich dennoch durchbeißt, weil es dort gute Vorsorgepläne für Mütter gibt. Vorsorgepläne, die du jetzt nicht mehr brauchen wirst. Verkauf alles, kauf einen Rucksack, und zieh los.

Okay, vielleicht hatte der Stift ja recht. Ich hatte einen Job als Assistentin bei Fresh Air PR, einer kleinen wachsenden Firma in der Nähe von Topshop auf der Einkaufsmeile. Dort hatte ich die letzten fünf Jahre verbracht und mich von der Hilfskraft im Postraum zur persönlichen Assistentin des Marketingdirektors hochgearbeitet – jahrein, jahraus dasselbe Büro, dieselben Gesichter, dieselben Druckerprobleme. Der Gedanke daran, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, ob man die falsche Tasse zum Aufbrühen gewählt hatte, nicht dazu gezwungen zu sein, sich durch die Stumpfsinnigkeit der Weihnachtspartys zu trinken, sich nicht mehr die kleinlichen Diskussionen darüber anhören zu müssen, wer den besten Parkplatz hatte und welche Mittagsangebote sich am ehesten lohnten, fühlte sich richtig gut an. Ich war zu bequem geworden. Wie in den anderen Bereichen meines Lebens hatte ich Dingen zugestimmt, die ich nicht wollte, um es anderen recht zu machen. Aus Angst vor Versagen oder aus Peinlichkeit hatte ich aufgehört, meine eigenen Träume zu verwirklichen. Die Alltagsroutine mit Alex hatte sich ganz natürlich eingestellt, auch wenn es Zeiten gegeben hatte, in denen ich auf meine To-do-Listen sowie auf unser so gut wie nicht vorhandenes gesellschaftliches Leben geblickt und das Rackern im eigenen Heim verachtet hatte.

Aber wohin sollte ich gehen und was sollte ich tun? Kuli, lass mich nicht im Stich. Ich schloss die Augen, atmete die salzige, von Sonnencremeduft geschwängerte Luft tief ein und begann zu schreiben.

Nacktbaden im Ozean bei Mondschein

Die ganze Nacht unterm Sternenhimmel tanzen

Unglaublich exotische Gerichte probieren

Auf einem Elefanten reiten

Historische Tempel besichtigen

Neue Glaubensrichtungen erkunden

Einen Berg besteigen

Sich mit Menschen verschiedener Nationalitäten anfreunden

Den Ratschlag einer weisen Seele einholen

Etwas Verrücktes tun

Mir tat die Hand weh, doch im Kopf brummte es nur so. Ich kam wieder zu mir, als sich eine Mischung aus Zweifeln und der Realität in meine Gedanken schlich. Wie sollst du das hinbekommen? Es wird Monate dauern, das alles zu planen, Geld zu sparen und zu organisieren. Womit fängt man bei solch einer Reise überhaupt an?! Nie im Leben wirst du dich trauen, einen Elefanten anzufassen, geschweige denn, auf einem zu reiten. Beim letzten Versuch, dich mehr zu bewegen, bist du beinahe ohnmächtig geworden, den Everest hochzuwandern, fällt also aus. Und du hast geweint, als dir Blut abgenommen wurde, wie willst du dann mit etwas Verrücktem klarkommen, wie zum Beispiel einer Tätowierung? Das Verrückteste, das ich in letzter Zeit gemacht hatte, war, ohne Abschminken schlafen zu gehen.

Die verträumte Freiheit meines Kulis mochte ich viel lieber als mein blödes Gewissen.

Heute hätte dein Hochzeitstag sein sollen, oder hast du das etwa vergessen? Es ist total sinnlos, sich hier hinzusetzen und über ein vollkommen neues Leben zu schreiben, das du anfangen willst, wenn du doch weißt, dass du nicht die Kraft hast, irgendetwas zu verändern, wies ich mich selbst zurecht.

Das werden wir noch sehen, meinte mein Kuli.

Kapitel 2

Drapetomanie, die (Substantiv, feminin): überwältigender Drang fortzulaufen

Zwei Stunden später drehte sich mir der Kopf immer noch von der Idee, dass ich vielleicht, nur vielleicht, tatsächlich die Welt sehen könnte. Dass ich Rucksacktouristin werden und mein Leben wirklich ändern könnte. Meine eingesunkenen Fußabdrücke zeichneten sich hinter mir im Sand des Ufers ab. Ich ließ das kühlende Wasser über meine sonnenverbrannten Füße schwappen, schloss die Augen und atmete die frische Meeresluft ein. Inzwischen hätten wir bereits die Eheversprechen ausgetauscht. Unsere laut ausgesprochenen Schwüre, uns zu lieben, zu ehren und zu respektieren solange wir leben. Eine einzelne Träne rollte mir über die Wange, doch ich riss mich zusammen. Jetzt bist du an der Reihe. Jetzt war es an der Zeit, mir selbst einen Schwur zu leisten, einen Eid, ein Versprechen, das von ebenso großer Tragweite war, dessen Erfüllung jedoch nur von mir selbst abhing: glücklich zu sein.

Zügig lief ich über den heißen Sand zurück zur inzwischen schnarchenden Marie. Zum Glück war Ali nirgends zu sehen. Dieser unsexy Anblick einer menschlichen Fliegenfalle hätte ihre Chancen bei ihm sonst zunichtegemacht. Ich verstaute meine Reisewunschliste unter ihrer Heat – Zeitschrift und der Flasche Sonnencreme in ihrer Strandtasche und stupste sie dann an. „Was? … Wo? … Wer?“, schreckte sie stammelnd auf, setzte sich ruckartig hin und wischte sich die Spucke vom Mund.

Ich musste über Maries verschlafenes Gesicht und das zerzauste Haar lächeln. „Hey, ich gehe zurück ins Hotel.“

„Superidee, reich mir mal die Flasche Wasser, und dann können wir los. Wie lange hab ich geschlafen? Hab ich was verpasst?“, fragte sie zwischen großen Schlucken. Die Hitze drückte, und sie richtete sich die Haare mit den Fingern.

„Nö, nicht wirklich“, antwortete ich leichthin. Ich hatte beschlossen, noch ein wenig über die Liste nachzudenken, bevor ich ihr meine radikalen Ideen erzählen würde. „Und was ist eigentlich mit dem Baywatch-Typen gelaufen?“, fragte ich und machte eine Kopfbewegung zu Alis Strandhütte.

Sie schnaubte und warf den Kopf in den Nacken. „Wie’s scheint, ist er schwul.“

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzulachen. „Was soll das heißen?“

„Na ja, ich habe meinen klassischen ich-beuge-mich-über-die-Bar-um-mir-einladend-nen-Trinkhalm-zu-nehmen-Trick angewandt, und ich schwöre, dass das bisher immer funktioniert hat.“

„War das nicht der Trick, bei dem du am Ende mit Cole schwanger geworden bist?“, neckte ich sie.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ganz genau! Siehst du, ich hab ja gesagt, dieser Flirttrick ist Gold wert. Wie auch immer, der Typ hat nicht mal mit der Wimper gezuckt. Ganz so, als hätte mein Ausschnitt keinerlei Effekt in seiner Unterhosenregion hervorgerufen.“

„Und deshalb glaubst du, dass er schwul ist?“

„Nein. Aber sogar, als ich mir genussvoll die Lippen geleckt und langsam zu ihm rübergegangen bin – mit ausgestrecktem Kim-Kardashian-Hintern und all dem –, war er zu sehr damit beschäftigt, den Kerlen beim Beachvolleyball zuzusehen, um das überhaupt zu bemerken!“

„Vielleicht ist er einfach nur verdammt sportbegeistert?“, schlug ich vor. Sie verdrehte die Augen und war beleidigt über diesen Schandfleck in ihrem sonst makellosen Verführungszeugnis.

„Glaub mir, ich hab recht. Ich sag dir, er war mehr daran interessiert dabei zuzusehen, wie sich die Typen mit Sonnenmilch eingerieben haben, als den Spielstand zu verfolgen.“

„Ah, na dann. Hey, aber du weißt ja, dass ich dich egal was kommt immer lieben werde!“

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Georgia. Wir sind hergekommen, um dich wieder in Ordnung zu bringen und nicht, damit mir heiße türkische Männer meine Laune verderben.“ Sie streichelte liebevoll meinen Arm. „Zumindest weiß ich, dass mein Trinkhalm-Trick noch funktioniert, na ja, bei Hetero-Männern jedenfalls“, meinte sie lachend.

Während ich ihr so zuhörte, wurde mir schlagartig klar, dass mir das jetzt auch wieder bevorstehen würde, da ich jetzt Single war: Wege finden, die Aufmerksamkeit der Männer auf mich zu ziehen. Wenn es Marie schon schwerfiel, wollte ich nicht wissen, wie ich das angehen sollte. Der Gedanke, dass ich jetzt solo unterwegs war, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Ich war nicht länger jemandes bessere Hälfte, Verlobte oder Freundin. Es gab nur noch mich, und bald würde ich kopfüber in den ständig schrumpfenden Pool an Männern, die noch zu haben waren, eintauchen müssen. Oh Gott.

„Alles okay, Süße? Du bist trotz des Sonnenbrands ganz blass geworden.“ Maries Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.

„Ja, ja. Bin nur etwas müde.“

„Okay, gut, dann lass uns zurückgehen und was essen, und dann machen wir uns fertig zum Ausgehen. Mal sehen, was das Nachtleben dieser Stadt so zu bieten hat. Und ich lasse kein Nein gelten.“

Es war unsere letzte Nacht hier, und auch wenn ich den Tag so weit ganz gut überstanden hatte, konnte niemand wissen, was noch ein paar Cocktails mehr mit meiner wackligen Entschlossenheit anstellen würden. Andererseits war es im Angesicht der Veränderungen, die mein nun scheinbar jämmerliches Leben umkrempeln sollten, gar keine schlechte Idee, aus meiner Höhle hinaus ins Partylicht der Vergnügungsstraße gezwungen zu werden.

„Na schön“, sagte ich mit einem Nicken.

„Was?!“ Marie beugte sich vor und umarmte mich. „Ich war mir sicher, dass du Nein sagen würdest.“

„Tja, vielleicht werde ich ab jetzt versuchen, etwas öfter Ja zu sagen.“ Ich lächelte sie an.

„Das ist großartig, Georgia. Na siehst du, ich wusste es, hierherzukommen war die beste Idee. Heute Abend wird richtig super, das hab ich einfach im Gefühl.“

***

Aufgrund meiner momentanen Appetitlosigkeit – wahrscheinlich der einzige Vorteil vom Schlussmachen – sah ich eher dürr als schlank aus. Doch als ich mich im Spiegel anschaute, erkannte ich mich nicht wieder: Eine glamourös hergerichtete Frau starrte mich an. Ihre durch Pubertätspickel leicht vernarbte Haut war mit viel Bronzer abgedeckt, ihr glänzend braunes geföhntes Haar rahmte mandelförmige Augen ein, und eine Schicht Lippenstift glänzte auf ihrem Kussmund. Marie hatte auf einer Typveränderung bestanden, deshalb sah das Gesicht im Spiegel völlig anders aus als das der alten Georgia, und ich war mir nicht sicher, ob ich es mochte. Ich fühlte mich unsicher in meinem Outfit. Meine grell pinkfarbene Clutch passte zu den schwindelerregend hohen Stilettos, die ich trotz meiner Einwände, dass ich in High Heels herumeierte wie eine betrunkene Tina Turner, gezwungenermaßen von ihr hatte ausleihen müssen.

„Dann gehen wir eben langsam.“ Sie drückte mir ein blass goldenes Kleid in die Hände und brachte mich damit zum Schweigen. Es war das Kleid, das ich vor ein paar Jahren aus einer Laune heraus gekauft hatte, Beyoncé lebe hoch, und so. Nachdem Alex gemeint hatte, es sähe aus, als hätte ich es einer billigen Nutte geklaut, hatte ich nicht mal die Etiketten entfernt. Ich hatte mir jedoch eingestehen müssen, dass Queen Bey in ihren mit Strass besetzten Boots bei meinem Anblick nicht eben erzittern würde. Marie musste es heimlich eingepackt haben. Ich wünschte, ich hätte die Chance gehabt, die weiten Leinenhosen und die komfortable Bluse anzuziehen, die ich mir bereitgelegt hatte, bevor Marie sie versteckte. Sehr lustig …

Schließlich waren wir so weit und traten hinaus in den milden Abend, in das Zirpen der Grillen – und den Geruch von Autoabgasen. Wir machten uns auf den Weg zum Hafen. Fünfzehn-Meter-Master schwankten in tintenblauem Wasser und wurden von weiß strahlenden würfelzuckerförmigen Villen an der etwas weiter entfernten Anhöhe akzentuiert, deren Lichter wie vom Himmel gefallene Sterne glitzerten. Unglücklicherweise wurde diese umwerfende Szenerie durch die Ansammlung austauschbarer Bars und Nachtclubs entlang der Küstenlinie ruiniert. Vor jeder Bar standen Aufsteller, die Fischglas-Cocktails, gratis Shots und drei Drinks zum Preis von einem in geschwungener Neon-Handschrift bewarben. Ein Mädel in Fellstiefeln, winzigen Pailletten-Hotpants und einem Bikinitop, das geradeso ihre Nippel bedeckte, tanzte zu uns herüber, legte uns die sonnengebräunten Arme um die Schultern und versuchte, uns in die Bar zu lotsen, für die sie arbeitete.

„Okay, Ladys! Ich bin Mel, macht ihr Ferien? Dann seid ihr hier genau richtig. Wir haben die billigsten und besten Cocktails weit und breit. Ich geb euch drei Cheeky Vimtos zum Preis von einem, alle Mixgetränke für nur ein Pfund, und ich leg noch ein paar Kurze obendrauf!“, begrüßte uns die Blondine fast kreischend mit halb irrem Blick und schwerem Londoner Akzent, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Ich warf Marie einen Blick zu. Sie wirkte ebenso peinlich berührt, wie ich mich fühlte, dass sich diese fremde Person fast um uns gewickelt hatte.

Mel zog uns unerbittlich zu der gähnend leeren Bar. In der Ecke wartete eine traurig aussehende Bullriding-Maschine geduldig darauf, übergewichtige Touristen umherzuschleudern. Die Bedienung lehnte an der Bar und rauchte, während jämmerliches Strobo-Licht über die leeren Tische tanzte.

„S’ ist eeeecht noch früh, ich verspreche euch, das hier ist die Partylocation. In paar Stunden wollt ihr garantiert mit mir rumlesben, weil ich euch ’nen Tisch besorgt hab, dann geht’s nämlich totaaal aaaab!“, erklärte die irre Mel angesichts unserer halb entsetzten und halb enttäuschten Gesichter.

Ein paar andere Bar-Schreier schielten herüber, um zu sehen, ob Mel ihren Fang an Land ziehen würde oder ob sie selbst einen Versuch starten konnten, sobald wir weitergingen. Als ich sah, wie sie uns wie die Geier abschätzten und sich ausrechneten, wie hoch die Provision sein würde, die sie aus uns herausschlagen konnten, hätte ich mir am liebsten Maries Hand geschnappt und wäre zurück in die Sicherheit und Stille unseres Hotelzimmers gelaufen.

„Okay, na dann los“, sagte Marie und zerschlug mit einem Mal meine Hoffnungen, hier schnell wieder wegzukommen. Das ist deine letzte Nacht hier, sei nicht so spießig, Georgia.

„Super!“ Das dick aufgetragene Make-up im Gesicht der irren Mel faltete sich zu einem künstlichen Lächeln zusammen. „Mir nach, Ladys!“

Zu Hause hätten die Gäste jetzt zu Come on Eileen getanzt, die Bar bevölkert und versucht, Alex’ arroganten Trauzeugen Ryan zu ignorieren, der mit seiner Krawatte im Rambo-Stil um den Kopf im Partyzelt umhergeflitzt wäre und dabei seinen Willi herumgeschwungen hätte. Und stattdessen war ich nun hier, versuchte, den Freddie-Mercury-Imitator auszublenden, hörte zu, wie Marie von einer Gruppe Milchbubis in T-Shirts mit der Aufschrift Vollabsturz in der Türkei angequatscht wurde, und meine Schultern pulsierten vom Sonnenbrand. Ich war mir nicht ganz sicher, was das kleinere Übel war.

„Georgia! Das ist Rickaaaaay!“, rief Marie über die Musik hinweg und lieferte ihre beste Performance als Bianca Jackson ab, während der Milchbubi, um den sie den Arm gelegt hatte, weiter verträumt dreinschaute. Entweder war er zu jung oder zu betrunken, um mitzubekommen, worauf sie überhaupt hinauswollte. „Seine Kumpel und er sind aus Cardiff.“

„Hey, alles klar?“, Ricky beugte sich für einen Kuss auf die Wange vor, verlor jedoch das Gleichgewicht und verpasste mir eine halbe Kopfnuss auf den Wangenknochen. Wenn die Wirkung des ganzen billigen Alkohols irgendwann nachließ, würde das verdammt wehtun.

„Autsch. Klar, super“, sagte ich und rieb mir die Wange, wobei ich das Make-up ruinierte, das mir Marie so gewissenhaft nach Anleitung eines YouTube-Videos in unserem Zimmer aufgetragen hatte. Ich wollte zurück zu unserem Tisch und mir ein paar Eiswürfel holen – die irre Mel hatte recht gehabt, hier drinnen war es viel lebendiger geworden –, doch Marie hielt mich am Arm fest.

„Komm schon, gib jetzt nicht auf!“, bat sie eindringlich. In ihren Augen glitzerte etwas, das entweder Fröhlichkeit oder ein Wodka-Rausch war, und dann zog sie mich zur Tanzfläche. „Das ist echt klasse. Es ist so super, dich wieder lächeln zu sehen“, schrie Marie gegen den Bohemian-Rhapsody – Remix an. „Außerdem glaub ich, dass da noch was geht“, sang sie mir ins Ohr und machte eine Kopfbewegung zu Ricky, der sich seine Tanzbewegungen scheinbar vom Film Sex on the Beach abgeschaut hatte.

Ich verzog das Gesicht: „Ich weiß nicht.“

„Ich sag dir, der ist total heiß darauf!“

Ich zuckte zusammen. „Ich glaub, dafür bin ich wirklich noch nicht bereit.“

„Vielleicht musst du’s einfach nur hinter dich bringen. Das Pflaster mit ’nem Ruck abreißen?“, schlug sie vor, während ein enthusiastischer Tänzer hüftschwingend an uns vorbeizog.

Ich starrte Marie an und dachte daran, was beim letzten Mal passiert war, als sie mich ermutigt hatte, „es hinter mich zu bringen“. Erinnerungen daran, wie ich fünfzehnjährig in dem kalten Bunker gewartet hatte, kamen zurück. Mein Gesichtsausdruck sprach Bände, und Marie nahm mich in den Arm.

„Tut mir leid, ich hab vergessen, dass ich nicht gerade die beste Kupplerin bin“, sagte sie sachte.

„Ist schon okay, aber ich muss mir die Zeit nehmen, die ich brauche. Und ich will ja nicht fies sein, aber Ricky ist doch bestimmt noch Jungfrau.“

„Du könntest ein Cougar sein!“ Sie brach in Gelächter aus. „Nein, ich versteh schon. Aber hey, es ist gut zu wissen, dass du’s noch draufhast. Außerdem hab ich irgendwo gelesen, dass es wieder zuwächst, wenn man’s nicht benutzt.“ Sie kicherte und wirbelte mich dann herum.

Wir waren gerade dabei, Ricky und seinen Kumpels unseren berühmten Rasenmäher-Tanzmove beizubringen, als sich nahe am Eingang eine Art Tumult entwickelte. In der Erwartung, irgendeinen C-Promi einer türkischen Reality Show zu Gesicht zu bekommen, zog Marie mich durch die Menge hindurch, um mehr sehen zu können. Doch wo ein ruhmsüchtiger Möchtegern hätte stehen sollen, befand sich eine hübsche Frau in einem langen weißen Kleid. Grinsend stand sie Hand in Hand mit einem Mann in schwarzem Anzug da. Kurz darauf folgten ihnen ein paar lebhafte Ladys, die alle graugrüne Kleider im Abschlussball-Stil trugen, und da dämmerte es mir … eine Hochzeitsgesellschaft gesellte sich zu uns.

Das darf ja wohl nicht wahr sein. Vorwurfsvoll stierte ich in Richtung Himmel. In der Nacht, in der ich inzwischen schon beim langsamen Tanz mit Alex hätte sein sollen, wurde ich nun mit einer tatsächlich stattfindenden Hochzeit konfrontiert. Ich war in der Gesellschaft lebenslustiger Gastgeber, die die Hochzeitsformalitäten hinter sich bringen, um dann die Clubs heimzusuchen und dort so richtig miteinander zu feiern. Alex hätte das gehasst.

Genau genommen hätte Alex alles an dieser Reise gehasst, angefangen bei den Sonnenliegen aus Plastik, über die Karaokebar, bis hin zu den gestylten türkischen Männern. Auf mein Styling hätte er wahrscheinlich abschätzig reagiert und mein zugekleistertes Gesicht kritisiert. Ich griff mir Maries Hand und zog sie ins Damen-WC.

„Oh Gott! Geht’s dir gut?“, fragte Marie besorgt mit großen Augen. „Ich nehme an, du hast die ungebetenen Gäste gesehen. Wenn du willst, kann ich los und die Türsteher fragen, ob sie sie rauswerfen können!“ Sie fing an herumzuhüpfen, als wäre sie Rocky.

„Nein, das ist schon okay. Mir ist vielleicht ein bisschen schlecht, aber das kann auch am leuchtenden Fischglas-Cocktail liegen, den wir getrunken haben.“ Ich lehnte mich ans kühle Steinbecken. „Ach, Marie, das jetzt gerade zu sehen hat das alles so real werden lassen.“

„Was meinst du? Musst du dich hinsetzen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hast du gesehen, wie der Bräutigam seine Angetraute angeschaut hat? Hast du das gesehen? Gott, ich konnte die Hormone bis hierher fliegen sehen. Es ist schon Jahre her, dass Alex mich so angeschaut hat. Jahre! Vielleicht bin ich noch mal mit ’nem blauen Auge davongekommen, so wie du gesagt hast. Vielleicht ist das der beste Moment, um mein Leben tiefgreifend zu verändern. Ich habe eine Liste geschrieben, so wie du vorgeschlagen hast.“ Marie sah total verwirrt aus – sie hatte ihren Gedankenblitz vom Strand schon wieder vergessen. Ich wühlte in meiner Clutch, wobei die Hälfte des Inhalts auf den gefliesten Boden fiel, und streckte ihr das Stück Papier entgegen.

„Lies das. Das möchte ich jetzt aus meinem Leben machen. Ich hab’s satt, etwas hinterherzuheulen, das ich wahrscheinlich sowieso nie wirklich hatte. Ich war so sehr damit beschäftigt, die Hochzeit zu planen und sicherzugehen, dass ich die Erwartungen seiner Mutter und von Miss Perfect Francesca erfüllte, dass ich übers Heiraten an sich überhaupt nicht nachgedacht habe. Das Eheversprechen zu schreiben, stand als letztes auf meiner Liste, weil mir einfach nichts einfallen wollte, obwohl ich ihn so lange damit genervt habe, bis er’s gemacht hat“, gab ich zum ersten Mal offen zu.

Marie versuchte, die Liste mit vom Alkohol verschleiertem Blick zu lesen.

„Ich hab eine Mordsangst vor der Zukunft, aber sie muss einfach besser sein, als ein schönes Zuhause mit einem Verlobten zu teilen, der fremdgeht, als eine Arbeit zu haben, die ich hasse, nur um die Rechnungen bezahlen zu können, und als mich noch tiefer zu verschulden, weil die Hochzeit so teuer war. Das sollte eine Phase in meinem Leben sein, in der ich losziehe, die Welt sehe, neue Sachen lerne und zu mir selbst finde.“ Ich war so richtig begeistert und sprach wahrscheinlich lauter, als es sein musste. Mann, das waren echte Killer-Cocktails.

Marie schwieg ein paar Sekunden lang. Dann breitete sich ein riesiges Grinsen auf ihrem angeheiterten Gesicht aus. „Das ist fantastisch, meine Süße. Ich glaube, das solltest du ganz unbedingt machen. Oh Gott, ich werde dich vermissen, aber wann wird’s noch mal eine Zeit geben, die besser ist als jetzt, um loszuziehen? Ich bin so stolz auf dich, wie du mit allem klargekommen bist, und sogar damit, das Paar vorhin zu sehen – das hast du so unfassbar toll gemacht.“

„Danke, aber um ehrlich zu sein, das alles hätte ich ohne dich nie hinbekommen.“

„Doch, hättest du. Du bist so großartig.“ Jetzt lallte sie ganz eindeutig.

„Nein, du bist die Großartige hier.“

„Nein, du!“

Ein Mädel mit gigantisch auftoupierten Haaren preschte an uns vorbei, um sich die Hände zu trocknen und unterbrach unsere Selbstbeweihräucherung. Wir prusteten beide in einem Kicheranfall los. „Ich will das, was die getrunken haben“, rief sie einer ihrer Freundinnen in der Kabine zu. Als ich zur Wanduhr über den Spülbecken blickte, wurde mir klar, dass wir in ein paar Stunden abreisten und noch nicht gepackt hatten.

„Wir müssen los, Süße“, sagte ich. So wie sie schwankte, schien mir, dass sie auch so weit war, nach Hause zu gehen.

„Oooch, ja, du hast recht. Das war so ein toller Abend! Weißt du was, du solltest wieder herkommen und dir auch ’nen Job wie die süße Mel besorgen, da könntest du ’n bisschen rumkommen?“, lallte Marie und nahm meine Hand, während wir an der stetig länger werdenden Schlange vor dem Damen-WC vorbeigingen. Braut und Bräutigam waren schon lange in der Menge junger Türken auf der vollen Tanzfläche verschwunden.

„Ähm, ja, vielleicht“, erwiderte ich abwesend.

Wir schafften es, unbeschadet hinaus und außer Reichweite der provisionshungrigen Bar-Schreier zu kommen. Hin und wieder waren noch einzelne Fetzen von hämmernden Bässen zu hören, und ich fühlte den Rausch des Adrenalins in mir pulsieren. Unter den hell leuchtenden Sternen, die sich im pechschwarzen Wasser, das an den Kai schwappte, spiegelten, spürte ich die Begeisterung und Vorfreude über das, was meine Zukunft für mich bereithielt. Ich fühlte mich lebendig. Wenn ich es überleben kann, an dem Tag, der mein Hochzeitstag gewesen wäre, einer Braut gegenüberzustehen, dann kann ich alles andere mit Sicherheit auch schaffen.

In der Stille unseres Hotelzimmers schlief Marie ein, nur wenige Minuten nachdem ich sie ihrer Klamotten entledigt, sie zugedeckt und die Klimaanlage aufgedreht hatte. Ich schminkte mich ab, schlüpfte in meinen Baumwollpyjama, band meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schmiegte mich in die weiche Umarmung der Laken. Der Kopf drehte sich mir vom Alkohol, von den Gefühlen und von der Tatsache, dass ich eine Begegnung mit einer Hochzeitsgesellschaft überstanden hatte – ausgerechnet am heutigen Abend.

Eigentlich hätte ich jetzt mit Alex in der Hochzeitssuite des Gutshauses liegen sollen. Nach einem gemeinsamen Bad mit einem Glas Champagner in der riesigen, freistehenden Wanne hätten wir uns nun als Mr. und Mrs. geliebt und davon geschwärmt, wie perfekt der Tag gewesen war. Der Tag meiner Träume. Aber das war das Problem mit Träumen, sie werden so gut wie nie wahr. Nein, in Wirklichkeit wäre es anders abgelaufen: Die Nacht hätte damit geendet, dass wir uns darüber gestritten hätten, warum sein Freund Ryan in seiner Tischrede auf andere Frauen angespielt hatte. Während wir die Torte angeschnitten hätten, hätte mein peinlicher Onkel Ron, den wir nur eingeladen hatten, um Familienstreitigkeiten aus dem Weg zu gehen, den aber in Wahrheit niemand dabeihaben wollte, spontan ein nicht jugendfreies Karaoke gestartet. Was Alex’ Eltern dazu bewogen hätte, ein ernstes Wort mit ihrem Sohn zu sprechen, warum er in so eine ordinäre Familie hineinheiratete. Alex und ich wären zu erschöpft gewesen, um uns überhaupt ein Bad einzulassen, geschweige denn, um noch mehr Alkohol zu trinken, und wir wären in unseren Klamotten, jeder auf seiner Seite des Betts, schnarchend in einen berauschten Schlaf gefallen. Warum hätten wir dann mit Liebe machen anfangen sollen, wenn wir schon seit Monaten keinen Sex gehabt hatten? Wir hatten uns mit unserer Trägheit arrangiert, und ich bin mir sicher, dass das nicht der Titel eines Kamasutra-Films ist. Alex’ mangelndes Interesse an mir hatte ich auf den Hochzeitsstress und die Nervosität geschoben, oder darauf, dass er nach einer erneuten langen Arbeitsschicht müde war. Ich bin dermaßen naiv gewesen! Und dabei hat er es sich die ganze Zeit über von einer anderen besorgen lassen.

Ich schaute rüber zu Marie. Zusammen mit meiner leicht betrunkenen, halb nackten besten Freundin in einem Hotel in der Türkei zu liegen, war genau genommen eine gar nicht so schlechte Art, die heutige Nacht zu verbringen. Im Augenblick war ich glücklich darüber, dass ich diesen Tag nicht als den Tag, an dem ich hätte heiraten sollen, sondern als den Tag, an dem ich einen Plan für mein neues Leben erstellt habe, in Erinnerung behalten würde.

Alles, was ich jetzt noch tun musste, war, ihn umzusetzen.

Kapitel 3

Hiraeth (Substantiv): Walisisch für eine Art Heimweh nach einem Zuhause, in das man nicht zurückkehren kann bzw. das so niemals existiert hat.

Manchester hieß uns auf seine Art willkommen: Als wir aus dem Flugzeug gestiegen waren, hatte es uns mit grauem Himmel und Sprühregen umarmt, und seitdem hatte es durchgeregnet. Doch auch der ausgebliebene Indian Summer, den die Meteorologen im TV vorhergesagt hatten, konnte meine Laune nicht trüben. Den ganzen Flug über zurück nach Hause hatten wir uns darüber unterhalten, wo, wie und wann ich au revoir sagen würde, und das hatte mich von dem abgelenkt, was mir jetzt noch bevorstand.

Ich musste den Rest meiner Sachen aus meinem alten Zuhause holen und in Maries Gästezimmer bringen – insgeheim hatte ich gehofft, dass sich das auf magische Weise von selbst erledigen würde, während ich fort war. Wo waren die Heinzelmännchen, wenn man sie brauchte? Marie hatte versucht, mich dazu zu ermutigen, mich nicht unterkriegen zu lassen und darum zu kämpfen, in dem Haus wohnen zu können, das mir zur Hälfte gehörte. „Alex sollte derjenige sein, der ausziehen muss. Soll er doch bei der hässlichen Schlampe einziehen, für die er angeblich Gefühle hat“, hatte sie eines Abends geradeheraus beim Kartenspielen gesagt. Wahrscheinlich hatte sie recht. Das Problem war nur, dass ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dort alleine zu wohnen und täglich durch die Haustür in ein leeres Haus zu kommen, an dem so viele Erinnerungen hingen. Bisher hatte ich noch nie alleine gelebt und war garantiert nicht stark genug, jetzt damit anzufangen. Davon abgesehen hatte ich nicht die Kraft zu kämpfen und ihn zu konfrontieren. Ich wollte es einfach nur geregelt haben, damit ich das alles hinter mir lassen konnte. Morgen. Morgen würde ich’s erledigen. Heute wollte ich einfach nur in die Wanne, früh ins Bett und die riesige Toblerone-Packung verschlingen, die irgendwie ihren Weg in meinen Einkaufskorb im Duty Free gefunden hatte.

Wir zischten durch den Zoll und hielten kurz darauf vor Maries Wohnung an. Der griesgrämige Taxifahrer knallte unsere Reisetaschen auf den regennassen Fußweg und verfehlte wie durch ein Wunder die Pfützen. Willkommen zu Hause.

Marie telefonierte mit Cole, und ich machte mich nützlich, drehte die Heizung hoch, schüttete saure Milch weg und stellte Wasser zum Kochen auf.

„Oh mein Gott!“, kreischte Marie, als sie ins Zimmer preschte. Ihr Kater schien wie weggeblasen. „Mein Agent hat gerade angerufen und mir gesagt, dass ich das erste Vorsprechen geschafft habe und zum zweiten eingeladen bin!“

„Das sind tolle Neuigkeiten. Wo, was, wann?“

„Ich muss morgen los. Ich werde ein paar Tage lang fort sein, weil der Regisseur gerade vor Ort filmt. Aber für dieses zweite Vorsprechen hat er persönlich nach mir gefragt. Das ist der Film, für den ich vor Ewigkeiten mal vorgesprochen habe – dieser Kostümfilm mit dem unerwarteten Ende, weißt du noch?“

„Ach ja.“ Ich erinnerte mich daran, dass sie wegen irgendetwas nervös gewesen war. Das war zur selben Zeit, als ich mich hatte entscheiden müssen, ob nach dem Anschneiden der Torte gleich der DJ kommen sollte oder erst die Ansprachen. Es war eine stressige Zeit für uns beide gewesen.

„Die wollen Jane Eyre einen urbanen Anstrich geben und es in Brixton filmen statt im Lake District – oder wo auch immer das ursprünglich spielt. Ich habe nur ein paar Zeilen, aber mein Agent meint, wenn es mit dem Regisseur klappt, dann könnte das zu größeren Rollen führen“, erzählte sie aufgeregt.

„Das ist ja fantastisch! Das hast du richtig toll gemacht.“

„Der Haken ist, dass ich Cole noch ein paar Tage länger nicht sehen kann, was mich echt mitnimmt. Aber Mike hat gesagt, dass seine Mutter ihm hilft, auf ihn aufzupassen, bis ich wieder da bin. Bis dahin werden wir uns wohl mit FaceTime begnügen müssen“, sagte Marie traurig.

Dafür, dass Coles Vater Mike nur ein One-Night-Stand gewesen war, hatte er wirklich Verantwortung übernommen, und zusammen hatten sie die Betreuung ihres Sohnes perfekt organisiert. Nicht selten fiel mir Mikes sehnsüchtiger Blick auf, mit dem er Marie ansah, wenn er Cole nach einem Wochenende in seinem Haus zurückbrachte, und ich fragte mich, ob sie es je versuchen würden, die ganze Sache mit Erziehung und Elternsein gemeinsam anzugehen. Äußerlich schienen sie perfekt zueinanderzupassen, und beide vergötterten Cole. Doch immer, wenn ich Marie darauf ansprach, meinte sie nur, dass ein Mann in ihrem Leben völlig ausreichte. Dann wechselte sie stets das Thema.

„Tja, Berühmtsein hat seinen Preis“, sagte ich lächelnd, „aber hey, es dauert ja nicht so viel länger, und stell dir Coles Gesichtsausdruck vor, wenn er seine Mama im Fernsehen sieht.“ Marie zuckte zwar mit den Schultern, doch insgeheim wusste ich, wie viel es ihr bedeutete, ihren Kindheitstraum wahrzumachen und eine Schauspielerin zu sein – ganz besonders, da sie für Cole sorgen musste. Sie bot mittlerweile auch Hausbesuche als Friseurin an, um die Rechnungen bezahlen zu können, doch ihr Herz hing an dramatischen Szenen und an unerwarteten Wendungen, nicht an Blondiercreme und Dauerwellen.

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Das heißt also, dass wir deine Sachen heute Abend aus dem Scheißkerl-Inn holen müssen, weil ich dir sonst nicht dabei helfen kann.“ Sie hatte recht. Verdammter Mist.

Meine Eltern konnte ich nicht um Hilfe bitten, besonders wegen des Rückenleidens meines Vaters. Ich ging meine Handykontakte im Kopf durch und überlegte, wen ich anrufen und bitten könnte, beim Transport von ein paar Kisten zu helfen. Ich überflog die Namen von Alex’ Freunden, entfernten Verwandten, alten Klassenkameraden, mit denen ich, von den jährlichen Facebook – Glückwünschen zum Geburtstag abgesehen, seit Jahren keinen Kontakt hatte und stellte fest, dass niemand übrig blieb.

Niemand.

Als Kind war ich nie sonderlich beliebt gewesen. Doch ich hatte mir ausgemalt, dass ich in meinen glamourösen Endzwanzigern zumindest einige enge Freunde haben würde, neben denen die Darsteller aus Friends wie eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe Fremder in einem Fahrstuhl wirken würde. Das war ein weiterer Punkt für meine Reisewunschliste – mehr Freunde finden.

„Tut mir leid, Süße. Meine armseligen Kisten zu schleppen ist das Letzte, was du gebrauchen kannst, wenn du eigentlich für deine neue Rolle packen solltest.“

„Nee, das ist schon okay. Ich werf einfach ein paar saubere Slips in meine Tasche und bin reisefertig“, meinte Marie lächelnd. „Es ist viel wichtiger, dass wir dich von diesem Arschloch wegholen. Ist es okay, wenn wir jetzt gleich loslegen?“

Ich musste all meine Kraft aufbringen, um zu nicken. Ich wollte nicht dorthin. Ich wollte nicht daran erinnert werden, wollte unser kleines, aber süßes Haus nicht sehen, wo der Wasserhahn in der Küche tropfte, wenn man ihn nicht mit einem Teelöffel festklemmte, wo die Dielen an manchen Stellen quietschten und wo die Zentralheizung beruhigend rauschte, wenn sie ansprang. Ich war nicht bereit, vom Haus Abschied zu nehmen. Aber das war nicht mehr mein Zuhause. Das konnte es nicht mehr sein. So sehr ich mir auch wünschte, nichts von all dem wäre geschehen, so wusste ich doch irgendwo tief in mir drin, dass ich nicht die jammernde, verschmähte Frau sein wollte, die ihn darum bittet, wieder zu ihr zurückzukommen. So hatten mich meine Eltern nicht erzogen. Nein, ich musste mir mein Zeug schnappen und mich meinem neuen Lebensplan widmen. Ein Schritt nach dem anderen … wie man so schön sagt.

Als wir vorfuhren, war es bereits dunkel. Ich hielt den Haustürschlüssel in meiner zittrigen Hand. Marie führte mich zur Tür und fluchte, als sie über eine wacklige Gehwegplatte stolperte. Niemand war zu Hause. Schweigend gingen wir von Zimmer zu Zimmer. Ich erkannte unseren Geruch und merkte, wie meine Entschlossenheit bröckelte.

„Und, was denkst du, wo er deine Sachen hingeräumt hat?“, unterbrach Marie meine trüben Gedanken.

„Wahrscheinlich ins Gästezimmer und unter die Treppe“, vermutete ich. Das waren immer die beiden Orte gewesen, wo wir Zeug verstauten, das wir nicht mehr brauchten.

Das sind nur ein paar Steine, Georgia, reiß dich zusammen. Das Haus steht für all die Lügen, die er erzählt hat. Und für die Zukunft, die du nicht haben kannst und die du nicht mehr haben willst. Weiter nichts.

Ich öffnete die Tür zum Gästezimmer und war überrascht, dort ordentlich gepackte, beschriftete und aufeinandergestapelte Kisten mit meinen Sachen vorzufinden. „Winterkleidung, Bücher, CDs, Sonstiges“, las Marie mit gleichermaßen schockiertem Gesichtsausdruck laut vor. Alex war schlampig, unorganisiert und allergisch gegen Putzen. Ich hatte erwartet, dass meine Habseligkeiten in Müllbeutel gestopft worden waren, aber das hier? Das war neu.

„Ich bringe die hier ins Auto, und du schaust dich weiter um“, wies sie mich an.

Als ich langsam das Schlafzimmer betrat, überwältigte mich der Geruch von Bleichmittel und Zitrone. Das Bett war gemacht, auf dem staubfreien Nachttisch stand ein leeres Glas und ohne mein Zeug – Schmuck, der über dem Spiegel hing, Schuhe, die entlang der Wand aufgestellt waren, und Bücher, die sich auf dem Boden stapelten – wirkte das Zimmer größer und kahler. Kein pinkfarbener Pyjama auf dem zerknitterten Kissen, keine benutzten Abschminktücher im Abfalleimer und keine Zeitschriften mehr auf dem Boden.

„Süße, ich glaube, er hat eure gemeinsamen Sachen hier unten hingestellt“, rief Marie von unten herauf.

Sie stand in der Tür der großen Abstellkammer unter der Treppe und streckte mir eine handgeschriebene Notiz entgegen, die Alex an der Tür befestigt hatte.

Das hier sind die meisten Dinge, die wir zusammen gekauft haben und die du vielleicht haben möchtest. Die Entscheidung darüber, wer die größeren Gegenstände wie den Kühlschrank und das Bett behalten soll, überlasse ich dir.

Alex.

Ich warf einen Blick auf die ungewollten Weihnachtsgeschenke, Brettspiele und Gartenmöbel, die direkt neben dem Bügelbrett und dem Staubsauger in der hintersten Ecke aufgestapelt waren. Es war deprimierend zu sehen, wie fünf Jahre Beziehung aussahen: ein angeknackster Fotorahmen, ein Kartoffelstampfer und ein teurer, jedoch kaum benutzter Smoothie-Automat. War’s das etwa? Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte nicht bestimmen, was wessen Eigentum war, oder die Dinge in der Mitte durchsägen. Ich wollte einfach nur raus hier.

„Ich weiß nicht, ob das alles ins Auto passt, Süße“, sagte Marie sanft.

„Ich will das Zeug nicht. Nichts davon. Ich werde mir neue Sachen kaufen. Sachen, die mir alleine gehören, die ich mit meinem eigenen Geld bezahle.“ Ich wischte mir grob über die Augen.

„Okay … wenn du dir sicher bist.“ Marie strich mir mitfühlend über den Arm. Ich nickte und legte dann den Hausschlüssel auf die Küchenanrichte – die blitzsaubere Küchenanrichte. Ich hinterließ keine Nachricht. Es gab nichts mehr zu sagen.

Kaum hatten wir die Tür zugezogen, fing ich an zu weinen. Ich war traurig, dass ich nie wieder auf dem gemütlichen Sofa sitzen und fernschauen würde oder auf dem Herd kochen. Lächerliche Kleinigkeiten. Diese Tür zu schließen fühlte sich viel symbolischer an, als es eigentlich sollte. Ich war erschöpft. Und obgleich ich wusste, dass es richtig war, etwas Neues anzufangen und ihn hier mit den gemeinsamen Erinnerungen leben zu lassen, die ihn verspotteten, so fühlte es sich dennoch wie ein herzzerreißender, großer Schritt in mein neues Leben an. Ein Leben, von dem ich keine Ahnung hatte, wie ich mich darin überhaupt zurechtfinden sollte.

Kapitel 4

Erleuchtung, die (Substantiv, feminin): plötzliche Erkenntnis, Eingebung

Das Stadtzentrum wimmelte nur so von schikanierten Bürokräften und frühmorgendlichen Shoppern. Auf der überlaufenen Straße waren wir bereits dreimal knapp mit irgendwelchen Leuten zusammengestoßen, deren Blicke auf ihre Handys geklebt zu sein schienen. Darunter auch ein riesiger gedrungener Mann, der mich angerempelt und beinahe umgeworfen hatte.

„Wo wollten wir uns noch mal mit deinen Eltern treffen?“, fragte Marie.

„Ähm, im Kendal’s“, antwortete ich abwesend und rieb mir die Schulter.

„Ah, hätte ich mir denken können. Weißt du noch, wie deine Mutter immer mit uns dort hingegangen ist, als wir noch klein waren? Wir kamen uns so fein vor! Wir wollten unbedingt einen der Stars von Coronation Street sehen, und dann haben wir uns mit Parfümproben eingedeckt. Schau mal, da sind sie!“, rief Marie und winkte aufgeregt.

Mein müde wirkender Vater winkte lächelnd zurück. Meine Mutter war voll und ganz damit beschäftigt, sich ihre Handtasche an die Brust zu drücken und einen unter dem Ladendach lungernden Verkäufer einer Straßenzeitung misstrauisch zu beäugen.

„Guten Morgen. Entschuldigt bitte, wir sind spät dran.“

„Na, da seid ihr ja, ihr Schlafmützen. Du warst noch nie eine Frühaufsteherin, hab ich zu deinem Vater gesagt, nicht wahr, Len?“ Meine Mutter lachte leise. Ohne eine Antwort zu erwarten, drückte sie sich an ihm vorbei und gab mir einen Kuss auf die Wange – und warf dem Zeitungsverkäufer einen argwöhnischen Blick zu.

„Guten Morgen, Liebes, schön, dass du wieder da bist.“ Mein Vater umarmte mich und hüllte mich in den vertrauten Geruch nach Seife und Waschmittel ein.

„Aber sag mal, was hab ich da gehört? Du wirst fortgehen und ein großer Star werden?“, wandte sich meine Mutter an Marie.

Marie lachte. „Oh, noch nicht so ganz, Sheila, es ist eher Hackney als Hollywood, aber keine Sorge, ihr seid alle zur Premiere eingeladen“, erwiderte sie lächelnd. Dann zog sie einen Fünfer für den Zeitungsverkäufer hervor, der sich daraufhin breit grinsend davonmachte.

„Oh, das will ich doch hoffen. Ist das nicht aufregend, Georgia?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, redete meine Mum gleich weiter. „Ich wette, deine Mutter ist richtig stolz auf dich. Wer hätte das gedacht, dass sich das neue Mädchen in Georgias Klasse, mit dem südenglischen Akzent und der Allergie gegen Pommes und Bratensoße, in einen erfolgreichen Filmstar verwandeln würde! Schade, dass wir nicht so viel Zeit haben, ich will nämlich alles darüber wissen. Aber Len hat einen Arzttermin wegen seines Rückens. Er macht ihm wieder zu schaffen“, sagte meine Mutter und hakte sich bei Marie unter.

Zehn Minuten später hatten wir es uns mit einem Tablett voll Kaffee und Gebäck auf durchgesessenen Sofas bequem gemacht. Als meine Mutter einen Schluck Kaffee nahm und Marie gerade zur Toilette verschwunden war, ergriff mein Vater die Chance, ein Gespräch zu beginnen.

„Und, mein Liebling, wie war’s? Du hast ein wenig Farbe bekommen. Ihr müsst schönes Wetter gehabt haben“, meinte er grinsend und zeigte auf meine sich schälende Nase.

„Es war super, aber obwohl wir eben erst zurückgekommen sind, fühlt es sich schon an, als wäre es ewig her“, antwortete ich bedrückt. Ich hatte die dunkle Wolke, die mich seit letzter Nacht umgab, immer noch nicht abschütteln können. Nachdem wir mein altes Haus verlassen hatten, hatte ich den ganzen Weg über zurück zu Maries Haus geweint. Dann quälte ich mich sogar noch mehr, indem ich die paar Kisten, die wir in ihr Auto geladen hatten, öffnete. Unter den ordentlich zusammengelegten Klamotten, den CDs und den Harry-Potter-Bänden befand sich ein Schuhkarton. Er war randvoll gefüllt mit abgerissenen Tickets und Flaschendeckeln von unseren ersten Dates, mit verschwommenen Polaroids, mit aus Zeitschriften herausgerissenen Bildern von exotischen Stränden und Ratschlägen zum Buchen von Reisen zu zweit und von Orten, die man gesehen haben sollte, bevor man stirbt. Ich hatte alles in die Recyclingtonne geworfen – zusammen mit meiner Reisewunschliste, die ich zerknittert auf dem Boden meiner Reisetasche gefunden hatte. Wem wollte ich hier etwas vormachen?

„Oh je, der Blues nach dem Urlaub“, sagte er seufzend. „Das ist völlig normal, besonders nach allem, was du durchgemacht hast.“

„Und, hat Marie dich dazu gebracht, bis in die Puppen mit attraktiven türkischen Männern zu tanzen?“, wollte meine Mutter wissen. Mein Vater räusperte sich und änderte seine Sitzhaltung.

„Nicht wirklich, so eine Art Urlaub hatten wir auch nicht im Sinn, Mum.“

„Na ja, das ist vielleicht auch besser so. Ich habe so viele furchtbare Artikel über Frauen gelesen, die im Ausland kaum bekleidet die Straßen entlangstolzieren und zu viel trinken und dann am nächsten Morgen feststellen, dass ihnen eine Niere fehlt oder Schlimmeres.“ Sie hob eine ihrer dünnen Augenbrauen. „Also, wie ist die Türkei? Hattet ihr ein schönes Hotel? War es sauber?“

„Es war sehr nett, eigentlich echt schön.“ Ich trank einen großen Schluck Latte. „Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken.“

„Ah, du hast ihnen also schon von deinen Weltreiseplänen erzählt?“ Marie ließ sich aufs Sofa fallen und trank ihren Kaffee gierig in großen Zügen, fast so, als wäre er ein Lebenselixier.

„Was? Wie bitte?“ Meine Mutter riss ruckartig den Kopf zu mir herum. Ich hob meine Kaffeetasse an die Lippen, um Zeit zu schinden. Sie machte sich gern über die Geschichten orientierungsloser Frauen lustig, die sich ihre Reisepässe schnappten, um „zu sich selbst zu finden“. Sie war der Meinung, dass solche Menschen verantwortungslos und selbstsüchtig handelten und den Kopf nur voller Hippie-Gequatsche hatten.

Ich atmete tief durch. „Nein, nicht wirklich. Marie hat mich im Urlaub dazu ermutigt, eine kleine Liste zu schreiben mit all den Ländern, die ich mal bereisen und all den Dingen, die ich gern erleben möchte.“

Meine Mutter lachte schrill auf. „Ach, unsere Georgia war schon immer eine Träumerin, nicht wahr, Len? Kannst du dich daran erinnern, wie sie beschlossen hatte, wegzulaufen und in ein Kloster einzutreten, nachdem sie tagelang immer wieder den Film The Sound of Music gesehen hatte? Sie war überzeugt davon, dass der Bus am Ende der Straße sie nach Österreich bringen würde. Dann hat sie es aber doch nur bis zum Stadtring geschafft, wo wir sie an der Gemeindehalle mit einer Tüte voll Strudel gefunden haben, den sie bei Tesco gekauft hatte.“

Mein Vater lächelte bei der Erinnerung daran und bemerkte dann meinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Mein Liebling, ich fürchte, du hast meinen Orientierungssinn geerbt.“

„Ihr beiden habt Glück, dass ihr mich habt. Wer weiß, wo du und dein Vater sonst landen würdet“, gurrte meine Mutter.

„Sheila, Georgia ist es wirklich ernst mit dem Reisen“, meldete sich Marie zu Wort.

Einen Moment schien alles stillzustehen. „Ach, um Gottes willen. Ich hoffe doch sehr, du machst Witze!“ Meine Mutter starrte mich drohend an.

Ich lachte kurz künstlich auf. „Aber ja. War nur ein Scherz, stimmt’s, Marie?“

Marie sah verwirrt aus. „Du hast gesagt, dass du raus in die Welt und mehr erleben willst. Das war nicht einfach nur ein alberner Gedanke“, murmelte sie in ihre Tasse.

„Hm. Tja, wir sind einfach nur froh, dass wir dich in einem Stück wiederhaben. Ich würde da drüben nicht zurechtkommen – mit all dem ausländischen Essen und der UV-Strahlung. Nein, nein, es ist viel besser, wenn man bei dem bleibt, das man kennt.“ Meine Mutter schüttelte den Kopf. Es schien, als würde ihr beim Gedanken an ein fragwürdiges Dim Sum flau im Magen werden.

„Ich weiß nicht, Liebes“, wandte sich mein Vater an meine Mutter. „Man sagt, das Reisen bereichert die Seele.“

„Pah“, schnaubte sie, „die Seele bereichern! Mal sehen, ob du das noch sagst, wenn sie in der Dritten Welt in irgendeinem Krankenhaus liegt, weil sie ein Steak gegessen hat, das von einem tollwütigen Hund stammt. Die Überfälle, die Vergewaltigungen, die Morde. Oh nein, ich fühle mich viel besser, wenn sie hierbleibt. Sie könnte mit all dem gar nicht umgehen.“ Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum.

Meine Mutter tat so, als würde es diese Dinge in Großbritannien nicht geben – na gut, abgesehen vom Hundesteak vielleicht. Obwohl … der Dönerladen bei Marie um die Ecke roch manchmal doch etwas fragwürdig.

„So denkst du also über mich?“, fragte ich leise.

„Ach, Georgia“, meinte sie seufzend, „du bist hier ganz schön in die Bredouille gekommen, aber du kannst nicht einfach alles stehen und liegen lassen und fortgehen. Was ist mit deiner Arbeit, deinen Freunden … uns? Ich glaube, du machst dich damit nur lächerlich. Du bist achtundzwanzig Jahre alt und hast einen kleinen Schrecken abbekommen, das ist alles. Das rechtfertigt noch lange nicht, davonzulaufen und es allen anderen zu überlassen, die Scherben zusammenzukehren.“ Der Gedanke empörte sie sichtlich.

Für einen Moment saßen wir in der folgenden unangenehmen Stille fest. Glücklicherweise verstand Marie, dass solche Situationen weder der Ort noch die Zeit für hitzige Diskussionen waren, egal wie sehr sie sich darin verbissen hatte, für mich einzustehen.

„Also ich glaube, das ist eine Superidee, Liebling“, sagte mein Vater grinsend und durchbrach damit die steife Atmosphäre. „Bevor ich deine Mutter kennengelernt habe, hatte ich eine tolle Zeit, als ich mit ein paar Freunden mit dem Zug durch Europa gefahren bin. Heutzutage mag sich das nicht sonderlich exotisch anhören, aber auf dieser Reise haben wir ein paar richtige Abenteuer erlebt.“ Er seufzte sehnsüchtig und schien sich in einer fernen Erinnerung zu verlieren. Doch bevor er noch nostalgischer werden konnte, stieß ihm meine Mutter schwungvoll den Ellbogen in den Arm und gab ihm zu verstehen, dass er aufhören sollte, ihre Tochter zu ermutigen.

„Na ja, es war nichts weiter. Nur eine blöde Idee, also keine Sorge.“ Ich flehte Marie stumm an, sie solle die Unterhaltung in eine andere Richtung lenken, bevor meine Mutter noch einen Anfall bekam. Doch Marie fummelte an einem Zuckertütchen herum und schmollte zweifellos, weil ich ihren Reisewunschlistenplan lächerlich gemacht hatte. „Und, was habt ihr am Samstag gemacht?“, fragte ich so unbeschwert, wie ich konnte. Ich wusste, dass Alex durch die Absage unserer Hochzeit nicht nur mich verletzt hatte. Wochenlang hatte meine Mutter mit allen darüber gesprochen, die sie kannte. Es wird eine Schokofontäne geben, einen Harfenisten, und Gerüchten zufolge soll Kate Middleton auch kommen! Meine Güte, stellen Sie sich das nur vor!

„Wir haben uns einen ruhigen Tag gemacht. Das Wetter war richtig schlecht, also haben wir im Haus herumgewerkelt. Bei dem grauen Himmel wären die Fotos scheußlich geworden, Liebling“, antwortete mein Vater.

„Wahrscheinlich. Hat Marie euch erzählt, dass ich ihm gestern Abend den Hausschlüssel zurückgegeben habe? Das heißt, nicht ihm persönlich. Ich will nicht mal daran denken, noch mal von ihm zu hören“, brabbelte ich und spürte, wie das schmerzliche Gefühl in meiner Brust wieder nach mir griff, das sich letzte Nacht beim Verlassen unseres Hauses eingestellt hatte.

Meine Eltern beeilten sich, ihre Blicke tief auf den Grund ihrer Tassen zu richten, und meine Mutter rutschte nervös hin und her. „Was ist?“, fragte ich verwirrt.

Tränen traten in ihre blassblauen Augen. „Wir müssen dir diesen Brief geben, Georgia. Er ist von ihm.“ Langsam zog meine Mutter einen verschlossenen Umschlag aus ihrer Handtasche. „Dein Vater … nun ja, er hat ihn gewissermaßen darum gebeten, ihn zu schreiben.“

Ich rieb mir die Stirn. „Was? Das verstehe ich nicht. Warum hättest du mit ihm sprechen sollen? Wann hast du mit ihm gesprochen?“ Marie sah ebenso perplex aus wie ich. Mein Vater mied meinen Blick und riss die Serviette unter dem Gebäck in kleine Stücke, wobei er Bärentatzen und Krümel über den Tisch verteilte.

„Dein Vater ist auf etwas gestoßen, das ziemlich … erschütternd ist. Wir haben es erst herausgefunden, nachdem ihr in die Türkei abgeflogen seid, und wir wollten dir die Woche nicht verderben, indem wir es dir erzählen“, erklärte meine Mutter und blinzelte dabei nervös.

Ich spürte ein Kratzen im Hals. Mein Mund war ganz trocken geworden, doch dummerweise hatte ich meinen Kaffee schon ausgetrunken. „Mum, jetzt machst du mir aber Angst.“

„Bitte reg dich nicht zu sehr auf. Also, dein Vater hat bei Morrison’s ein paar Sachen fürs Abendessen gekauft – du weißt ja, dass wir normalerweise zu Asda gehen, aber Morrison’s lag auf dem Weg zurück vom neuen Baumarkt, den sie drüben in der Larkberry Lane gebaut haben, also entschied er sich, dort einzukaufen.“

„Okay …“ Ich betete inständig, sie solle zum Punkt kommen, obwohl das angesichts der Tatsache, dass sie die Dinge immer bis ins kleinste Detail beschrieb, sehr unwahrscheinlich war. Meistens lief das auf den Freund eines Freundes hinaus, den ich nie getroffen und von dem ich noch nie etwas gehört hatte, wenngleich meine Mutter felsenfest davon überzeugt war, dass ich ihn kannte.

„Und da er noch nie in diesem Supermarkt gewesen war, wusste er auch nicht, wo was zu finden war. Und während er auf der Suche nach Heidelbeeren für den Flan war, den ich für das Kirchenfest machen wollte, ging er einen der Gänge entlang, und dort hat er Alex gesehen … mit diesem Flittchen.“ Sie rümpfte die Nase, als hätte jemand soeben einen fahren lassen.

Bei dem Gedanken daran, dass die beiden so etwas Alltägliches wie Einkaufen gemeinsam taten, wurde mir flau im Magen. Dann waren sie also fest zusammen. Er hatte also nicht einfach nur „Gefühle“ entwickelt oder betrunken eine gemeinsame Nacht mit ihr verbracht. Das erklärte, warum unser – nein, wahrscheinlich ihr Haus – so makellos sauber gewesen war. Da musste eine neue Frau ihre Hände im Spiel haben. Mein Bauch verkrampfte sich, so wie wenn ich beim Ausverkauf im Januar versuchte, Skinny Jeans anzuprobieren und dabei das neue Speckröllchen reinquetschen wollte, das ich mir mit einer ganzen Geschenkdose Pralinen und Toffees angefuttert hatte.

Meine Mutter beugte sich über den Kaffeetisch und senkte die Stimme. „Die andere Sache ist, dass sie im Gang mit den Babysachen standen, bei den … Windeln.“

Ich hörte, wie Marie scharf Luft einsog. Bei mir dauerte es einen Augenblick, bis es Klick machte.

„Sie ist schwanger, Georgia“, sagte mein Vater bedrückt.

Seine Worte hingen in der Luft. Ich kam mir vor, als wäre ich in einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit, in dem man irgendwie wusste, wo man sich befand, und dennoch fühlte sich nichts real an. Ich hörte, wie sie sich im Flüsterton miteinander unterhielten.

„Ich wusste es. Wir hätten es ihr früher erzählen sollen.“

„Nein, du hast gesagt, wir sollten besser den Mund halten, bis das Baby geboren ist.“

„Verdammte Scheiße.“ Letzteres kam von Marie, die ebenso geplättet aus der Wäsche schaute wie ich wahrscheinlich auch, und sie ignorierte den Schock meiner Mutter über ihre Wortwahl.

„Wie … wie schwanger ist sie?“, schaffte ich es schließlich hervorzubringen.

„Na ja, dein Vater ist kein Experte, und ich habe sie nicht gesehen, aber Denise Williams, die Sprechstundenhilfe im Ärztehaus, hat gesagt, sie hätte sie vor Kurzem gesehen, und es schien, als wäre sie im fünften oder sechsten Monat“, antwortete meine Mutter und nahm meine Hände, die zu zittern begonnen hatten.

Die Rezeptionistin in Alex’ Büro, Stephanie oder wie war ihr Name, für die er unsere Beziehung beendet hatte, war schwanger.

„Moment mal, was steht in dem Brief?“ Plötzlich war ich mir ganz unangenehm der anderen Gäste bewusst, die uns anstarrten. Mein Vater zog den Brief aus dem festen Griff meiner Mutter, beugte sich vor, legte mir eine Hand aufs Knie und reichte ihn mir.

„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war so wütend auf ihn. All die Jahre haben wir ihn wie ein Familienmitglied behandelt, und dann hat er dir so was angetan. Ich hab einfach die Beherrschung verloren. Ich bin auf ihn zugestürmt und habe ihn zur Rede gestellt. Er fing an, sich rauszureden, und schob sie zur Seite. Also hab ich … ihm eine verpasst.“

Ich starrte ihn wie ein Guppy mit offenem Mund an. Mein Vater hatte jemanden geschlagen! Nicht irgendjemanden, sondern meinen Exverlobten! Mein Vater, der freundlichste, sanftmütigste Mann, den ich kannte, verbarg einen angriffslustigen Rocky Balboa hinter seinem ruhigen Äußeren. Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte.

„Darauf bin ich nicht stolz. Gewalt ist niemals eine Lösung, aber ich habe einfach rotgesehen.“ Er schaute beschämt zu Boden. „Der pickelgesichtige Wachmann hat den Tumult mitbekommen und mich aus dem Laden eskortiert, und dann kam Alex herüber und hat sich entschuldigt und dem übereifrigen Teenager erklärt, er wollte keine Anzeige erstatten. An dem Punkt habe ich klipp und klar von ihm verlangt, dass er die Papiere fürs Haus im Schnellverfahren klären soll. Ich habe gesagt, er solle sicherstellen, dass du deinen Anteil schnell bekommst und dieser überaus günstig für dich ausfällt. Ich will, dass er nicht länger Teil deines Lebens ist, und ich dachte, es würde helfen, wenn alles geklärt ist. Dieser Mann bringt nur Unglück, und ich glaube wirklich, dass du noch mal mit einem blauen Auge davongekommen bist.“ Er hielt inne und holte tief Luft. Die Begegnung wiederzugeben, hatte ihn in Aufregung versetzt.

„Gut gemacht, Len!“, rief Marie und hätte beinahe mit ihm abgeklatscht.

Benommen öffnete ich den Briefumschlag. Amtliche Bank- und Hypothekenformulare fielen heraus. In einem formellen Brief gab Alex an, welches Dokument ich unterschreiben musste, damit er meinen Anteil aufkaufen konnte – mit Geld, so nahm ich an, das vom Konto seiner Eltern kommen würde. Er fügte ebenfalls hinzu, dass es ihm sehr leidtat, doch wir sollten einander nicht wieder kontaktieren. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Uns hat er auch eine Kopie geschickt, damit ich weiß, was dich erwartet, wenn du zurückkommst, und damit er nicht versucht, dich zurückzubekommen. So wie man sich bettet, so liegt man nun mal. Ich habe mir die Konditionen der Bank fürs Haus angesehen und das Geld, das du wiederbekommst, liegt über dem Preis, der üblich gewesen wäre. Ich hab nur versucht, dich zu beschützen. Es tut mir so leid, Georgie.“ Mein Vater sah so aus, als würden ihm gleich die Tränen kommen. Marie saß nur da und grinste kopfschüttelnd, ungläubig, dass Alex endlich mal eine verpasst bekommen hatte. Meine Mutter eilte ganz aufgewühlt zur Damentoilette, während ich die Neuigkeiten erst mal sacken ließ. Das plötzliche Schweigen wurde mit den angenehmen Melodien von James Blunt erfüllt, die aus den Lautsprechern über unseren Köpfen ertönten.

Plötzlich erinnerte ich mich an eine ungewöhnliche Nacht vor ein paar Monaten. Alex hatte mich zum Abendessen in ein neues Restaurant in der Stadt ausgeführt. Er hatte einen Bonus erhalten und wollte mich verwöhnen. Das war schon ewig nicht mehr passiert. In einer Bar mit Blick über die ganze Stadt tranken wir Cocktails, aßen Steaks, die auf der Zunge zergingen, und alle Beilagen, gefolgt vom besten Tiramisu meines Lebens. Peinlicherweise hatte ich es sogar in Betracht gezogen, in die Küche zu laufen und den Koch davon zu überzeugen, mir das Rezept zu geben, damit ich es den Caterern für unsere Hochzeit geben konnte. Der Wein floss, und wir hatten uns tatsächlich auch über ein paar Themen unterhalten, die nichts mit der Hochzeit zu tun hatten, während er mich völlig untypisch für ihn mit unbeholfenen Komplimenten überhäufte. Ich kann mich erinnern, dass sein Handy auf dem weißen Leinentischtuch öfter als sonst üblich vibrierte, doch er hatte meine Hand genommen und es als ein Problem bei der Arbeit abgetan. Als er es zurück in seine Tasche steckte, hatte er nicht einmal einen Blick darauf geworfen, um zu erfahren, wer so hartnäckig anrief.

Der Alkohol muss sich auf meinen Verstand ausgewirkt haben. Alex arbeitet für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die am Wochenende geschlossen hat, ganz zu schweigen von 22.30 Uhr am Samstagabend. Das musste sie gewesen sein. Vielleicht hatte sie gerade den Schwangerschaftstest gemacht. Vielleicht hatten sich soeben die beiden blauen Streifen gezeigt. Der Beginn eines neuen Lebens und, ohne dass ich es ahnen konnte, das Ende von unserem.

Ich rieb mir die Schläfen. Meine Mutter tauchte wieder auf. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und schaute ihren Mann voll Mitgefühl an: „Wir müssen bald gehen, damit dein Vater diesen Termin wahrnehmen kann. Man muss Strafe zahlen, wenn man zu spät kommt.“

„Oh, okay.“ Ich sah die beiden an. Sorgenfalten zeichneten sich in ihren Gesichtern ab, und ich sah den Schmerz, den sie für ihr einziges Kind empfanden. Ich erinnerte mich an den Abend, als Alex und ich ihnen von unserer Verlobung und – natürlich – die erfundene Geschichte erzählt hatten. Sie hatten gestrahlt, Sektkorken hatten geknallt, und lebendiges Schnattern rund um die Hochzeit hatte den Raum erfüllt. Sie hatten sich so gefreut, dass ich sesshaft wurde und einen guten Mann aus einer wohlhabenden Familie gefunden hatte, der sich um mich kümmern würde. Als Eltern hätten sie sich nichts Besseres für ihre einzige Tochter wünschen können, auch wenn ich wusste, dass sie sich im Vergleich zu dem sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreis, in dem sich seine Eltern bewegten, hin und wieder unterlegen fühlten. Mein Vater hatte das mit einem Schulterzucken abgetan und mir gesagt, dass die Schwiegereltern nicht unbedingt die besten Freunde sein mussten. Hauptsache war, dass ich glücklich war und dass die sehnsüchtig erwarteten Enkel hoffentlich nicht zu lange auf sich warten ließen. Noch eine Enttäuschung.

„Geht’s dir gut, mein Liebling?“, fragte mein Vater.

Ich riss mich zusammen und pflanzte mir ein jämmerliches Lächeln ins Gesicht. „Sicher. Alles okay. Ihr habt es ja alle schon gesagt, ich bin noch mal davongekommen. Es ist besser, eine verlassene Braut zu sein, als mit achtundzwanzig schon geschieden, oder?“ Mein Witz blieb unkommentiert, und mein Vater nahm mich erneut fest in den Arm.

„Du verdienst jemand besseres als ihn. Du wirst gestärkt aus dem hier hervorgehen, da bin ich mir sicher. Pass auf dich auf, Kleine“, flüsterte er, und mir traten die Tränen in die Augen.

„Mach ich, Dad. Viel Glück bei deinem Termin. Ich ruf dich später an.“ Ich winkte ihnen zum Abschied. Die Absätze meiner Mutter klapperten über den Fliesenboden, während sie meinem Vater im Gehen die Krümel vom Pulloverärmel klopfte.

„Verdammt, ich kann’s nicht glauben, das hat wie ’ne verfluchte Bombe eingeschlagen.“ Marie schüttelte den Kopf und blätterte Alex’ Dokumente durch, die nun von Kaffeeflecken geziert wurden. „Aber stell dir vor, wie seine Mutter aus der Wäsche schauen wird, wenn er ihr ein uneheliches Enkelkind gesteht. Das wird im Polo-Club sicher nicht gern gesehen.“ Sie blickte auf und sah mein blasses Gesicht. „Tut mir leid. Aber du musst schon zugeben, dass die ruthenschwingende Ruth darüber völlig aus dem Häuschen geraten wird. Okay, ich nehme einen Zug später, wir brauchen noch einen Drink oder Frustshoppen – oder beides.“

Ich seufzte tief. „Nein, nein, mach das nicht. Du darfst für deine neue Rolle nicht zu spät kommen. Da ist zwar ein großer Eimer Wodka auf meinen Namen reserviert, aber ich werde garantiert nicht gleich von der nächsten Brücke springen oder Ähnliches. Hab eine gute Fahrt und ruf mich an, wenn du da bist, okay?“

Marie nickte zögerlich. „Bist du sicher? Ich will dich wirklich nicht allein lassen nach all dem.“

„Absolut. Er hat bereits genug ruiniert, und deine Schauspielkarriere wird nicht dazu gehören.“

„Willst du ihn nicht ausfindig machen und ihm die Meinung geigen?“, fragte sie und sah dabei sehr kampfeslustig aus. In der Türkei hatte sie versucht mir beizubringen, wie man schlagfertig antwortete und heftige Konfrontationen meisterte – Bereiche, in denen ich nicht zu gebrauchen war. Nach jedem Streit machte ich mir Vorwürfe, weil ich nicht gesagt hatte, was ich hätte sagen sollen. Marie hatte sogar eine Liste von Beleidigungen geschrieben, bei denen man rot wird, und mir gesagt, ich solle selbstbewusst und ruhig bleiben, aber allem voran: „Wer zögert, verliert. Denke wie Eminem in seinem Rap-Battle in 8 Mile.“ Sie war in die Rolle der Lehrerin geschlüpft und erklärte mir, ich solle eine Konfrontation als Einladung zu einem Spiel begreifen und dann mit Würde abtreten. Sie instruierte mich eindringlich, dass ich niemals, unter keinen Umständen, das, was der andere gesagt hatte, mit verstellter Stimme nachahmen dürfte.

Ich hatte mir Mühe gegeben, eigene Schmähphrasen zu erfinden, inklusive der hier: „Warst du etwa in Griechenland im Urlaub, weil du so ölig bist“, doch sogar ich wusste, dass das kein Klassiker werden würde. Ich musste mir die Word-a-Day – App runterladen, weil sie hoffte, dass ein neues Wort pro Tag mein Vokabular für schlagfertige Antworten erweitern würde. Aber ich war nicht mal annähernd so weit, Alex à la Slim Shady an den Kragen zu gehen. Meine Gedanken wirbelten zu sehr durcheinander, als dass ich in der Lage sein könnte, das, was ich ihm sagen wollte, in eine eloquente Erniedrigung zu packen. Als Marie klar wurde, dass bei mir Hopfen und Malz verloren waren, änderte sie ihre Strategie und fragte mich: „Was ist der beste Weg, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu gewinnen oder ihn verrückt zu machen?“

Ich sah sie mit leerem Blick an.

„Ihn zu ignorieren. Mit ihm abschließen. Still, aber tödlich“, sagte sie weise und ignorierte meinen Einwand, dass man letzteres auch über einen Furz sagen konnte. Unglücklicherweise musste ich ihr recht geben. Mir wurde klar, dass Alex sein Leben weiterlebte, also musste ich meines auch weiterleben, und plötzlich wusste ich ganz genau, wohin ich gehen musste.

Kapitel 5

Lobally (Substantiv): Britischer Slang-Ausdruck für eine laute, dumme, grobe oder unangenehme Person

Gegenüber von Kendal’s befand sich ein Reisebüro – Super-Hammer-Reisen. Eingefasst von einem tristen karitativen Gebrauchtwarenladen und einer vernagelten Apotheke wurde man durch seine strahlende Beleuchtung beinahe geblendet. In dem vollgestopften bunten Schaufenster sollte wohl eine tropische Strandszene dargestellt sein. Auf dem gestreiften Stoff der hölzernen Liegestühle lagen ein aufblasbares Känguru und wahllos hingeworfene Hüte, von deren Rändern Weinkorken baumelten. Hier, in einer grauen Straße mitten in Manchester, wirkte das alles irgendwie fehl am Platz. Spanisch lernen in Argentinien, Abchillen am Taj Mahal in Indien, Wandern auf dem Pfad der Inkas in Peru, Raven in Thailand riefen mir Unmengen an Schildern zu, und jedes versprach neue Erfahrungen und Abenteuer. Wehmütig dachte ich daran zurück, wie ich am Strand gesessen und meine Reisewunschliste geschrieben hatte. Damals hatte ich so viele Reiseziele aus meinem Gedächtnis ausgegraben, die ich schon ewig lange entdecken wollte. Dieser Laden bot mir die Chance loszuziehen und diese Orte tatsächlich zu sehen – und jetzt hatte ich auch das Geld dafür.

Ich holte tief Luft und drückte die Tür auf.

Zwei Typen Anfang zwanzig in gleichen neon-orangefarbenen T-Shirts schauten von ihren Computern an den nierenförmigen Tischen auf, musterten mich kurz und senkten ihre Blicke dann wieder. Riesige, gemütlich aussehende giftgelbe und limettengrüne Sitzsäcke standen in der Ecke verteilt neben dem mit Hochglanz-Reisekatalogen gefüllten Regal. Jeder Katalog enthielt verborgene Orte, exotische Kulturen und neue Welten. Ich erschauderte vor Aufregung – bis ich den Rest des Raumes bemerkte. Plötzlich fühlte ich mich uralt, als wäre ich von gestern und fehl am Platz. Dort hing eine Weltkarte, auf der Kunden ihre Top-Empfehlung markieren und kleine Flaggen in die Länder stecken konnten, die sie besucht hatten. Ich konnte nur eine traurige Flagge in Portugal stecken. Meine Mutter hatte einmal ein billiges Angebot für eine Reise dorthin gefunden, sich dann aber ständig darüber beschwert, dass es zu fremdartig war. Dann waren da noch die Überfahrten nach Frankreich mit der Fähre, bei denen mir immer schlecht geworden war. Mein Vater hatte kulturelle Einsichten versprochen, doch die Reisen hatten sich als schnelle Butterfahrten herausgestellt, um auf dem Parkplatz der lokalen Stammkneipe Billigwein zu Freundschaftspreisen verkaufen zu können.

Der ewig gleiche Beat aus den Lautsprechern nervte und erinnerte mich vage an die Musik, die in der Türkei aus dem Irrenhaus an Bars gedröhnt hatte. An den farbigen Wänden hingen Fotos von willig aussehenden Mädels mit nassen Haaren, die aufgeregt in die Kamera winkten. Die Barpromoterin, die irre Mel, könnte problemlos zu ihnen gehören. Meine Entschlossenheit verpuffte ebenso schnell wie die Moral dieser Bikini-Babes. Vielleicht war das eine blöde Idee. Reisen dieser Art waren für sorgenfreie Studenten, für milchgesichtige Rucksacktouristen, die sich ein verdrecktes Hostelzimmer teilten, und nicht für fast dreißigjährige Karrierefrauen – wenn man mich überhaupt so nennen konnte. Ohne Maries standhafte Unterstützung kam ich mir plötzlich dumm vor. Vielleicht schaute ich mir das lieber erst einmal online in der Sicherheit meines Zimmers an, oder vielleicht war das insgesamt ein idiotisches Vorhaben. Ich versuchte, seitlich wieder zum Ausgang zu schleichen, doch es war zu spät, um den leeren Laden völlig unbemerkt zu verlassen.

„Hey, na?“ Ein Typ mit roten zurückgegelten Haaren, einer schwarzen ironisch übergroßen Geek-Brille und kaum vorhandenen Bartstoppeln deutete auf den Akrylglasstuhl vor seinem Schreibtisch, also setzte ich mich. Auf dem Namensschild an seinem hautengen T-Shirt stand: „Frag mich, was Hammer ist.“ Der andere Typ war mit seinem Laptop beschäftigt.

„Willkommen bei Super-Hammer-Reisen, unser Motto ist Eintauchen, Erkunden, Erleben oder dreimal E, wir wir’s gerne nennen“, sagte er mit monotoner Stimme, als würde er das irgendwo ablesen. Sein Lächeln schaffte es nicht so ganz, auch in den Augen aufzutauchen, sie sahen rot und übermüdet aus. Unweigerlich musste ich daran denken, dass „Dreimal E“ eher nach einer zwielichtigen Droge klang, die man im Hinterzimmer von illegalen Technoraves finden konnte. Die Art Rave, vor dem mich meine Mutter gewarnt hatte, nachdem sie letztens einen Beitrag in The Daily Mail gelesen hat – was die neue Zeitung ihrer Wahl geworden war, weil sie einmal eine Ausgabe im Haus von Alex’ Eltern gesehen hatte.

„Mein Name ist Rick. Was kann ich heute für dich tun?“ Er betonte den „ick“-Teil seines Namens, als würde er Erdbeersoße von der Spitze eines Softeises lecken. Es schüttelte mich ein wenig, und ich rutschte auf meinem trendigen, wenngleich unbequemen Sitz herum. Was konnte er heute für mich tun?

„Also … ich … ähm.“

„Kannst du bitte lauter sprechen?“, fuhr er mich an, sodass ich erschrocken zusammenfuhr.

„Ich will meinen Job kündigen und auf Reisen gehen“, sprudelte es zu meiner eigenen Überraschung aus mir heraus.

„Das wollen wir doch alle, Süße“, meinte er kichernd und verdrehte die Augen. „Also, wo soll’s denn hingehen mit diesem radikalen Plan?“ Mit den Fingern setzte er Anführungszeichen in die Luft und schüttelte dabei selbstzufrieden und leise amüsiert den Kopf.

Ich merkte, wie er mich mit meinem einfachen Pferdeschwanz, der geblümten Bluse und der hellblauen Röhrenjeans musterte. Ich hatte gedacht, das würde ganz nett aussehen, doch eigentlich spiegelte es nur den Rest meiner faden und langweiligen Garderobe wider, der Besitzerin nicht ganz unähnlich. Mode hatte mich noch nie interessiert, da ich mich immer lieber einfügen als hervorstechen wollte. Alex hatte gesagt, er würde das an mir schätzen. Es wäre weniger anstrengend, eine Freundin zu haben, die nicht auffiel wie ein bunter Hund. Doch jetzt, da ich hier so saß, hatte ich das Gefühl, total hervorzustechen.

„Na ja, ich möchte gern fremde Kulturen erkunden, exotisches Essen probieren und vielleicht eine neue Sprache lernen?“, antwortete ich und strich mir verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Hört sich gut an, aber wo bleibt da das Adrenalin? Die Aufregung? Ich hab hier ein paar super Bungee-Sprünge in Australien oder Rafting-Touren in Neuseeland, die ich dir buchen könnte!“

Der Typ wollte mich doch verarschen, jetzt da sich die Aufmerksamkeit seines Kollegen auf unser Gespräch gerichtet hatte und Rick somit ein Publikum verschaffte. Oh Mann. Was machte ich hier bloß? Ich wusste nicht, wie man reiste, wie man aus einem übergroßen Rucksack lebte oder wie man sich ein Hostelzimmer mit Fremden teilte. Ich war nicht so weit, als dass ich mit den „R-icks“ dieser Welt abhängen konnte. Ich hatte vom Reisen geträumt, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie die Einzelheiten aussehen und wie schwer das in der Realität tatsächlich sein würde.

„Ähm … nein … das ist nicht wirklich mein Ding“, murmelte ich entmutigt.

„Hör mal, Süße, ich finde den Enthusiasmus und all das toll, aber vielleicht versuchst du’s lieber bei Geschmackvoll Reisen ein paar Meter die Straße weiter. Dort gibt’s nette zweiwöchige Pauschalreisen nach Spanien, das ist wohl eher was für dich“, meinte er lachend.

„Ähm … okay … also, danke.“ Ich erhob mich von meinem Stuhl und ging zur Tür. Ich fühlte mich lächerlich und gedemütigt. Natürlich konnte ich mich nicht einfach Hals über Kopf in ein Meditations-Retreat in Indien stürzen, wem wollte ich da was vormachen?

Gerade als ich den Laden verlassen wollte, hörte ich, wie die beiden Typen lästerten: „Mann, ey! Was für ’ne Spaßbremse. Kannst du dir die bei ’nem Vollmond-Rave vorstellen? Das wäre, als würde man seine Mutter dabeihaben – oder nee, die Oma.“ Sie brachen in Gelächter aus.

„Wie bitte?“

„Nichts, worum du dir Sorgen machen musst. Viel Spaß in Costa Bianca“, sagte Rick hämisch grinsend, winkte mit dem Kuli in der Hand und zeigte dann auf die Tür. Ich blieb wie angenagelt stehen und starrte sein schwabbliges Grinsegesicht an.

Und da überrollte mich eine Welle aus Wut. Ich weiß nicht, ob es die Einsicht war, dass Alex ohne mich ein neues Leben begann und eine Familie gründete und dass mein Traum von einer Hochzeit vorbei war, oder ob es daran lag, dass meine Mutter beinahe augenblicklich meine Reiseträume niedergemacht hatte – jeder Muskel meines Körpers spannte sich an, und Ärger schoss mir durch die Adern. Mir fiel keine einzige der schlagfertigen Erniedrigungen ein, die Marie mir beigebracht hatte, also griff ich zu einer Methode, die unglaublich erwachsen und reif war: Ich schnappte mir einen Armvoll Reisekataloge, stieß eine Glitzerkugel um, die kunstvoll auf einem Beistelltisch balancierte und kickte auf eine lebensgroße Aufstellerfigur mit Bikini-Babes, die das Peace-Zeichen machten. Sie krachte laut zu Boden. Die beiden Typen saßen wie erstarrt da und glotzten mich mit offenen Mündern an.

„Und es heißt Costa Blanca, nicht Costa Bianca, du Idiot!“, schrie ich und marschierte so schnell raus, wie es meine praktischen Ballerinas erlaubten. Ich warf die Tür hinter mir zu, wodurch ein aufblasbarer Ball von der Decke fiel und sich zu der Verwüstung gesellte, dich ich hinterlassen hatte.

Mit wild klopfendem Herzen rannte ich die Straße entlang, ich hatte weiche Knie, und mir war etwas übel. Ich blieb stehen und hievte die schweren Kataloge in den nächsten Mülleimer, bevor ich mich an dessen Rand abstützte, um wieder zu Atem zu kommen.

„Hey!“, rief eine männliche Stimme. Ich erstarrte. Was, wenn R-ick die Polizei gerufen hatte? Wie lange kam man fürs Klauen von Reisekatalogen ins Gefängnis? Ich hatte die Serie Orange is the New Black gesehen und wusste, ich würde keine Minute lang im Knast überleben. Mühsam hob ich den Kopf, doch es war nicht das strenge Auge des Gesetzes, das auf mich hinabblickte. Nein. Es war viel, viel schlimmer als das.

Nur wenige Schritte von mir entfernt stand Alex.

„Georgia, ist alles okay?“, fragte er und kam näher, sichtlich verwundert über meine verschwitzte Erscheinung. Er sah anders aus. Er hielt sich gerader und hatte Klamotten an, die ich nicht kannte. Warum, oh warum nur muss ich ihm ausgerechnet heute über den Weg laufen?

„Ich will nicht mit dir reden.“ Verzweifelt versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten und zwang mein Herz, langsamer zu schlagen. Meine Stimme hörte sich seltsam an. Ich schluckte stinkige Mülleimerluft.

„Ich weiß. Aber – bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Er zeigte auf den überquellenden Mülleimer und das wie Rührei aussehende Erbrochene, in dem ich unwissentlich stand.

Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich ihn damit zum Verschwinden bringen. Meine Füße schienen wie festgewachsen an ihrem Platz, meine Handknöchel waren weiß geworden, und ich hielt mich krampfhaft am Mülleimer fest. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich ihn auf diese Weise wiedersehen würde. In meiner Vorstellung war ich selbstbewusst und umwerfend angezogen gewesen, und nicht schwitzend und außer mir.

„Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Ich will dich niemals wieder sehen“, zwang ich mich trotzig hervorzustoßen und hoffte, dass er mein zitterndes Kinn nicht sah.

„Okay, okay“, sagte er so, wie ein Verhandlungsführer mit einem Entführer sprechen würde, und rieb sich den Nacken. Er hatte sich die Haare kürzer schneiden lassen, ordentlicher, erwachsener. Er sah aus wie sein Vater. Oder vielleicht auch nur wie ein Vater. In meinem verwirrten und gekränkten Zustand konnte ich mich kaum konzentrieren.

„Hast du schon deine Sachen aus dem Haus geholt? Ich war schon ein paar Tage lang nicht dort. Momentan wohne ich bei … ähm … Freunden.“

Ich nickte und versuchte, die im Hals drückende Übelkeit runterzuschlucken. Es war mir klar, welche Freunde er meinte.

„Danke, ich weiß das zu schätzen. Wir müssen beide in die Zukunft schauen und all das. Vielleicht ist es ganz gut, dass du dich jetzt nicht mehr so sehr auf mich stützt.“

Das war ja kaum zu glauben! Er hatte sich auf mich gestützt. Ich hatte mir die größte Mühe gegeben, die Rolle der Hausfrau auszufüllen, in die alle Frauen seiner Familie mühelos hineingepasst hatten, und all das hatte ich nur getan, um ihn glücklich zu machen. Das Kochen, Saubermachen, die Wochen- und Monatsplanung, ihn an den Geburtstag seiner Mutter erinnern und dann ein Geschenk für sie kaufen, das sie immer links liegen ließ, sobald ihr eine der anderen Schwiegertöchter ein mit dem Blut eines jungfräulichen Einhorns handgemachtes Zauberding präsentierte. Mein Gutschein für Next hatte nie auch nur eine Chance. Doch das war eben auch alles, was ich für ihn gewesen war: ein lausiges Hausmädchen, seine Köchin und Terminplanerin. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Vor Peinlichkeit glühten mir die Wangen. Da versuchte ich verzweifelt, mein altes Leben auf der Suche nach einem neuen hinter mir zu lassen, nur um dann erneut meiner Vergangenheit gegenüberzustehen.

„Das ist echt ungeheuerlich! Ich …“ Mitten im Satz brach ich ab, denn eine Frau mit blonder Strähnchenfrisur und einer niedlichen Nase mit Sommersprossen trat zu uns. Stephanie. Als ich ihre püppchenhaften Gesichtszüge sah, wusste ich sofort wieder, wer sie war. Wir hatten uns letztes Jahr bei der Weihnachtsfeier in Alex’ Büro im Damen-WC getroffen, und sie hatte gefragt, ob ich ihr meine Haarbürste leihen könnte. Miststück. Sie war hübsch. Natürlich war sie das. Sie musterte mich durch ihre langen Wimpern hindurch, und dann sprang ihr Blick zwischen Alex und mir hin und her, als würde sie versuchen zu verstehen, wie er mit mir so dramatisch tief hatte sinken können. Beinahe konnte ich ihre Gedanken hören: Das war seine Ex? Diese Mülltante?

„Oh, hi, ähm, okay, hast du alles?“, fragte Alex, trat stolpernd zwischen uns und nahm ihr die Einkaufstaschen ab. Doch die leichte Wölbung unter ihrem engen Streifenpullover war mir nicht entgangen. „Also dann. Ich überlass dich dann mal wieder deinem, äh … Mülleimer. Mach’s gut.“ Alex winkte verlegen und ging davon. Ohne einen Blick zurück lenkte er Stephanie die Straße hinunter.

Plötzlich tauchten vor meinem inneren Auge Schnappschüsse von ihnen auf, perfekte Instagram – Filter-Fotos von ihrem neuen gemeinsamen Leben. Sie mit ihrem schlanken Körper, der zweifellos kaum eine Stunde nach der Geburt wieder zur vorschwangerschaftlichen Skinny-Jeans-Figur zurückschnipsen würde, eine abenteuerlustige Verführerin im Schlafzimmer, eine Haushaltsgöttin in der Küche, witzig, intelligent und beste Freundin mit Mama Ruth. Ich stellte mir vor, wie sie über mich lachten, über den Zustand, in dem ich mich befand, darüber, was aus mir geworden war, und wie Alex den Kopf darüber schüttelte, weil er sich nicht daran erinnern konnte, was er überhaupt je an mir anziehend gefunden hatte und dass er durch das Absagen der Hochzeit noch einmal davongekommen war. Mir brannte das Gesicht vor Scham.

Kaum waren Alex und Stephanie in der Menge verschwunden, gaben meine Knie nach. Als ich auf den kalten Bordstein sank, stieß ich eine leere Bierbüchse um und stützte dann den Kopf in die Hände. Tief durchatmen, einfach nur tief durchatmen.

„Da haste, Kleene.“ Jemand warf mir ein paar Geldstücke vor die Füße. „Kauf dir was Vernünftiges zu essen.“

Entsetzt hob ich den Kopf. „Ich bin keine Obdachlose, ich bin nur …“

Ich verstummte, als ich an meinen Jeans die Flecken vom Mülleimer, an meinen Händen die seltsamen, klebrigen Rückstände und zu meinen Füßen den beißenden Geruch von Erbrochenem wahrnahm, und nickte dann langsam. „Danke schön.“

„All the single ladies, all the single ladies.“ Die jazzigen Töne von Queen Bey plärrten aus meiner Handtasche, die nur knapp einem Fall in eine offene Dönerbox entgangen war. Marie hatte den Klingelton im Urlaub geändert, mir dann einen Zwiebelring auf den Ringfinger gesteckt, mich im Hotelzimmer herumgewirbelt und gleichzeitig ihr Twerken perfektioniert. Ich zog das Handy aus der Tasche. Keine Ahnung, was daran eigentlich so lustig gewesen war.

„Hallo?“

„Georgia. Catrina hier“, sagte meine Chefin mit scharfer Stimme.

In Gedanken ging ich die Wochentage durch. Ich musste definitiv erst morgen wieder zur Arbeit, nicht heute. Warum zum Teufel rief sie mich dann an?

„Oh, hi, ähm … alles okay?“

„Genau genommen nein, ist es nicht.“ Sie machte eine Pause, als würde sie ihre Gedanken ordnen.

In meinem Bauch breitete sich dieses seltsame Gefühl aus, das sich einstellt, wenn man weiß, die nächsten Worte könnten alles ändern. Catrina kam zwar immer direkt auf den Punkt, jedoch fehlte ihr jedes Taktgefühl, um einfühlsame Gespräche führen zu können.

„Während du im Urlaub herumscharwenzelt bist, hast du scheinbar vergessen, dass du einen USB-Stick mit irgendeiner Art Moodboard auf deinem Schreibtisch liegen gelassen hast“, erklärte sie wütend.

Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte mir im Internet ein paar Fotos rausgesucht – okay, mag sein, dass es um die hundert waren –, die mir gefallen hatten und die ich den Ausrichtern der Hochzeit als Inspiration zeigen wollte, bevor die letzten Abnahmen stattfanden. Und ja, dann hatte ich eben ein animiertes Moodboard mit Spezialeffekten daraus gemacht – und, ja, richtig, sogar mit Hintergrundmusik. Ich hatte mir einen Firmen-USB-Stick geschnappt und schnell alles rüberkopiert, bevor Catrina von einem Meeting zurückkommen und mich wieder wegen der Verschwendung meiner Arbeitszeit ermahnen konnte. Doch ich hatte wohl vergessen, ihn in meine Tasche zu packen und nach Hause mitzunehmen.

„Zu deinem Pech hat deine Vertretung Dawn, die eingebildete Kuh, deinen USB-Stick gefunden, während du dich im Urlaub gesonnt hast. Beim heutigen Pitch-Meeting hat sie ihn bei der Präsentation mit einem ihrer eigenen USBs verwechselt. Unsere Klienten aus Übersee und der gesamte Vorstand, inklusive Mr. Rivers, haben also anstatt von Diagrammen und Grafiken Unmengen kitschiger Bilder mit Hochzeitskram zu Gesicht bekommen und dazu Lionel Richie ertragen müssen.“

Scheiße. Das war gar nicht gut. Ich weiß, dass ich es mit der Hochzeitsmontage ein wenig übertrieben hatte, das heißt, wenn man die Wahl von The Best of Lionel Richie als too much bezeichnen möchte. Sich während der Arbeitszeit persönliche Dinge anzusehen, war übel, insbesondere, wenn das zum zweiten Mal geschah. Beim ersten Mal hatte ich mich während meiner Mittagspause einfach in Hochzeitsblogs verloren und nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war, bis Catrina hinter mir aufgetaucht und mich mit ihrem schweren Parfüm fast erstickt hatte. Mit wütend verzogenem Gesicht hatte sie mich angefunkelt. Dafür war ich mündlich verwarnt worden, doch damals hatte es nur Catrina mitbekommen, nicht der gesamte Vorstand. Oh nein, das hier war wirklich schlimm.

„Oh Gott. Ich … ich bin mir sicher, wir können das alles irgendwie erklären“, stammelte ich erschrocken.

„Georgia, hat sich der ganze billige Alkohol von letzter Woche auf dein Gehirn ausgewirkt?“, zischte Catrina.

Mir drehte sich der Magen um, und mir wurde schwummrig. Der Geruch des Erbrochenen brannte mir in der Nase. „Catrina, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir unglaublich leid. Vielleicht kann ich mit Mr. Rivers sprechen und ihm sagen, dass das allein meine Schuld war. Ich hatte so großen Stress mit der Planung der Hochzeit, die am Ende gar nicht stattfand und …“

Als sie mich um meinen Job betteln hörte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, der zugleich Langeweile und Amüsement ausdrückte. „Georgia, das wird leider nicht möglich sein. Ich habe dir genug Chancen gegeben, dich zusammenzureißen, und jedes Mal hast du sie mit Füßen getreten. Du lässt mir also keine andere Wahl, als dir zu sagen, dass du gefeuert bist.“

„Nein, warte, ich …“, stammelte ich und hielt verzweifelt die Tränen zurück.

Und dann ging mir langsam ein Licht auf: Ich konnte mein Bestes geben und mich entschuldigen, von dieser Steinstufe aufspringen und inklusive Müllflecken ins Büro hechten, eine Gelegenheit verlangen, es wiedergutzumachen, und vielleicht sogar meinen Job retten. Oder … was wäre, wenn ich dem Schicksal seinen Lauf ließe, wenn ich es zuließe, dass es mir diesen Stoß in Richtung Freiheit und ins Unbekannte verpasste? R-icks Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf, wie er über mein langweiliges Wesen lachte. Die Stimme meiner Mutter ertönte und sagte, ich könnte niemals so abenteuerlustig sein, und bei Alex’ herablassendem Lächeln wurden meine Ohren heiß.

Als ich in der Türkei am Strand gesessen hatte, hatte ich sowieso geplant, meinen Job zu kündigen. Sicher, das hier ähnelte in keiner Weise meinem Tagtraum, in dem mich meine Kollegen unter tosendem Beifall für meinen Mut und meine Tapferkeit verabschiedeten – jedenfalls nicht dafür, dass sie wichtigen Klienten ungewollt 1001 Tipps für Ihre perfekte Hochzeit präsentiert hatten.

„Georgia. Hast du mich verstanden?“, rief sie ins Telefon.

Ich fasste einen Entschluss. „Jupp. Laut und deutlich. Okay, dann also Danke für alles“, antwortete ich mit hoher und auch etwas zittriger Stimme.

„Okay?“ Erstaunt von meiner schnellen Akzeptanz und dass ich nicht um den Job kämpfte, hielt sie inne. „Also gut, in Ordnung. Das war’s dann also. Ich schicke dir deine Sachen per Kurier an deine Adresse.“

Ich legte auf, bevor ich ihr sagen konnte, dass meine alte Adresse nicht mehr mein Wohnort war. Ach, na ja, wie es scheint, werden Alex und Stephanie ein bittersüßes Einzugsgeschenk bestehend aus Klebezetteln und ätzenden Werbegeschenken erhalten.

Angetrieben durch das Adrenalin in meinen Adern rappelte ich mich auf und lief die geschäftige Einkaufsstraße entlang. So schaffte ich es gerade mal bis zur Drogerie, wo es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, was ich soeben getan hatte. Meine verantwortungsbewusste Hälfte bekam eine Panikattacke, während meine andere, versteckte, risikofreudige Hälfte weiter grinste. Ich war arbeitslos. Ich hatte ein Reisebüro verwüstet, mein Ex würde Vater werden und ich stank nach fremder Kotze. Was war nur aus meinem Leben geworden?

Kapitel 6

Zufallsfund, der (Substantiv, maskulin): ungeplantes Eintreten von Ereignissen mit positiver Auswirkung

Ich stolperte in einen nahe gelegenen Pub, bestellte ein großes Glas süffigen Cider und wählte sofort Maries Nummer.

„Das ist ja total krass“, kommentierte Marie immer wieder, während ich ihr erzählte, was in dem Reisebüro mit den unverschämten Fratzen passiert war, wie Alex und Stephanie mich in der peinlichen Situation mit dem städtischen Mülleimer vorgefunden hatten und wie ich wegen Lionel Richie gekündigt worden war.

„Ich fühle mich so gedemütigt.“ Ich schloss die Augen, holte tief Luft und trank dann den Rest des Glases mit einem Zug aus. Dafür, dass es Montagmittag war, floss mir das supersüße, prickelnde Getränk verdächtig leicht die Kehle hinunter.

„Du hast dich an einem Mülleimer festgehalten? Oh Gott, Georgia.“

„Ich weiß! Ich hätte nie in das blöde Reisebüro gehen dürfen. Keine Ahnung, was mich geritten hat, als ich da drin war. Ich hatte es einfach nur sattgehabt, dass sich die Leute über mich lustig machen, so wie Oh, schau dir mal die armselige sitzen gelassene Braut an. Die sagt, sie will ihr Leben umkrempeln und hat nicht mal die leiseste Ahnung, wie man irgendetwas richtig macht. Oh, guck mal, die langweilige Georgia, die wusste nicht mal, dass ihr Ex irgendeine Schlampe geschwängert hat. Oh, Moment, Miss Green? Ist das nicht die Hardcore-Braut mit ’ner Schwäche für Lionel Richie? Wenn sich nicht eine Horde Menschen hinter mir befunden hätte, hätte ich mit der Faust auf den Bartresen geschlagen.“

„Nee, komm, hör auf damit. Niemand denkt so“, versuchte Marie mich zu besänftigen und schnalzte mit der Zunge. „Und, wie war’s, den Herrn Arsch von und zu Arschhausen zu sehen? Keine Ahnung, wie du es geschafft hast, ihn auch nur anzuschauen.“

Ich seufzte. „Ich schätze, es ist noch nicht ganz durchgedrungen. Ich war zu sehr gelähmt von dem Schock und der Peinlichkeit, um angemessen reagieren zu können. Aber weißt du, was wirklich seltsam ist? Obwohl ich nicht darauf vorbereitet gewesen war, ihn zu sehen, wurde ich nicht von Gefühlen für ihn überwältigt – ich hab mich nur total blamiert gefühlt aufgrund der Situation. Für ihn habe ich überhaupt nichts empfunden.“

„Das ist großartig, Georgia. Du brauchst ihn nicht, und na ja, dass du deinen Ex getroffen hast, während du über einem stinkenden Mülleimer gehangen hast, ist wahrscheinlich nicht die ideale Wahl, um klarzumachen: Ich bin über dich hinweg, und mein Leben ist supergeil. Du bist einfach nur ein bisschen vom Weg abgekommen, nichts weiter. Das Leben verläuft nie nach Plan, schon gar nicht nach einem Plan, der bei einem blöden Zeitschriften-Test rauskommt.“

Ich lächelte, weil ich genau wusste, welchen Test sie meinte. Wir waren noch Teenager gewesen und an einem warmen Sommertag, nur Wochen vor dem schrecklichen Vorfall im Bunker, hatte ich mit Marie im kühlen, stoppeligen Gras hinter ihrem Haus gelegen und die Antworten für einen albernen Test zur Frage Was für ein Leben werden Sie führen? aufgeschrieben. Ich hatte den Test in einer alten Ausgabe einer Frauenzeitschrift meiner Mutter gefunden.

„Das ist doch Quatsch“, beschwerte sich Marie, nachdem ich sie gefragt hatte, welche Träume und Wünsche sie hatte. „Ich werde Ricky Martin heiraten, er weiß es nur noch nicht.“

„Okay“, sagte ich seufzend, „du haust also ab nach Puerto Rico, um ihn zu finden – und dann?“

Marie drehte sich auf den Rücken und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. „Also spätestens mit einundzwanzig will ich verheiratet sein und mein erstes Kind spätestens mit vierundzwanzig haben.“ Wir schauderten beide bei dem Gedanken, wie uralt das klang. „Danach werde ich eine weltberühmte Schauspielerin, und wir werden mit unseren drei Kindern, die wie Models aussehen, in Hollywood leben.“

„Dann fängst du mal besser damit an, im Spanischunterricht aufzupassen“, neckte ich sie und entfernte den Dreck unter meinen Fingernägeln.

„Nö, wir werden die Sprache der Lieeeebe sprechen“, meinte sie lächelnd und entriss mir dann den Test. „Na gut, Miss Green, wie sieht Ihr Plan fürs Leben aus?“

Meine Augen leuchteten, als ich erzählte: „Ich will reisen, um mehr vom Leben zu sehen als das, was vor unserer Haustür liegt. Oh, und ich will auch schreiben. Reisejournalistin zu sein, wäre echt cool. Stell dir vor, man wacht jeden Tag in einem anderen Land auf und wird dafür bezahlt, der Welt zu berichten, was man sieht, isst und tut!“

„Dann kannst du dir bessere Tests ausdenken als den hier“, hatte Marie grinsend gesagt und mir einen Klaps mit der zusammengerollten Zeitschrift verpasst.

„Du siehst ja, was aus meinem Plan geworden ist!“, rief Marie aus. „Ich bin nie dazu gekommen, Ricky Martin zu heiraten, und hätte garantiert nie gedacht, dass ich mal alleinerziehende Mutter sein würde. Aber obwohl Cole nicht Bestandteil meines ursprünglichen Plans war, könnte ich mir nicht vorstellen, wie ein Leben ohne ihn besser sein könnte.“

„Um fair zu sein, glaube ich auch nicht, dass du Rickys Typ bist“, wandte ich ein. Sie lachte. „Tja, und ich bin nicht dazu gekommen, die nächste Judith Chalmers zu werden“, meinte ich seufzend und dachte an meinen eingestaubten Reisepass. „Ich schätze, mir war nie klar, wie schnell das Leben an einem vorbeizieht. Gerade noch nimmt man ganz unvoreingenommen den ersten Job an, den man angeboten bekommt, in der Überzeugung, dass er ein Sprungbrett zu Besserem ist, und im nächsten Moment ist man älter, festgefahren und abgeschlafft“, sagte ich deprimiert, während ein unrasierter alter Mann mit einem großen Glas Bier an mir vorbeiwatschelte und einen Batzen Schleim in sein dreckiges Taschentuch hustete.

„Das passiert ganz leicht, Süße.“ Marie hielt kurz inne. „Okay, ich werde jetzt mal für ’nen Moment kein Blatt vor den Mund nehmen, also bitte nicht sauer werden. Ich wollte nichts sagen wegen, du weißt schon, der ganzen geplatzten Hochzeit und so, aber Süße, du hast dich verändert. Letzte Woche im Urlaub hab ich mich daran erinnert, wie die echte Georgia ist. Nicht die, die ’nen großen Wirbel um Alex macht und sich von Tischläufern und Scheißplatzdeckchen stressen lässt. Nicht die, die den Wetterbericht schaut, um zu entscheiden, ob sie die Wäsche raushängen kann, und nicht, ob’s warm genug für den Biergarten ist, nicht die, die so tut, als würde sie gerne Grünkohl essen und Granatapfelsaft trinken. Früher bist du nie so gewesen, aber du hast dich verändert. Also, mag sein, dass du dich auf deinem Weg verirrt hast, aber jetzt hast du quasi einen Freifahrtschein für einen Neuanfang bekommen. Du kannst dich neu erfinden und genau das tun, was du willst. Kein Anpassen mehr an Alex oder Befolgen von Catrinas Anweisungen – sondern wirklich einmal darüber nachdenken: Was will Georgia Green tun?“

„Stimmt schon“, murmelte ich und zupfte an den feuchten Ecken der Bieruntersetzer vor mir herum. Sie hatte recht, mit allem. Grünkohl ist verdammt widerlich.

„Im Ernst, Süße, wenn ich an deiner Stelle wäre und natürlich ohne Kind, dann würde ich mich schneller auf die Socken machen, als du bis zehn zählen kannst. Die ganze Welt steht dir offen. Geh los und pack den Stier bei den Hörnern!“

***

„Oh, hallo, einen Moment bitte, ich bin gleich bei Ihnen. Komm schon, du blödes Ding, druck einfach!“ Eine zierliche Frau rang mit einem uralten Drucker, der fast halb so groß war wie sie. Überall lag Papier herum, und ein seltsames, gurgelndes Geräusch ertönte aus dem altersschwachen Gerät. „Deshalb schreibe ich immer alles auf. Diesen launischen Dingern kann man einfach nicht trauen. Bei Papier und Bleistift weiß man, woran man ist.“ Sie fuhr sich mit einer runzligen Hand durch die grauen Haare und glättete die Strähnen, die im durchs Schaufenster fallenden Licht wie ein Heiligenschein aussahen.

Ich hatte Maries Ratschlag beherzigt. Nachdem ich ein paar Reisebüros in der Nähe gegoogelt und eins gefunden hatte, in dem ich hoffentlich nicht runtergemacht werden würde, hatte ich den Pub verlassen.

„Haben Sie vor Kurzem den Toner ausgetauscht?“, fragte ich und versuchte, nicht auf die über den Boden verteilten Dokumente zu treten, als ich näher kam, um einen Blick darauf zu werfen. „Im Büro hatten wir das gleiche Modell, und es brauchte einfach nur einen ordentlichen Schlag. Etwa so.“ Ohne darüber nachzudenken, schlug ich fest auf den Deckel. Der Drucker kam keuchend in die Gänge und spuckte dann die Kopien aus, als wäre nie etwas gewesen.

„Ach du liebe Güte. Vielen Dank. Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich mich damit rumgeschlagen habe? Ich habe ihn an- und wieder ausgeschaltet und anderes Papier versucht, aber kein einziges Mal kam mir der Gedanke, das zu tun.“ Sie strahlte mich mit einem echten, herzlichen Lächeln an.

„Kein Problem. Ich freue mich, dass ich helfen konnte.“

„Da das jetzt funktioniert, kann ich mich Ihnen ordentlich vorstellen und Ihnen eine Tasse Tee machen – Sie haben mich vor dem Irrenhaus bewahrt, das ist das Mindeste, das ich für Sie tun kann!“ Sie wischte sich die Hände an den Hosen ab und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Vorsichtig setzte sie ihre hellrosa Pumps in die Lücken zwischen den Unmengen an Papier zwischen uns. „Willkommen bei Erinnerungen fürs Leben. Mein Name ist Trisha, Eigentümerin, Reisende und technologische Analphabetin, zu Ihren Diensten! Was kann ich für Sie tun?“ Sie streckte mir die mit Tonerflecken verzierte Hand entgegen.

Diese kleine, leicht verschwitzte Frau war das völlige Gegenteil zu den einschüchternden Affen in dem anderen Reisebüro. Trisha war eher wie eine Großmutter. Wie kam es eigentlich, dass sie noch nicht in Rente war? Ihr watteweißes Haar war zu einem tief sitzenden Chignon zusammengebunden, und um ihren runzligen, sonnengebräunten Hals hingen goldene Kettchen. Sie trug einen Hosenanzug mit einem Namensschild und roch nach Räucherstäbchen und Sonnenmilch.

Ich schüttelte Trishas Hand und lächelte sie an. „Hi. Georgia. Möchtegern-Rucksacktouristin, Gewürzgurken-Hasserin und Druckerretterin, die Tee ganz großartig finden würde“, sagte ich dankbar.

„Kommt sofort! Bäh, Gewürzgurken kann ich auch nicht ausstehen. Ich werde niemals begreifen, warum man einen einwandfreien Burger mit schleimigen popelfarbigen Streifen obendrauf ruinieren muss!“

„Genau!“

Trisha lächelte. „Oh, und bitte entschuldigen Sie die Unordnung, normalerweise arbeiten hier zwei, aber Deidre musste sich freinehmen. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie wiederkommt. Wissen Sie, ihr Sohn ist eben Vater geworden, es ist ein kleines Mädchen, und jetzt dreht sich alles eher um Babys als um Reisekataloge“, erklärte sie lachend. „Ich freue mich so sehr für sie, aber ich könnte hier ein weiteres Paar Hände wahrscheinlich sehr gut gebrauchen, ganz besonders, wenn’s um moderne Technologie geht.“ Sie lachte unbeschwert und versuchte verlegen, ein paar benutzte Tassen hinter dem gerahmten Bild eines gut aussehenden jungen Mannes vor dem Empire State Building zu verstecken. „Aber ich denke, es tut einem gut, wenn man beschäftigt bleibt. So, und jetzt zum Tee.“

Obwohl dieser Laden hervorragend gelegen war – nur Schritte von der belebten Einkaufsstraße entfernt –, war ich bislang jeden Tag an ihm vorbeigelaufen, ohne je einen Blick hineingeworfen zu haben. Es waren wunderschöne alte Räumlichkeiten. Mir fiel wieder ein, wie mein Vater mir erzählt hatte, dass es in dieser Straße früher einmal eine alte Bank gegeben hatte. Ich nehme an, dass einige der kleineren Läden in den leeren Räumen der Bank entstanden waren, nachdem sie umgezogen war. Als ich über die unordentlichen Papierhaufen hinwegsah, fiel mein Blick auf einen beeindruckenden, kunstvoll gearbeiteten Marmorkamin. Meine Füße versanken in einem verblassten, dicken pflaumenfarbenen Teppich, der auf den dekorativen Bodenfliesen lag. Große Laternen hingen von der hohen Decke, die mit vergoldeten Stuckaturen verziert war. Enorm prachtvoll für so ein kleines Reisebüro.

Von den Haufen farbenfroher, glänzender Broschüren abgesehen, herrschten dunkle, gedämpfte Farben im Raum vor. Über dem Kamin hing eine verwitterte Weltkarte, und in der Ecke stand ein antik aussehender Globus, der sehr viel Würde ausstrahlte. Aus verborgenen Lautsprechern ertönte melodische, bezaubernde Musik. Sie klang wie Stammesmusik von Eingeborenen.

Trisha bemerkte, wie ich den Kopf neigte und aufmerksam zuhörte. „Das ist von einem abgelegenen Stamm in Botswana, über den ich gestolpert bin, als ich das Land vor vielen Jahren besucht habe. In einem winzigen Lager, in dem ich die Nacht verbracht hatte, hatten Buschmänner der Kalahariwüste gespielt, und ihre Stimmen, die Rhythmen und ungewöhnlichen Tanzbewegungen waren vollkommen anders als das, was man zu Hause in der örtlichen Diskothek vorfinden würde. Ich bin einfach in eine Trance gefallen und habe dann die Stammesangehörigen dazu überredet, dass ich sie mit meinem Diktiergerät aufnehmen darf. Es ist nicht gerade die beste Qualität, aber es bringt mich zurück an diesen Ort.“

„So was habe ich noch nie gehört“, gestand ich, während Trisha sich wieder dem Teekochen widmete und die Melodie mitsummte.

Die Reisekataloge im Buchregal aus Walnussholz waren akkurat nach Regionen geordnet – genau so, wie ich es auch gemacht hätte: Europäische Ziele ganz oben, gefolgt von Russland, China, Asien, Afrika, Amerika, Australien und Neuseeland, es gab sogar Kataloge für die Antarktis. Trisha hatte die ganze Welt abgedeckt. Sofort griff ich nach einem Katalog für Südostasien. Genüsslich blätterte ich die bunten Seiten mit Indonesien, Malaysia und Thailand durch, wobei mich jedes exotische Bild gefangen nahm.

„Nehmen Sie Milch und Zucker, meine Liebe?“, rief Trisha, und wie ertappt legte ich den Katalog zurück ins Regal.

„Nur Milch, bitte.“

„Ah, schon süß genug, was?“, neckte sie mich lächelnd mit dem Lieblingsspruch meines Vaters.

„Ja, so was in der Art.“ Ich grinste und spazierte zur hinteren Wand, die mit Postkarten aus aller Welt bedeckt war. Die müssen von zufriedenen Kunden sein, dachte ich mir und hob gedankenverloren eine auf, die zu Boden gefallen war. Ich drehte sie um und las:

Viele Grüße aus Uganda! Du hattest recht, Trish, der Buntbarsch ist unglaublich hier. Wer hätte gedacht, dass ich einmal lieber Fisch essen würde als fettigen Kebab. Wie sich die Dinge ändern, was? Mir geht’s hier fantastisch. Es ist schwierig, dieses schöne Land zu bereisen, besonders wegen der Hitze, aber das ist es wirklich wert. Hoffe, es geht Dir gut und Du befolgst die Anweisungen des Arztes?

Herzlichst, Stevie

„Ah, die meisten Karten sind von Stevie, er ist so ein Abenteurer“, erzählte Trisha mit warmer Stimme. Ich steckte die Karte schnell wieder an die Wand und errötete, weil ich ihre persönliche Post gelesen hatte. Wer war Stevie und warum sollte Trisha die Anweisungen ihres Arztes befolgen? Auf mich wirkte sie ziemlich fit, wenngleich sie auch etwas müde schien.

Mit ihrer mit Leberflecken übersäten Hand reichte sie mir eine Tasse Tee und unterbrach meine Gedanken. Sie winkte mich zu sich aufs Sofa und erzählte mir, dass sie die wundervollen smaragdgrünen Teetassen vor achtzehn Jahren aus dem Iran mitgebracht hatte. Aus der Nähe betrachtet, sah Trisha überhaupt nicht wie eine typische Forschungsreisende aus. An den Wänden hingen keine ausgestopften Tiere, und weder Tropenhelme noch Gewehre wurden stolz zur Schau gestellt. Sie sah aus, als würde sie sich eher wohlfühlen, wenn sie zu Hause Bares für Rares im Fernsehen schauen konnte, als auf exotischen Märkten im Nahen Osten um Geschirr zu feilschen.

„Der Laden ist wunderschön, wie lange sind Sie schon hier?“ Ich machte eine Handbewegung in den Raum, bewunderte die schweren auberginefarbenen Samtvorhänge an den Fenstern und den großen, opulenten Kronleuchter, der Tröpfchen goldenen Lichts von seinen senkrecht hängenden Glasstreifen reflektierte. Es war eine Mischung aus den Stilen Safari und marokkanisches Boudoir.

„Ach, das ist mein Baby“, antwortete Trisha und strahlte, als würde sie den Raum zum ersten Mal sehen. „Ich bin nicht dazu gekommen, eigene Kinder zu haben, weil ich und mein wundervoller verstorbener Mann Fred die meiste Zeit damit verbracht haben, die Welt zu bereisen. Nachdem wir uns schließlich in Manchester niedergelassen hatten, war dieser Zug abgefahren. Zu dem Zeitpunkt stand es nicht sonderlich gut um seine Gesundheit, also haben wir jeden Penny, den wir hatten, dafür verwendet, diesen Laden zu kaufen, und dann all unsere Kraft hineingesteckt.“

„Der Raum ist umwerfend. Sie freuen sich bestimmt jeden Tag, hierher zur Arbeit zu kommen.“ Das hier war etwas ganz anderes, als der austauschbare Schreibtisch in dem hässlichen grauen Bürogebäude, in dem ich gearbeitet hatte.

„Ich liebe es wirklich, und ich kann mich glücklich schätzen, dass ich treue Kunden habe, die mir helfen. Aber ich werde auch nicht jünger, und bald wird der Tag kommen, an dem all das hier an meinen Patensohn Stevie geht.“ Sie nickte in Richtung der Postkartensammlung. „Er ist etwa in Ihrem Alter und eines der wenigen Familienmitglieder, die mir geblieben sind.“ Sie rieb sich den Nacken und zuckte ein wenig zusammen. „Er schickt mir immer Postkarten aus den Ländern, die er bereist, meistens Geschäftsreisen. Viele in unserer Familie haben Hummeln im Hintern, wenn Sie wissen, was ich meine!“

„Hämorriden?“, fragte ich zögerlich.

Trisha lachte leise. „Nein, meine Liebe, mit Hummeln im Hintern meine ich, dass wir nicht lange an einem Ort bleiben können. Wir müssen reisen. Deshalb mache ich mir manchmal Sorgen, dass Stevie es schwer haben wird, damit klarzukommen, für eine unbestimmte Zeit an einem Ort sesshaft zu werden, wenn meine Zeit gekommen ist. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, er ist ein guter Junge, doch er ist genau wie seine Mutter, als sie in seinem Alter war: immer auf der Suche nach der nächsten Herausforderung und dem nächsten Land, das es zu entdecken gilt. Ich glaube, es gibt keine Stadt, in der er länger als ein Jahr gelebt hat. Er hält uns in Atem, unser Stevie!“

Oh Mann, dieser Typ schien das genaue Gegenteil von Alex zu sein, der sich nicht einmal bewegen wollte, um den Fernseher auszuschalten, wenn er die Fernbedienung verlegt hatte. Man stelle sich nur vor, solch ein aufregendes und schönes Leben zu führen, immer unterwegs, die ganze Welt bereisen. Ich konnte verstehen, warum der arme Mann nicht schnurstracks nach Manchester kommen wollte, um seiner Patentante im Geschäft auszuhelfen. Das wäre ein richtiger Abstieg.

„Ich habe Sie vorhin gesehen – als Sie mit einer Handvoll Katalogen von den Idioten weiter vorne an der Straße weggelaufen sind. Ich wollte die Tür aufmachen und Ihnen zurufen, hier hereinzukommen, denn ich war mir sicher, dass Sie in diesem lauten, kindischen Laden nicht das finden würden, was Sie suchen. Die sollten sich schämen, jeden gering zu schätzen, der nicht achtzehn ist, so wie sie selbst aussieht oder nicht die Taschen voll hat mit Papas Geld für ein Jahr Auszeit“, schimpfte Trisha und brach dann in ein Lachen aus. „Ha! Das Einzige, das diese Kids lernen, ist, wie man aus einem Gefängnis in Bali rauskommt, nachdem man mit Marihuana erwischt wurde. Die glauben doch, Reisen bedeutet nur, Leben, Leib und Gesundheit für eine Spritztour durch Asien zu riskieren. Dabei verschließen sie völlig die Augen vor der Schönheit und der Gastfreundschaft, die sie dort empfängt. Aber Sie – Sie erinnern mich an mich selbst, als ich in Ihrem Alter war.“

Ich verschüttete etwas von meinem Tee. „Oh, ähm, ach wirklich?“

„Nun ja, ich kenne Sie natürlich nicht, aber ich glaube, Sie kennen sich auch nicht. Das kann verwirrend sein, furchterregend, aber auch aufregend.“

Da war was dran.

„Über die Jahre hinweg bin ich recht versiert darin geworden, andere zu verstehen. Das muss man, wenn man die Welt entdecken will. Man muss außerdem verstehen, dass jeder seine eigene Geschichte hat, und viele bleiben im Verborgenen, außer man schaut ganz genau hin.“ Sie nippte an ihrem Tee. „Also, sind Sie für heute fertig mit der Arbeit?“

„Ich bin gefeuert worden.“ Die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack im Mund.

„Oh, ich verstehe. Mir ist ebenfalls aufgefallen, dass Sie an einem wichtigen Finger keinen Ring tragen, und wenn ich Ihnen in die Augen schaue, sehe ich dort Traurigkeit, also nehme ich an, dass es vor Kurzem ein Fiasko im Beziehungsleben gegeben hat?“

Ich rutschte etwas hin und her, da mich das wolkenartige Sofa beinahe verschlang.

„Sie wollen etwas verändern in Ihrem Leben, fürchten sich aber davor, was das für Sie und die Menschen um Sie herum bedeuten wird.“

„Ja, so was in der Art.“ Sie hatte recht, keine Frage. Nachdem ich Trisha eine sehr verkürzte Version der Ereignisse erzählt hatte, da ich mich offensichtlich mit einer Hellseherin unterhielt, erhob sie sich und reichte mir einen Katalog von Südostasien – den, den ich mir vorhin selbst ausgesucht hatte.

„Es hört sich so an, als wäre das Thema Reisen Neuland für Sie, deshalb würde ich Sie nicht zu irgendeiner Ziegenherde in den Weiten der Mongolei schicken wollen. Zumindest noch nicht“, sagte sie lächelnd und schien kurz in eine ferne Erinnerung einzutauchen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen fragte ich mich, ob ich vielleicht doch in einen stinkenden Ziegenstall fahren sollte.

„Ich glaube, Thailand wäre perfekt für Sie. Die meisten sprechen Englisch. Das Land ist voll Freude, Zauber und Lächeln. Genau die Atmosphäre, die Sie jetzt brauchen. Es gibt Strände, Dschungel und Großstädte, und ich würde jedem empfehlen, die Hauptstadt Bangkok zumindest einmal im Leben zu besuchen.“

„Das hört sich richtig toll an.“ Ich dachte an meine Reisewunschliste, die ich schnell wieder aus der Recyclingtonne rausgeholt und glatt gestrichen hatte. In Gedanken hakte ich die Punkte auf einem Elefanten reiten, auf weißen Sandstränden entspannen, Kultur erkunden und Tempel besuchen ab. Die Bilder, die mich von den glänzenden Seiten anstrahlten, schienen so reizvoll. Plötzlich erklang die schrille Stimme meiner Mutter in meinem Kopf: Wer würde dir helfen, wenn du krank wirst? Was, wenn jemand versucht, dir Drogen zu verabreichen, oder noch schlimmer, dich zwingen würde, Drogenkurier zu werden?

Trisha musste mein Zögern bemerkt haben: „Wenn man zum ersten Mal auf eine Fernreise geht, kann das alles ein wenig überwältigend sein. Wie wäre es deshalb, wenn wir Sie zu einer Reisegruppe buchen? Auf diese Weise wären Sie mit Menschen zusammen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie Sie, vielleicht zum ersten Mal auf Reise oder nervös, alleine unterwegs zu sein. Gleichzeitig hätten Sie aber die Sicherheit und den Komfort, da die Reise für Sie geplant würde.“

Ich hatte nicht einmal gewusst, dass das eine Option war. „Ja, ich nehme an, das könnte funktionieren“, sagte ich lächelnd und teilte Trisha das Datum mit, an dem ich abreisen wollte – im Grunde so bald wie möglich –, und sie fing an, auf einer klobigen Tastatur herumzutippen.

„Schauen wir mal … ich glaube, alle meine bevorzugten Thailand-Touren sind ausgebucht, da das sehr kurzfristig ist. Wenn ich mir Ihre Reisezeiten ansehe und altersschwache Rentner als Reisepartner ausschließe, dann kann ich Ihnen nur noch das hier buchen.“ Papier spuckend erwachte der Drucker zum Leben und tat so, als wäre er immer schon so effizient gewesen. „Das ist ein familiengeführtes Unternehmen und wird Ihnen hoffentlich die Augen für die Welt öffnen.“

Die Reiseroute beinhaltete Bangkok, Chiang Mai, Kanchanaburi und eine Inseltour mit organisierten Tempelbesuchen, Straßenmärkten, Kochkursen, Sprachschule und paradiesischen Stränden. „Hört sich perfekt an“, hauchte ich und bemerkte dann Trishas besorgten Gesichtsausdruck. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Gibt’s ein Problem damit?“

„Nein, nein. Die Unterkunft wird nicht gerade Fünf-Sterne-Luxus sein, und manchmal fühlt es sich vielleicht sehr weit weg von zu Hause an, ganz besonders, nachdem Sie mir erzählt haben, was Sie alles durchgemacht haben. Mein Rat wäre, dass Sie versuchen, für alles offen zu bleiben. Und falls es Ihnen zu viel wird, dann müssen Sie zu den Blue-Butterfly-Hütten auf diese Insel hier fahren.“ Sie zeigte auf einen Fleck von der Größe einer Ameise im Ozean namens Koh Lanta, abseits der größeren Insel Koh Phangan. „Die werden sich gut um Sie kümmern.“

Eine Stunde, fast eine ganze Packung Kekse und ein paar mehr Tassen Tee später hatten wir alles geregelt. Ich hatte eine sechswöchige Tour gebucht und würde in zehn Tagen abreisen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was danach käme. Hör auf, Pläne für die Zukunft machen zu wollen, und lass dich einfach mal treiben. Trisha half mir, ein beschleunigtes Visum für Thailand zu beantragen, regelte meine Reiseversicherung, vereinbarte Termine für ein paar Schutzimpfungen und gab mir eine Liste mit all den Dingen, die ich kaufen und einpacken sollte. Meine Wangen taten weh vom vielen Lächeln. Es gab kein Zurück mehr.

Ach du heilige Scheiße! Georgia Green geht auf Reisen.

Kapitel 7

Freiheitsmanie, die (Substantiv, feminin): starkes, unwiderstehliches Verlangen nach Freiheit

Diesen Abend fand meine Abschiedsparty statt. Außerdem traf ich erstmals wieder auf meine Mutter, nachdem wir letzte Woche eine kleine Auseinandersetzung am Telefon gehabt hatten. Ich hatte ihr die Wahrheit über meine Reisepläne gesagt.

„Georgia Louise Green.“ Oh Gott, sie sprach mich mit vollem Namen an. „Ich habe dich bei der Arbeit angerufen. Warum hat mir dort eine unverschämte Frau gesagt, dass du gefeuert worden bist?“

Schlagartig fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als ich elf Jahre alt war und versehentlich zwei Porzellanhunde zerbrochen hatte, die stolz zu beiden Seiten des Kaminsimses gestanden hatten. Ich hatte etwas zu energisch zum Album der Spice Girls getanzt und versucht, den Karate-Kick von Sporty Spice zu perfektionieren. Dabei traf ich den linken Hund mit meiner Ferse. Im Bemühen, die Beweise zu beseitigen, hatte ich mir ausgerechnet, dass es meiner Mutter wahrscheinlich weniger auffallen würde, wenn beide Figuren kaputt und in der Mülltonne verschwunden wären. Geniale Logik. Dabei hatte ich jedoch nicht bedacht, dass meine Mutter die Nase eines Bluthundes hatte, wenn es darum ging, Veränderungen in ihrer Umgebung aufzuspüren. Ich hatte eine Woche Hausarrest bekommen und musste mein monatliches Taschengeld zusammensparen, um die Hunde damit zu ersetzen.

„Ich bin nicht gefeuert worden, nein, ich … ähm … hab gekündigt“, erwiderte ich und hoffte, dass sie im Sitzen telefonierte. Okay, das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber ich musste ein wenig Kontrolle in die verfahrene Situation bringen, die ich mein Leben nannte.

„Was?!“, kreischte die schrille Stimme meiner Mutter aus dem Hörer und zwang mich, das Handy vom Ohr wegzuhalten.

„Ich brauche eine Veränderung in meiner Umgebung und muss für eine Weile raus aus Manchester. Du weißt, dass ich unglücklich war mit meiner Arbeit und dass es keine Entwicklungschancen gab, also hab ich gekündigt.“ Ich hatte das Gefühl, dass ich aufs Neue wegen der Porzellanhunde verhört wurde. Wo hast du die rechte Pfote versteckt? Was ist mit dem linken Ohr passiert?

„Ich hatte gehofft, dass diese eingebildete Frau unrecht hat und dass alles ein Missverständnis ist.“ Sie hielt inne und schien ihre Gedanken zu ordnen. „Und was wirst du jetzt tun? Bitte sag mir, dass du bereits einen anderen Job gefunden hast.“

„Ich werde reisen.“ Ohne ihre Reaktion abzuwarten, fuhr ich fort und wurde mit jedem Wort mutiger. „Ich habe ein Flugticket nach Thailand gebucht. Ich werde losfliegen und mir die Welt ansehen, Mum.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, die schließlich von einem tiefen Seufzer unterbrochen wurde.

„Ach, Georgia. Das ist doch nicht dein Ernst. Du hast doch gesagt, dass das alles nur alberne Blödeleien mit Marie waren. Ich verstehe ja, dass du gerade eine schwierige Zeit durchmachst, aber einfach abzuhauen ist keine Lösung. Man kann nicht vor der Vergangenheit davonlaufen. Sie wird dich immer einholen.“

„Mum, ich laufe nicht davon, sondern auf etwas zu. Ich verändere mein Leben. Du möchtest doch, dass ich glücklich bin. Und ich bin überzeugt davon, dass ich das sein werde, wenn ich losziehe und mir die Welt ansehe“, sagte ich voll Überzeugung und zugleich ein wenig ängstlich, da ich noch nie so direkt zu ihr gewesen war.

„Aber … aber wie in aller Welt willst du das überleben? Du hast noch nie etwas alleine gemacht!“

Bei dieser Bemerkung zuckte ich zusammen. Natürlich hatte sie hundertprozentig recht, doch es versetzte mir trotzdem einen Stich, dass ich in meinen achtundzwanzig Jahren nicht unabhängiger geworden war. Ich wäre nie bei Destiny’s Child aufgenommen worden und war auch als Spice-Girls – Fan eine Enttäuschung. „Mir wird schon nichts passieren, Mum. Man sagt, man solle Fremde so behandeln, als wären sie Freunde, denen man noch nicht begegnet ist.“ Ich versuchte, den Gedanken an ihre Ader an der linken Schläfe zu ignorieren, die bei dieser Unterhaltung zweifellos pulsieren würde.

„Ja, aber man sagt auch, dass jedes dritte Mordopfer seinen Mörder kennt“, brauste sie auf. „Du weißt, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Alles, was dein Vater und ich je gewollt haben, ist, dich zu beschützen. Das können wir nicht tun, wenn wir auf der anderen Seite der Welt sind. Ich werde kein Auge zumachen können, solange du fort bist – hast du daran mal gedacht?“

„Weißt du, Mum, eigentlich will ich mal an mich selbst denken. Nur an mich, zum ersten Mal in meinem Leben.“ Es herrschte Stille in der Leitung. Sofort bereute ich es, sie so vor den Kopf gestoßen zu haben.

„Tja … tja, na gut. Ich hoffe nur um deinetwillen, dass du diesen albernen Urlaub am Ende nicht bereust. Wie dem auch sei, ich muss jetzt auflegen.“ Sie beendete das Telefonat, und ich starrte angesichts des Rauschens im Hörer atemlos und schockiert vor mich hin.

Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört, doch mein Vater schickte mir insgeheim hin und wieder bestärkende SMS: #MACH DIR KEINE SORGEN UM MUM. LEG LOS, KLEINE. LOL.

Offensichtlich wusste er nicht, in welchem Zusammenhang man einen Hashtag verwendete, doch die Absicht zählte. In Gedanken wiederholte ich seine Aufforderung wie ein Mantra.

„Und, bist du nervös wegen morgen?“, fragte Marie, als wir im Taxi auf dem Weg zum chinesischen Restaurant waren.

„Ja.“ Ich verzog das Gesicht. „Ein bisschen! Aber ich glaube, ich bin eher aufgeregt als ängstlich.“

„Kann ich mir denken! Aufgeregt wegen all der heißen Typen, die du treffen wirst?“ Sie zwinkerte mir zu und hob Coles Spielzeuggiraffe auf, die er runtergeworfen hatte.

„Kannst du an nichts anderes denken?“ Ich verdrehte die Augen. Keine Ahnung, was mit Marie los war, aber momentan war sie wie eine läufige Hündin. Ich hatte sie noch nie so männerfixiert erlebt wie jetzt.

„Ich denke auch an andere Dinge.“ Sie streckte mir die Zunge raus, was Cole zum Lachen brachte. „Aber du musst doch an die sonnengebräunten Traumtypen aus aller Welt gedacht haben, die auch unterwegs sein werden? Du musst schon zugeben, dass es irgendwie sexy ist, wenn ein Mann loszieht, um die Welt zu entdecken, dem Unbekannten entgegenzutreten, keine Angst hat, sich den Herausforderungen und Hindernissen auf seinem Weg zu stellen“, sie seufzte, „das ist so männlich und abenteuerlich.“

„Wie Stevie“, sagte ich, bevor ich mir die Hand auf den Mund legte, um mich zu bremsen. Wo war das denn hergekommen?

„Stevie?“ Marie drehte sich zu mir um. „Wer ist Stevie?“ Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung.

Schnell schüttelte ich den Kopf. „Vergiss es, ich hab nichts gesagt.“ Ich wurde rot.

„Ach komm schon! Raus damit! Miss Green, wenn du Männertratsch von mir fernhältst, dann schwöre ich, werde ich dich den Rest des Weges zum Restaurant zu Fuß gehen lassen.“

„Okay, okay! Aber weißt du, es tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, ich hab gar keinen Tratsch. Ich weiß nicht mal was über ihn.“ Sie sah verwirrt aus.

„Oh mein Gott, Sekunde, machst du Online-Dating? Wischst du dich durch Tinder?“, sprudelte es aus ihr hervor, während sie in ihre Handtasche griff und ihr Handy rausholte.

„Nein!“ Bei dem Gedanken schüttelte es mich. „Stevie ist Trishas Patensohn, du weißt schon, die wundervolle Dame, bei der ich meine Tour gebucht habe?“ Marie nickte. „Na jedenfalls … in ihrem Laden habe ich all die Postkarten gesehen, die quasi aus der ganzen Welt kamen, und habe eine davon gelesen.“

Marie sah aus, als hätte man ihr die Luft abgelassen. „Postkarten?“

„Ja, von den coolsten Orten. Egal. Ich habe versehentlich eine gelesen, und er klang einfach so toll, so wie du gesagt hast, abenteuerlustig, fürsorglich, freundlich, aufregend.“ Ich zwang mich aufzuhören und räusperte mich.

Marie starrte mich nun mit einem amüsierten Lächeln auf den fuchsiafarbenen Lippen an.

„Ich hab einfach nur ein Bild im Kopf von der Sorte Mann, die dieser Stevie ist. Der Typ Mann, mit dem ich in der Zukunft gern zusammen sein würde, denke ich mal.“ Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass sie in lautes Lachen ausbrach, doch sie blieb still. Mit einem Auge blinzelte ich und schaute zu ihr.

Marie sah mich an, doch ihr Blick sagte nicht Was-für-eine-lächerlich-blöde-Idee, sondern war eher von der Art eines verständnisvollen Klar-das-versteh-ich.

„Das ist verrückt, oder?“

Marie schüttelte den Kopf, und ihre soeben mit dem Lockenstab geschaffenen voluminösen Locken tanzten. „Nein, überhaupt nicht verrückt. Inspirierend. Es ist gut, dass du an die Zukunft denkst und auch wieder an Männer …“

„Weeeit in der Zukunft“, unterbrach ich sie.

„Ja, okay, weit in der Zukunft. Trotzdem, das ist ein gutes Zeichen, Süße.“

Ich lächelte, und mir wurde klar, dass das einer der Gründe dafür war, warum ich sie meine beste Freundin nannte. Für einen Typen zu schwärmen – war es das? –, dem ich nie begegnet bin, fand sie nicht seltsam.

„Und man weiß ja nie, vielleicht läufst du Stevie über den Weg, wenn du unterwegs bist, heiratest ihn an einem exotischen Strand, hast Unmengen an Kindern und lebst glücklich und zufrieden, bis in alle Ewigkeit.“

Ich spottete: „Klar, und vielleicht wird dir eines Tages klar, dass Mike der Richtige für dich ist.“

Sie machte sich an Coles Kindersitzgurten zu schaffen und ignorierte mein Necken. „Hm. Okay. Da sind wir ja.“ Wenn das mal nicht Rettung in letzter Sekunde war.

„Hey, so einfach kommst du mir nicht davon, Marie. Eines Tages wirst du feststellen, dass ich recht habe, und ich will nicht, dass dir dann das Herz bricht, weil für Mike dieser Tag zu spät kommt und er dann nicht mehr auf dich wartet“, warnte ich. Vielleicht war das etwas sehr direkt, aber es war die Wahrheit.

„Georgia. Es ist alles okay.“ Sie tätschelte meine Hand. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass es mit Mike und mir einfach nicht funktioniert. Wir hatten ein bisschen Spaß miteinander, haben Cole bekommen, aber mehr nicht. Außerdem genieße ich es viel zu sehr, Single zu sein.“ Sie nahm ihre Hand von meiner. „Du wirst schon sehen!“ Sie holte einen Geldschein aus dem Portemonnaie und bezahlte den Taxifahrer. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, wann sie zugleich die Wahrheit sagte und sich dabei selbst etwas vormachte. Vielleicht ging es bei ihrer plötzlichen Begeisterung für andere Männer darum, dass sie sich ihre wahren Gefühle für den Vater ihres Kindes nicht eingestehen wollte. „Und jetzt los, wir haben eine Abschiedsparty zu feiern!“

Seit unserer Ankunft im fast leeren Restaurant hatten weder ich noch meine Eltern den Streit erwähnt, als wäre eine unausgesprochene Waffenruhe für die letzte Nacht, in der wir alle zusammen waren, ausgemacht worden. Marie hatte mir als Überraschung eine Sonnenbrille, eine billige aufziehbare Taschenlampe und eine selbst gebastelte Karte von Cole geschenkt, die meine Eltern ganz entzückend fanden. Mum und Dad überreichten mir einen Umschlag voll mit Thai Baht sowie einen Schrillalarm, von dem meine Mutter beinahe einen Herzinfarkt bekommen hatte, als sie ihn vor ihrer Ankunft hier ausprobiert hatten. Ich nahm an, das war ihr Friedensangebot.

„Außerdem wollte ich dir noch das hier geben, mein Liebling.“ Mein Vater griff in seine Hosentasche und holte einen kleinen braunen Umschlag hervor, den er mir überreichte.

„Ihr habt mir schon genug gegeben. Ich habe wirklich keine Geschenke erwartet.“

„Ich glaube, das wird dir gefallen“, meinte er grinsend.

Ich ließ den Inhalt des Umschlags in meine offene Hand gleiten und erblickte eine dünne Silberkette mit einem gravierten Medaillon als Anhänger.

„Das ist der Heilige Christophorus, der Schutzpatron der Reisenden“, erklärte er. „Ich habe ihn von meinem Vater bekommen, als ich auf meine kurze Reise aufgebrochen bin. Es soll dem Träger viel Glück und Schutz bringen.“

„Wow … danke.“ Ich drückte seine Hand, während Marie sich vorbeugte und mir die Kette um den Hals legte.

Mein Vater zwinkerte mir zu und räusperte sich dann. „Es steht dir, Georgie. Ich weiß, du hast uns versprochen, auf dich aufzupassen. Das ist nur noch ein wenig zusätzlicher Schutz“, sagte er und schniefte.

„Danke. Dad, das hier ist etwas Gutes, der Beginn von etwas Neuem. Ich verspreche, dass ich vorsichtig sein werde, und ich werde mich melden, sobald ich kann. Ihr werdet nicht einmal merken, dass ich fort bin.“

Er wuschelte mir mit der Hand durchs Haar. „Du weißt, wie sehr wir dich lieben. Wir sind sehr stolz auf dich und wollen, dass du die beste Zeit deines Lebens hast. Bei Gott, wenn ich in deinem Alter wäre, würde ich genau dasselbe tun.“

„Na, na, genug mit der Gefühlsduselei“, unterbrach meine Mutter schnell. „Ooh, schaut mal! Glückskekse.“

Die lächelnde Kellnerin stellte eine kleine Schale mit Erdbeereis vor Cole ab und hatte vier in glänzende Folie verpackte Glückskekse für die Erwachsenen dabei. Jeder nahm sich einen und riss die erdbeerrote Folie auf.

„Möge die Sonne deinen Weg erhellen“, las Marie laut mit der Stimme einer Hellseherin vor. „Na das will ich doch hoffen. Im Dunkeln kann man doch überhaupt nix sehen.“

„Oh, wie die armen Norweger“, sagte meine Mutter mitleidig.

„Nein, Liebes, sie können sich trotzdem noch orientieren. Im Norden ist es nur so, dass es im Winter weniger Sonnenlicht gibt als hier“, berichtigte mein Vater sie lachend. „Wer denkt sich überhaupt diese blöden Sprüche aus? Mal sehen: Sei wagemutig, denn die Tapferen werden den Sieg davontragen. Na ja, es war tatsächlich ein schwerer Kampf mit meinem Clematisbusch … aber ich glaube, ich könnte sogar den Sieg davongetragen haben“, sagte er lächelnd.

Seitdem mein Vater in den Vorruhestand getreten war, hatte er sich nur für wenige Dinge begeistern können. Eins davon war, in seinem kleinen, jedoch makellosen Garten herumzuwerkeln. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, schlüpfte er in seine gelben Crocs, die ihm meine Mutter gekauft hatte, weil sie davon überzeugt war, dass sie très chic waren, und zeigte mir stolz seine neu angelegten Blumenbeete, oder den Biodünger, den sie im Sonderangebot im Baumarkt gekauft hatten. „Das wird einen gewaltigen Unterschied machen“, sagte er dann und nickte weise.

„Ich bin dran.“ Meine Mutter hatte die Verpackung aufgerissen und sich die Lesebrille aufgesetzt, um die winzigen Buchstaben mit zusammengekniffenen Augen zu lesen. „Ein einmal ausgesprochenes böses Wort wird immer zweimal wiederholt. Oh, ich wette, das bedeutet, dass Viv aus Nummer dreiundzwanzig wieder über meine Blumenampeln gelästert hat. Sie hat sogar ein Auge auf meine Hortensien geworfen, aber ich habe geschworen, dass ich das Geheimnis für ihr gutes Wachstum niemals verraten werde.“

„Okay, du bist dran“, sagte Marie und wischte Cole den Mund sauber. Sie warf mir einen mahnenden Blick zu, diese Unterhaltung über grüne Daumen zu beenden, bevor sie meiner Mutter eine Gabel ins Auge jagen würde. Ich lächelte, zog das knusprige Gebäck vorsichtig heraus und zerbrach es in der Mitte.

Doch es war leer.

Ich steckte meine Finger in jede Hälfte und zerkrümelte sie dann vollkommen, nur für den Fall, dass der Papierstreifen sich in den Seiten verhakt hatte. Doch da war nichts … ich hatte keine Weissagung.

„Oh Gott! Ich hab kein Glück, keine Zukunft! Das ist kein gutes Zeichen, zumal ich morgen ins Flugzeug steige.“ Ich hatte das Gefühl, mir würde die Luft wegbleiben. Mein Vater durchstöberte die Krümel, während meine Mutter ihm böse Blicke zuwarf, weil er in diesem Restaurant reserviert hatte und mir sagte, ich solle mich beruhigen. Marie versuchte, die Kellnerin zu erwischen, um noch einen Glückskeks oder die Rechnung oder einen Schnaps zu bringen, was auch immer zuerst eintraf.

„Keine Panik. Ich bin mir sicher, dass das nur ein Herstellungsfehler ist. Nicht wahr, Len?“, fuhr meine Mutter meinen Vater an, der mir seine eigene Weissagung entgegenstreckte, die sich Cole dann mit seinen dicken pinkfarbenen Fingerchen schnappte.

„Das ist doch sowieso alles Unsinn. Reg dich deswegen nicht auf, Liebling“, sagte Dad, während er Cole den Papierstreifen aus dem Mund fischte, woraufhin dieser anfing zu quengeln. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten Luft zu bekommen, als die lächelnde und von dem ablaufenden Drama nichts ahnende Kellnerin ein Schnapsglas mit etwas klarem, stechend Riechendem vor mich hinstellte.

„Trink“, befahl Marie. Ich kippte den beißenden Alkohol in einem Zug hinunter. Als ich das Brennen der Flüssigkeit in meinem Hals spürte, entspannte ich langsam. Vielleicht hatten sie recht. Es ist nur ein Herstellungsfehler gewesen. Niemand hat das Papier entfernt, bevor man mir den Keks gegeben hatte. Jeder hatte sich seinen Keks selbst ausgesucht. Doch als ich die besorgten Gesichter der anderen sah, als die Rechnung kam, da wusste ich, dass das nur ein Versuch war, positiv zu denken.

Mist. Ich habe keine Weissagung.

Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann hätte ich gelacht und die Kellnerin einfach um einen weiteren Glückskeks gebeten, denn was die Zukunft in Wirklichkeit für mich bereithielt, das hätte sich kein Mensch in irgendeiner Glückskeksfabrik ausdenken können.

***

Da ich noch niemals alleine irgendwohin geflogen war, machte sich eine Mischung aus Aufregung, Angst und Hoffnung in meinem Bauch breit. Für mich war alles neu – von den freien Getränken, über die unglaublich große Zahl an zur Auswahl stehenden Filmen auf dem Display in der Rückenlehne vor mir, bis hin zur bereitgestellten kratzigen Decke und der baumwollenen Schlafbrille. Sechs Stunden später landete ich in Dubai, wo ich ein paar Stunden totschlagen musste, bevor ich meinen Anschlussflug nach Bangkok nahm. Es war überwältigend, den riesigen Massen an Passagieren durch diesen gigantischen Flughafen zu folgen. Dieser Ort war unermesslich groß. Wie ich so mit meinem Rucksack auf dem Rücken und beschwingten Schritten durch diesen geschäftigen Flughafen spazierte, kam ich mir vor wie Macaulay Culkin in Kevin – Allein in New York. Meine Sinne wurden bombardiert mit teuren Düften aus Designerläden, und meine Ohren schnappten Gesprächsfetzen auf – alle in fremden Sprachen.

In meinem jetzt schon ausgebeulten Rucksack war kein Platz mehr, also wollte ich mir nichts kaufen. Ich entdeckte einen Computerbereich, in dem ich etwas Zeit mit einem letzten Check von Facebook vertreiben konnte. Ein paar entfernte Verwandte, die von meinen Eltern von meiner Reise erfahren hatten, wünschten mir alles Gute. Ich war überrascht, dass meine Eltern anderen davon erzählt hatten, da ich mir vorstellen konnte, wie peinlich es wäre, wenn das schon wieder nicht klappen sollte. Jetzt konnten sie stolz verkünden, dass ich mich von einer sitzen gelassenen Braut in die Zeichentrickheldin Dora, the Explorer verwandelt hatte. Als sie mich frühmorgens zum Flughafen gebracht hatten, war das Glückskeksfiasko unerwähnt geblieben. Dafür hatte es aber jede Menge Tränen, herzlicheUmarmungen und heftige Beschwerden über den reinen Wucher bei den Parkgebühren gegeben.

Aus den Lautsprechern dröhnte die Ankündigung eines Fluges, während ich mich durch meine Mails klickte. Inmitten von Online-Bingo-Werbung und Aufforderungen, Candy Crush zu spielen, befand sich eine Mail von Alex’ Mutter.

Liebe Georgia,

bitte ruf mich an, sobald Du diese Nachricht erhältst. Mir ist bewusst, dass Du wahrscheinlich weder mit mir noch mit meiner Familie ein Wort wechseln möchtest. Ich habe jedoch dringende Neuigkeiten, die ich Dir mitteilen muss.

Viele Grüße,

Ruth Doherty

Ich las die E-Mail dreimal. Warum zum Teufel schickte mir Alex’ Mutter E-Mails, und worüber wollte sie mit mir reden? Wir waren uns nie wirklich nahegekommen, und abgesehen von weitergeleiteten E-Mails mit teuren Kontakten und Dienstleistern von den Hochzeiten ihrer anderen Söhne, die wir buchen sollten (ohne Freundschaftspreise), hatte sie mich noch nie direkt kontaktiert. Man konnte uns kaum als Brieffreunde bezeichnen.

Eine weitere Lautsprecherdurchsage erregte meine Aufmerksamkeit. Das Boarding für meinen Flug hatte begonnen. Die Passagiere strömten in einer Reihe auf die lächelnden, perfekt zurechtgemachten Flugbegleiterinnen an den Türen direkt vor mir zu. Eilig begann ich, eine Antwort zu tippen, hatte jedoch Schwierigkeiten, mich zu entscheiden, wie ich eine Nachricht an die Mutter meines Exverlobten beginnen sollte. Da ertönte eine weitere Durchsage, die die wenigen verbliebenen Passagiere, mich eingeschlossen, anwies, sich sofort zum Gate zu begeben.

Ich entschied, egal, was es war, es musste sich um ein aufgebauschtes Drama handeln. Ich löschte den Entwurf, loggte mich aus und rannte zu der nun missbilligend dreinschauenden Flugbegleiterin. Sie schnappte sich meine Bordkarte, warf einen kurzen Blick auf meinen Reisepass und scheuchte mich den Gatewaytunnel hinab zum Flugzeug. Ich stürmte durch die Tür, betrat das Flugzeug und wurde von den genervten Gesichtern der anderen, bereits sitzenden Passagiere begrüßt. Betreten suchte ich mir meinen Platz und schnallte den Sicherheitsgurt fest.

Mit halbem Ohr folgte ich der Sicherheitsbelehrung und zwang mich, nicht mehr an die E-Mail zu denken. Von jetzt an musste ich in die Zukunft blicken.

Nächster Halt: Bangkok.

Kapitel 8

Fremdsein, das (Substantiv, Neutrum): sich in einem fremden Land oder einer fremden Kultur fehl am Platz fühlen, als wäre man ein Fisch auf dem Trockenen

„Georgia Green? Sind Sie Georgia Green?“ In der riesigen Ankunftshalle des Bangkoker Flughafens zupfte mir ein kleiner Thai-Mann am zerknitterten Ärmel.

„Ja, das bin ich“, sagte ich, erleichtert darüber, mir keine Mühe geben zu müssen, das Meer an selbst gebastelten, unleserlich beschriebenen Schildern entziffern zu müssen. „Sind Sie … ähm … Kit?“, fragte ich und suchte nach meiner Willkommen – Information.

„Ja, ich Kit und Sie Miss Green.“ Er zeigte mit einem knochigen Finger auf seine dünne Brust und stieß ihn mir dann in den Arm. „Kommen Sie.“ Ich nickte und hievte mir den Rucksack auf die Schultern. Sofort schrumpfte ich um ein paar Zentimeter, weil er so schwer war. Maries militärisch anmutenden, präzisen Packkünste in allen Ehren, kam es mir dennoch so vor, als hätte sich ein blinder Passagier darin eingenistet.

Wir verließen die klimatisierte Halle und traten hinaus in eine wesentlich stickigere Hitze. Kit ging voran zum Flughafen-Shuttle. Als ich den Haufen Schrott vor mir erblickte, nahm ich an, dass das thailändischer Humor war und dass das echte, klimatisierte Shuttle sich dahinter verbarg.

Dem war nicht so.

„Sie steigen ein. Geben mir Tasche“, wies er mich an und öffnete eine quietschende Tür. Augenblicklich stieg mir der Geruch nach Hunden und abgestandenem Zigarettenrauch in die Nase. Im dunstigen Mief konnte man kaum die am staubigen Armaturenbrett angebrachten, goldenen Plastikbuddhas erkennen. Dafür, dass er ein derart spindeldürrer Mann war, hatte Kit überraschend viel Kraft. Mit einer geübten Bewegung befreite er meinen schmerzenden Nacken und die Schultern von meinem Rucksack. Noch bevor ich am Mief-Mobil herumnörgeln konnte, war Kit auf den Fahrersitz gesprungen, hatte das Radio lauter gedreht und winkte mich nun mit seinen dünnen Händen und den langen braunen Fingernägeln hinein.

„Ich weiß nicht, das sieht nicht gerade sicher aus. Ich hatte etwas Neueres erwartet und ein wenig … ähm … Kühleres?“, rief ich ihm über die Musik hinweg zu und wedelte mir mit meinem Reisepass Luft zu. Nach sechzehn Stunden Anreisezeit war ich nicht für Scherze aufgelegt.

„Das sehr gut Auto!“ Kit gab sich Mühe, die Fensterscheiben schnell runterzukurbeln. „Hat Klimaanlage.“ Er lächelte verschlagen.

Unsicher biss ich mir auf die Lippen. Ich war noch nicht einmal eine Stunde hier, und schon merkte ich, wie mir der Mut schwand.

„Mai pen rai!“, blaffte er.

Ich hatte keinen Schimmer, was er sagte, doch mir wurde klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Also griff ich nach dem lose hängenden grauen Sicherheitsgurt mit den verdächtig aussehenden Schmutzflecken und kletterte ins Auto. An meiner Baumwollhose klebten schwarze Hundehaare, und zu meinen Füßen knisterten Chipstüten.

Willkommen in Thailand.

„Und, ähm, wo sind die anderen von der Tour?“, rief ich, als wir losfuhren. Der Lärm des uralten Motors lieferte sich nun ein Duell mit dem trällernden Sänger im Radio.

„Sie treffen in Hotel. Sie wohnen in Bangkok zwei Nacht, dann wir fahren. Sehr schön Hotel. Sehr schön Frau“, antwortete er und leckte sich die Lippen. Weiß Gott, wie er es schaffte, nicht mit dem großen Laster zusammenzustoßen, denn er glotzte über den mit kunstvoll aufgefädelten Holzperlen verzierten Rückspiegel auf meine Brüste. Ich schloss schnell die Augen und klammerte mich an die klebrige Armlehne.

Er zuckte nicht mal mit der Wimper.

Um mich von der Übelkeit abzulenken, die Kits furchtbarer Fahrstil in mir hervorrief, starrte ich aus dem verdreckten Fenster. Vor uns erhoben sich riesige, glatte Wolkenkratzer, und es lagen nur noch Reste verlassenen Ödlands zwischen uns und dem Zentrum der Hauptstadt. Die moderne Autobahn war gespickt mit großen Reklametafeln, auf denen in thailändischer Schrift der König angepriesen und Limonade beworben wurde. Als wir uns einer Mautstation näherten, wurden wir etwas langsamer. Kit sagte, ich müsse ihm vierhundert Baht für die Mautgebühr geben, was verdächtig mehr war als die hundertfünfzig Baht, die in den Reiseführern genannt worden waren, die ich vor meiner Ankunft verschlungen hatte. Mir war zu heiß, und ich war zu genervt, um seine Forderung infrage zu stellen, also zog ich die weichen, zerknitterten Banknoten hervor und sah mir meinen Chauffeur genauer an. Er war älter, als ich gedacht hätte, bestimmt Ende vierzig, und mit seiner beginnenden Halbglatze im schwarzen Haar, der runzligen braungebrannten Haut und den unglaublich großen Nasenflügeln hätte er ein entfernter Verwandter von Mr. Burns von den Simpsons sein können.

Na ja, zumindest würde es nicht nur nächtelanges Raven geben, und mit dem Alter kommt bekanntlich auch die Weisheit.

Nur wenig später wechselten wir von der Autobahn auf überfüllte Straßen. Mich überrollte eine Reizüberflutung aus einer Kakophonie aus Hupen und Gebrüll, grellbunten Läden, Geruch nach Frittiertem, verwahrlost aussehenden Straßenkindern und silberglänzenden Hochhäusern. Dieser Ort war tatsächlich eine Mischung aus Traditionellem und Modernem, arm und reich, stolzem Kulturerbe und schmierigen Sex-Shows. Wir fuhren ein paar ruhigere Straßen entlang, vorbei an einem McDonald’s und einem Subway. Das Rucksacktouri-Ghetto, in dem wir anhielten, hätte sich ebenso gut zu Hause in England befinden können, von der Sprache und den frittierten Insekten einmal abgesehen. Die habe ich zu Hause noch nie auf einem Markt neben einem Stand mit Blutwurst von Bury gesehen.

Das Hotel nannte sich Happy Endings. War das nicht eine beschönigende Umschreibung für ein … ähm … Geschenk von einer Prostituierten? Ich war mir sicher, dass ich Alex’ besten Freund Ryan darüber lachen gehört hatte, als sie über Alex’ Junggesellenabschied in Amsterdam gequatscht hatten. Mein Junggesellinnenabschied war eine gesittete Angelegenheit gewesen. Francesca hatte darauf bestanden, alles so zu organisieren, wie es die „Familientradition“ war, was Marie ganz abscheulich gefunden hatte. Wir hatten den Tag in einem so dermaßen teuren Spa in Cheshire verbracht, dass es einem Tränen in die Augen trieb. Nirgends war ein aufblasbarer Pimmel oder ein Warnschild vor Fahranfängern zu sehen gewesen. Fran und Ruth, die sich eher wie ein Schwiegermonster als eine Schwiegermutter verhalten hatte, verbrachten die gesamte Zeit damit, über die anderen Gäste herzuziehen, während ich versuchte, Marie zu erklären, warum der Tag auch nicht schneller vorbeigehen würde, wenn sie den beiden eine verpasste. Wenn ich daran dachte, wie langweilig und trübselig diese sogenannte letzte Nacht der Freiheit gewesen war, dann könnte ich fast im Boden versinken. Tja, die langweilige Georgia gibt es nicht mehr.

Das zwischen einem Miniladen namens 7/11 und einer mit Graffiti überzogenen Gasse gelegene Hotel hatte dringend ein wenig Zuwendung nötig. Ich folgte Kit in das karge Foyer, wo ein gelangweilt wirkender thailändischer Teenager auf seinem Handy spielte, bis Kit sich räusperte und er unsere Ankunft bemerkte. Er sprang auf und verzog sein junges Gesicht zu einem künstlichen Lächeln.

„Willkommen im Happy Endings“, sagte er wie ein Papagei auf, nachdem Kit die Augen verdreht und ihn in schnellem Thai zurechtgewiesen hatte.

„Sie gehen in Zimmer, und später wir treffen um acht zu Willkommen-Dinner. Nicht spät kommen“, sagte Kit schnell.

Er übergab mir die Zimmerschlüssel, während der spindeldünne Teen mühelos mit meinem Rucksack über einer Schulter davonhopste. Ich nickte Kit kurz zu und sprintete hinter dem jungen Kerl in die dunklen, aber immerhin kühlen Korridore her. Zeit für ein kleines Nickerchen müsste ich noch haben. Und in Anbetracht meiner käseweißen Arme, auf denen die Schicht aus Schweiß und Schmutz von der Reise deutlich sichtbar war, auch für eine dringend nötige Dusche. In der klammen Luft des Mehrbettzimmers hing ein leichter Geruch nach Erbrochenem. Eine uralte, an der Wand brummende Klimaanlage verteilte ihn weiter im Zimmer. Es gab ein Einzel- und ein Doppelstockbett, die durch einen kleinen, abgestoßenen Mahagoni-Nachttisch voneinander getrennt waren. Auf dem orangefarbenen Paisleymuster der Bettdecke hockte eine aus fleckigen weißen Handtüchern gefaltete Ente, die stolz in die Umgebung schaute. Ihr schlaffer Schnabel deutete auf ein kleines blindes Fenster gegenüber. Durch das Metallgitter blickte man auf eine Ziegelwand hinaus. Durch die kaputten Holzleisten drang der entfernte Lärm von Autohupen und lauten Rufen. Trisha hatte recht gehabt, das war nicht gerade Luxus.

Ich setzte mich auf das Bett und versuchte das Paar zu ignorieren, das sich unter dem Fenster anschrie. Ich zog die Knie ans Kinn und schloss die Augen. Ich war in Bangkok. Es fühlte sich nicht real an, hier zu sein. Na gut, dann war es eben nicht das Hilton, und dieser Kit-Typ schien ein wenig zwielichtig zu sein, doch ich hatte getan, was ich mir vorgenommen hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich den Mumm in den Knochen gehabt, eine Entscheidung zu treffen und dabei zu bleiben. Eine Mischung aus Aufregung und Angst machte sich in mir breit.

„Hier. Siehst du, Zimmer sechs.“

„Nein, auf dem Schlüssel steht Zimmer neun.“

„Du hältst ihn falsch rum, du Idiot.“

„Tu ich nicht. Sperr einfach auf!“

Im Korridor hörte ich zwei hohe weibliche Stimmen diskutieren, was mich wieder in die Gegenwart holte. Plötzlich schwang die Tür auf, und zwei der hübschesten Frauen, die ich je gesehen habe, platzten herein. Langes weißblondes Haar fiel der einen über die zarten Schultern und kastanienbraune Wellen der anderen.

„Oh Mann, Instandhaltung hat für diese Leute wohl null Bedeutung!“ Die Brünette schaute finster die Tür an, bevor sie registrierte, dass ich mich im Zimmer befand. „Oh, hi“, sagte sie mit einer Begeisterung, die man für einen Scheidenabstrich aufbrachte.

„Hi, hallo, ähm, ich bin Georgia. Ich schätze, wir sind Zimmergenossen!“, sagte ich viel zu überschwänglich und ging unbeholfen auf sie zu, um ihr die Hand zu geben. Offensichtlich zeigte all der Kaffee, den ich mir auf der Reise hierher reingeschüttet hatte, seine Wirkung.

Sie ignorierte meine Geste und legte sich die schmale Hand auf die Brust:

„Amelie“, und dann zeigte sie auf ihre Freundin. „Luna“, sagte diese gedehnt mit kanadischem Akzent. Zumindest schaffte sie es, halb zu lächeln, bevor beide ihre klobigen Koffer ins Zimmer rollten und dabei meinen Rucksack umwarfen.

„Okay, ich hab’s zuerst gesehen.“ Amelie warf sich auf das Bett, auf dem ich eben gesessen hatte. Ihr gemustertes Maxikleid über der schlanken Figur bauschte sich auf und bedeckte mein Handgepäck.

„Oh, ich …“

„Cool, Doppelstockbetten“, unterbrach mich Luna und drängte an mir vorbei, um am fleckigen Holzrahmen hochzuklettern und dann wie eine Siebenjährige bei einer Pyjamaparty einen Bauchklatscher auf das obere Bett zu machen.

„Ich weiß nicht, wie stabil …“ Bevor ich den Satz beenden konnte, ertönte ein lautes Krachen, und die Matratzenfedern quietschten dumpf. Lunas blasser Körper klappte zusammen.

„Aaaahhh!“, schrie sie.

Amelie schüttelte sich vor Lachen. „Oh Goooott, dich kann man nirgendwohin mitnehmen.“

„Hilf mir! Lach nicht einfach nur. Georgina, mach was“, rief Luna und klang wegen der schmuddeligen Bettdecken, die sie völlig verschlangen, etwas gedämpft. Das Bett hatte sich so tief gesenkt, dass es beinahe das untere Bett berührte.

„Ich heiße Georgia, aber egal“, murmelte ich und kletterte schnell die Leiter hoch, während Amelie sich den Bauch vor Lachen hielt und halb auf dem Boden lag.

„Wie auch immer, hilf mir einfach!“ Luna zappelte herum wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag. Ich griff nach ihrer beinahe durchsichtigen Hand und zog sie hoch. Sie sprang auf die Füße und fing an, sich den Staub von ihren hellblauen Caprihosen und dem schwingenden, durchsichtigen Top zu klopfen. „Wenn ich mich ernstlich verletzt haben sollte, dann werd’ ich die wegen allem aber so was von verklagen!“, sagte sie wütend und marschierte ins Bad davon, wobei sie über Amelie drübersteigen musste, die sich immer noch totlachte.

„Denk nicht mal dran, mich zu fragen, ob du bei mir im Bett schlafen kannst“, rief Amelie ihr hinterher. „Georgina, das wird ganz dein Vergnügen sein.“

„Ich heiße Georgia“, sagte ich leise. „Ihr beiden kennt euch also schon?“

Amelie stand über ihren Koffer gebeugt da und versuchte, den Reißverschluss zu öffnen. „Ja, unglücklicherweise.“

„Hey! Du meinst wohl glücklicherweise“, rief Luna aus dem Badezimmer. „Und dass ich mir mit jemandem ein Bett teile, kannst du auch gleich vergessen.“

Ich warf einen Blick auf das zerstörte Bett, das auch nicht mehr zu reparieren war. „Vielleicht sollten wir an der Rezeption nach einem anderen Zimmer fragen?“

„Machst du Witze?! Das werden die uns in Rechnung stellen und weiß Gott, was sonst noch oben drauf. Und bevor du weißt, was passiert, bezahlen wir die ganze Renovierung von diesem Dreckloch.“

„Na ja, genau genommen war es Luna, die das Bett kaputt gemacht hat“, sagte ich ruhig, weil ich nicht für den Schaden zahlen wollte, den ihr übereifriger Bauchklatscher verursacht hatte. Schließlich war mein Budget klein. Totenstille senkte sich im Zimmer, und ich spürte, wie ich rot anlief, während Amelie mich aus verengten Augen anstarrte.

„Georgina, wenn man sich ein Zimmer teilt, dann teilt man alles miteinander. Im Team gibt’s kein Ich.“

Ich nickte schnell und richtete den Blick auf meine staubbedeckten Füße. „Ja, na klar.“

„Wir sagen einfach, dass es schon so war, als wir angekommen sind, okay?“, blaffte Amelie und fuhr dann damit fort, sich durch den Klamottenberg in ihrem Koffer zu wühlen.

Ich kaute auf meinen Fingernägeln herum, als Luna aus dem Bad kam und angesichts der Zerstörung, die sie verursacht hatte, nur die Augen verdrehte. „Wenn die hier so schlechte Möbel bauen, können wir doch nichts dafür.“

„Okay, Georgina?“, bedrängte mich Amelie und funkelte mich an.

Warum war ich nur so ein Gutmensch? Es ging mir gegen den Strich, unehrlich zu sein, doch mit dieser Einstellung würde ich mir ganz eindeutig keine Freunde machen. „Okay“, sagte ich leise.

***

Nachdem ich mir aufgrund des wahnsinnig schwachen Tröpfelstrahls aus kaltem Wasser das längste Duschbad der Welt gegönnt hatte, fühlte ich mich sauberer, wacher und dazu bereit, den Rest der Reisegruppe zu treffen. Die beiden Mädels hatten die Dusche zuerst in Beschlag genommen, sich dann umgezogen – Gott sei Dank ohne weiteren Schaden zu verursachen – und waren ohne mich losgezogen, um das WLAN-Passwort herauszufinden. Ich hatte mir schwarze Leinenhosen angezogen, dazu ein lockeres graues ärmelloses Top und schwarze Zehensandaletten, in denen ich meine frisch lackierten Zehennägel zeigen konnte. Meine Haare lagen in einem einfach geflochtenen Zopf über der Schulter, und ich trug ein wenig Make-up auf, weil ich mich weiß wie die Wand fühlte.

Ich zwang mich, ganz selbstbewusst zur Rezeption zu gehen, obwohl ich mir aus Angst davor, jemanden zu treffen, innerlich fast in die Hosen machte. Trisha hatte gesagt, dass es eine Mischung aus Frauen und Männern im Alter zwischen achtzehn und vierzig sein würde, die die thailändische Kultur erleben und Erfahrungen machen wollten, an die sie sich ein Leben lang erinnern würden. Das Problem war nur, ich war nicht sonderlich gut darin, neue Leute kennenzulernen. Ich machte mir immer zu viele Sorgen darüber, ob mein Händedruck fest genug war oder ob ich den Blickkontakt lange genug hielt, weshalb ich zum Ausgleich wie ein Schraubstock zugriff und Glotzaugen machte.

Über die beigefarbenen Sofas nahe dem Haupteingang verteilt saßen einige Menschen, die ebenfalls unsicher wirkten. Kit überblickte sie und hakte Informationen auf einem Klemmbrett ab. Ich machte eine lahme Handbewegung irgendwo zwischen einem Winken und einem Hallo. Loser. Amelie und Luna schauten gebannt auf ihre Handys. Ständig wischten sie über die Displays und ignorierten die Leute um sie herum.

„Leute – das Miss Georgia. Sie auch auf Tour.“ Kit winkte mit seinem dünnen Arm, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Ich lächelte verlegen und setzte mich in den freien Sessel. „Sie spät. Und jetzt, wir uns kennenlernen. Jeder stehen auf, sagen Namen, wo ist her und warum hier.“ Er blickte mich finster an.

Als Erstes standen drei stramme Jungs in Neonwesten und Surfshorts auf, die eher an den Strand von Ibiza passten als in eine Hotellobby in Thailand. Mit ihrer Figur, den Ringerohren und den Narben auf ihren geschorenen Köpfen sahen sie wie Rugbyspieler aus.

„Jay, Sean und Magnet“, erklang eine tiefe Stimme, und sie klopften sich jeweils stolz auf die Brust zur Vorstellung.

„Magnet?“, fragte Kit.

„Klar Mann, weil er so ein Frauenmagnet ist – er zieht sie alle an, oder Jungs?“ Sie grölten alle ganz männlich. „Wir sind alle einundzwanzig, aus Essex und hier, um Party zu machen – Weiber knallen und einfach die Sau rauslassen! Yeah, Alter.“

Ach … du … Scheiße.

Nachdem sie ihre Chest-Bumps gemacht hatten, fielen sie zurück aufs Sofa.

Als Nächstes stand Luna auf und zog Amelie am Arm mit sich, um sie von ihrem Handy loszueisen. Amelie seufzte und stand auf, als koste es sie alle Kraft der Welt. Dabei ignorierte sie die drei Rugbytypen, die sie unverhohlen musterten. Eine Mischung aus Nervosität und Langeweile huschte über ihre makellosen Gesichter. Sie sahen wirklich wie die lebendig gewordenen Figuren Elsa und Anna aus dem Film Frozen aus, und ebenso frostig schauten sie drein. „Luna und Amelie. Wir sind beide neunzehn, aus Edmonton in Kanada und hier, weil wir, ihr wisst schon, die Welt sehen wollen.“ Luna gähnte, als der minderjährige Rezeptionist schwankend mit einem Tablett leuchtender orangefarbener Getränke mit kleinen Cocktailschirmchen zur Gruppe herüberkam. Die drei Jungs waren ganz aus dem Häuschen.

„Bitte schön.“ Ein dünner Arm reichte mir ein Glas, bevor sein Besitzer sich als Nächstes erhob.

„Danke.“ Ich nahm den intensiv riechenden, fruchtigen Cocktail von dem Mann entgegen. Er hatte feine, feldmausartige Züge, und die dünne Drahtgestellbrille ließ seine schmächtigen Umrisse noch kleiner wirken. Die Rugby-Jungs könnten ihn wahrscheinlich zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen.

„Keine Ursache. Ich glaube jedoch kaum, dass es sicher ist, den zu trinken“, erwiderte er mit starkem französischen Akzent und wischte den Glasrand mit einer Serviette ab, bevor er vorsichtig daran nippte. Das Mädel neben ihm, die ebenfalls wie ein schüchternes Mäuschen wirkte, holte eine kleine Flasche Handdesinfektionsgel aus ihrer Tasche. Sie spritzte ihm einen Klecks auf die blassen, geäderten Hände. Er nahm es dankbar an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Hallo alle miteinander. Mein Name ist Pierre, oder Peter für euch Englischsprachigen. Ich bin zwanzig Jahre alt, und das ist meine Freundin Clare, sie ist neunzehn.“ Clare lächelte und winkte, wobei ein zartes Armkettchen mit Silberanhängern leise an ihrem Handgelenk klimperte. „Wir sind hier für ein wenig, wie sagt man, leichtes Vergnügen, bevor ich einen sehr ernsten neuen Job anfange.“

„Okay, Zu-spät-Frau – du jetzt“, unterbrach Kit Pierre und funkelte mich an. Pierre wischte irgendwelche Flusen vom durchgesessenen Polster fort, bevor er sich steif setzte.

Ich holte tief Luft und stand auf. „Ähm … hi, ich heiße Georgia. Ähm … ich bin achtundzwanzig und aus Manchester, England“, sagte ich fast im Flüsterton und versuchte, mich von Amelie und Luna nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, die mich beide von oben bis unten musterten. „Ich bin hier, weil ich gern neue Leute kennenlernen und neue Erfahrungen machen möchte und einfach ein bisschen …“

„Okay, sehr gut“, schnitt mir Kit das Wort ab, also sank ich schnell zurück in meinen Sessel. Ich fühlte mich wie ein deplatzierter Elternteil, der zu früh zur Party seines sechzehnjährigen Kindes zurückgekommen ist. Die Möglichkeit, dass ich bei der Tour die Älteste sein könnte, war mir nicht einmal in den Sinn gekommen.

„Zuerst wir machen Dinner in sehr schöne Ort und dann wir gehen zu Khao-San-Straße.“ Kits Worte wurden übertönt von dem Klirren der leeren Gläser, die die Jungs lautstark auf den klebrigen Couchtisch krachten und von den heulenden Lauten, die sie von sich gaben. „Morgen wir haben Tag in Bangkok. Sehr viel zu tun. Dann wir fahren Zug zu Insel. Nicht spät kommen.“ Die Gruppe machte sich bereit aufzubrechen, und er wandte sich ab.

Ich sprang von meinem Sessel auf, um ihn einzuholen. „Entschuldigen Sie bitte, Kit, Sie haben etwas von einer Insel gesagt? Ich dachte, wir fahren zuerst nach Chiang Mai.“

„Ja, das richtig“, sagte er und pulte sich mit dem Zahnstocher ein kleines gelbes Korn aus den fleckigen Zähnen.

„Aber die Inseln sind im Süden Thailands und Chiang Mai ist im Norden.“

„Ja, zuerst wir fahren dorthin, dann zurück“, antwortete er ungeduldig, wahrscheinlich weil er die Unterhaltung beenden und Feierabend machen wollte.

„Aber mir wurde eine andere Route gegeben.“ Mein Atem beschleunigte sich, denn der Plan, dem ich eigentlich folgen sollte, löste sich vor meinen Augen gerade in Luft auf.

„Plan anders. Wir fahren, neuer Plan. Neuer Plan sehr gut. Mai pen rai.“ Kit hauchte mir abgestandenen Zigarettenrauch ins Gesicht, drehte sich um und ging sich die Eier kratzend davon. Ich blieb zurück und warf dem Teenager an der Rezeption einen bittenden Blick zu.

„Wissen Sie, warum der Plan geändert wurde?“ Ich versuchte ruhig zu bleiben und zog den ausgedruckten Reiseablauf aus der Hosentasche, den Trisha mir gegeben hatte. Tempel und Kochkurse waren darin aufgeführt und ich hielt ihn mit zittrigen Händen fest. „Und was bedeutet mai pen rai?“

Mai pen rai heißt kein Problem. Er sagt, machen Sie sich keine Sorgen.“ Der junge Mann studierte den zerknitterten Ausdruck und antwortete in perfektem Englisch. „Es tut mir leid, aber das sieht wie ein alter Reiseplan aus. Kit hat das Familienunternehmen übernommen und vieles an der Tour verändert.“

„Aber … aber … wissen Sie, was wir die folgenden Tage tun werden?“ Ich hatte den Plan auswendig gelernt, um meine Nerven zu beruhigen. Ich wusste, wie hilfsbedürftig und überdreht ich klang, doch so weit weg von zu Hause zu sein, niemanden zu kennen und nicht zu wissen, wo wir uns an welchem Tag befinden würden, drehte mir vor Angst fast den Magen um.

„Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin mir sicher, Sie werden trotzdem eine Menge Spaß haben, aber es ist schwierig, mit Kit zu diskutieren. An Ihrer Stelle würde ich einfach das Beste aus der neuen Tour und unserem wunderschönen Land machen, auch wenn es vielleicht nicht das ist, was Sie sich erhofft hatten.“ Sein entschuldigendes Lächeln trug kaum etwas zu meiner Beruhigung bei.

Als ich bemerkte, dass die Gruppe das Hotel verließ, dankte ich ihm, nahm mir vor, am nächsten Tag Trisha anzurufen und das zu klären, und eilte dann schnell den anderen hinterher, weil ich nicht zurückgelassen werden wollte.

Beim Abendessen in einem touristischen Thai-Restaurant in der Nähe hatte ich zwischen Pierre und Clare gesessen. Wir hatten uns über belanglose Dinge unterhalten, während ich versuchte, weder mit Magnet noch mit Jay oder Sean Blickkontakt herzustellen. Die drei steckten sich bei jedem unerträglich lange dauernden Gang Essstäbchen in die Nasen und machten Walrossgeräusche. Die einzige Person, mit der Luna und Amelie ein Wort wechselten, war die missmutige Kellnerin bei der Bestellung. Ansonsten hielten sie die Gesichter auf ihre Handys gerichtet. Das ist der erste Abend, alle sind ein wenig müde und nervös, sagte ich mir und dachte daran, wie schwer die nächsten sechs Wochen sein würden, wenn jede Mahlzeit so unangenehm verliefe wie diese. Das Restaurant befand sich mitten in der Khao-San-Straße, die wir erkundeten, nachdem wir uns die Rechnung geteilt hatten.

Im ursprünglichen Reiseplan war ein Tagesbesuch dieses Touristen-Mekkas geplant gewesen, was mir sehr recht gewesen war. Nach Sonnenuntergang wollte ich nicht wirklich hier sein. Der knallig grelle Straßenzug aus blinkenden Neonlichtern schmerzte mir in den vom Jetlag müden Augen, ein Durcheinander aus verschiedenen Songs plärrte wie Folter aus jeder Bar, und der Geruch nach Nudeln, frittiertem, fettigem Huhn und süßen, übelkeitserregenden Cocktails stieg mir in die Nase. Ladyboys spazierten vorbei und zwinkerten den Männern der Gruppe zu. Schmuddelige Straßenkinder rannten umher und bettelten um ein paar Münzen.

„Ich lass mich volllaufen!“, rief Magnet und klopfte sich auf die von Adern durchzogene Brust. Er fing an, Affengeräusche zu imitieren. Vielleicht war das hier eine Art wilder Paarungsruf, denn Unmengen von Barmädchen mit glitzernden Stetson-Hüten, die an schnauzbärtigen fetten weißen Männern hingen, drehten sich verführerisch um. Pierre und Clare sahen so aus, als würden sie es bereuen, dass sie keine sterilen weißen Atemmasken eingepackt hatten, um sich vor dem Einatmen dieser Verkommenheit zu schützen. Lunas weißblondes Haar stach in der nächtlichen dreckigen Straße hervor wie ein Leuchtturm. Ich konnte mir vorstellen, dass Amelies geschockter Gesichtsausdruck meinen eigenen widerspiegelte.

„Wir gehen jetzt zurück.“ Clare klammerte sich an Pierre, als wäre sie ein Kind am ersten Schultag, das sich nicht unter all die fremden Gestalten mischen wollte.

Sie waren bereits die halbe Straße zurückgelaufen, als ich meinte: „Oh, okay.“ Ich wollte auch jemanden haben, an den ich mich klammern konnte.

„Scheiß drauf! Wir verziehen uns auch.“ Amelie und Luna stürmten davon, nachdem ein betrunkener Rasta-Typ angefangen hatte, Lunas Arm abzulecken.

„Ähm … ich glaube, ich gehe auch zurück“, sagte ich zu Jay, der gerade von einer alten Bettlerin belästigt wurde, die versuchte, ihm einen Holzfrosch zu verkaufen, auf dem ein quak-ähnliches Geräusch erzeugt wurde, sobald sie einen dreckigen Stab über den Rücken rieb.

„Ach komm, einen kannst du doch mittrinken, oder? Wir sind verdammt noch mal in Bangkok, Baby!“ Er griff meinen Arm und schob die Bettlerin mit der anderen Hand beiseite, woraufhin sie etwas vor sich hinbrabbelnd davonhumpelte und auf den mit Abfall übersäten Boden ausspuckte. Die schwindelerregenden Lichter, die namenlosen Gesichter und die ständige Bewegung ließen mich nur schwer die Orientierung behalten.

Na ja, sagte ich mir, in der Gruppe ist man sicherer, und die Jungs mussten genauso erschöpft sein wie ich. Ein Drink konnte nicht schaden.

Oder doch?

Kapitel 9

Trinkfreudig (Adjektiv): versessen sein auf alkoholische Getränke

Jemand hatte beschlossen, die Zimmertür als Trommelersatz zu nutzen, und mein Kopf brummte im Takt des ununterbrochenen Hämmerns dieses ungewollten Weckers. Ich erhob mich vom Boden, und ein schneidender Schmerz zog sich durch meinen Oberkörper. Als ich weiß Gott um welche Uhrzeit am Morgen ins Zimmer getorkelt war, hatten sich Amelie und Luna bereits die Betten geschnappt, was bedeutete, dass ich das Bettzeug vom kaputten Bett hatte runterholen und mit einem Handtuch als Kopfkissen auf dem Boden schlafen musste.

Scheiße. Ich hatte mir den Zeh am Mülleimer gestoßen und fiel rückwärts auf Amelies leeres, ungemachtes Bett. Dann humpelte ich zur Tür, öffnete sie und starrte in Kits verärgertes, runzliges Gesicht.

„Was??“

„Sie spät! Sie kommen Frühstück und wir gehen“, fuhr er mich an. Eine Sekunde lang hielt er den Blickkontakt, bevor seine Augen ein paar Zentimeter tiefer sanken. Langsam verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln.

„Okay, okay, ich bin in zehn Minuten unten.“ Ich schloss schnell die Tür, und während ich durchs Zimmer schlurfte, fragte ich mich, warum mich die Mädels nicht geweckt hatten, damit wir zusammen frühstücken gehen konnten. Im Gehen fiel mir mein Anblick im Spiegel auf. Meine rechte Wange zierte ein attraktiver Kissenabdruck, und meine Haare sahen wie das perfekte Zuhause für eine Amselfamilie aus. Ein paar Knöpfe meines ärmellosen Tops waren aufgegangen und mein angegrauter BH war zu sehen. Super. Genau das, was ich nicht gebrauchen konnte – zu den Wichsvorlagen von diesem Perversling Kit hinzugefügt zu werden. Ich tauschte mein Top gegen ein sauberes aus, sprühte mir ordentlich Deo unter die Arme, zog Khakishorts und stabile Reisesandalen an, in denen ich aussah, als wäre ich in einer Ü-50-Wandergruppe, und war bereit, mich zu den anderen zu gesellen.

„Morgen“, krächzte ich. Meine Sonnenbrille schien keinerlei Hilfe gegen die blendende Helligkeit im Frühstückszimmer zu sein.

„Na endlich. Wir haben schon auf dich gewartet“, schimpfte Amelie mit dem Mund voll Rührei. „Du solltest vielleicht was essen, und dann können wir los.“ Mit ihrem gemusterten T-Shirt, den abgeschnittenen Jeans, den am Hinterkopf perfekt geflochtenen Haaren und dem frischen Duft nach Apfelduschgel, der zu mir herüberwehte, wirkte sie wie aus dem Ei gepellt. Aus ihrem verkniffenen Gesicht schlussfolgerte ich, dass ich nicht die Einzige war, die registrierte, wie streng ich riechen musste – der schnelle Sprühstoß Deodorant hatte meinen Mief nicht ganz überdeckt.

„Außer Toast bekomme ich nichts runter“, stöhnte ich, bevor ich mir vorsichtig eine Tasse warmen Kaffee am Büfett einschenkte und mich langsam hinsetzte. Niemand aus der Gruppe grüßte zurück – sie sahen mich nicht einmal an.

„Oh, da ist sie ja“, sagte Sean grinsend und lehnte sich in seinem Plastikstuhl zurück.

„Wie geht’s deinem Nippi?“, fragte der Typ rechts neben ihm, das war definitiv Jay, und kniff sich in die Brustwarze.

„Was?“ Ich versuchte, den Frosch im Hals loszuwerden, und fürchtete für den Bruchteil einer Sekunde, dass mein Mageninhalt auch gleich hochkommen würde. Mann, war ich vielleicht fertig.

„Mit uns nimmst du’s nicht noch mal auf, was?“, johlten sie, während die anderen am Tisch auf ihr halb aufgegessenes Frühstück starrten.

„Was meint ihr damit?“

Die Jungs vergingen fast vor Lachen.

„Schön, auch egal.“ Ich schüttelte langsam den Kopf und beschloss, sie zu ignorieren.

Luna stupste mich an, die Augen groß wie Untertassen. „Du kannst dich echt nicht erinnern?“ Ihre Stimme klang sogar noch zarter und feenartig entrückter als sonst.

„Nein … an was? Jetzt krieg ich langsam Panik.“

„Bevor du runtergekommen bist, haben alle darüber gesprochen. Scheinbar warst du gestern sehr betrunken.“

„Mir war nicht klar gewesen, wie stark Thai-Bier ist, bis ich mir heute Morgen am liebsten den Schädel aufgerissen und mein geschrumpftes Gehirn herausgenommen hätte. Ich kann mich an so gut wie gar nichts erinnern.“

„Na, vielleicht ist das auch besser so. Die anderen glauben nämlich, dass du dich mit dem Haufen dort angefreundet hast“, schaltete sich nun Amelie ein und zeigte auf die drei Esel am Tischende.

„Oh Gott! Bitte sag mir, dass ich mit keinem von denen was angefangen habe“, stöhnte ich und verfluchte die Shots, die wir in der netten Karaoke-Bar getrunken hatten – was zufällig auch das letzte war, woran ich mich erinnern konnte.

„Nein, ich glaube, dass du sogar im Vollrausch noch klug genug gewesen bist, deine Unterhose anzubehalten, besonders bei den Vollidioten da. Aber du hast eine Wette mit denen abgeschlossen, und sie behaupten, du hast verloren“, sagte Amelie.

„Worum haben wir gewettet? Was hab ich verloren?“ Mir sank das Herz, und ich versuchte, mich mit aller Kraft zu erinnern. Einzelne Schnipsel blitzten in Technicolor inklusive Surround-Sound auf.

Wie ich mit einem kahl werdenden Mann schlecht zu Karma Club tanzte. Er hatte seine speckigen Hüften in Richtung meiner kreisen lassen und seinem Lallen nach zu urteilen, hätte er Amerikaner sein können. Wie ich für die drei Sportskanonen mit einem aufblasbaren Delphin in der Hand als Background-Tänzerin auf einer wackligen Bühne stand, während sie einen Oasis – Song ruinierten. Hübsche Barmädchen, die auf wackligen Barhockern sitzend und gähnend Vier Gewinnt spielten und dabei ihre Silikonbrüste rausstreckten. Wie ich mit aufgeschlagenen Knien auf dem Fußweg saß, was das Resultat vom uneleganten Abgang von der zuvor erwähnten Bühne gewesen sein musste. Sich gegenseitig das Herz ausschütten mit einem schlanken Thai-Mann, oder Frau (oder beides?), der oder die mir Viagra zum Kauf anbot.

Ich schloss die Augen, versuchte mich zu konzentrieren und zwang mich, mich an mehr zu erinnern. Noch nie war ich mit so einem schlimmen Kater aufgewacht, und noch nie im Leben hatte ich einen Filmriss gehabt. Mit der gleichen Trägheit, mit der ich meinen Kopf bewegte, fiel mir nach und nach alles wieder ein. Ich hatte einen der drei Esel, wahrscheinlich Sean, zu einem Trinkspiel herausgefordert. Offensichtlich beflügelt von den Shots und ermutigt durch einige unglaublich billige Cocktails voller künstlicher Geschmacksverstärker, hatte ich geglaubt, gewinnen zu können. Dabei hatte ich vergessen, dass er damit geprahlt hatte, der Startrinker seines Rugbyteams an der Uni zu sein.

„Ihr habt gewettet, dass er sich die Brustwarze piercen lässt, wenn du gewinnst, und wenn er gewinnt …“, Amelie hielt inne, während ich ganz bewusst meine Aufmerksamkeit zum Futter meines BHs lenkte, „dann pierct du dir deine“, beendete sie den Satz mit einem Blick, der sowohl tiefe Besorgnis als auch große Belustigung ausdrücken konnte.

Ich eilte zur Damentoilette. Aus dem verschmierten Spiegel starrten mich blutunterlaufene Augen an. Mit einem Rums schloss ich die Tür der Toilettenkabine, zog mein Top aus und öffnete den BH, in der Hoffnung, dass Amelie unrecht hatte.

Nein.

Die Brustwarze meiner kleinen, milchweißen linken Brust sah entzündet aus. Die gekräuselte Haut um den glänzenden Silberstab herum war rot und wund. Ach du heilige Scheiße.

Inzwischen ließ die Wirkung des Alkohols und des Schocks nach, und meine Brustwarze fing an zu brennen. Sie war zu sehr entzündet, um sie ohne Schmerzen berühren zu können, und nässte ein wenig. Weiß Gott, wie es um die Hygiene in dem Piercingstudio gestanden hatte. Ich setzte mich auf den Toilettendeckel und presste mein Gesicht gegen die kühlen Fliesen. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, dass ich mir noch mehr Infektionen einfangen könnte, denn zuerst würde ich sowieso vor Scham sterben. Kaum in Bangkok angekommen, hatte ich mir bereits die Brustwarze piercen lassen. Wenn das erst der Anfang der Reise ist, wer weiß, was noch passieren wird?

„Was soll ich nur machen?“, fragte ich Luna hilflos, die sich mit einer Tube antibakterieller Salbe zu mir in die Damentoilette gesellt hatte.

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