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Lords of Disgrace - Junggesellen fürs Leben!

LORD WEYBOURNS WEIHNACHTSWUNDER
Wie warm und unendlich geborgen sie sich in seinen starken Armen fühlt! Tess schmiegt sich an ihren muskulösen Retter und genießt seine Nähe: Alexander Tempest, Viscount Weybourn, trägt sie durch die vereisten Straßen zum Arzt. Ein Zusammenstoß mit ihm hat ihr einen verstauchten Knöchel beschert. Doch zum Weihnachtfest beschert der adelige Herzensbrecher der schönen Bürgerlichen noch etwas anderes: eine Anstellung in seinem eleganten Stadthaus als Haushälterin - und verboten sinnliche Küsse unterm Mistelzweig! Die berauschend süß, aber im höchsten Maße unstandesgemäß sind …

LIEBESWUNDER MIT DEM EARL
Hat er ihre Schreie gehört? Ein breitschultriger Fremder in eleganter Kleidung betritt die Hütte, in der Kate Schutz gefunden hat. Fast ohnmächtig ist sie vor Schmerzen, denn während draußen die Christnacht anbricht, kommt ihr Kind zur Welt! Doch Grant Rivers, Earl of Allundale, wird zu ihrem rettenden Engel. Er ist nicht nur Mediziner, sondern macht der ledigen Mutter auch einen Antrag, kaum dass sie ihr Weihnachtsbaby glücklich in den Armen hält. Kate sagt Ja - und schwört sich, dass Grant niemals erfahren wird, warum und vor wem sie in die Dezembernacht geflohen ist …

STURM DER LIEBE IN DEVON
Wie ein lebendig gewordener, gut gebauter Gott des Meeres entsteigt ein mysteriöser Gentleman den tosenden Fluten an der Küste von Devon. Völlig nackt und am Ende seiner Kräfte! Bevor er in Tamsyns Armen zusammenbricht, küsst er sie, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat! Und in dieser Sekunde ist es um Tamsyn geschehen. Während sie den Fremden gesundpflegt, kann sie nur an seine Lippen auf den ihren denken. Ist er der Mann, mit dem die junge Witwe das Glück neu erleben darf? Dann erkennt sie, dass der geheimnisvolle Lord Cris de Feaux etwas verbirgt …

LADY CAROLINES SKANDALÖSES ANGEBOT
Ihre Jungfräulichkeit gegen ein Anwesen, das er letzte Nacht beim Glücksspiel von ihrem Vater gewonnen hat? Gabriel Stone, Earl of Edenbridge, verbirgt seine Überraschung nur mit Mühe. Wie viel tapfere Entschlossenheit muss es die schöne Lady Caroline gekostet haben, ihm diesen skandalösen Vorschlag zu unterbreiten? Der Ehrenmann in ihm sollte sie unschuldig in den Schoß ihrer Familie zurückschicken. Aber der Verführer in ihm will etwas anderes: ihren sinnlichen Mund heiß küssen und sie dazu bringen, sich ihm aus freien Stücken hinzugeben …


  • Erscheinungstag: 08.04.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1024
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750799
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Louise Allen

Lords of Disgrace - Junggesellen fürs Leben!

1. KAPITEL

Alex Tempest stieß üblicherweise keine Nonnen zu Boden und auch sonst rempelte er niemanden an. Alexander James Vernon Tempest, Viscount Weybourn, war unter normalen Umständen der Inbegriff der Körperbeherrschung und Eleganz.

Doch da er im trüben Nachmittagslicht des späten Novembers auf dem vereisten Kopfsteinpflaster von Gent um die Ecken schlidderte und an nichts anderes als an ein warmes Kaminfeuer, gute Freunde und einen Punsch mit Rum dachte, handelte es sich nicht um normale Umstände.

Die Klostermauer, gegen die er fiel, war hoch und unnachgiebig. Alex prallte von ihr ab und stieß gegen eine Nonne, die ganz in Schwarz und Grau gekleidet war, als wollte sie sich an die tristen Farben der Steine anpassen. Allerdings gab sie anders als die Mauer nach, schrie erschrocken auf und stürzte zu Boden, wobei ihr schwarzer Handkoffer bis vor die Schwelle der geschlossenen Klosterpforte flog.

Alex gelang es, wieder festen Tritt zu finden. „Ma sœur, je suis désolé. Permettez-moi“, entschuldigte er sich bei der Nonne, während er ihr eine Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. Sie richtete den Oberkörper auf, wobei ihr der dunkelgraue Hut mit schwarzem Band über die Nase rutschte. Sie schob ihn zurück, um hochzublicken.

„Ich bin nicht …“

„Nicht verletzt? Sehr gut.“ Er konnte unter dem Schatten ihrer Hutkrempe nicht viel von ihrem ovalen Gesicht erkennen, doch der Stimme nach war sie jung. „Sie sind Engländerin?“ Er streckte ihr auch die zweite Hand entgegen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Konvent mit englischen Nonnen.

„Ja, aber …“

„Sie sollten von dem kalten Boden aufstehen, Schwester.“ Ihr schwarzes Cape schien angesichts des Wetters viel zu dünn zu sein. Darunter sah er den Saum eines dunkelgrauen Kleides und die Spitzen von einfachen schwarzen Stiefeln. „Ich helfe Ihnen hoch.“ Wahrscheinlich war es ungehörig, wenn ein Mann die Hand einer Nonne nahm, aber angesichts der großen Sünde, dass er sie zu Boden gestoßen hatte, würde dieses kleine Vergehen wohl kaum mehr eine Rolle spielen.

Seufzend ergriff sie seine Hände und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. „Au!“ Sie humpelte, schwankte bedrohlich, und im nächsten Moment hielt er sie in seinen Armen. Schließlich durfte man nicht zulassen, dass eine Dame hinfiel, selbst wenn sie eine Nonne war. „Oh!“

Alex stellte sich breitbeinig hin, um auf den glatten Pflastersteinen einen sicheren Stand zu finden, und betrachtete die Frau, die er in den Armen hielt. Allerdings konnte er aufgrund der ausladenden Hutkrempe und des wogenden Capes nicht viel von ihr erkennen. Wenn er auch keine Einzelheiten ausmachen konnte, spürte er doch, dass sich eine junge, schlanke und kurvenreiche Frau an ihn klammerte. Er senkte den Kopf und atmete ihren Duft ein. Sie roch nach einfacher Seife und nasser Wolle, und ihre weibliche Wärme verstörte ihn. Reiß dich bloß zusammen, Mann! Nonnen gehören ganz sicher zu den Frauen, die auf der verbotenen Liste stehen. Auch wenn es schade ist …

„Soll ich an der Klosterpforte läuten?“, fragte er und wies mit dem Kopf in Richtung der verrosteten Eisenkette, mit der die Tür verschlossen war. Von außen wirkte die Klosteranlage wie ein Zufluchtsort für verzweifelte Kriminelle, obgleich das vergitterte Guckloch, das in die massiven Holzbretter eingelassen war, den Ort nicht einladender erscheinen ließ als eine Gefängniszelle. „Offenkundig haben Sie sich den Knöchel verstaucht.“

Vermutlich war es ebenfalls eine Sünde, einen Teil ihrer Anatomie zu erwähnen. Ihr Körper wurde in seinen Armen ganz steif, aber sie machte keine Anstalten, ihn mit einem Rosenkranz zu erwürgen. „Nein. Das ist nicht nötig. Danke.“

„Ich denke schon, dass ich besser jemanden aus dem Kloster rufen sollte.“

„Ich muss zur Anlegestelle. Schwester Claire erwartet mich dort.“ Sie klang spröde und höflich, als ob Barmherzigkeit oder gute Manieren sie davon abhielten, ihrer Verärgerung über ihn Ausdruck zu verleihen. Ihre Sprache wirkte kultiviert und die Stimme angespannt oder vielleicht auch traurig. Er hatte Übung darin, Zwischentöne herauszuhören und zu ergründen, was für eine Person sich hinter den Worten verbarg. Was versuchst du zu verstecken, kleine Nonne?

Doch in erster Linie konnte er ihren Unmut heraushören. Das war nur allzu verständlich. Er hatte sie zu Boden gestoßen. Das Mindeste, was er tun konnte, war, sie an den Ort zu bringen, zu dem sie wollte. „Aber zuvor sollten Sie einen Arzt aufsuchen. Was ist, wenn Sie sich etwas gebrochen haben?“ Er bückte sich, hob die zierliche Frau hoch und bekam mit den Fingern den Griff ihres Handkoffers zu fassen, bevor er sich aufrichtete. „Zu welchem Kanal müssen Sie, Schwester?“

„Zum Kanalbecken. Ich steche morgen früh von Ostende aus in See. Schwester Claire betreibt eine kleine Herberge für Reisende unten an der Anlegestelle, und ich möchte den Abend mit ihr verbringen. Aber ich bin keine …“

„Dann gehen wir hier entlang.“ Alex trug sie vorsichtig die Straße hinunter. „Auf dem Weg bringe ich Sie bei einem Arzt vorbei.“

„Ich möchte niemandem zur Last fallen, also …“

„Sie können nicht laufen, und alle Droschken sind wie vom Erdboden verschluckt, wie es immer der Fall ist, wenn man sie am dringendsten braucht. Außerdem bedeutet es für mich überhaupt keinen Umweg.“

Und genau genommen würden sie auch keinen Arzt aufsuchen, obschon Grant seine medizinische Ausbildung in Edinburgh nahezu beendet hatte, als er gezwungen worden war, sie aufzugeben.

„Ja, aber ich …“

„Sie haben kein Geld?“ Nonnen verfügen wahrscheinlich über keinen Penny, dachte er. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Es ist meine Schuld, dass Sie sich verletzt haben, und der Arzt ist ein Freund. Wie heißen Sie? Ich bin Viscount Weybourn.“ Normalerweise pflegte er den Titel nicht zu erwähnen, doch er nahm an, dass es sie beruhigen würde.

Ihr Körper bewegte sich in seinen Armen, als sie tief Luft holend aufseufzte. Gewiss empfand sie es als beschämend, von einem Mann getragen zu werden. Da sie jedoch nicht in das Kloster zurückkehren wollte, blieb kaum eine andere Möglichkeit.

Weiterhin bemühte er sich tapfer, nicht auf die Wirkung zu achten, die ihre weiblichen Rundungen auf ihn hatten. Er war es nicht gewohnt, einer Frau so nahe zu sein, außer wenn sie beide die Absicht verfolgten, mit den Annäherungen sehr viel weiterzugehen.

„Tess … Teresa.“

„Schwester Teresa.“ Natürlich, Nonnen werden schließlich nach Heiligen benannt, oder etwa nicht? „Fein. Da sind wir.“ Die Lichter des Les Quatre Éléments schimmerten am anderen Ende des kleinen Platzes. Zielstrebig wie ein Seefahrer, der einen sicheren Hafen gesichtet hat, steuerte er darauf zu.

„Ein Gasthof? Lord Wey…“

„Es handelt sich um ein respektables Haus“, beteuerte Alex, während er sich mit der rechten Schulter voran durch die Eingangstür in das helle und warme Getümmel einer gut besuchten Gaststube drängte. „Gaston!“

„Lord Weybourn.“ Der Gastwirt eilte aus dem Hinterzimmer. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Mylord. Die anderen Gentlemen befinden sich bereits in Ihrem Privatsalon.“

„Ich danke Ihnen, Gaston.“ Alex trug die Nonne auf eine Tür an der rechten Seite zu. „Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee? Was kann ich Ihnen servieren lassen, Schwester Teresa?“

„Gentlemen? Privatsalon? Lord Weybourn, lassen Sie mich augenblicklich …“

„Tee!“, rief er laut. Tee hatte doch angeblich eine beruhigende Wirkung, oder irrte er sich? Auf jeden Fall brauchte diese kleine Nonne etwas zur Beruhigung. Sie begann, sich in seinen Armen zu winden wie eine aufgeschreckte Henne, und wenn sie nicht bald damit aufhörte, war sie verflucht noch einmal nicht die Einzige, die etwas zur Beruhigung brauchte, wenngleich er dabei nicht unbedingt an Tee dachte … eher an eine Nacht mit einer Frau. Wann war das letzte Mal? Vor einem Monat? Auf jeden Fall ist es entschieden zu lange her.

Alex stieß mit einem Fuß hinter sich die Tür zu und lehnte sich kurz dagegen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Nonnen verzichteten allem Anschein nach auf ein Korsett. Diese Erkenntnis war äußerst aufwühlend. Das weiche Gewicht einer kleinen Brust auf seinem rechten Unterarm brachte ihn ganz durcheinander. Er verhielt sich wie ein Junge, der noch grün hinter den Ohren war, und das behagte ihm ganz und gar nicht.

„Mein lieber Alex, wozu der Lärm?“ Crispin de Feaux ließ das Dokument sinken, das er eben gelesen hatte, stand auf und betrachtete die Szene an der Tür mit kühler Reserviertheit. Wenn er, von einer mit Schwertern Fuchtelnden verfolgt, ins Zimmer gestürmt wäre, hätte Cris vielleicht ein wenig emotionaler reagiert, aber selbst da hatte Alex seine Zweifel. „Hast du dich jetzt dazu hinreißen lassen, Nonnen zu entführen?“

„Nonnen? Bestimmt nicht!“ Hinten am Kamin schwang Grant Rivers die Stiefel vom Kamingitter und stand ebenfalls auf, wobei er sich mit einer Hand durch das Haar fuhr. Wie immer machte er einen nachdenklichen und besorgten Eindruck.

„Um wie viel wettest du?“ Gabriel Stone ließ klackernd eine Handvoll Würfel auf die Tischplatte vor ihm rollen und erhob sich träge. „Auch wenn es nicht gerade zu Alex’ Stil passt …“

Alex sah ihn scharf an, damit er aufhörte, die junge Frau derartig unverschämt anzugaffen. Gabe grinste und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

„Ich bin auf dem Eis ausgerutscht und habe Schwester Teresa zu Boden gerissen. Dabei hat sie sich am Knöchel verletzt.“ Alex trug seine Last zu dem Sofa vor dem Kamin. „Ich hielt es für besser, wenn du dir die Verletzung ansiehst, Grant.“

„Schwester Teresa, hier sind Sie in guten Händen, und der Tee ist bereits auf dem Weg.“ Der Kerl, der sie fast zur Weißglut trieb, setzte sie auf das Sofa vor den attraktiven braunhaarigen Mann. „Das ist Grantham Rivers, ein sehr fähiger Mann, der sich wie kein Zweiter mit verstauchten Fußgelenken auskennt.“ Sie bemerkte, dass Lord Weybourn dem Arzt zugrinste und auch dass Mr. Rivers zur Entgegnung die Augen verdrehte, bevor sein Freund auf dem Absatz kehrtmachte und sich zu den anderen Männern begab.

„Ich bin keine …“

„Nonne. Ich weiß.“ Der Arzt nahm Platz. Er war höflich, machte aber keinen glücklichen Eindruck. „Anders als Alex weiß ich, dass Nonnen Brusttücher tragen und nicht allein auf der Straße herumspazieren.“

„Erlaubt niemand von Ihnen einer Frau, einen Satz zu Ende zu sprechen?“, fragte Tess erbost. Es war ihr seit dem Gespräch mit der Mutter Oberin wahrhaftig elend genug ergangen. Erneut war sie gezwungen, sich ohne Klage in ein tristes Schicksal zu fügen, wie es bereits vor vielen Jahren der Fall gewesen war, als ihre Mutter und ihr Vater gestorben waren. Doch plötzlich zu Boden gerissen zu werden, hatte bei ihr den mühsam errungenen Gleichmut auch im übertragenen Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht.

Möglicherweise lag es aber auch an der Wirkung, die Männer stets auf Frauen hatten. Allerdings beschränkte sich Tess’ diesbezüglicher Erfahrungshorizont seit dem dreizehnten Lebensjahr auf gelegentliche Gespräche mit einem Priester und einem betagten Gärtner. Erst hier und jetzt bekam das Wort Zölibat für sie einen Sinn. Plötzlich war sie mit vier dieser fremdartigen Wesen allein, auch wenn sie auf den ersten Blick vernünftig und vertrauenswürdig wirkten.

„Ja, normalerweise haben wir bessere Manieren. Alex ist zweifellos durcheinander, weil er Sie umgestoßen hat, aber ich habe keine Entschuldigung. Wie darf ich Sie anreden, Madam?“

„Miss Ellery. Tess Ellery, Doktor.“

„Ich besitze keinen Doktortitel. Ich bin einfach nur Mr. Grantham Rivers. Allerdings habe ich mein Medizinstudium in Edinburgh beinahe abgeschlossen, sodass man mir ohne Bedenken die Beurteilung kleinerer Verletzungen zutrauen darf, Miss Ellery.“ Er musterte sie, als ob sie eine böse zugerichtete Krähe wäre. „Darf ich Ihnen Cape und Hut abnehmen? Es wird nötig sein, dass sie den Schuh und den Strumpf ausziehen, damit ich Ihren Knöchel untersuchen kann. Soll ich ein Dienstmädchen rufen, das Ihnen behilflich ist?“

Er machte einen ernsten und anständigen Eindruck. Angesichts der Tatsache, dass sie in den letzten Jahren kaum mit männlicher Gesellschaft in Kontakt geraten war, wunderte sich Tess, dass sich ihre Verlegenheit in Grenzen hielt. Vielleicht hatte der Umstand, zu Boden geschleudert und dann von einem großen, starken und überaus gebieterisch agierenden Aristokraten fortgetragen worden zu sein, alle Verlegenheit außer Kraft gesetzt. Wahrscheinlich lag es aber eher daran, dass ihre Welt bereits zuvor aus den Fugen geraten war.

„Miss Ellery?“ Mr. Rivers wartete geduldig. Sie bemühte sich, die Fassung zurückzugewinnen, und lächelte höflich. Doch das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als sie ihm in die Augen sah. Darin lag der traurigste Blick, den sie je gesehen hatte. Es war, als ob sie direkt in den Höllenschlund eines unermesslichen persönlichen Schmerzes blicken würde. Nicht den Blick abzuwenden, erschien ihr ebenso aufdringlich, wie wenn man Trauergäste bei einer Beerdigung anstarrte.

„Nein, ich brauche keine Hilfe, vielen Dank“, murmelte Tess, während sie den Hut abnahm und den Haken ihres Capes löste. Mr. Rivers nahm die beiden Kleidungsstücke entgegen und legte sie auf das andere Sofaende, wo er den Rücken zu ihr gewandt stehen blieb, als wollte er sie vor dem restlichen Zimmer abschirmen. Rasch löste sie das Strumpfband und rollte den Stoff nach unten. „Ich schaffe es nicht, den Stiefel auszuziehen.“

„Der Knöchel ist sicher angeschwollen.“ Mr. Rivers kam wieder zu ihr und ging vor ihr in die Hocke. „Lassen Sie mich sehen, ob ich ihn entfernen kann, ohne das Leder zu zerschneiden.“

„Ja, bitte.“ Sie besaß nur dieses eine Paar Stiefel.

„Haben Sie noch andere Verletzungen?“ Er beugte sich über den Fuß und öffnete den Stiefel behutsam. „Sind Sie mit dem Kopf aufgeschlagen oder haben sich beim Aufprall an den Händen verletzt?“

„Nein, es geht nur um den Knöchel. Ich knickte um, als ich fiel.“ Obgleich er vorsichtig vorging, tat das Ausziehen des Stiefels weh. Tess blickte über seinen Kopf hinweg zu den anderen drei Männern, um sich vom Schmerz abzulenken. In diesem Privatsalon war ein seltsames Quartett versammelt. Mr. Rivers mit seinen tragischen Augen, den sanften Händen und dem attraktiven Profil. Lord Weybourn, groß und elegant, der sie mit solcher Leichtigkeit hochgehoben und hierher getragen hatte. Der blonde Eiszapfen, der wie eine Kreuzung aus einem Erzengel und einem Galgenrichter aussah, und der faulenzende Würfelspieler, der eher in eine Kaschemme mit Strauchdieben als in das noble Gasthaus und in die Gesellschaft von Gentlemen zu passen schien.

Ja, es handelte sich in der Tat um einen ungewöhnlichen Kreis von Freunden. Dennoch wirkte ihr Umgang untereinander vollkommen unbeschwert. Wie Brüder, dachte sie. Familie.

Lord Weybourn blickte sie an und hob eine Braue.

„Ah, das lässt Sie zusammenzucken. Es tut mir leid.“ Mr. Rivers tastete ihren Knöchel ab. „Sagen Sie mir, wo es wehtut. Hier? Wenn ich den Fuß in diese Richtung drehe? Können Sie die Zehen bewegen? Sehr gut. Und den Fuß strecken? Nein, hören Sie auf, wenn es schmerzhaft ist.“

Ganz offenkundig wusste der Mann, was er tat. Er würde sie fachkundig verbinden, und Lord Weybourn sollte dann für sie eine Droschke auftreiben. Immerhin war der Zusammenstoß allein seine Schuld gewesen, und sie würde den Stiefel mit verbundenem Fuß unmöglich wieder anziehen können. Sie war erleichtert, dass keiner der vier Männer sich auf eine Weise verhielt, die ihr unangenehm gewesen wäre. Niemand sah sie anzüglich an, zwinkerte oder machte eine zweideutige Bemerkung. Tess entspannte sich weiter und kam zu dem Schluss, hier in Sicherheit zu sein.

Seine Lordschaft lehnte gegen die Tischkante und lachte über eine Äußerung des Würfelspielers. Jetzt, da er Hut und Paletot abgelegt hatte, sah sie, dass nicht nur seine Kleidung, sondern auch seine Haltung große Eleganz verriet. Zehn Jahre in einem Frauenkloster hatten sie nicht gerade zu einer Expertin in Sachen Männermode gemacht. Doch selbst sie konnte erkennen, dass seine Kleidung meisterlich angefertigt war und nur die teuersten Stoffe Verwendung gefunden hatten. Sein Modist verstand es fraglos, auffallend breite Schultern und lange muskulöse Beine zu betonen, und wer auch immer das Hemd geschneidert hatte, verstand etwas von seinem Fach.

Anders als seine Freunde ist der Viscount nicht im herkömmlichen Sinne gut aussehend, dachte Tess, während Mr. Rivers ihren verletzten Fuß auf ein Tischchen legte, aufstand und etwas von kalten Kompressen und Verbänden murmelte. Mr. Rivers wirkte wie der Inbegriff eines englischen Gentleman: edle Gesichtszüge, eine gerade Nase, kräftiges dunkelbraunes Haar und dazu diese wunderschönen, melancholischen grünen Augen. Der blonde Eiszapfen hätte mühelos für den Erzengel eines Kirchenfensters Modell stehen können. Den leicht zu beeindruckenden Mädchen der Gemeinde hätte er in einer Mischung aus Verlangen und Schrecken Herzklopfen bereitet, wenn sie sich vorstellten, dass er sie mit seinen blauen Augen anblickte, oder sich sein wie in Marmor gehauener Mund öffnete, um ihnen einen tödlichen Tadel zu erteilen. Selbst der Würfelspieler mit seinem schwarzen Haarschopf und den frechen dunklen Augen besaß die Attraktivität eines schönen und unberechenbaren Raubtiers.

Lord Weybourn war anders. Selbstverständlich wirkte er sehr männlich … Oh ja. Sie erschauerte beim Gedanken daran, wie mühelos er sie getragen hatte. Und er hatte einen verwegenen Zug an sich, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Sein Haar war dunkelblond, die Nase schmal, seine Wangenknochen traten deutlich hervor, und das markante Kinn ließ ihn entschlossen wirken. Unter den dunklen Brauen funkelten seine haselnussfarbenen Augen.

Es liegt an seinem Mund, dachte sie, als sie seine Gesichtszüge betrachtete. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das darauf schließen ließ, dass er an etwas Angenehmes dachte, ihm aber zugleich etwas Geheimnisvolles und vielleicht auch Gefährliches verlieh. Ja, er sieht wie ein besonders gut gekleidetes mythisches Wesen aus, beinahe zwei Meter groß und mit entsprechender Schulterbreite – der Herrscher über dunkle Wälder, in denen Wölfe lauern …

Er blickte zu ihr, was sie aus ihren düsteren Träumereien riss, die wahrscheinlich stark von den Schauergeschichten beeinflusst waren, die Schwester Moira im Gemeinschaftsraum vortrug, wenn die Mutter Oberin gerade nicht zuhörte. Allerdings riefen die fantastischen Kreaturen von Schwester Moira in ihr nie solche Gefühle hervor …

„Tut Rivers Ihnen weh?“ Lord Weybourn trat zu ihr und nahm ihr gegenüber Platz. Sie betrachtete seine entspannt hin- und herwippenden Schuhe, was ihr weniger riskant vorkam, als ihm in die Augen zu sehen. „Ich habe Ihnen nicht den Knöchel gebrochen, oder doch?“

„Nein, glücklicherweise nicht.“ Mr. Rivers kehrte zurück und ging erneut vor ihr in die Hocke. „Das wird sich kalt anfühlen“, warnte er sie, bevor er ein tropfendes Tuch um den geschwollenen Knöchel legte. „Wenn Sie Ihren Tee getrunken und sich ein wenig ausgeruht haben, werde ich Sie verbinden.“

„Das scheint ein sehr komfortabler Gasthof zu sein“, sagte sie, um das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu lenken. Die Konversation mit Männern war für sie ein völlig fremdes Terrain. „Suchen Sie diesen Ort regelmäßig auf?“

„Schon seit langer Zeit“, entgegnete Lord Weybourn. „Sogar während Krieg herrschte, tauchte der ein oder andere von uns in unterschiedlicher Gestalt hier auf. Das Les Quatre Éléments war uns stets sehr nützlich.“ Er grinste. „Wir haben uns selbst ‚Die Vier Elemente‘ genannt, da es so gut zu unseren Namen passt.“

„Elemente? Ich kenne die vier Elemente – Luft, Wasser, Feuer und Erde. Welches davon sind Sie?“

„Alex Tempest – die vom Sturm getriebene Luft.“

„Dann repräsentieren Sie also das Wasser, Mr. Rivers? Das passt auch gut zu der beruhigenden Wirkung Ihrer medizinischen Arbeit.“

In Anerkennung des Kompliments deutete er eine Verbeugung an. „Cris ist ein de Feaux, was sich aus dem Französischen feu für Feuer ableiten lässt.“

„Ja, natürlich.“ Nur zu gut konnte sie sich den blonden Eiszapfen als Racheengel mit brennendem Schwert vorstellen. „Und die Erde?“

„Wenn jemand erdig und diesseitig ist, dann Gabriel Stone.“ Lord Weybourn wies mit dem Kopf auf den Würfelspieler, der gerade mit der linken gegen die rechte Hand zu spielen schien, wobei sich seine dunklen Brauen konzentriert zusammenzogen.

Mr. Rivers tauschte den kalten Umschlag um ihren Knöchel aus. Tess lächelte dankbar und vergaß sowohl ihre Schmerzen als auch das Gespräch über die Elemente, als ein Dienstmädchen ein Tablett neben ihr abstellte. Sie hatte Tee erwartet, aber nicht Gebäck, von dem Honig tropfte, kleine Kuchen und feine, mit Glasur überzogene Kekse. Lord Weybourn stahl sich einen Keks und kehrte dann zu den anderen an den Tisch zurück.

„Ich sollte …“

„Essen Sie in aller Ruhe“, sagte Grant Rivers. „Entschuldigen Sie, jetzt habe ich Sie schon wieder mitten im Satz unterbrochen.“

„Ich fürchte, bei diesen Köstlichkeiten werde ich gar nicht aufhören können.“ Als wärmende Mittagsmahlzeit hatte es im Kloster eine Brotsuppe gegeben. Aber wie immer hatte es vor allem nach Sparsamkeit geschmeckt und sich in ihrem angespannten Magen wie ein klumpiger Brei angefühlt. Der Teller neben ihr und die Umgebung verlangten nicht nach der demütigen und dankbaren Haltung, die von den Nonnen eingefordert wurde. Mr. Rivers nickte ihr nur zu und gesellte sich zu den Freunden, um sie ungestört ihrem Tee – mit Zucker! – und den anderen Versuchungen zu überlassen. Sollte sie zumindest ein Stück von jeder Sorte Gebäck probieren? Den Teller unangetastet zu lassen, war gewiss unhöflich.

Eine halbe Stunde später leckte sich Tess die Finger ab, und ihr wurde auf herrliche Weise übel, wenn sie den Teller betrachtete, auf dem nichts als ein paar Krümel und eine Spur Sahne verblieben waren.

Mr. Rivers kam zu ihr und entfernte das Tablett ohne mit der Wimper zu zucken, als ob er ihre Gier gar nicht bemerkt hätte. „Ich werde den Knöchel jetzt verbinden. Legen Sie sich die Decke über die Knie, und anschließend können Sie ein kleines Nickerchen machen. Sie waren ganz verfroren, als sie hier ankamen und natürlich auch ein wenig erschrocken, nehme ich an. Eine Ruhepause wird Ihnen bestimmt nicht schaden.“

Er war fast ein Arzt und wusste, wovon er sprach. Eigentlich war es nicht nötig, sich sonderlich zu beeilen. Hauptsache, sie traf bei Schwester Claire ein, bevor die Türen der Herberge verriegelt wurden. Und außerdem war es hier … ausgesprochen interessant. Sie fühlte sich behaglich warm, und ihr Magen war mit köstlichen Süßigkeiten gefüllt. Sich dieser ungehörigen Pflichtvergessenheit hinzugeben, besaß etwas Verlockendes. Sie wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte, doch diese Männer wirkten alle so … harmlos? Das war das falsche Wort. Vielleicht ließ sie sich von ihrer eigenen Unschuld täuschen.

Tess blinzelte und unterdrückte ein Gähnen. In der letzten Nacht hatte sie gefroren, und vor lauter Hoffnungen und Sorgen hatte sie kaum ein Auge zugetan. Mr. Rivers hatte recht – ein kleines Nickerchen würde ihr guttun, bevor sie in Schwester Claires Herberge das letzte Stew an ärmliche Reisende austeilen würde. Anschließend standen ihr schlaflose Stunden in einer eisigen Kammer auf einem harten Bett neben der unablässig schnarchenden Schwester Claire bevor, die in einen noch frostigeren Morgen münden würden. Schwester Moira behauptete immer, dass es eine Bußübung sei, dieses Schnarchen zu ertragen. Das wird den Genuss der süßen Köstlichkeiten wieder aufwiegen, dachte Tess, während sie sich gegen eine Sofaecke lehnte und sich vom Geräusch der Männerstimmen und ihrem Gelächter berieseln ließ. Nur ein kleines Nickerchen.

„Hm …“ Zitronenduft, gestärktes Leinen … Erneut wurde sie von Lord Weybourn hochgehoben. Es schien ihr ganz natürlich zu sein, den Kopf an seine Schulter zu betten und seinen faszinierenden maskulinen Duft einzuatmen.

„Sie bekommen noch einen steifen Nacken in dieser Sofaecke, kleine Nonne. Außerdem sind wir recht laut. Gleich nebenan gibt es ein ruhiges Zimmer, in dem Sie ein wenig schlafen können.“

Das klang verlockend. „Schwester Claire …“

„Ich weiß. Sie wollen zu Schwester Claire unten am Anlegesteg, damit sie am Morgen das Boot nach Ostende nehmen können.“

Was soll der ganze Unsinn, den die Schwestern uns über Männer erzählt haben? Da musste jeder denken, dass sie alle räuberische Bestien seien … Diese vier sind auf jeden Fall freundlich und vertrauenswürdig. Und die Matratze, auf die er sie legte, war wundervoll weich und die Decken warm und leicht. „Vielen Dank“, murmelte Tess, bevor sie wieder in den Schlaf sank.

„Keine Ursache, kleine Nonne.“ Dann schloss sich die Tür, und alles war still.

2. KAPITEL

Tess erwachte, fühlte sich wunderbar behaglich und verspürte ein dringendes Bedürfnis. Zu viel Tee! „Aua!“ Der Knöchel schmerzte, als sie hinter den Paravent in der Ecke humpelte, sich erleichterte und wieder zum Bett hinkte. Es war noch hell, also konnte sie nicht allzu lange geschlafen haben. In der Tat war es sogar sehr hell. Sie schob den Vorhang zur Seite und blickte in den Innenhof des Gasthofs. Ein Dienstmädchen eilte mit einem Wäschekorb vorbei, während ein Stallknecht Wassereimer schleppte. Unverkennbar war bereits ein neuer Tag angebrochen.

Sie humpelte zur Tür und riss sie auf. Die vier Männer waren nach wie vor am Tisch versammelt. Der Würfelspieler und der blonde Eiszapfen spielten in einer Haltung Karten, als ob sie ohne Probleme noch zwölf Stunden hätten weiterspielen können. Mr. Rivers goss sich mit einer Hand Bier in einen Krug, in der anderen hielt er eine zusammengerollte Scheibe Brot, aus der Schinken hervorquoll. Und Lord Weybourn, von dem sie nun wusste, dass er der unzuverlässigste und schrecklichste aller Männer war – ungeachtet der Tatsache, dass sich ihr Pulsschlag bei seinem Anblick beschleunigte – war offenkundig eingenickt. Sein Stuhl war auf die hinteren Stuhlbeine gegen einen Stützpfeiler gekippt, während seine Füße mitsamt der Stiefel auf einem Haufen Spielkarten lagen. Dass es ihm gelang zu schlafen ohne zu schnarchen und ohne dass seine Kleidung zerknitterte, gab ihrem Zorn nur noch weitere Nahrung.

„Lord Weybourn!“

„Hm?“ Er wachte mit einem Ruck auf, und Tess zuckte zusammen, als sie sah, wie er mit dem Kopf gegen den Stützpfeiler schlug. „Autsch!“

Die anderen Männer erhoben sich. „Guten Morgen, Miss Ellery. Haben Sie gut geschlafen?“, erkundigte sich Mr. Rivers.

„Ich habe es ihm gesagt! Ich erzählte ihm, dass ich zum Anlegesteg am Kanal muss. Er wusste, dass mein Schiff früh am Morgen ablegt.“

„Es ist doch früh am Morgen.“ Lord Weybourn stand mit einer eleganten Bewegung auf und sah wahrhaftig nicht aus, als ob er in seiner Kleidung geschlafen hätte. Welchen äußeren Eindruck sie hingegen machte, daran wollte sie lieber gar nicht denken.

Tess schob sich eine verirrte Locke aus der Stirn. „Wie spät ist es?“

Der blonde Eiszapfen warf einen Blick auf die Kaminuhr. „Es ist erst kurz nach neun.“

„Das ist alles andere als früh! Der halbe Vormittag ist bereits verstrichen.“ Tess hinkte zum nächsten Stuhl und setzte sich. „Ich habe mein Schiff verpasst.“

„Sie können sich einfach eine Bordkarte für das nächste Schiff kaufen. Mehrfach am Tag segeln welche nach Ostende“, sagte der Viscount und stahl sich Mr. Rivers’ unbewachten Bierkrug. Er trank einen kräftigen Schluck, der seinen Adamsapfel zum Hüpfen brachte.

„Ich habe kein Geld“, erwiderte Tess wütend. Wenn sie einen Fluch gekannt hätte, wäre jetzt eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen, ihn zu benutzen. Aber sie kannte keine Flüche. Seltsam genug, dass sie das zuvor nie als Mangel empfunden hatte. „Ich habe eine Bordkarte für das Schiff, das um fünf Uhr in der Früh abgelegt hat. Es kommt gerade noch rechtzeitig in Ostende an, um das Schiff nach England zu erreichen – das Schiff, für das ich ebenfalls eine Bordkarte besitze. Jetzt habe ich nur noch Bordkarten, die mir nichts mehr nützen. Ich habe kein Geld und kann auch nicht ins Kloster zurückgehen und um neues Reisegeld bitten. Überdies bin ich nicht in der Lage, etwas zurückzuzahlen“, fügte sie düster hinzu.

„Ach so, kein Geld“, sagte Lord Weybourn mit diesem rätselhaften Lächeln, das sie zur Weißglut brachte. „Jetzt verstehe ich Ihre Erregung.“

„Ich bin nicht erregt.“ Erregung wurde im Kloster nicht gestattet. „Ich bin verärgert. Sie stießen mich zu Boden, Mylord. Dann brachten Sie mich hierher und ließen mich mit dem Versprechen einschlafen, mich rechtzeitig zu wecken. Daher ist es nun an Ihnen, das Problem zu lösen.“ Sie faltete die Hände im Schoß, setzte sich kerzengerade hin und strafte ihn mit einem Blick, den sie der Mutter Oberin abgeschaut hatte, wenn diese das Geständnis von Sünden größerer und kleinerer Art erzwingen wollte. Worte erübrigten sich dabei für gewöhnlich.

Sie hätte wissen müssen, dass er eine Antwort parat hatte. „Ganz einfach. Grant und ich fahren heute ohnehin mit der Kutsche nach Ostende. Sie kommen einfach mit uns, und ich werde Ihnen eine neue Bordkarte für die Schiffspassage kaufen, sobald wir dort sind.“

Genau das meinte Schwester Luke vermutlich, wenn sie vom Pfad des Vergnügens sprach, der direkt in die Verdammnis führte. Kein Wunder, dass die Nonnen behaupteten, es sei nur ein kurzer Weg in die Hölle. Es reichte, von einem starken und attraktiven Mann getragen zu werden, köstlichen Kuchen zu essen und auf einem herrlich weichen Bett einzuschlafen, obwohl sich im Nebenzimmer vier Männer aufhielten. Das alles roch nach schrecklicher Gottlosigkeit.

Demnach kam es wahrscheinlich auch schon nicht mehr darauf an, mit zwei Gentlemen den Tag in einer Kutsche zu verbringen. Sie war sich nicht sicher, ob sie Lord Weybourns schiefem Lächeln trauen konnte, aber Mr. Rivers schien ihr in hohem Maße vertrauenswürdig zu sein.

„Ich danke Ihnen, Mylord. Das ist eine zufriedenstellende Lösung.“ Gewiss würde es eine bequeme Reisekutsche sein, denn keiner der Männer, nicht einmal der Würfelspieler mit dem zerzausten Haar, machte den Eindruck, als ob er in Bezug auf persönlichen Komfort Abstriche machen würde. Sie lächelte, und als keiner der Männer aufsprang, erhob sie sich und begann trotz des schmerzenden Knöchels hin- und herzueilen, um die Reisevorbereitungen voranzutreiben. „Wann fahren wir los, und wie lange wird die Fahrt dauern?“

„Siebeneinhalb oder acht Stunden.“ Endlich stand Lord Weybourn auf.

„Aber dann kommen wir nach Einbruch der Dunkelheit in Ostende an. Ich denke nicht, dass es dort Schiffe gibt, die noch so spät Anker lichten. Oder etwa doch?“

„Wir holpern nicht den ganzen Tag über matschige Straßen, um direkt an Bord zu gehen, egal ob gerade ein Schiff lossegelt oder nicht.“ Der Viscount schritt zu der Tür, öffnete sie und rief: „Gaston!“

„Der Schiffsbetrieb läuft auch nachts, und ich werde das Schiff nehmen, das um neun Uhr abends nach Leith segelt“, bemerkte Mr. Rivers. „Allerdings habe ich es auch besonders eilig, wohingegen Sie besser die Gelegenheit nutzen sollten, in Ostende eine Ruhepause einzulegen, Miss Ellery.“

„Ich bin ebenfalls in Eile“, erklärte sie mit Nachdruck.

Lord Weybourn drehte sich zu ihr um. „Können Nonnen in Eile sein?“

„Natürlich. Außerdem wissen Sie nur zu gut, dass ich keine Nonne bin, Mylord.“ Diesen unmöglichen Mann schienen ihre vorwurfsvollen Worte nicht zu stören, was entweder an seiner Arroganz, seiner sträflichen Unbeschwertheit oder daran lag, dass er ein besonders dickes Fell hatte. Wahrscheinlich passten alle drei Attribute zu seinem Charakter. „Ich werde im Londoner Ordenshaus erwartet.“

„Wie lange die Überquerung des Ärmelkanals dauert, lässt sich wegen des Wetters nie genau absehen. Daher wird niemand darauf achten, ob Sie einen Tag früher oder später eintreffen. Außer jemand liegt im Sterben.“ Er hob fragend eine Braue. Tess schüttelte den Kopf. „Na also. Dann sollten Sie lieber halbwegs erholt und hoffentlich ohne Humpeln in London eintreffen. Beim ersten Auftritt sollte man immer den besten Eindruck machen. Übrigens wird gleich das Frühstück gebracht.“

Geschmeidig und selbstbewusst schlenderte er durch das Zimmer. Tess’ Hände schmerzten, so gern hätte sie die Finger zu Fäusten geballt.

„Ärgern Sie sich bloß nicht über ihn, Miss Ellery“, riet ihr der blonde Eiszapfen. Offenkundig ließen sich ihre Empfindungen an ihrem Gesicht ablesen. Er senkte anmutig den Kopf. „Crispin de Feaux, Marquess of Avenmore, zu Ihren Diensten. Rivers ist Ihnen ja bereits vorgestellt worden.“ Er wies auf den dritten Mann. „Der hier ist, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, nicht der örtliche Anführer einer Bande von Straßenräubern, sondern Gabriel Stone, der künftige Earl of Edenbridge.“

Lord Edenbridge kam auf die Füße, verbeugte sich in übertriebener Form vor ihr und ließ sich dann wieder auf seinen Stuhl fallen. „Hocherfreut, Miss Ellery.“ Seine Karten schienen ihn jedoch mehr zu erfreuen.

„Ich werde Ihnen heißes Wasser bringen lassen.“ Mr. Rivers hielt ihr die Schlafzimmertür auf. „Bestimmt fühlen Sie sich besser, wenn Sie sich frisch gemacht und gefrühstückt haben, Miss Ellery.“

Tess dankte ihm und knickste, so gut sie konnte in Richtung der anderen drei Männer. Dann humpelte sie in das Nebenzimmer und setzte sich auf das Bett, um auf das Wasser zu warten. Es war nicht ihre Schuld. Sie wusste, wer die Schuld trug. Doch da sie eine Lady war – oder doch zumindest so erzogen worden war, sich wie eine adlige Dame zu benehmen, würde sie sich auf die Zunge beißen und sich um eine würdevolle Haltung bemühen. Auch wenn sie sich wahrhaftig ihren Teil dabei dachte, um diese Zeit zu frühstücken! Bestimmt würde es beinahe Mittag sein, wenn sie sich vom Frühstückstisch erhoben.

Wie sie es erwartet hatte, erwies sich die Reisekutsche als ausgesprochen bequem. „Diese Kutsche und meine eigenen Pferde stehen hier auf dem Kontinent immer für mich bereit“, erläuterte Lord Weybourn, als Tess sich für die weichen Sitze und Polster begeisterte. „Gemietete Kutschen und Pferde werden in der Regel selten meinen Ansprüchen gerecht.“

„Dann halten Sie sich also oft auf dem Kontinent auf, Mylord?“ Tess lehnte sich genüsslich gegen ein Eckpolster, sodass Mr. Rivers ihr die Beine auf den Sitz legen und sie mit einer Wolldecke zudecken konnte. Darunter kam noch ein heißer Ziegelstein, der in Flanell gewickelt war. Was für ein Luxus! Sie würde die Annehmlichkeiten, die diese Reise ihr bot, genießen, zumal für die Zukunft kaum wieder etwas Ähnliches in Aussicht stand.

„Ja, wir vier sind alle regelmäßig auf dem Kontinent.“ Lord Weybourn schlug auf der gegenüberliegenden Seite die Beine übereinander, während Mr. Rivers sich in die andere Ecke setzte. Sie stellte fest, dass sie ihr den besten Platz in der Kutsche in Fahrtrichtung überlassen hatten. „Cris – Lord Avenmore – ist Diplomat und verbringt die Hälfte seiner Zeit beim Wiener Kongress oder geht hier anderen geheimnisvollen Geschäften nach. Gabe liebt es sowohl zu reisen als auch jeden Spieler zu schröpfen, der töricht genug ist, sich auf eine Partie mit ihm einzulassen. Und mein Freund Grant hier kauft Pferde ein.“

„Ich betreibe ein Gestüt“, erläuterte Mr. Rivers. „Ich führe ab und an ein paar der ungewöhnlicheren kontinentalen Züchtungen ein.“

„Und Sie, Mylord?“

„Alex.“ Wieder schenkte er ihr dieses geheimnisvolle Lächeln. „Ich werde immer das Gefühl haben, dass Sie mir nicht verziehen haben, wenn Sie mich weiter mit Mylord ansprechen.“

Es erschien ihr nicht richtig, aber vielleicht war dieser Grad an Ungezwungenheit unter Aristokraten etwas ganz Alltägliches. „Nun gut, obgleich Alex Tempest eher nach einem Freibeuter als nach einem Viscount klingt.“

Mr. Rivers prustete vor Lachen. „Genau das ist er. Er streift über den Kontinent, um Beute zu machen und vergrabene Schätze zu finden.“

„Kunst und Antiquitäten, mein lieber Grant“, verbesserte Alex ihn schmunzelnd. „Und ganz gewiss keine vergrabenen Dinge. Oder kannst du dir vorstellen, dass ich eine Schaufel in Händen halte?“

Keinesfalls war Tess entgangen, was für ein muskulöser Körper sich unter dem maßgeschneiderten Gehrock verbarg. Vielleicht war das nicht unbedingt das Ergebnis schnöder körperlicher Betätigung, doch auf irgendeine Weise hielt sich der Viscount erstaunlich in Form. Nein, Sie rühren vielleicht keine Schaufel an, aber ich sehe bildlich vor mir, wie Sie mit einem Degen kämpfen, dachte Tess.

„Ich bin ein Connaisseur, ein Spürhund, der die Trüffeln in einem vom Krieg verwüsteten Kontinent aufspürt.“

„Ein Poseur, meinst du wohl“, bemerkte Mr. Rivers trocken.

„Natürlich, das auch“, bestätigte Alex mit entwaffnender Offenheit. „Immerhin habe ich einen Ruf zu verteidigen.“

„Bitte verzeihen Sie, wenn ich das frage“, mischte sich Tess ein. „Handelt es sich denn dabei nicht um ein Geschäft? Ich dachte immer, es gehöre sich nicht für einen Adligen, Handel zu treiben.“ Und vielleicht war es auch ungebührlich, das überhaupt zu erwähnen.

„Es bedeutet das gesellschaftliche Todesurteil“, bestätigte Grant Rivers. „Daher halten diejenigen, dich sich nicht auf das Familienvermögen stützen können, die höfliche Fassade aufrecht. Ich unterhalte ein Gestüt zu meinem eigenen Vergnügen und verkaufe an Bekannte, die mich inständig bitten, ihnen ein Rennpferd mit Gewinnerblut zu überlassen. Alex wiederum wird von jenen angesprochen, die über mehr Geld als Geschmack verfügen. Diese Gentlemen zeigen sich sehr dankbar, wenn er ihnen wundervolle und seltene Objekte aus seiner Sammlung zur Verfügung stellt, mit denen sie den Status ihrer neuen großen Häuser aufwerten können. Diese Gnadenakte zahlt er selbstverständlich nicht aus eigener Tasche. Gabe ist ein geborener Spieler, wie man ihn selten trifft. Es ist sonderbar, dass er fast nie verliert, wie es bei den anderen der Fall ist. Doch du kannst das niemandem vorwerfen, solange du ihn nicht beim Betrug erwischst.“

„Und spielt er falsch?“

„Er scheint ein höllisches Glück zu haben und genug Willensstärke, um im richtigen Moment aufzuhören. Außerdem würde er jeden umbringen, der behauptet, er habe die Karten gezinkt“, antwortete Alex. „Und bevor Sie danach fragen, Cris ist der Einzige von uns, der bereits den väterlichen Titel geerbt hat. Wir anderen sind nur Erben, die darauf warten. Er ist ein echter Marquess.“

„Und Sie, kleine Nonne? Wenn wir schon so offen unter Freunden plaudern?“

Er wusste nur zu gut, dass sie keine Nonne war, doch wenn sie seinen Spott nicht beachtete, würde er vielleicht damit aufhören. „Im Gegensatz zu Ihnen und Ihren Freunden besitze ich keinen Heller, außer den wenigen Münzen, die mir die Mutter Oberin für die Reiseverpflegung und die Postkutsche in England gegeben hat.“ Tess gelang es, den beiden Männern ein strahlendes Lächeln zu schenken, obgleich ihre Mittellosigkeit wahrhaftig keinen Anlass zur Freude bot. Vor dem „kleinen Gespräch“ mit der Mutter Oberin vor einer Woche hatte das keine große Rolle gespielt.

Teresa lebte seit zehn Jahren bei den Schwestern im Kloster, auch nachdem ihre Tante, Schwester Boniface, vor fünf Jahren verstorben war. Tess hatte sich hartnäckig geweigert, vom Anglikanismus ihrer Kindheit zum Katholizismus zu konvertieren. Konsequenterweise hatte sie im Kloster keine Zukunft als Nonne. Ebenso wenig konnte sie auf ihre verwandtschaftlichen Verbindungen in England zurückgreifen. Die Mutter Oberin hatte ihr schließlich erklärt, warum.

„Teresa, du bist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Was willst du also aus deinem Leben machen?“, hatte sie gefragt, während Tess noch die plötzlichen Enthüllungen über ihre skandalöse Herkunft in den Ohren nachhallten.

Ich muss ausgesehen haben, als ob ich vollkommen einfältig wäre, dachte Tess und starrte aus dem Kutschenfenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Nonnen hatten ihr anvertraut, die Kleinen zu unterrichten – Waisenkinder wie sie selbst. Doch offenkundig war das nur zur Überbrückung gewesen, bis sie erwachsen war. Oder, wie sie jetzt mutmaßte, bis die Mutter Oberin endgültig zu dem Schluss gelangt war, dass bei ihr keinerlei Aussicht auf eine Konvertierung bestand.

Das alles war so weit in Ordnung. Selbst wenn nichts von dem Geld übrig war, das ihr Vater Tess mitgegeben hatte. Der Traum von einer Familie in England, von Menschen, die vielleicht verziehen, was Mama und Papa getan hatten, hatte sich in Luft aufgelöst. Sie würde es ohne Murren hinnehmen und versuchen, nicht daran zu denken. Sie kannte harte Arbeit und war, weiß Gott, keinen Luxus gewohnt.

Schwere Wolken zogen über den Himmel, und draußen wurde es so dunkel, dass Tess’ Gesicht sich im Glas spiegelte. Was für eine ärmliche Gans sie dort sah! Der Hut trug sein Übriges dazu bei. Sie setzte sich gerader hin und bemühte sich, an etwas Schönes zu denken.

Was war bloß mit der kleinen Nonne los? Alex beobachtete sie mit halb geschlossenen Augen. Grant war neben ihm eingenickt, und auch er fühlte sich nach dem langen nächtlichen Kartenspiel, dem Brandy und den Gesprächen schläfrig. Doch etwas an der Frau auf der anderen Seite hielt ihn wach. Wenn sie keine Nonne war, was tat sie dann in einem Kloster, gekleidet wie ein nasser Sonntagmorgen im November? Ihre Sprache ließ auf eine gute Erziehung schließen. Wenn sie ihn nicht gerade zurechtwies, benahm sie sich wie eine echte Lady.

Das gab ihm in der Tat Rätsel auf. Normalerweise hatte Alex eine Vorliebe für Geheimnisvolles, erst recht, wenn es um Damen ging. Doch diese junge Person machte einen unglücklichen Eindruck, was vergnüglichen Spekulationen einen Dämpfer versetzte. Es steckte mehr dahinter als die Verärgerung über einen verstauchten Knöchel und verpasste Schiffe, da war er sich ganz sicher. Tapfer bemühte sie sich zu verbergen, dass sie etwas bedrückte. Seine kleine Nonne war gewiss kein Feigling.

Sie hob eine dünne dunkle Augenbraue.

„Haben Sie es bequem genug, Miss Ellery?“

„Außerordentlich bequem, Mylord … Alex.“ Ja, dieses Lächeln wirkte in der Tat tapfer, aber geheuchelt.

„Bereitet Ihnen der Knöchel Schmerzen?“

„Nein, Mr. Rivers hat wahre Wunder vollbracht. Es tut nur noch weh, wenn ich den Fuß belaste. Bestimmt handelt es sich lediglich um eine leichte Verstauchung.“ Erneut verfiel sie in Schweigen. Zweifelsohne wurden die Frauen in einem Kloster dazu angehalten, nicht zu viel zu reden.

„Und was haben Sie in London vor? Geben Sie dort Ihr Debüt?“

Sie hatte den Hut abgenommen, und er erinnerte sich daran, wie ihr weiches dunkelbraunes Haar sich an seiner Wange angefühlt hatte, als er sie hochgehoben und zu dem Bett getragen hatte. Es war streng geflochten und hochgesteckt wie am Vorabend. Er fragte sich, wie es aussah, wenn sie es offen trug. Bei dem Gedanken bewegte er sich unruhig auf dem Sitz. Ihre langen Wimpern, die sich auf dem blassen Gesicht mit den leicht errötenden Wangen abzeichneten, und das Paar dunkelblauer Augen lenkten ihn schon genug von allem anderen ab.

Seine … Nein, Miss Ellery lachte. Es war das erste Mal, dass er sie lachen hörte, wenn es auch nur von kurzer Dauer war. Sie bedeckte den Mund mit einer Hand, was bedauerlich war, da es sich um einen hübschen Mund handelte, der sogar noch bezaubernder war, wenn sie lachte oder lächelte.

„Mein Debüt? Nein, das wohl kaum. Ich werde im Londoner Ordenshaus bleiben, bis die dortige Mutter Oberin für mich eine Stelle als Gouvernante oder Gesellschafterin findet.“

„In einer römisch-katholischen Familie?“ Das konnte eine Weile dauern, denn davon gab es nicht viele, zumindest nicht in den Kreisen, die wohlerzogene junge Frauen wie sie einstellten. Reiche Kaufleute kommen vielleicht infrage, dachte er.

„Nein. Nicht nur, dass ich keine Nonne bin, ich bin überdies anglikanisch.“

„Was zum Teu… Was um Himmels willen haben Sie denn dann in einem Kloster zu suchen?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Artig faltete sie die Hände im Schoß, als ob damit alles gesagt wäre.

„Es ist eine lange Reise“, erwiderte er. „Unterhalten Sie mich doch bitte mit Ihrer Geschichte, Miss Ellery.“

„Nun gut.“ Sie schien darüber nicht begeistert zu sein. „Ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Die ältere Schwester meiner Mutter, Beatrice, konvertierte gegen den erbitterten Widerstand ihrer Eltern zum Katholizismus und floh nach Belgien, um in einen Orden einzutreten. Sobald meine Mutter mündig war, begann sie, ihr zu schreiben. Trotz des Krieges reisten meine Eltern gern, auch weil es weniger teuer war, auf dem Kontinent zu leben.“ Sie wandte den Blick von ihm ab. Mache ich mir selbst etwas vor? „Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag hielten wir uns in Belgien auf, und meine Mutter beschloss, meine Tante zu besuchen.“

„Und wann war das?“, fragte Alex. Wie alt ist sie? Zwanzig?

„Vor zehn Jahren. Ich bin dreiundzwanzig“, antwortete Tess mit einer Offenherzigkeit, die keine andere unverheiratete Dame aus seinem Bekanntenkreis an den Tag gelegt hätte.

„1809.“ Alex dachte an das Jahr zurück. Er war siebzehn gewesen und versucht, zur Armee zu gehen. Schließlich hatte er sich dagegen entschieden. Wahrscheinlich hätte sein Vater einen Schlaganfall erlitten, wenn sein ältester Sohn und Erbe erstmals in seinem Leben etwas getan hätte, was seine Eltern guthießen. „Wenn ich mich recht erinnere, fand der Krieg damals überwiegend im Osten statt.“

„Ja, ich glaube auch.“ Tess biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

Alex schlug erneut ein Bein über das andere. Verflucht, das Mädchen – die Frau – machte einen traurigen Eindruck, daran änderten auch ihr strahlender Teint und die Schönheit ihrer Augen nichts. Was war bloß mit ihr los?

„Wie dem auch sei, die Reise schien meinen Eltern damals ungefährlich zu sein. Wir kamen in Gent an, und meine Mutter begab sich zum Kloster. Ihr wurde erlaubt, meine Tante zu sehen, die den Namen Schwester Boniface angenommen hatte. Doch es gab eine Cholera-Epidemie in der Stadt, und sowohl Mama als auch Papa … Sie sind beide gestorben.“

Sie wurde ganz still, und Alex überlegte, ob ihre Erzählung damit endete. Doch schließlich machte sie eine kleine Bewegung, als ob sie sich Regentropfen von den Schultern schütteln würde, und hatte sich wieder gesammelt. „Als meinem Vater bewusst wurde, wie ernst die Lage war, hat er mich mit allem Geld, das er noch hatte, zu meiner Tante geschickt. Seitdem habe ich im Kloster gelebt. Doch da ich keine Nonne werden möchte und das Geld für meinen Unterhalt aufgebraucht ist, muss ich mein Glück in der Welt machen.“

„Aber gewiss haben Sie Verwandte in England … Großeltern, Tanten, Onkel oder Cousins und Cousinen?“

„Es gibt niemanden, zu dem ich gehen könnte.“

Es musste doch Angehörige geben, oder? Erneut wich Tess seinem Blick aus und starrte aus dem Fenster. Hinter der Geschichte steckte noch mehr – etwas, was sie ihm nicht erzählt hatte, und sie war zu ehrlich, um zu lügen. Alex nahm davon Abstand, die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen. Im Grunde ging es ihn nichts an. „Und das Klosterleben war nichts für Sie?“

„Ich habe immer gewusst, dass ich nicht für ein Dasein als Nonne geschaffen bin.“ Sie lächelte gequält.

Es gibt bestimmt irgendwo Angehörige, dachte Alex. Vielleicht hatte die fortgelaufene Tante das Zerwürfnis ausgelöst, unter dessen Folgen Tess nun zu leiden hatte. Er wusste, was es hieß, zurückgewiesen zu werden, doch er war ein Mann, der über Geld, Unabhängigkeit und inzwischen auch über Einfluss verfügte. Sie hingegen war eine mittellose junge Frau, die abgeschieden von der Welt gelebt hatte.

„Jetzt, da ich Sie ein wenig besser kenne, kann ich bestätigen, dass Sie nicht in ein Kloster passen“, sagte er schmunzelnd, um sie mit etwas Spott aus ihrer Nachdenklichkeit zu reißen. „Zum einen haben Sie zu viel Temperament.“

Tess errötete, ohne sich jedoch gegen die Anschuldigung zu wehren. „Ich bemühe mich darum, es zu zügeln. Allerdings müssen Sie zugeben, dass Sie mich über Gebühr provoziert haben, auch wenn mein Verhalten unentschuldbar ist.“

„Fahren Sie nur fort, tadeln Sie mich. Mein Fell ist dick genug, um das zu verkraften.“ Alex lächelte sie an und stellte fest, dass sie zu Boden sah. Sie ist die Gegenwart von Männern überhaupt nicht gewohnt. Eine echte Unschuld, die keine Vorstellung davon hat, wie man flirtet. Benimm dich, Tempest! Aber sie war ein bezauberndes Novum.

„Ich werde den Dezember und vielleicht auch den Januar im Londoner Konvent verbringen. Vermutlich ist es eine Jahreszeit, in der kaum jemand eine Gouvernante oder Gesellschafterin einstellt.“ Sie fingerte am Rand der Reisedecke herum. „Das ist sehr schade, denn es wäre wunderbar, Weihnachten bei einer Familie zu verbringen. Die Weihnachtstage sind immer eine glückliche Zeit, ganz gleich, wo man sich befindet.“

„Wirklich?“ Alex dachte an das letzte Weihnachtsfest, das er mit seiner Familie verbracht hatte. Er war noch nicht ganz achtzehn Jahre alt gewesen. Seine Eltern hatten nicht miteinander geredet, die verrückte Großtante hatte das Frühstückszimmer in Brand gesteckt, seine jüngeren Geschwister hatten sich unablässig gestritten, und beim abendlichen Weihnachtsdinner war es schließlich zu dem unverzeihlichen Wutausbruch seines Vaters gekommen.

Es gibt eine Reihe von Dingen, über die ein reifer Mann lachen kann, wenn es um die Wutausbrüche eines jähzornigen Elternteils geht. Aber einem empfindsamen Siebzehnjährigen war es unmöglich gewesen, den Unterstellungen mit Humor zu begegnen, geschweige denn, sie zu verzeihen. Schließlich hatten sie eine Tragödie zur Folge gehabt.

An jenem Abend war Alex vom Tisch aufgestanden, hatte seine Sachen gepackt und war schleunigst nach Oxford zurückgekehrt. Dort blieb er, nicht ohne zuvor jeden Penny des Geldes von der Bank abzuheben, bevor sein Vater die finanziellen Zuwendungen unterband. Als er die furchtbare Nachricht von Peters Tod erhielt, hatte er bereits ein unabhängiges Leben begonnen.

„Sie werden doch sicherlich Weihnachten zu Hause verbringen, nicht wahr?“, fragte Tess.

Alex wurde bewusst, dass er eine ganze Weile geschwiegen haben musste. „Natürlich bin ich zu Hause. Allerdings reise ich nicht zu meiner Familie, und schon gar nicht an Weihnachten.“

„Das tut mir leid für Sie“, sagte sie und blickte ihn mitfühlend an.

Neben ihm gab Grant einen unschönen Schnarchlaut von sich und wachte auf. „Weihnachten? Erzähl mir bloß nicht, dass du zurück nach Tempeston gehst, Alex!“

„Du liebe Güte, nein!“ Alex schauderte. „Ich bleibe meinen Gewohnheiten treu. Ich ziehe mich gemütlich mit gutem Wein, hervorragendem Essen, Brandy und einem Haufen Bücher an das prasselnde Kaminfeuer zurück, bis der Rest der Menschheit seinen jährlichen Anfall von Plumpudding entfachter Gefühlsduselei ausgestanden hat und wieder normal wird. Und wie sieht es mit deinen Plänen aus?“

„Ich habe Whittaker versprochen, ihn zu besuchen. Du erinnerst dich bestimmt, als sein Bruder in Salzburg starb, war er zugegen. Er wohnt am Rand von Edinburgh, und ich habe ihm gesagt, dass ich zu ihm komme, sobald ich wieder im Land bin.“ Grant streckte so gut es ging die langen Beine aus. „Allerdings kann ich nur kurz bei ihm bleiben, weil ich von dort aus direkt zu meinem Großvater nach Northumberland reise.“

„Wie geht es ihm?“ Grant war der Erbe des alten Mannes. Nach dessen Tod würde er zum Viscount werden, da sein Vater bereits vor Jahren gestorben war.

„Er ist gebrechlich“, entgegnete Grant knapp. Er mag seinen Großvater, dachte Alex mit einer Spur von Neid, die ihm alles andere als lieb war.

„Bestimmt wird es ihm guttun, wenn Sie ihm an Weihnachten Gesellschaft leisten“, sagte Tess und lächelte.

„Er freut sich immer, Grant zu sehen. Die Jahreszeit spielt dabei keine Rolle.“ Alex gelang es gerade noch, die Schärfe aus seinem Tonfall zu nehmen. „Was soll das ganze Getue um Weihnachten überhaupt?“

Es war eher als rhetorische Frage gemeint, aber Tess starrte ihn an, als ob er behauptet hätte, dass es von unten nach oben regnete. „Sicherlich wollen Sie sich einen Scherz erlauben, oder?“ Als er den Kopf schüttelte, verkündete sie: „Dann werde ich es Ihnen in Erinnerung rufen, obgleich ich wahrhaftig nicht glauben kann, dass Sie ein solcher Zyniker sind.“ Sie hielt kurz inne, als ob sie ihre Gedanken sammeln müsste, und öffnete dann wieder den Mund. „Also zunächst ist da …“

Bitte nicht! dachte Alex entsetzt. Wenn es etwas gab, was noch schlimmer als Weihnachten war, dann jemanden, der sich dafür begeisterte.

„Immergrün …“, begann das verwünschte Mädchen seine Aufzählung. „Es abzuschneiden und …“

Alex zog ein finsteres Gesicht.

3. KAPITEL

Und es ist furchtbar kalt, aber das gehört zum Spaß dazu. Jeder ist dick eingemummelt, und der Schnee knirscht unter den Füßen. Alle atmen den wundervollen Tannenduft ein.“ Tess schloss die Augen, um sich besser an die Einzelheiten zu erinnern. Es waren Erinnerungen an die wundervollen englischen Weihnachtsfeste vor vielen Jahren, bevor Papa gesagt hatte, dass sie das Land verlassen müssten. Sie hatten nicht viel Geld gehabt, und jedes Jahr hatten sie sich in einem anderen Dorf aufgehalten.

Sie hatte nie gefragt, weshalb sie unablässig unterwegs waren. Sie hatte es einfach für selbstverständlich gehalten, wie es Kinder eben tun. Aus heutiger Sicht als Erwachsene war ihr klar, dass es wahrscheinlich darum gegangen war, nirgends erkannt zu werden, um einem Skandal zu entkommen. Und deshalb hatten sie auch das Land verlassen – auf dem Kontinent war das Leben nicht so teuer, und dort mussten die Eltern sich auch weniger vor dem Gerede der Leute fürchten.

Dennoch waren wir glücklich, dachte sie. Schneeballschlachten an Weihnachten und bedingungslose Liebe das ganze Jahr über kamen ihr in den Sinn. Als sie die Augen wieder öffnete, verzog Alex Tempest noch immer das Gesicht, als ob er eine Wespe verschluckt hätte. Was für ein Griesgram!

Sie sprach weiter, ohne auf ihn zu achten, da die kostbaren Erinnerungen unaufhaltsam in ihr hochstiegen. „Und wie schön es ist, Pläne zu schmieden, mit welchen Geschenken, du deinen Freunden Freude machen kannst und dann genau das Richtige zu finden oder es selbst herzustellen. Das ist beinahe noch besser, als selbst beschenkt zu werden. Es ist so vergnüglich, die Geschenke zu verstecken, sie einzupacken und dann in das Gesicht des Menschen zu blicken, der versucht zu erraten, was das Paket beinhaltet.“

Mr. Rivers lächelte, obgleich sein Blick nichts von seiner Traurigkeit verloren hatte. Tess erwiderte das Lächeln. „Und dann die ganzen Vorbereitungen für das Weihnachtsessen. Und das Läuten der Glocken am Weihnachtsabend. Jedes Mal kann man vor Aufregung nicht schlafen, und doch nickt man irgendwann ein.“

Lord Weybourn, Alex, machte jetzt den Eindruck, als ob er Schmerzen hätte. Was war bloß mit diesem Mann los?

„Haben Sie Ihre Weihnachtseinkäufe bereits erledigt, Miss Ellery?“, erkundigte sich Mr. Rivers. „Sie scheinen mir eine Frau zu sein, die lange im Voraus plant.“

„Ich habe meine Geschenke im Kloster gelassen. Die Nonnen werden sie an Weihnachten verteilen. Das meiste habe ich selbst genäht, aber ich besitze beim Nähen und Sticken kein großes Talent.“ Es hieß ja immer, dass allein der Gedanke zählte. Doch sie hatte Schwester Monicas Gesicht vor Augen, wenn sie den klumpigen Saum des Wischtuchs für ihre Schreibutensilien sah. Nie im Leben wäre Tess in die Gruppe aufgenommen worden, die feine Leinentücher für den Verkauf bestickte oder Messgewänder für die Genter Kirchen anfertigte.

„Aber im nächsten Jahr werde ich mein eigenes Geld verdient haben und kann Geschenke verschicken, die ich gekauft habe.“ Immerhin war das ein weiterer positiver Aspekt an der beängstigenden Zukunft, die vor ihr lag. Sie hatte gründlich nachgedacht und war auf beinahe zehn dieser Aspekte gekommen. Bei einer Familie leben. Einer Familie. Das Wort fühlte sich warm und rund an, wie der Geschmack von Plumpudding oder der Duft von Rosen an einem Nachmittag im August.

Tess dachte an die Liste, die sie gemacht hatte. Ein eigenes Zimmer. Farbige Kleidung. Abwechslungsreiches Essen. Wärme. Ein Lohn. Kontrolle über das eigene Schicksal …

Sie nahm an, dass Letzteres sich als unrealistisch erweisen würde. Wie viel Freiheit würde ihr schon das magere Salär einer Gouvernante oder Gesellschafterin gewähren? Sie warf Alex einen flüchtigen Blick zu, doch seine Augen waren geschlossen, und er gab sich alle Mühe, Schlaf vorzutäuschen. Offenbar lag ihm wirklich nichts an Weihnachten. Wie seltsam.

Mr. Rivers unterhielt sich weiterhin höflich mit ihr, und sie antwortete auf seine Fragen, während die Abenddämmerung einsetzte. Ihr Magen begann gerade zu knurren, als die Kutsche im Hof eines Gasthauses halt machte, der Reitknecht die Tür öffnete und sie den Salzgeruch der kalten Abendbrise einatmete.

„Ostende. Wach auf, Alex! Du hast wie ein Murmeltier geschlafen, du fauler Teufel.“ Grant Rivers stupste dem Freund gegen die Rippen. „Kann ich deinen Kutscher bitten, mich bis an die Anlegestelle zu bringen? Du bleibst sicher über Nacht hier. Ich schicke ihn umgehend zurück.“

Alex öffnete ein Auge. „Ja, natürlich kannst du die Kutsche haben. Higgs, laden Sie mein Gepäck und das von Miss Ellery ab und bringen Sie Mr. Rivers zu seinem Schiff.“ Er rappelte sich auf und hielt Tess eine Hand hin. „Wenn Sie bis zum Ende der Sitzbank rutschen, kann ich Sie aus der Kutsche heben.“

Noch bevor sie widersprechen konnte, lag sie in seinen Armen. „Vor allem muss ich mich auf die Suche nach einem Schiff machen, Mylord.“

„Sie sollten mich wirklich endlich Alex nennen. Wir nehmen morgen gemeinsam ein Schiff. Jetzt brauchen Sie eine anständige Mahlzeit, ein heißes Bad und ein bequemes Zimmer für die Nacht. Und jetzt hören Sie auf, sich zu winden, sonst lasse ich Sie noch fallen.“

„Aber …“

„Auf Wiedersehen, Miss Ellery.“ Grant Rivers stieg wieder in die Kutsche, und Bedienstete trugen zwei schöne Lederkoffer sowie Tess’ abgewetzten schwarzen Handkoffer zu den geöffneten Türen des Gasthofs. „Gute Reise! Ich hoffe, dass Sie in London rasch eine geeignete Anstellung finden.“ Er schloss von innen die Kutschentür und lehnte sich aus dem Fenster. „Pass auf dich auf, Alex.“

„Du auch auf dich.“ Alex befreite eine Hand und drückte die Finger des Freundes. „Umarme Charlie von mir.“

„Wer ist Charlie?“, fragte Tess, während er sie in das Gasthaus trug. Es war ausgesprochen angenehm, von einem Mann getragen zu werden. Einen Moment ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf und stellte sich vor, dass er ihr Geliebter wäre, der sie auf Händen trug …

„Sein Sohn.“ Alex’ knappe Antwort holte sie zurück in die Gegenwart.

„Mr. Rivers ist verheiratet?“ In ihren Augen hatte er gar nicht verheiratet ausgesehen – wie auch immer das aussah.

„Er ist Witwer.“ Alex’ Tonfall ermunterte sie nicht dazu, weitere Fragen zu stellen.

Vielleicht lag deshalb diese Traurigkeit in Grant Rivers’ Blick. Bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, kam der Besitzer des Gasthofs ihnen entgegen, um sie zu begrüßen.

„LeGrice, ich brauche ein weiteres Zimmer.“ Alex war hier offensichtlich bekannt und wurde erwartet. „Ein komfortables und ruhiges Zimmer für die junge Dame, ein Dienstmädchen, das ihr hilft, zwei heiße Bäder für uns beide und anschließend das beste Nachtmahl, das Sie uns in unseren Räumlichkeiten servieren können.“

„Mylord.“ Alex gehörte allem Anschein nach zu den Menschen, deren Wünsche Befehl waren. Der Gastwirt eilte sofort geschäftig hin und her, als ob der Prinzregent in seinem Haus abgestiegen wäre. Vielleicht würde sie den Prinzregenten sehen, wenn sie in London war. Dieser Gedanke lenkte Tess so sehr ab, dass sie keinen Protest erhob, als Alex sie die Treppe hoch in ein Schlafzimmer trug.

Der Anblick des breiten Bettes riss sie aus ihren Fantasien über Staatskarossen und Mitglieder des Königshauses mit aufwendigen Perücken. „Bitte setzen Sie mich sofort ab!“

Es musste schärfer geklungen haben, als sie es beabsichtigt hatte. Alex blieb wie angewurzelt stehen. „Das hatte ich auch vor.“

„Hier. Direkt im Türrahmen. Dies ist ein Schlafzimmer.“

„Das weiß ich. Ein Anhaltspunkt dafür ist die Tatsache, dass sich ein Bett darin befindet.“ Er machte sich über sie lustig. Sie spürte das Beben in seinem Körper, als er das Lachen unterdrückte.

Ihr linkes Ohr wurde gegen seine Brust gedrückt. Ruckartig hob Tess den Kopf an. „Dann lassen Sie mich bitte runter. Sie haben in meinem Schlafzimmer nichts zu suchen.“

„Gestern habe ich Sie auch ins Bett getragen.“

„Ein Unrecht hebt das andere nicht auf“, sagte sie und erschrak, weil ihre Worte so überheblich wirkten.

„Hat Ihnen das Ihr Kinderfräulein erzählt?“ Alex trug sie in Richtung des Kamins und setzte sie auf einem Stuhl ab.

„Nein, Schwester Benedicta“, gestand Tess. „Ich habe mich eben genau wie sie angehört. Wie beschämend.“

„Warum beschämend?“ Er lehnte sich entspannt mit einer Schulter gegen den hohen Kaminsims und bot einen ebenso erfreulichen Anblick wie eine sorgfältig platzierte Statue. Das Licht der Lampe umspielte die goldenen Strähnen seines Haars, dessen Farbe sie zuvor für ein gewöhnliches Dunkelblond gehalten hatte.

„Weil es eine abgedroschene Binsenweisheit ist, und ich nicht die Absicht habe, mit solchen Gemeinplätzen hausieren zu gehen.“

Erneut bog sich Alex’ Mund zu einem rätselhaften Lächeln, und Tess wurde bewusst, dass sie auf seine Unterlippe starrte, die sonderbarerweise in der Mitte breiter wirkte, wenn er lächelte.

„Selbstverständlich ist es lieblos von mir, Schwester Benedicta in dieser Form zu schmähen“, fügte sie rasch hinzu. „Aber manchmal hat sie mir endlose Vorträge gehalten, die aus nichts als einer Aneinanderreihung von Floskeln bestanden. Dann musste ich mir immer auf die Lippen beißen, um nicht vor Ermüdung zu schreien.“ Auf die Lippen beißen … Warum um Himmels willen kam ihr dieses Bild in den Sinn? Das muss sofort aufhören!

„Ich werde jetzt meine gefährliche männliche Person aus Ihrem Schlafzimmer entfernen, damit Sie in aller Ruhe ein Bad nehmen können.“ Er stellte sich gerade hin und schlenderte zur Tür. „Wollen wir in einer Stunde essen, was meinen Sie?“

„Ja, das ist ein wunderbarer Vorschlag, vielen Dank. Ein Kaminfeuer, ein heißes Bad und ein Dienstmädchen …“, redete Tess weiter, als Alex die Tür öffnete, und ein hübsches Mädchen mit rosigen Wangen und blonden Zöpfen sich unter Alex’ Arm hindurchbückte. Er sah Tess noch einmal schmunzelnd an und ging hinaus.

Das war in der Tat der Rosenpfad, der direkt ins Verderben führte: Luxus, Wärme, Muße und bedient werden. Und alles, weil sie nicht die Willenskraft besessen hatte, am Vorabend wach zu bleiben und darauf zu bestehen, zu Schwester Claire gebracht zu werden. Nachdem sie versucht hatte, die albernen Sehnsüchte in sich auszulöschen, kam sie jetzt tatsächlich in den Genuss von Dingen, von denen sie geträumt hatte. Und das alles wurde ihr von einem attraktiven Mann geboten. Es würde ihr jetzt noch schwerer fallen, sich in ihr neues Leben zu fügen. Meine gefährliche männliche Person. Oh ja, das war er in der Tat.

Es ist eine echte Qual, dachte sie, als ein Bediensteter einen Zinnzuber hereintrug, ihn vor dem Kaminfeuer abstellte und ein weiterer Mann Eimer mit dampfendem Wasser herbeischleppte, um den Zuber zu füllen. Ihr wurde ein kurzer Einblick in das gewährt, was sie hätte haben können, wenn Mama und Papa nicht gestorben und ihr etwas Geld und eine Familie vergönnt gewesen wären.

Wenn das Wörtchen wenn nicht wär’ … Schon wieder eine abgedroschene Floskel! Das Dienstmädchen sagte etwas, und Tess zog ihr Taschentuch hervor, schnäuzte wenig dezent und versuchte, sich zu konzentrieren. „Dank u“, sagte sie und ließ sich von dem Mädchen das Cape abnehmen und die Schnüre des Kleides lösen. „Wat is uw naam?“, fragte sie die Bedienstete, um sie das nächste Mal mit dem Namen anzusprechen.

Verflucht. Tess’ Stimme hörte sich an, als ob sie weinen würde oder zumindest kurz davor stünde. Er war keine Tränen gewohnt, außer wenn es sich um das theatralische Begleitwerk von Wutanfällen handelte, bei denen es in erster Linie darum ging, mit kostspieligen Schmuckstücken getröstet zu werden. Alex stieß sich von der Wand vor ihrer Tür ab und folgte dem schlecht beleuchteten Gang zu seinem Zimmer. Wahrscheinlich schmerzte ihr Knöchel, sie war hungrig, fror und die Gegenwart von Männern befremdete sie. Vermutlich war es besser, wenn er eine anständige flämische Zofe von wenigstens vierzig Lenzen fand, die er dafür bezahlte, dass sie Tess auf der Reise nach London begleitete, während er ein anderes Schiff nahm.

Andererseits hatte Tess von ihm kein ungebührliches Verhalten zu befürchten. Wahrscheinlich würde sie sich morgen bereits viel besser fühlen, wenn sie sich ausgeruht hatte. Außerdem genoss er ihre Gesellschaft. Sie war erfrischend anders. Er war an einfältige junge Damen gewöhnt, die jahrelang in der Kunst unterwiesen worden waren, sich einen Ehemann zu angeln. Sie schienen alle nach ein und demselben Muster zu handeln und stellten fast nie einen eigenen Gedanken an. Die anderen Damen, die er kannte, waren erfahren und mondän. Sie hatten nur im Sinn, mit ihm zu flirten und ihn zu verführen, ebenso wie es ihm bei ihnen nur um sein Vergnügen ging.

Tess hingegen war geradlinig und unkompliziert wie ein Schulmädchen, besaß aber eine größere Reife und Klugheit als die meisten Frauen, denen er je begegnet war. Vielleicht wären all diese kleinen Schmetterlinge bei Almack’s in ihren pastellfarbenen Ballkleidern genauso wie sie, wenn man sie nicht so verzogen hätte. Jedenfalls genoss er Tess’ Gesellschaft, wenn sie nicht gerade in verklärender Weise über Weihnachten und Familie redete. Also würde er es sich nicht nehmen lassen, sie zu begleiten. Außerdem konnte er viel besser für ihre Sicherheit sorgen als eine Zofe.

Er versuchte, sein Zimmer zu finden, aber die Zimmernummern waren auf dem dunklen Gang kaum zu erkennen. Zum Teufel, welche Tür führte zu seinem? Ah, es muss die nächste sein. Er stieß mit dem Fuß gegen etwas Weiches und hörte einen Laut, der wie die Mischung aus einem Miauen und einem Quieken klang, bevor er ein leichtes Gewicht auf der rechten Stiefelspitze spürte.

Alex hob den Fuß, hüpfte zur Tür, öffnete sie und untersuchte im Licht der Kerze den kleinen orangefarbenen Flaumball, der sich an seine makellosen Lederstiefel krallte. „Lass meine Reitstiefel los!“ Die verflixte Kreatur rührte sich nicht. Offensichtlich verstand sie nur Flämisch. Nicht auf das leise Gelächter des Dienstmädchens achtend, das gerade Handtücher auf das Bett legte, hüpfte er zu einem Stuhl. Dann bückte er sich und versuchte, das Kätzchen so vom Stiefel zu entfernen, dass keine Kratzer entstanden, die bei seinem Diener zu einer Ohnmacht führen würden.

„Du bist bestimmt die Strafe dafür, dass ich Byfleet mit dem schweren Gepäck vorausgeschickt habe.“ Er hob das Kätzchen am Genick hoch, und das Tier schielte ihn an und miaute mitleiderregend. „Gewiss hätte er ein spezielles Werkzeug, um Spuren von Katzenkrallen von teurem Schuhleder zu entfernen.“ Er drehte sich um und wollte dem Dienstmädchen das Kätzchen in die Hände drücken, doch es war bereits aus dem Zimmer verschwunden, und ihr Kichern war nur noch leise am Ende des Gangs zu hören. Alex setzte das Tier auf dem Boden ab. Es sah zu ihm hoch, zuckte mit der Schwanzspitze und schob die rosa Zunge unter den Schnurrhaaren ein Stück aus dem Mäulchen.

„Du findest dich wohl unwiderstehlich?“

Das Kätzchen maunzte und sprang dann auf die baumelnde Quaste seines linken Stiefels zu.

„Nein!“ Alex fing das orange Knäuel in der Luft auf. „Du bist eine Landplage! Andererseits lieben Frauen Katzen und Babys egal welcher Art. Auf jeden Fall wirst du sie zum Lächeln bringen.“ Das Dienstmädchen hatte den Korb stehen lassen, mit dem sie die Handtücher gebracht hatte. Alex drehte ihn um und stülpte ihn über das Kätzchen, das jämmerlich maunzte. „Unfug! An dir ist auch eine große Schauspielerin verloren gegangen. Hier.“ Er schob ein Stück Papier unter den Korb und begann dann, sich auszuziehen, während er hörte, wie das Tier den Papierstreifen in Fetzen riss und wie ein Miniaturtiger fauchte.

Tess drückte den Rücken gerade und hob das Kinn, als könnte eine tadellose Haltung das Schwelgen in sündhaftem Luxus ausgleichen. Was für eine Glückseligkeit! Ein heißes Bad anstelle eines kalten Schwamms, weiche Handtücher, fein gemahlene Seife und ein Kaminfeuer. Selbst die Tatsache, dass sie wieder das triste graue Kleid hatte anziehen müssen, vermochte die fantastische Träumerei nicht gänzlich zu zerstören, eine bezaubernde Lady zu sein, die nach edlem Parfüm duftete, exquisit gekleidet und frisiert war, und die jeder Mann auf ein Podest heben würde, um sie von Weitem anzubeten.

Von Weitem war es wenigstens ungefährlich. Tess wusste von Beobachtungen und geflüstertem Gerede nur zu gut, was Männer taten, wenn man ihnen zu nahe kam und sie in irgendeiner Form ermutigte. Sie wollte darauf nicht näher eingehen. Wenn sie allerdings an die breiten Schultern eines bestimmten Gentleman dachte …

Die Tür öffnete sich, und Alex kam herein. Aus unerfindlichem Grund trug er einen Weidenkorb. „Sie sehen sehr rosa aus“, bemerkte er, nachdem er einen Blick auf ihr Gesicht geworfen hatte. „War das Badewasser zu heiß?“

„Äh, nein, ich sitze vermutlich nur zu nah am Feuer.“ Und außerdem erröte ich törichte Gans mal wieder bei seinem Anblick! Allem Anschein nach bedurfte es mehr als eines luxuriösen Bades, um sich in eine Dame zu verwandeln, bei deren Anblick einem Mann der Atem stockte. „Was haben Sie in dem Korb?“

„Ein sehr frühes Weihnachtsgeschenk für Sie.“ Er stellte den Korb auf ihrem Schoß ab. „Ich dachte mir, Sie könnten ein wenig Aufheiterung gebrauchen.“

Er hatte ihr einen Hut gekauft! Oder einen Muff oder hübschen Schal? Eine Lady durfte keine Kleidungsstücke von einem Mann annehmen, so viel wusste sie. Tess hatte sich regelmäßig ganz hinten ins Zimmer geschlichen, wenn Mrs. Bond ihre Vorträge über gutes Benehmen gehalten hatte. Diese Belehrungen waren dazu gedacht, die jungen Damen, die zum Abschluss ihrer Schulausbildung ins Kloster geschickt worden waren, auf das Leben vorzubereiten. Tess hätte eigentlich nicht dort sein sollen, da sie keinerlei Aussichten hatte, in die feine Gesellschaft aufgenommen zu werden. Daher musste sie auch nicht wissen, wie man heiratswürdige Gentlemen in angemessener Form für sich einnahm. Doch immerhin hatte es ihr vergnügliche Tagträume bereitet.

Diese Regeln sind nicht für mich gemacht worden, dachte sie, während sie die Finger auf den Korbdeckel legte. Ich bin keine Lady. Ich bin eine verarmte … Waise. Ein Hut wird mich also nicht kompromittieren.

Der Korb schien sich zu bewegen, als sie den Deckel öffnete. Ein kleines orangefarbenes Wollknäuel kletterte heraus und schnappte nach ihrem Handgelenk. Spitze Krallen bohrten sich in ihre Haut. „Autsch! Sie haben mir eine Katze mitgebracht?“ Keinen Hut. War er betrunken?

„Ein Kätzlein.“ Alex ging vor ihr in die Hocke, stellte den Korb zur Seite und versuchte, das wilde kleine Biest von ihrem Arm zu ziehen. „Au! Jetzt hat sie mich gebissen.“

Gut. „Er hat Sie gebissen. Orangerote Katzen sind gewöhnlich Männchen.“

„Wirklich?“ Alles, was sie von Alex sehen konnte, war sein Kopf, den er vorgebeugt hatte, während er mit dem Kätzchen rang. Sein Hinterkopf und die breiten Schultern … Welche Bewandtnis hatte es bloß mit diesem Teil des männlichen Körpers auf sich? Oder war es nur bei seinen Schultern so? Tess hatte selbstverständlich nicht das dreiundzwanzigste Lebensjahr erreicht, ohne ganz aus der Ferne ein paar gut aussehende Männer bewundert zu haben. Selbst das Leben in einem Kloster hatte nicht vermocht, ihre natürlichen Sehnsüchte zu vertreiben, ganz gleich wie sündhaft sie auch sein mochten.

Alex ging mit seinen großen Händen sanft zu Werke, als er versuchte, ihr Handgelenk von dem Katzenbaby zu befreien, das sich an ihrem Ärmelbündchen festkrallte. „Kleiner Halunke“, murmelte Alex. „Teuflischer Kobold! Wenn du ein bisschen größer wärst, würde ich dir das Fell über die Ohren ziehen und mir damit die Handschuhe füttern lassen, ich schwöre es dir.“ Doch sie hörte die Heiterkeit aus seiner Stimme heraus, während er versuchte, den winzigen Gegner zu bezwingen. „Ich frage mich, ob es hilft, ihn zu kitzeln.“

Plötzlich zog das Tier die Krallen von Tess’ Handgelenk zurück, es gab ein Gewühl unter ihrem linken Ellbogen. Dann sprang das orangerote Kätzchen hervor, rutschte über die gewienerte Tischplatte und setzte sich auf das Fensterbrett.

Alex verlor im Eifer des Gefechts das Gleichgewicht, und einen Moment lang hielt Tess seinen muskulösen Oberkörper in den Armen, sein Mund wurde gegen ihre Schulter gedrückt und ihre Nase steckte in seinen Haaren.

Er duftete nach Seife und frischem Leinen, dem schon vertrauten zitronigen Eau de Cologne und … etwas einfach Männlichem? Oder duftete nur Alex so? Sein Haar war kräftig und kitzelte ihr in der Nase, und als sie sich anders hinsetzte, um sein Gewicht besser zu stützen, landeten ihre Fingerspitzen auf seinem Nacken, der nackt war und seltsam verwundbar zu sein schien. Sie spürte durch die Kleidung, wie sich seine Lippen bewegten, fühlte seinen warmen Atem und die Anspannung seines Körpers. Dann löste er sich von ihr, erhob sich und sah sie auf rätselhafte Weise mit seinen dunklen Augen an.

„Zur Hölle!“, schimpfte Alex, atmete durch und lächelte. „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht in Ihrer Gegenwart fluchen, und gewiss wollte ich auch nicht gegen Sie fallen. Das scheint bei mir langsam zur Gewohnheit zu werden.“ Was auch immer er in ihren Armen empfunden haben mochte, es war wohl nicht das, was sie sich von einem Geliebten erträumte. Natürlich nicht.

„Weshalb haben Sie mir ein Kätzchen geschenkt?“, fragte Tess scharfzüngiger, als sie es beabsichtigt hatte.

Alex zuckte mit den Schultern. Er machte nicht den Eindruck, als ob er sich noch weiter entschuldigen wollte. „Sie sind unglücklich, und ich dachte, es würde Sie aufheitern. Damen lieben es doch, kleine Wesen jeder Art mit Hutsitutsi zu verhätscheln.“

„Ich kann natürlich nicht für die Damen reden, mit denen Sie in Ihrem Leben Umgang pflegen, Mylord, aber ich mache kein ‚Hutsitutsi‘. Und bevorzugen die Damen, von denen Sie sprechen, nicht eher Diamanten?“

„Sie überraschen mich, Miss Ellery. Was wissen Sie über Damen, die Diamanten den Vorzug geben?“

„Nun, nichts.“ Tess sah ihn mit ihren unschuldigen großen Augen an. „Aber wahrscheinlich würden Ihre Mutter oder Ihre Schwester oder … Ihre Ehefrau sich mehr über ein Schmuckstück als über ein Kätzchen freuen, oder?“ Sie wusste alles über Frauen, die sich aushalten ließen, von den Internatsschülerinnen, die sich flüsternd unterhielten, sobald das Licht gelöscht war. Sie alle hatten Brüder oder Cousins, die sich in London die Hörner abstießen, und tauschten sich heimlich darüber aus, welche der aufregenden, aber gefährlichen jungen Männer der schlimmste Lebemann war.

„Hm.“ Alex warf ihr einen fragenden Blick zu, während sie ihr zerkratztes Handgelenk mit einem Taschentuch verband. „Ich kaufe weder meinen Schwestern noch meiner Mutter Geschenke, und ich bin auch nicht verheiratet.“

„Das hatte ich mir schon gedacht.“ Tess verknotete das Taschentuch und blickte ihn an.

„Ach ja?“ Er musterte sie mit halb zusammengekniffenen Augen, und sie stellte fest, dass der entspannte und liebenswürdige Lord Weybourn ausgesprochen respekteinflößend sein konnte. „Und wie kommen Sie zu diesem Schluss?“

4. KAPITEL

Woraus ich geschlossen habe, dass Sie nicht verheiratet sind?“ Tess schluckte. Sie hatte sich auf ein heikles persönliches Terrain begeben und konnte nur hoffen, dass er ihr keine Hintergedanken unterstellte. Sie kämpfte gegen das Erröten an, und es gelang ihr, ihm ein strahlendes Lächeln zu schenken. „Es war nicht schwer zu erraten, nach dem, was Sie über Weihnachten äußerten. Wenn Sie verheiratet wären, würde Ihre Frau nicht zulassen, dass Sie die Feiertage neben dem Kaminfeuer mit Ihren Büchern verbringen. Dann wären Sie unterwegs und würden Ihre Verwandten und Schwiegereltern besuchen.“

„Sie meinen also, wenn ich verheiratet wäre, würde ich unter der Knute meiner Frau stehen?“ Das ebenso spöttische wie geheimnisvolle Lächeln kehrte zurück.

„Ganz und gar nicht. Es ist einfach selbstverständlich, dass Familienmitglieder einander über Weihnachten besuchen.“

„Keine Ahnung. Ich mache mir nichts aus solchen Ritualen.“

„Das ist eine Schande.“ Sie träumte davon, zu einer echten Familie zu gehören. Ein Weihnachtsfest, wie das, von dem sie in der Kutsche geschwärmt hatte, lag für sie lange zurück. Es war auch eine Ewigkeit her, dass sie eine Familie gehabt hatte. Und obgleich dieser Mann zu besitzen schien, was ihr fehlte, warf er es einfach weg.

„Eine Schande? Alles andere als das.“ Alex setzte sich an den Tisch, als der Gastwirt und ein Dienstmädchen eintraten, um das Dinner zu servieren. „Es bedeutet Freiheit.“

Sie schwiegen, bis sie wieder allein im Zimmer waren. Tess schöpfte Suppe in die Suppenteller, während Alex Stückchen von dem gebratenen Kapaun abriss, sie auf eine Untertasse legte und für das Kätzchen auf den Boden stellte. „Hier, mein Kleiner. Jetzt musst du nicht mehr in meine Stiefel beißen. Wie werden Sie ihn nennen, Miss Ellery?“

Ich soll ihn also wirklich behalten? „Noël“, entschied sie und stellte eine Untertasse mit Milch neben das Hühnerfleisch. „Immerhin haben Sie ihn als Weihnachtsgeschenk bezeichnet.“

„Sie sind wirklich eine besonders sentimentale junge Frau.“ Alex reichte ihr die Brötchen. „Möchten Sie Butter?“

„Nein, danke. Und ich bin nicht sentimental, Sie sind nur zynisch.“

„Nun ja, dieser Schuld bin ich mir bewusst. Aber was ist an ein wenig gesundem Zynismus so falsch?“

„Macht das nicht einsam?“, wagte Tess zu fragen. Es war lächerlich, dass sie diesen großen und selbstbewussten Mann am liebsten umarmt hätte. Möglicherweise war dies die Form, wie sich das Laster der Lust anschlich und als fehlgeleitetes Mitleid getarnt von einem Menschen Besitz ergriff.

„Was denn? Auf trübsinniges Immergrün, unmusikalische Sternsinger, zankende Verwandte und erzwungene Fröhlichkeit zu verzichten soll ein Unglück sein? Ich hingegen genieße eine Zeit der Ruhe, und dann kehren meine Freunde in die Stadt zurück und freuen sich auf meine Gesellschaft.“

Tess stellte ihren leeren Suppenteller zur Seite und sah schweigend zu, wie Alex den Kapaun tranchierte. Ganz offenkundig lief in seiner Familie etwas grundlegend falsch, wenn er weder seiner Mutter noch den Schwestern Geschenke machte und über die Festtage lieber allein in London blieb. Sie biss sich auf die Zunge und verbot sich nachzufragen. Die schlichte, aber ehrliche Gesprächsatmosphäre, die im Kloster vorgeherrscht hatte, bot vermutlich keine hilfreichen Anhaltspunkte für unverfängliche Konversation.

Alex reichte ihr einen Teller mit Fleisch, und sie verteilte das Gemüse, während sie angestrengt nach einem angemessenen Gesprächsthema suchte. „Ich erinnere mich kaum an London.“ Genau genommen gar nicht. „Wohnen Sie in Mayfair?“ Sie wusste, dass dies die vornehmste Gegend war.

„Ja, mein Haus liegt in der Half Moon Street, direkt rechts hinterm Piccadilly. Es ist klein, weil ich so viel auf Reisen bin.“

Damit war das Thema offenbar bereits erschöpft. „Pflegen Sie immer ohne Diener zu reisen?“

„Nein, ich habe ihn und meinen Sekretär mit mehreren Kutschenladungen voller Kunstwerke vorausgeschickt. Diesmal war es eine besonders ergiebige Reise.“

Tess hatte den Eindruck, dass Alex sich selbst zu seinem Erfolg gratulierte. Freute er sich einfach nur über die reiche Ausbeute, oder war er tatsächlich auf die Einnahmen aus diesen Geschäften angewiesen? Für einen Viscount schien das eine unsichere Lebensgrundlage zu sein. Vielleicht kann er sich keine verschwenderischen Festlichkeiten und Einladungen an Weihnachten leisten, überlegte sie. Wenn dies der Fall war, hatte sie sich unverzeihlich taktlos verhalten. Andererseits schien er keine Kosten zu scheuen, wenn es um seinen Komfort ging. Möglicherweise gehörte dies aber auch zu einer unverzichtbaren Fassade, oder er hatte hohe Schulden angehäuft.

„Habe ich Bratensoße auf mein Krawattentuch tropfen lassen?“, fragte er sie, und sie zuckte zusammen. „Weil Sie es jetzt schon eine ganze Weile anstarren.“

„Ich habe nur bewundert, wie makellos Ihre Kleidung ist“, erwiderte Tess. „Das ist mir schon gestern aufgefallen.“

Alex trank einen Schluck Wein. „Sprechen Sie immer aus, was Sie gerade denken?“

„Selbstverständlich nicht. Hätte ich es nicht erwähnen dürfen?“ Es war doch schließlich als Kompliment gemeint …

„Kommentare über die Kleidung eines Gentleman sollten Sie besser vermeiden“, erläuterte Alex.

„Du liebe Güte, natürlich. Die Welt außerhalb des Klosters ist für mich ein Irrgarten voller Fallstricke.“

„Fürchten Sie sich vor dem, was Sie in London erwartet?“ Obgleich seine Frage eine unbarmherzige Direktheit besaß, spürte sie, dass er sich in ihre Ängste hineinversetzen konnte. Die Mutter Oberin hatte nichts von diesem Mitgefühl gezeigt. Obgleich sie Tess mit ihren Enthüllungen einen schweren Schlag versetzt hatte, war nur der strenge Rat über ihre Lippen gekommen, Tess solle sich gehorsam in ihr Schicksal fügen.

„Mir graut davor“, gab sie unumwunden zu. „Aber ich darf meinen Ängsten nicht nachgeben – das würde es nur noch schlimmer machen. Schon bald werde ich mich in meiner neuen Umgebung zurechtfinden. Immerhin habe ich mich auch an das Leben im Kloster gewöhnt.“

Alex beobachtete sie über den Rand des Glases hinweg. Er blickte sie aufmerksam und zur Abwechslung nicht spöttisch mit seinen haselnussfarbenen Augen an. „Es muss schwer für Sie gewesen sein, sich plötzlich unter Nonnen zu befinden. Möchten Sie ein Glas Wein? Er ist ausgezeichnet.“ Er schenkte sich aus der Karaffe nach.

„Vielen Dank, besser nicht. Ich bin nie zuvor in den Genuss gekommen.“ Tess ging einen Moment in sich und fügte dann hinzu: „Sie bieten mir jetzt schon viel zu viele Versuchungen.“

Es wurde ganz still, als ob sie beide die Luft anhalten würden.

„Versuchungen?“, fragte Alex schließlich vorsichtig nach und legte Messer und Gabel beiseite.

„Gutes Essen, Bedienstete, Luxus“, erläuterte sie.

„Ah, die Versuchungen der Bequemlichkeit, meinen Sie.“ Er ergriff wieder sein Glas und drehte es zwischen den Fingern. Der schwere Siegelring, den er am linken Ringfinger trug, funkelte rötlich durch die Bewegung des Weinglases. „Das ist kein Luxus, nur Kultiviertheit. Führt Luxus Sie in Versuchung?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe offenkundig keine Ahnung davon, wenn es sich hierbei nur um Kultiviertheit handelt.“

„Welche Erwartungen haben Sie denn in Bezug auf Ihre neue Anstellung?“

„Zweifellos werde ich sehr einfach leben. Schließlich befinde ich mich auf der gesellschaftlichen Skala irgendwo zwischen einem verarmten Stiefkind und einer höheren Bediensteten. Aber immerhin werde ich in einer Familie leben, und darauf kommt es mir vor allem an.“

„Wirklich? Ich hätte angenommen, der Lohn und die Sicherheit stünden für jemanden wie Sie an erster Stelle.“

„Nein, das gilt nicht für mich. Selbstverständlich ist es wichtig, dass ich meinen Lebensunterhalt verdiene und ein wenig Sicherheit habe. Aber Teil einer Familie zu sein, ist mir weit wichtiger. Falls ich mich um Kinder kümmere, kann ich wohl davon ausgehen. Aber auch wenn ich einer älteren Dame oder Kranken als Gesellschafterin diene, wird es eine Familie geben – Menschen, die ihr nahestehen.“

Der Stoff ihres Kleides raschelte, und kleine Krallen bohrten sich in ihre Oberschenkel, als Noël an ihr hochkletterte und sich auf ihrem Schoß zu einem kleinen warmen Ball zusammenrollte. Tess streichelte den winzigen Kater, dessen Bäuchlein prall mit Huhn und Milch gefüllt war. Sein Schnurren war beruhigend.

Das Dienstmädchen trat ein, stellte einen Apfelkuchen auf den Tisch und räumte das benutzte Geschirr ab. Alex sah schweigend zu, während Tess ihnen jeweils ein Stück Kuchen abschnitt und unter dankbarem Gemurmel Sahne darauf verteilte. „Bestimmt werden Sie die enge Gemeinschaft des Klosters vermissen.“

Sie starrte ihn an und war beinahe verwundert, wie wenig er verstand. Wie sollte sie es ihm erklären? „Nein, ich werde die Klostergemeinschaft nicht vermissen.“ Niemals. Diese kalte, unbeteiligte und schonungslose Ehrlichkeit, mit der ohne Rücksicht auf Schmerz und Verletzung geurteilt und getadelt wurde. ‚Du bist ein in Sünde geborener Bastard, Teresa. Diese Tatsache lässt sich nicht leugnen, und du musst dich dem fügen.‘ Auch die Mutter Oberin war im Grunde eine grässliche alte Frau …

Tess fühlte sich todmüde, und es wollte ihr kaum noch gelingen, ihre Sorgen zu verbergen. Obgleich der Kuchen köstlich war, wurde ihr jetzt jeder Bissen zur Qual. Sie schob den Stuhl zurück und stand mit dem Kätzchen in Händen auf.

„Ich muss Noël in den Hof bringen, bevor ein Unglück passiert.“

„Geben Sie ihn mir.“ Alex hatte sich ebenfalls erhoben. „Sie sollten nicht mit Ihrem verstauchten Knöchel hinaushumpeln, noch dazu ohne die Hände frei zu haben.“

„Was haben Sie mit ihm vor?“, fragte Tess misstrauisch. Vielleicht bedauerte er bereits, ihnen ein anstrengendes Tierbaby aufgehalst zu haben.

„Ich bringe ihn nach draußen, damit er ein nettes Fleckchen Erde erkunden kann, anschließend werde ich den Korb mit der gestrigen Zeitung auspolstern, ihn vor dem Kamin absetzen und Milch danebenstellen. Genügt das?“

„Schon gut. Ich hoffe nur, dass er seine Mutter nicht vermisst“, sagte sie besorgt und legte das Kätzchen in Alex’ geöffnete Handflächen. Es schmiegte sich an ihn und fühlte sich in seinen Händen sichtlich geborgen. Wer konnte es ihm verdenken?

„Seine Katzenmutter scheint eher eine Rabenmutter zu sein. Jedenfalls sagte mir der Wirt, das Dienstmädchen habe Noël halb verhungert im Hof gefunden. Der gute Mann war erleichtert, dass wir uns um den Kleinen kümmern. Falls er schreit, nehme ich ihn mit zu mir ins Bett, gebe ihm meine besten Seidenstrümpfe zum Spielen und lasse ihm pochierten Lachs aus der Küche bringen“, versicherte Alex ihr mit ernster Miene.

„Ich möchte nicht, dass Sie so viel Arbeit mit ihm haben. Vielleicht sollte ich ihn besser mit auf mein Zimmer nehmen …“ Erst jetzt bemerkte sie sein Schmunzeln und das verruchte Funkeln in seinen Augen. Tess straffte die Schultern. „Es ist nicht nett von Ihnen, sich über mich lustig zu machen, Mylord. Ich danke Ihnen für das vorzügliche Dinner.“

Sie machte einen Schritt, um würdevoll an ihm vorbeizuschreiten, vergaß dabei jedoch den verstauchten Knöchel und verlor vor Schmerz beinahe das Gleichgewicht.

„Es war klug von Ihnen, keinen Wein zu trinken, so wackelig, wie Sie noch immer auf den Beinen sind.“ Alex fing sie mit einer Hand auf.

Sie war mit der Hüfte gegen den Tisch gestoßen, ihre Nase berührte den Ausschnitt seiner Weste, und mit den Fingern klammerte sie sich an seinem linken Oberarm fest. Sie musste ihn dringend loslassen und am Tisch entlang in Richtung Tür hinken. Lass ihn los! Es fühlte sich so gut an, so warm, fest und … edel. An der rechten Wange spürte sie den kostbaren Gehrock aus merzerisiertem Tuch, am Kinn die seidene Weste und an der Nase den feinen Leinenstoff. Sie spürte seinen muskulösen Oberkörper, den linken Bizeps, die starke Hand, mit der er sie am Rücken stützte, und ein verlockender Hauch von Moschus benebelte ihre Sinne.

„Tess?“ Er hatte sich vorgebeugt, sein Atem strich ihr über die Haut, und seine Lippen waren ganz nah.

„Ja“, antwortete sie. Ganz gleich, wonach er fragt – ja.

In Höhe ihres Zwerchfells erklang ein wütendes Maunzen. Der kleine Kater drehte sich und langte mit einer winzigen Pranke nach Alex’ Weste.

„Du kleiner Teufel, das gehört zu den besten Kleidungsstücken, die du auf der Jermyn Street bekommen kannst!“ Alex trat einen Schritt zurück, doch Noël krallte sich bereits an den feinen Stoff.

„Ich werde Sie jetzt mit Ihrem liebenswürdigen Geschenk allein lassen, Mylord.“ Es war nicht einfach, würdevoll und ohne zu hüpfen, das Zimmer zu verlassen, noch dazu rot im Gesicht und mit lauter orangeroten Haaren auf dem trostlosen grauen Kleid. Allerdings hatte Alex die weit schwierigere Herausforderung zu meistern, die winzigen Krallen von der entsetzlich teuren Stickarbeit zu lösen. „Gute Nacht.“

Tess schloss die Tür hinter sich und schob sie ganz leicht wieder auf, als sie die leisen Flüche hörte. Schließlich hatte sie sich gewünscht, ein paar Schimpfwörter zu kennen. Jetzt war das der Fall.

„Haben Sie gut geschlafen?“, erkundigte sich Alex. Seine kleine Nonne wirkte sehr blass, als sie vor der Gangway der Ramsgate Rose standen. Wenn er es sich recht überlegte, fühlte er sich auch selbst reichlich übernächtigt. Das Kätzchen zu hüten hatte ihn die Nacht über wachgehalten, außerdem hatte ihn ein schlechtes Gewissen gequält, das eigentlich unbegründet war. Er fühlte sich zwar unerwartet stark zu der unschuldigen jungen Dame hingezogen, aber er war durchaus in der Lage, dieser Versuchung zu widerstehen. Normalerweise lebte er sein körperliches Verlangen mit seiner jeweils aktuellen Mätresse aus. So viel Zeit mit einer unschuldigen Frau zu verbringen besaß vermutlich den Reiz des Neuen.

„Ja, vielen Dank.“ Tess war an diesem Morgen schweigsam. Fest umklammerte sie die Griffe des Weidenkorbs, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Sie hatten in ihrem jeweiligen Zimmer gefrühstückt. Erst jetzt konnte er sie bei Tageslicht betrachten.

„Sind Sie aufgeregt?“, wagte Alex zu fragen. Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Werden Sie leicht seekrank?“ Oh, gut gemacht, Tempest! Jetzt wird sie ganz grün im Gesicht. Wenn es vielleicht auch kein echter Grünton war, sondern eher die ungesunde Farbe eines Pilzes.

„Ich wurde seekrank, als wir auf den Kontinent reisten, aber das ist viele Jahre her. Sicherlich wird es diesmal besser gehen. Es ist nur eine Frage der Willensstärke, nicht wahr?“

Nach Alex’ Erfahrung hatte es leider wenig damit zu tun. Dafür hatte er zu viele willensstarke Freunde gesehen, die ihren Magen über der Schiffsreling entleerten. „Es geht weniger um Willensstärke als um die richtige Taktik“, sagte er und ergriff ihren rechten Ellbogen, um sie die steile Gangway hochzuführen. „Wir sollten uns so viel wie möglich an Deck aufhalten, trockenes Brot essen und eine Menge warmes Bier trinken.“

Die meisten Passagiere stiegen die Kajütenleiter hinunter, um in die Gemeinschaftskabinen der ersten und zweiten Klasse zu gelangen. Alex schob Tess zu einer Bank unter dem Hauptmast und sorgte dafür, dass sie sich mit dem Katzenkorb, ihrem Handkoffer und seinem Reiseumhang hinsetzte. „Ich werde kurz nach meinem Gepäck sehen. Hetzen Sie den Kater auf jeden, der meinen Platz wegnehmen will.“

Wenigstens haben meine Worte sie ein wenig zum Lächeln gebracht, dachte er. Als er zur Reling ging, um sicherzustellen, dass sein Gepäck an Bord gebracht wurde, kreuzte eine hakennasige Matrone seinen Weg, die ihn frostig anblickte. Offensichtlich gefiel ihr sein Gesicht nicht. Er zuckte innerlich mit den Schultern. Das ihre gefiel ihm ebenso wenig.

Zunächst war es einfach, Tess von ihrer Übelkeit abzulenken. Im Hafen gab es viel zu sehen, und sie mussten sich um das maunzende Kätzchen kümmern. Selbst als sie lossegelten, war die Aussicht noch interessant genug, und das Wasser verhielt sich einigermaßen ruhig. Tess belohnte ihn mit einem Lächeln, und ihre Wangen hatten wieder eine gesündere Farbe angenommen. Ein warmes Gefühl von Zufriedenheit erfasste ihn.

Das Mädchen bringt mich noch dazu, ebenso sentimental zu werden wie sie selbst, dachte er lächelnd. Doch diese onkelhaften Gedanken halfen ihm nicht zu vergessen, dass sie eine erwachsene Frau war und nur wenige Jahre jünger als er. Tess Ellery war unschuldig, was er wahrhaftig nicht von sich behaupten konnte. Das ließ ihn wieder zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen kommen: Er war der Begleiter einer anständigen jungen Dame.

Während er grübelte, war sie ebenfalls ganz still geworden. Alex blickte sie von der Seite an und sah, dass ihr Gesicht wieder eine grünliche Färbung annahm. „Der Seegang ist ziemlich heftig, finden Sie nicht?“, fragte sie.

Er wird leider noch weit heftiger werden, wäre die ehrliche Antwort gewesen. „Ja, das Meer zeigt sich von seiner lebhaften Seite“, stimmte Alex ihr zu. „Erzählen Sie mir, was für eine Anstellung Sie sich wünschen. Möchten Sie sich lieber um eine nette alte Dame oder um eine Schar reizender Kinder kümmern?“ Es musste schließlich reizende Kinder geben, auch wenn er sich damit nicht gut auskannte. Die einzigen Kinder, mit denen er für einen längeren Zeitraum zu tun gehabt hatte, waren seine jüngeren Geschwister gewesen. Mit Matthew hatte er sich nur gestritten, und seine Schwestern waren eben Mädchen, die ihm als Jugendlichen rätselhaft und lästig vorgekommen waren. Dennoch vermutete er, dass er sie auf seine Weise gemocht hatte.

„Das spielt für mich keine große Rolle.“ Wenigstens kam wieder Leben in Tess. „Hauptsache, es gibt eine Familie.“

„Dann weinen Sie dem Kloster also keine Träne nach?“ Er schüttelte den Reiseumhang aus und wickelte ihn ihr um die Schultern. Gischt spritzte über den Bug. Die Rolle des fürsorglichen Beschützers war für ihn ungewohnt, aber wenigstens bekam die junge Frau keine überspannten Anfälle, wie es bei seiner letzten Mätresse in einer solchen Situation der Fall gewesen wäre. Wenn er darüber nachdachte, waren ihre ständigen theatralischen Szenen einer der Gründe, weshalb sie nicht mehr seine Mätresse war.

„Vielen Dank.“ Tess schmiegte sich mit einer Drehung in die warme Wolle. „Nein, das Kloster werde ich nicht vermissen. Es ist viel schlimmer, sich in Gegenwart vieler Menschen einsam zu fühlen, als wenn man allein ist, oder meinen Sie nicht?“

Alex versuchte, sich zu erinnern, wann und ob er sich jemals einsam gefühlt hatte. Allein vielleicht, das schon. Aber er kam gut damit zurecht. Wenn ihm nach Gesellschaft zumute war, konnte er auf einen großen Kreis von Bekannten zurückgreifen. Außerdem hatte er gute Freunde – die anderen drei Mitglieder des Oxforder Quartetts. Der verbitterte Internatsvorsteher hatte sie stets nur als „Die vier Unholde“ bezeichnet.

„Ich denke, das stimmt“, gab er ihr recht. „Aber man sollte meinen, dass die Nonnen im Kloster miteinander wie echte Schwestern umgehen.“

Tess zuckte leicht mit den Schultern. „Von den Nonnen wird niemand zu Freundschaften ermutigt, und die Klosterschülerinnen kehren in den Ferien zu ihren Familien zurück und schließen nur Freundschaften untereinander. Sie stammen alle aus sehr angesehenen Familien.“

„Und Sie nicht?“

„Ich bin eine Waise und verfüge über keine gesellschaftlichen Verbindungen. Aber alle waren nett zu mir“, erklärte sie lächelnd.

Am liebsten hätte Alex die Mutter Oberin von diesem Genter Kloster geohrfeigt. Er verstand nur zu gut, dass sich „nett“ in diesem Fall mit „unnahbar und kalt“ übersetzen ließ. Sie hatten Tess zu essen und Kleidung gegeben, sie unterrichtet und auf Gesundheit und Anstand geachtet. Ihre Moral war ihnen wichtig gewesen. Doch wie sie sich tief in ihrem Herzen fühlte und ob sie glücklich war, schien keine Rolle gespielt zu haben. Allerdings unterschied sich das nur wenig von der Art und Weise, wie die meisten Kinder in aristokratischen Familien aufwuchsen. Er war sich sicher, dass seine Mutter ihn geliebt hatte. Dennoch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, mit ihm zu spielen oder außerhalb der Stunde, bevor sie sich zum Dinner umzog, mit ihm zu reden.

„Ich kann mir vorstellen, wie nett sie waren“, murmelte er. Und jetzt stand ihr ein hartes und einsames Leben bevor. Weder gehörte sie zu einer Familie noch zu den Bediensteten. Allerdings schien sie bereits zu ahnen, in welcher Lage sie steckte, auch wenn ihre Vorstellungen von den Freuden des Familienlebens gänzlich unrealistisch klangen. Wahrscheinlich würde er ihr keinen Gefallen tun, wenn er sie darauf hinwies. Vielleicht passierte auch ein kleines Wunder, und sie fand eine Anstellung im Haushalt ihrer Träume. Er blickte in den bewölkten Himmel und zog die Taschenuhr heraus. „Sie sollten ein Stück Brot essen und einen Schluck Bier trinken. Es ist am besten, immer wieder kleine Mengen zu sich zu nehmen.“

„Vielen Dank. Ich werde gleich etwas essen.“ Tess stand auf und faltete mit einer Hand seinen Umhang, während sie sich mit der anderen am Mast abstützte. „Ich müsste … Ich meine …“

„Das Damenzimmer?“, kam ihr Alex zu Hilfe. „Ja, das wird sich unter Deck befinden.“ Er erhob sich und reichte ihr einen Arm, um sie bis zu der Kajütenleiter zu begleiten. „Schaffen Sie die Stufen mit dem verletzten Knöchel? Sind Sie sicher? Halten Sie sich gut fest.“

Der Geruch stieg Tess bereits auf halber Treppe in die Nase. Es stank nach zusammengepferchten Menschen, Essen, Alkohol und etwas Unangenehmem, was vermutlich aus dem Kielraum des Schiffs nach oben drang. Außerdem gab es deutliche Hinweise, dass sich bereits eine Reihe von Passagieren unwohl fühlte.

Es gelang ihr, sich durch die überfüllte Kabine der ersten Klasse zu schlängeln, und hörte das Flüstern einer freundlich aussehenden Dame.

„Dort drüben, meine Liebe. Warten Sie einen Moment.“ Die Frau holte einen kleinen Gegenstand aus ihrem Retikül und reichte ihn Tess. „Nehmen Sie mein Riechsalz.“

Fünf Minuten später humpelte Tess zurück und gab ihr mit aufrichtigem Dank das Fläschchen zurück. Dabei starrte eine ältere Matrone mit großem Hut sie an, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Wahrscheinlich hält sie mich für einen Eindringling aus der zweiten Klasse. Tess vermied es, der Frau in die Augen zu blicken. Wenn Alex nicht darauf bestanden hätte, ihr eine Karte für die erste Klasse zu kaufen, wäre sie auch ganz sicher in der zweiten gelandet.

Wie leicht sich die Dinge ändern können, dachte sie, als sie auf dem schwankenden Schiff hin- und herwankte und schließlich den Handlauf zu fassen bekam. Wenn Alex nicht über die vereisten Pflastersteine gehastet wäre, hätte ich bereits gestern ein Schiff genommen und hätte keinen verstauchten Knöchel. Ich säße eingepfercht in der Kabine der zweiten Klasse und mir wäre übel. Ich hätte kein orangerotes Kätzchen, und mein Leben würde nicht durch die Gegenwart eines großen und umwerfend attraktiven Mannes verkompliziert.

Alles in allem, und selbst wenn sie den Knöchel mit in Betracht zog, hatte sie Glück gehabt. Ein wenig abenteuerlich durfte es schon sein, bevor das Leben wieder nur durch würdevolles und ernstes Betragen bestimmt wurde.

5. KAPITEL

Der fragliche Mann, der die Änderungen in ihrem Reiseplan verursacht hatte, wartete besorgt an Deck und eilte sofort zu ihr, als sie wieder an die frische Luft kam. „Da unten ist es höllisch, nicht wahr? Kommen Sie zurück zu unserer Bank, und freuen Sie sich, dass es nicht regnet.“ Unablässig mit salziger Gischt bespritzt zu werden, schien Alex nichts auszumachen. Seine Kleidung war nass und das Haar vollkommen zerzaust.

„Was ist los?“, fragte er, nachdem sie wieder Platz genommen hatte. „Es ist erfreulich, dass Sie nicht mehr grün im Gesicht sind, aber ein Lächeln hatte ich wahrhaftig nicht erwartet.“

„Sie kleiden sich so elegant, aber jetzt müssten Sie sich mal im Spiegel sehen.“ Sie legte den Kopf zur Seite und musterte ihn im schummriger werdenden Licht. Bald würde die Dämmerung einsetzen. „Mich wundert, wie wenig Sorgen Sie sich um Ihre Kleidung oder Ihre Haare machen.“

„Das ist nicht wahr. Ich nehme es normalerweise mit meinem Äußeren sehr genau. Immerhin habe ich einen Ruf zu wahren“, sagte Alex affektiert, doch gleichzeitig verriet sein verschmitztes Lächeln, dass er nur jemanden nachahmte.

Sie sind nicht, was Sie zu sein scheinen, Lord Weybourn, dachte Tess, als sie sich wieder in den warmen Reiseumhang hüllte. Auf den ersten Blick wirkte er mit seiner teuren maßgeschneiderten Kleidung wie ein auf Mode und Muße bedachter Lebemann, den nichts aus der Ruhe brachte. Doch sein Körper war muskulös und durchtrainiert. Er spottete über ihre Begeisterung für Weihnachten, nannte sie sentimental und drohte Noël mit einer Zukunft als Handschuhfutter. Aber zugleich war er sehr freundlich, hatte ihr das Kätzchen geschenkt und reagierte mit unendlicher Geduld auf die Attacken, mit denen das Tierchen seine Kleidung ruinierte.

Außerdem war er geradezu sündhaft attraktiv. Selbstverständlich stand es ihr nicht zu, sich darüber Gedanken zu machen. Je früher sie sich mit einem braven und bescheidenen Dasein als unverheiratetes Fräulein abfand, desto besser.

„Weswegen haben Sie gerade so tief geseufzt?“, erkundigte sich Alex. „Sind Sie hungrig?“

„Nein, ich …“ Ich habe nur kurz nach den Sternen gegriffen. Ich wünschte, Sie nie getroffen zu haben, sodass nichts meine törichte Fantasie beflügeln würde. Allein der Anblick Ihres energischen Kinns, der Duft Ihrer Haut und Ihr Haar, das sich an den Spitzen im feuchten Wind wellt … und zugleich zu wissen, dass es in meinem Leben unmöglich einen Mann wie Sie geben kann. „Ich friere nur.“

„Ich auch.“ Er begann, seinen Paletot aufzuknöpfen. „Ziehen Sie die Kohlenschütte von einem Hut aus, und dann unternehmen wir etwas dagegen.“ Bevor sie Protest erheben konnte, hatte er ihr den Hut vom Kopf genommen, ihn hinter den Handkoffer geworfen und sie auf seine Knie gezogen. Dann schloss er den Paletot um sie herum und sorgte dafür, dass ihr Kopf zusätzlich von der Kapuze ihres Capes geschützt wurde.

„Alex! Mylord, das ist …“

„Unmöglich, ich weiß. Hören Sie auf zu quieken! Sie klingen fast wie Noël.“ Seine Stimme, so nah an ihrem Ohr, hörte sich belustigt an. „Es mag nicht schicklich sein, aber es ist nützlich. Die Alternative wäre, nach unten zu gehen. Dort ist es zwar warm, aber dafür wird einem übel. Und hier oben hat es keinen Sinn, allein zu frieren, wenn man die Körperwärme mit jemandem teilen kann. Schauen Sie, jetzt ist der Katzenkorb auch noch mit unter dem Paletot. Sind Sie nun zufrieden?“

„Ich bin begeistert“, murmelte sie und bemühte sich, nicht an die graue See, das eisige Wasser und die schäumenden Wellen unter dem dunkler werdenden Wolkenhimmel zu denken.

„Am besten versuchen Sie, ein wenig zu schlafen“, sagte Alex leise.

Tess erwachte zusammengekauert und orientierungslos in einer gemütlichen Höhle, an etwas gekuschelt, das sich in gleichmäßigem Rhythmus bewegte. Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder wusste, wo sie war. Sie roch ein zitroniges Eau de Cologne und spürte, wie unter ihr alles leicht hin- und herschwankte – eine Welt, die sich hob und senkte. Ein Schiff und Alex.

Einen Moment lang blieb sie reglos sitzen und atmete den Duft des warmen, schlafenden Mannes ein. Sie war also im Schutz seines Paletots eingeschlafen, und ihre linke Wange lehnte gegen sein Leinenhemd. Gefährlich. Tess setzte sich kerzengerade hin und schob die Enden des Paletots beiseite, um hinauszublicken.

„Guten Morgen.“ Alex hob sie auf die Beine und stützte sie mit einer Hand, als sie schwankte. „Wir sind kurz vor der englischen Küste.“

„Gott sei Dank!“ Sie fühlte sich klebrig und durstig, aber immerhin war bereits Land zu sehen, und die Sonne kämpfte sich knapp über dem Horizont durch die Wolken. Die lange Nacht war vorüber.

„Trinken Sie einen Schluck Bier.“ Alex war neben dem Gepäck in die Hocke gegangen. Er reichte ihr eine geöffnete Flasche und holte das maunzende Kätzchen aus dem Korb. „Ja, ich weiß. Wir sind grausam und schrecklich, und du willst dein Frühstück. Du kannst etwas von meinem abhaben.“ Er zog einen Stöpsel aus einem Krug und goss ein wenig Milch in die hohle Hand. Gierig leckte Noël alles auf und schnurrte aufgeregt, als Alex ihm mit der anderen Hand eine Scheibe Schinken vor das Mäulchen hielt.

„Möchten Sie auch etwas essen, oder sollen wir lieber warten, bis wir den Gasthof erreicht haben?“

„Ich würde lieber warten“, entgegnete Tess. Sie fühlte sich im Moment nicht unpässlich, aber es war sicherlich nicht ratsam, dass Schicksal herauszufordern, insbesondere, da sie sich noch einmal unter Deck wagen musste. Obgleich das keinen längeren Aufschub erlaubte, blieb sie noch einen kurzen Moment mit einer Hand gegen den Mast gestützt stehen und beobachtete, wie Alex sich über das Kätzchen beugte. Was für ein liebenswürdiger Mann.

„Ich gehe nur kurz …“ Sie wies mit einer Hand in Richtung der Kajütenleiter. „Es dauert nicht lange.“

Nach der unruhigen Nacht war es im überfüllten Unterdeck noch schlimmer als zuvor. Selbst die elegantesten Passagiere sahen jetzt mitgenommen und ungepflegt aus. In der Kabine der ersten Klasse herrschte ein solches Gedränge, dass Tess, nachdem sie das Damenzimmer verlassen hatte, beschloss, geradeaus weiterzugehen, in der Hoffnung, einen zweiten Aufgang zu finden.

Sie umrundete die Kabine der zweiten Klasse, die einen noch übleren Anblick bot als die der ersten, und folgte einem engen Gang, an dessen Ende ein Schimmer Tageslicht zu erkennen war. Sie erreichte eine Treppe und hob die Röcke an, um einen Schritt nach dem anderen die Stufen nach oben zu steigen.

„Wen haben wir denn hier? Du bist in den Bereich der Besatzung eingedrungen, meine Süße. Hast du dich verlaufen oder suchst du nur ein wenig Gesellschaft?“

Kaum hatte sie die ersten beiden Stufen erklommen, kam ihr ein großer stämmiger Matrose entgegen. Tess wich zurück – vor dem Gestank von Teer und Ungewaschenheit, vor den fleischigen Händen und dem Grinsen, das abgebrochene und vorstehende Zähne freilegte.

„Ich will zurück an Deck. Bitte lassen Sie mich freundlicherweise vorbei.“

„Bitte lassen Sie mich freundlicherweise vorbei“, äffte er ihre höfliche Sprechweise nach und kam immer näher. „Von Passagieren lasse ich mir gar nichts befehlen!“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß mit seinen funkelnden hellblauen Augen, die aus dem wettergegerbten Gesicht hervorstachen, und grinste höhnisch, als er ihr schlichtes Kleid sah. „Ich werde dafür sorgen, dass du deinen Spaß hast.“ Er stieß sie auf eine halb geöffnete Tür zu. Im dunklen Inneren konnte sie eine Koje erkennen.

Tess drehte sich unbeholfen auf dem schmerzenden Knöchel um, und er packte sie an den Schultern. „Nicht so eilig, hochnäsiges kleines Fräulein. Was zum … ?“

Er verstummte, als er von einer Hand zurückgehalten wurde, die in einem eleganten Handschuh steckte. „Halt mein Freundchen!“, sagte Alex in einem Tonfall, der verriet, dass sie alles andere als Freunde waren.

„Ich habe den Eindruck, dass die Dame deine Aufmerksamkeit nicht zu schätzen weiß.“ Alex sprach mit tiefer Stimme, beinahe so, als ob er eine alltägliche Unterhaltung führen würde. „Also wirst du jetzt deine dreckigen Pfoten von der Dame nehmen.“ Alex war ebenso groß wie der korpulente Seemann, brachte aber nur die Hälfte an Körpergewicht auf die Waage. Der Matrose ließ Tess los und drehte sich mit bedrohlicher Miene zu Alex um.

Tess sah das Messer am Gürtel des Mannes und schluckte schwer. Dann zog sie die Handschuhe aus. Wenn er Alex angriff, blieben ihr als Waffen nur die Fingernägel und die Füße.

„Diese dumme hochnäsige Gans kam hier vorbei und hat sich mir an den Hals geworfen.“ Der Matrose grinste anzüglich.

„Und mit wem habe ich bei Ihnen das Vergnügen?“, fragte Alex gelangweilt, während er den rechten Handschuh auszog und ihn Tess zuwarf.

„Ich bin der zweite Maat, und ich lasse mir nix gefallen, weder von irgendwelchen Weibern, die nicht wissen, wo sie hingehören, noch von sonst wem.“

„Aha, ich verstehe“, erwiderte Alex. Seine Worte glichen eher einem Knurren. Er holte aus und versetzte dem Maat einen Kinnhaken, der ihn wie einen gefällten Baum niederstreckte, wobei der Mann mit dem Hinterkopf an einer Handleiste aufschlug.

„Verflixt.“ Alex schüttelte die rechte Hand. „Ich hoffe, ich habe ihn nicht umgebracht. Da bekommt man eine Menge Ärger mit dem zuständigen Magistrat.“ Jetzt klang er wieder entspannt, als wäre nichts geschehen.

Er trat dem bewusstlosen Mann mit einem Stiefel gegen die Rippen. „Nein, er atmet noch.“ Alex machte einen großen Schritt über die ausgestreckt daliegende Gestalt und blickte Tess mit gerunzelter Stirn an. „Geht es Ihnen gut? Hat er mehr getan, als Sie an den Schultern festzuhalten? Wenn dem nämlich so sein sollte, wird er ohne seine Genitalien wieder aufwachen.“

„Nein, Sie haben mich rechtzeitig gerettet.“ Sie blinzelte ihn an und versuchte, den sorglos wirkenden Gentleman vor ihr mit dem bedrohlichen Beschützer in Einklang zu bringen, der ebenso erbarmungslos zugeschlagen hatte. „Sie haben ihn sehr heftig getroffen.“

Alex machte eine wegwerfende Geste. „Das hat er nicht anders verdient. Wenn man auch nur kurz zurückzuckt, können solche Rüpel gefährlich werden. Wo sollen wir ihn verstauen?“

„Vielleicht dort“, schlug sie vor und deutete auf die halb geöffnete Tür.

Alex schleifte den bewusstlosen Matrosen in die Kajüte, ging neben ihm in die Hocke, hob ihm ein Augenlid an und stieß ihn dann zur Seite. „Er wird überleben.“

Tess setzte sich auf die unterste Stufe. Ihr war zumute, als ob das Oberdeck auf sie herabstürzen würde, und beim Gedanken an die Begegnung mit dieser lüsternen Kreatur wurde ihr ganz übel. Aber Alex … Alex war einfach wundervoll gewesen!

Tess sah Alex an. Auf den ersten Blick wirkte er freundlich und unbeschwert, doch nun wusste sie, dass er sich wie Sir Galahad verhalten konnte.

„Lassen Sie sich das eine Lehre sein“, sagte ihr Retter rundheraus, während er sich den Handschuh wieder anzog und von außen die Kajütentür schloss. „Sie sollten nie umherschweifen und mit fremden Männern plaudern.“

Tess’ Entzücken über ihren ritterlichen Helden kühlte ab. „Ich bin nicht umhergeschweift und habe auch nicht mit ihm geplaudert. Er hat mich belästigt.“

„Sie sind viel zu vertrauensselig – genauso wie dieses verflixte Kätzchen. Sie lassen sich von einem fremden Mann durch Gent tragen, verbringen die Nacht in Gegenwart von vier Fremden …“

„Das ist ungerecht! Sie haben mich umgestoßen und mir beteuert, dass ich mich in Sicherheit befinde!“

„Dann sind Sie wohl eher leichtgläubig als vertrauensselig“, erwiderte Alex scharf. Von Deck erschallten laute Rufe, und die Bewegung des Schiffs änderte sich. „Wir laufen in den Hafen ein.“ Er kletterte die Treppe hoch und sah sich um. „Wir sollten besser wieder an Deck gehen, bevor jemand unser Gepäck stiehlt.“

Tess folgte ihm erhobenen Hauptes und so würdevoll, wie es humpelnderweise möglich war. Während sie sich an den Matrosen vorbeischlängelten, die gerade die Segel einholten und Seile befestigten, näherte sich das Schiff dem Kai. England. Mein Zuhause? Das wird es mit der Zeit werden, sprach sie sich selbst Mut zu und bemühte sich, Alex nicht mit nachtragenden Blicken zu strafen.

Er erreichte ihren Platz unter dem Mast und dehnte die Muskeln seiner rechten Hand. „Es tut mir leid, dass ich eben so unfreundlich zu Ihnen war. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Als sie nicht sofort antwortete, zuckte er mit den Schultern. „Ich hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen, aber als er bewusstlos dalag, brachte ich das nicht mehr fertig.“

„Rache ist eine primitive Reaktion.“ Allerdings konnte Tess nicht bestreiten, dass er sie beeindruckt hatte. Lächelnd ergriff sie Noëls Korb. „Na mein Kleiner, hast du deinen Onkel Alex vermisst?“ Es war ein Maunzen zu vernehmen, und eine orangerote Tatze schoss aus einer Spalte im Flechtwerk hervor und langte nach Tess’ linkem Ärmel. „Mein armer Kleiner, du willst auch endlich wieder trockenen Boden unter deinen Pfötchen spüren, nicht wahr?“

„Wenn Sie weiter mit dem Höllenkater in dieser fürchterlichen Babysprache reden, fängt Onkel Alex gleich an, wieder an Handschuhfutter zu denken.“

Tess schien zu wissen, dass er nur bluffte, und lächelte. Das kleine Luder! Immerhin schien sie sich von dem üblen Erlebnis unter Deck erholt zu haben. Sie hatte sich auch nicht schwach und zitternd in seine Arme geworfen. Er nahm sogar an, dass sie sich selbst nach besten Kräften gegen den Mann gewehrt hätte, wenn es so weit gekommen wäre. Schmunzelnd überprüfte er das Gepäck. „Lassen Sie den Katzenkorb lieber stehen. Ich werde jemanden holen, der unser Gepäck trägt.“

Er ging zur Reling und wartete ab, bis das Schiff gegen die Kaimauer stieß und die Gangway heruntergelassen wurde. Er rief einen Gepäckträger, bevor er sich durch das Gedränge der Passagiere einen Weg zurück zu Tess bahnte. Sie saß ruhig auf der Bank und blickte sich ernst um. Meine traurige, hübsche und mutige kleine Nonne, dachte er. Dann entdeckte sie ihn, und ein freudiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. Dieses Lächeln berührte etwas ganz tief in seinem Inneren.

Selbstverständlich war es nichts Neues, dass Frauen ihn anlächelten. Die anständigen Damen der feinen Gesellschaft hießen ihn stets überschwänglich willkommen. Auch die weniger anständigen Damen sparten allein wegen seines Titels und seiner Brieftasche nicht daran, ihn anzulächeln. Doch mit Tess’ Herzlichkeit verhielt es sich anders. Ihre Natürlichkeit war wie eine Umarmung. Er würde die junge Frau vermissen, wenn er sie an ihr Ziel gebracht hatte.

„Diese Sachen dort“, sagte er zu dem Gepäckträger. Der Mann ergriff die Koffer und den Katzenkorb.

„Oh, bitte vorsichtig!“ Tess nahm ihm die Korbgriffe aus der Hand.

„Ich trage ihn.“ Alex übernahm Noëls Korb und bot Tess den freien Arm. Insgeheim schickte er ein Dankgebet gen Himmel, dass wahrscheinlich niemand, den er kannte, in der Nähe war. Sonst hätte er einen der modischsten Gentlemen der feinen Gesellschaft dabei beobachtet, wie er schmutzig von der Reise eine Nonne und ein orangerotes Kätzchen von Bord einer Kanalfähre führte.

„Vielen Dank.“ Sie humpelte noch immer ein bisschen, und er zog sie dicht an sich heran, um sie beim Gehen zu stützen. „Sie sind ein freundlicher Mensch, Alex.“

„Nein, das bin ich nicht.“ Er geleitete sie sicher die Gangway hinunter und wies den Träger an, ihnen zum Gasthaus Red Lion zu folgen. „Ich bin zu selbstsüchtig, um freundlich zu sein.“

„Unsinn.“ Sie schüttelte ihn leicht am Arm.

„Doch, das bin ich. Aber ich bin auch zu träge, um unfreundlich zu sein“, fügte er hinzu.

„Das glaube ich Ihnen ebenso wenig. Vielleicht gibt es nur nichts, was Ihnen wirklich am Herzen liegt“, erwiderte Tess.

„Natürlich liegt mir etwas am Herzen.“

„Was denn?“ Sie blickte ihn an. „Ihre Bequemlichkeit?“

„Meine Freunde.“ Wenn es sein musste, würde er für sie sterben, auch wenn er das niemals äußern würde. Das musste ein Mann auch gar nicht tun. Für echte Freunde verstand sich das von selbst. „Kunst und Antiquitäten zu erbeuten, bedeutet mir ebenfalls etwas.“ Meine Ehre. Das war noch so etwas, worüber man nicht sprach.

„Und Ihre Familie?“

Verflucht! Sie war ebenso hartnäckig wie das Kätzchen, wenn es sich einmal irgendwo festgekrallt hatte. „Nein.“ Tess rang nach Luft, und ihm wurde bewusst, dass er sich vermutlich sehr taktlos verhalten hatte. Immerhin hatte sie ihre Familie verloren. Bestimmt würde sie nicht hören wollen, dass er zwar um seine Mutter und die Schwestern trauern würde, wenn ihnen ein Unglück widerfuhr, aber sich wahrhaftig glücklich schätzte, wenn er weder seinen Vater noch seinen Bruder je wiedersehen müsste.

„Da sind wir.“ Die geöffnete Tür des Red Lion bot eine willkommene Ablenkung. Alex sprach mit dem Wirt, überprüfte, ob die Kutsche bereitstand, bestellte heißes Wasser und Essen und bezahlte den Träger.

„Dort drüben ist Ihr Zimmer.“ Als sie allein waren, zeigte er auf eine Tür, die aus dem Privatsalon führte. „Man wird Ihnen gleich heißes Wasser bringen.“

Tess ging nicht auf den Hinweis ein. „Es tut mir so leid.“ Sie stand direkt vor ihm und blickte ihn bekümmert an.

„Warum? Was denn?“

„Es tut mir leid, dass Sie von Ihrer Familie entfremdet sind und ich das Thema angesprochen habe. Es muss für Sie sehr schwer sein.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ Er zuckte mit den Achseln. „Es ist überhaupt nicht schwer. Ich ignoriere sie ,und sie ignorieren mich. Anders als seine Freunde kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Aber man kann immerhin selbst entscheiden, wie viel Zeit man mit ihr verbringt.“

„Und was ist, wenn Ihnen etwas zustößt?“

„Das passiert schon nicht.“ Er packte sie an der Schulter, drehte sie um und schob sie zu ihrer Zimmertür. „Mein Vater ist wie ein Ochse.“ Auf jeden Fall hat er das Einfühlungsvermögen eines Ochsen. „Und jetzt machen Sie sich in Ruhe frisch, dann essen wir gemeinsam und machen uns auf den Weg.“

6. KAPITEL

Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihre Hilfe, Mylord. Ich werde Ihnen nie vergessen, dass Sie so gut auf mich und Noël aufgepasst haben.“ Tess stand neben dem Handkoffer und dem Katzenkorb vor der Klosterpforte. War es angemessen, wenn sie sich mit einem Knicks verabschiedete? Immerhin war er ein Viscount … Andererseits würde sie wahrscheinlich das Gleichgewicht verlieren und auf die Nase fallen. Und nach einer förmlichen Geste war ihr auch nicht zumute. Ganz und gar nicht. Sie wollte ihm die Arme um den Nacken legen und ihn auf diesen verführerisch spöttischen Mund küssen.

Stattdessen schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Und nun Kopf hoch! Das abenteuerliche Märchen ist vorbei.

„Kommen Sie wirklich allein zurecht?“ Alex blickte stirnrunzelnd auf die metallbeschlagene Tür aus Schwarzeiche. „Das sieht nicht gerade einladend aus.“

„Von außen ist das bei Klöstern immer so.“ Und innen ist es, meiner Erfahrung nach, auch nicht besser. „Mir wird es an nichts fehlen. Ich danke Ihnen nochmals.“ Sie streckte zügig die rechte Hand aus, und als er sie ergriff und rasch drückte, versuchte sie, nicht daran zu denken, wie es sich angefühlt hatte, als er sie in seinen Armen getragen hatte.

Alex zog an der eisernen Kette neben der Tür. In einiger Entfernung war das Klingeln einer Glocke zu vernehmen. „Ich warte in der Kutsche, bis Sie sicher im Inneren sind. Leben Sie wohl, kleine Nonne.“ Er bückte sich und gab ihr einen kurzen Kuss auf die rechte Wange, bevor er zurück zu seiner Kutsche schritt.

„Ja?“, fragte eine körperlose Stimme, durch das vergitterte Guckloch, während Tess noch gegen die Röte ankämpfte, die ihr ins Gesicht gestiegen war.

Wenn sie den Kopf doch nur ein wenig angehoben hätte, hätte sein kurzer Kuss ihre Lippen erreicht. Das wäre ihr erster Kuss gewesen. „Teresa Ellery. Die Mutter Oberin erwartet mich.“

Die Pforte wurde geöffnet, und Tess trat ein. Mit lautem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und sie hörte die Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, als Alex’ Kutsche davonrollte.

Humpelnd folgte sie der schweigenden Nonne einen finsteren gekachelten Gang entlang, bis zu einer Tür. Die Schwester klopfte an, öffnete und drängte Tess mit einer Geste einzutreten, bevor sie die Tür wieder von außen schloss.

Die Stuben von Klostervorsteherinnen schienen alle nach demselben Muster gestaltet zu sein: dunkle Wände, ein kleiner Kamin, ein schlichter stabiler Tisch, der stets in der Zimmermitte stand, mit einem Stuhl dahinter, dessen Lehne dem Fenster zugewandt war, sodass kein Ausblick von den Tätigkeiten ablenken konnte. Alles war ihr auf beklemmende Weise vertraut.

„Miss Ellery, ich muss gestehen, dass ich überrascht bin, Sie zu sehen.“ Die Mutter Oberin musterte sie von ihrem Platz hinter dem Tisch aus, ohne zu lächeln. Sie war dürr und blass, und Tess fand, dass sie krank aussah.

„Guten Abend, Mutter Oberin.“ Der verstauchte Knöchel schmerzte, als sie ungeschickt knickste. „Ich habe mich auf meiner Reise verspätet …“

„Das weiß ich bereits.“ Die Nonne blickte zur Seite, und erst jetzt bemerkte Tess, dass sie nicht allein im Zimmer waren. An der linken Wandseite saß eine ältere Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkam. „Verspätet scheint mir kaum die richtige Bezeichnung für Ihr … Handeln. Mrs. Wolsey war auf demselben Schiff aus Ostende wie Sie.“

Natürlich, es handelt sich um diese Matrone, die mich so missbilligend angestarrt hat!

„Mrs. Wolsey hat eine Nichte, die Klosterschülerin im Genter Konvent ist. Sie erkannte Sie an der Kleidung, die alle Waisen dort tragen, und erinnerte sich, Ihnen dort begegnet zu sein.“

Allmählich begriff Tess, in was für einer heiklen Lage sie sich befand. „Ich habe das Schiff nach Ostende verpasst, weil ich gestürzt bin und mir einen Knöchel verstaucht habe und …“

„Und weil Sie sich auf irgendeinen Lebemann eingelassen haben. Ja, so viel ist offensichtlich. Ihr skandalöses Verhalten wurde beobachtet. Sie haben ihn in aller Öffentlichkeit umarmt, in seinen Armen geschlafen und sind mit ihm in einen Gasthof gegangen. Ich bin zutiefst entsetzt, und ebenso wird es der Mutter Oberin in Gent ergehen, wenn ich sie davon in Kenntnis setze.“

„Ich kann das erklären, Mutter Oberin …“, versuchte Tess sich zu verteidigen, wurde jedoch von der Nonne mit einer harschen Geste zum Schweigen gebracht.

„Genug! Ich will mir Ihre Lügen nicht anhören. Ganz sicher kann ich keine Frau mit Ihrer Charakterschwäche in diesem Haus dulden. Ihre Herkunft ist schon Makel genug, aber dieses Verhalten ist wirklich die Höhe! Sie werden das Kloster umgehend verlassen.“

„Meine Charakterschwäche? Aber ich habe nichts Falsches getan. Es war alles vollkommen unschuldig. Und was soll aus meiner Anstellung werden?“ Die Schatten im Zimmer verschwammen, und Tess spürte, dass ihr nichts als Verachtung entgegenschlug. Das alles war so unwirklich. Sie war todmüde und fürchtete, ohnmächtig zu werden.

„Glauben Sie allen Ernstes, ich könnte Sie noch einem anständigen Haushalt empfehlen? Für gefallene Mädchen gibt es nur eine Art von Beschäftigung! Sie sollten jetzt sofort gehen und zusehen, wo Sie bleiben.“

„Ich habe nichts getan. Ich bin nicht Lord Weybourns Geliebte.“ Tess stellte sich kerzengerade hin und versuchte, ihrer Stimme Nachdruck zu verleihen. „Ich hatte einen Unfall und habe mir den Knöchel verletzt. Er hat mir lediglich geholfen, genau wie ich gesagt habe.“ Und ich möchte nicht länger hier sein, bei dieser voreingenommenen alten Hexe, dachte sie, als sich der Zorn seinen Weg durch die Nebelwand aus Verzweiflung bahnte. Meine Herkunft, du schreckliche Frau? Eine Frau und ein Mann, die sich geliebt haben und mich auch … Ich bin unehelich geboren, aber wie kann das meine Schuld sein?

„Lord Weybourn? Ha!“, rief Mrs. Wolsey. „Solche Männer wie ihn kennt man ja. Bestimmt ist er einer dieser verruchten Lebemänner, daran besteht gar kein Zweifel.“

„Woher wollen Sie das denn wissen?“, fragte Tess. Wie konnte diese Frau es wagen, Alex zu verunglimpfen? „Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie zu den gesellschaftlichen Kreisen Zugang haben, in denen er verkehrt, Madam.“ Jetzt konnte sie ihr Temperament wahrhaftig nicht mehr zügeln.

„Was für eine Unverschämtheit!“, erboste sich die Mutter Oberin. „Sie werden sofort das Kloster verlassen!“

„Eine vermeintliche Sünderin zu verstoßen und hinaus in die Nacht zu schicken, ist wohl kaum ein Akt christlicher Nächstenliebe.“ Tess hinkte zur Tür und schaffte es, sie trotz des Handkoffers und des Katzenkorbs zu öffnen. „Aber ich würde selbst dann nicht bleiben, wenn Sie mich flehentlich darum bäten. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend.“

Hinter sich hörte sie, wie eine kleine Glocke heftig geläutet wurde, und die aufgebrachte Stimme von Mrs. Wolsey war zu hören. Tess erreichte die Klosterpforte, noch bevor die wachhabende Schwester sie einholte. Sie schob die Riegel zurück, trat über die Holzschwelle und ließ die Tür in den Angeln zurückschwingen. Wenige Augenblicke später wurde die dunkle Eichentür mit geräuschvoller Endgültigkeit hinter ihr zugeschlagen.

„Ich hoffe, eure selbstgerechte Entrüstung bereitet euch eine angenehme Nacht“, murmelte Tess. Vor ihr lag der Golden Square, in dessen Mitte eine Statue aus weißem Stein im schummrigen Licht der Lampen schimmerte, die außen an den Häusern angebracht waren. In Umhänge eingehüllte Männer hasteten durch den feuchtkalten Nebel, und eine Kutsche ratterte über das Kopfsteinpflaster am anderen Ende des Platzes. Eine Turmuhr, ganz in der Nähe, schlug zur neunten Stunde.

Tess fror und stellte das Gepäck ab, um die Ärmel über ihre Fingerknöchel zu ziehen. Eine Frau spazierte langsam die Straße hinunter. Tess ergriff ihre Sachen und humpelte auf sie zu. „Entschuldigen Sie, können Sie mir zufällig sagen, ob ich hier in der Nähe eine Unterkunft finden kann? Nur …“

„Verlass sofort mein Revier!“, zischte die Frau, wobei sie ganz nah an Tess herantrat. Sie roch nach Alkohol und einem aufdringlichen Parfüm. „Außer du möchtest eine Narbe in deinem hübschen Gesicht.“

„Nein, nein, das möchte ich nicht.“ Tess wich zurück. Die Frau hob ihre Röcke an und stolzierte mit demonstrativem Hüftschwung weiter.

„N’ Abend, meine Hübsche.“ Tess hörte hinter sich eine Männerstimme und zuckte zusammen. „Du suchst einen Freund, oder?“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Tess wirbelte herum. „Verschwinden Sie, oder ich lasse meinen Kater auf Sie los.“ Ein missmutiges Fauchen erklang aus dem schwankenden Korb, und der Mann wich zur Seite und eilte hastig davon.

„Entschuldige, Noël“, murmelte sie. „Wir können hier nicht bleiben. Hier ist es nicht sicher.“

Wenn sie eine Droschke fand, würde der Kutscher sie vielleicht zu einem respektablen Gasthof bringen. Es blieb ihr ohnehin keine andere Wahl. Auf der Straße würde man sie entweder überfallen, oder sie würde erfrieren.

Dank Alex hatte sie noch das Fahrgeld für die Postkutsche von Margate nach London. Ansonsten war sie völlig mittellos. Sie konnte also nur inständig beten, dass die Unterkünfte nicht zu teuer waren.

„Wen haben wir denn da?“, fragte eine tiefe Stimme ganz dicht hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um. Es waren zwei Männer.

„Guten Abend.“ Sie bemühte sich, selbstbewusst zu klingen. „Könnten Sie mir bitte den Weg zu einem Droschkenstand zeigen?“

„Wir können dich auf jeden Fall auf den richtigen Weg bringen, kleines Fräulein.“ Der Mann gluckste und umrundete sie. „Gleich da hinunter geht es zu unserer Straße.“

An einem dunklen, nasskalten Abend wie diesem war nichts besser, als entspannt zu Hause neben dem Kaminfeuer zu sitzen und eine Flasche guten Brandy neben sich stehen zu haben. Alex streckte die Füße in Richtung der warmen Glut aus und drehte den Schwenker unter seiner Nase. Er hatte den restlichen Abend Zeit, um die Korrespondenz oder ein Buch zu lesen … und sich Sorgen darüber zu machen, wie es Tess in diesem trostlosen Kloster erging.

Zweifellos gab es für sie keinen großen Kamin und ganz sicher keinen Brandy, mit dem sie sich aufwärmen konnte. Er rutschte unruhig hin und her und suchte auf dem Sessel, der ihm sonst immer besonders behaglich vorgekommen war, nach einer bequemen Position. Sie war das Klosterleben gewohnt. Bloß weil er es gehasst hätte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich dort nicht wieder wie zu Hause fühlte.

Und bestimmt würde sie bald eine geeignete Stelle finden – eine, bei der sie nicht von einer gehässigen alten Frau schikaniert oder von den älteren Brüdern ihrer Schützlinge belästigt wurde. Wen kenne ich denn, der sie vielleicht als Gesellschafterin nimmt? Wenn er die älteren Damen, die er kannte, bat, eine fremde junge Frau einzustellen, würden diese wahrscheinlich falsche Schlüsse ziehen, unter denen Tess’ Ruf leiden konnte. Da genügte vermutlich ein Blick in ihr hübsches Gesicht mit den ausdrucksstarken blauen Augen und auf diesen weichen und verführerisch unschuldig lächelnden Mund …

Ich sollte besser nicht mehr an sie denken. Alex gab sich einen Ruck, setzte sich gerade hin und griff seufzend nach dem Stapel mit Briefen, den ihm sein Sekretär, William Bland, auf den Schreibtisch gelegt hatte.

Er hörte den Türklopfer und wurde neugierig. Besuch um diese Uhrzeit? Außerdem wusste doch außer seinem Personal noch niemand von seiner Rückkehr. Er legte die Briefe auf den Tisch zurück und lauschte den Stimmen auf dem Gang. Da er so viel auf Reisen war, hatte er keinen Butler eingestellt, und MacDonald, der jüngere der beiden Lakaien, hatte heute Abend Dienst.

Alex nahm die Füße vom Kamingitter und schlüpfte in die Schuhe. Verflucht, war MacDonald wirklich nicht in der Lage, einen ungebetenen Gast abzuweisen? Alex war gerade aufgestanden, als die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet wurde.

„Eine gewisse Miss Ellery möchte Sie sprechen, Mylord.“ MacDonald, dessen viele Sommersprossen gut zu den roten Haaren passten, wurde puterrot. „Ich habe ihr gesagt, dass Sie nicht zu Hause seien, Mylord. Aber daraufhin meinte sie, sie werde sich auf die Eingangstreppe setzen, bis Sie wiederkämen. Daher hielt ich es für besser, die Dame in das Empfangszimmer zu führen …“

Himmel! Alex redete sich ein, dass er verärgert und nicht erfreut war. Nicht beunruhigt und schon gar nicht erfreut … „Bringen Sie sie zu mir, MacDonald.“

Wenige Augenblicke später öffnete der Lakai erneut die Tür. „Miss Ellery, Mylord.“

Es gibt noch nicht einmal eine weibliche Angestellte, die in meinem Haus lebt, rief sich Alex in Erinnerung. Das Küchenmädchen und Hannah Semple, seine Köchin und Haushälterin, kamen nur tagsüber her. Verdammt, es gehörte sich nicht, wenn Tess in seinem Haus war …

„Zum Teufel, Tess, was ist mit Ihnen passiert?“

Sie stand leicht schwankend an der Türschwelle, den Katzenkorb in einer Hand und den Handkoffer fest in der anderen. Ihr Haar hatte sich halb gelöst, und sie hatte eine blutige Prellung auf der linken Wange. Tess stellte das Gepäck ab, und er eilte auf sie zu. „Ich bin untröstlich, Sie zu dieser späten Stunde zu stören, Mylord. Aber …“

Ihre Augen verdrehten sich, und die Beine gaben nach, bevor er bei ihr war. Er konnte sie noch gerade auffangen und legte sie auf die Chaiselongue, die an der Wand stand. Er musste sich sehr beherrschen, um nicht laut loszufluchen. „MacDonald, schicken Sie Byfleet sofort mit dem Verbandskasten zu uns, sagen Sie Phipps, dass er Dr. Holt holen soll, und Sie laufen bitte sofort zu Mrs. Semples Unterkunft und teilen ihr mit, dass ich Sie dringend hier benötige. Sie soll auch die Nacht über bleiben. Gehen Sie!“

Er holte tief Luft. War sie etwa allein durch London bis zu seinem Haus gehumpelt? Offenbar war sie noch in der Lage gewesen, mit MacDonald zu diskutieren und ihren Einlass zu erwirken. Sie konnte also nicht ernsthaft verletzt sein. Aber er hätte am liebsten Hiebe auf denjenigen niederprasseln lassen, der sie so zugerichtet hatte.

„Mylord?“ Byfleet trat ein und stellte ein Tablett mit Kompressen, Fläschchen und kleinen Tiegeln auf einem Seitentisch ab. Es handelte sich um das vertraute Verbandsmaterial für die Fälle, wenn Alex es beim Faustkampf übertrieben hatte.

„Dies ist Miss Ellery, eine junge Dame, die ich auf der Reise von Gent nach London begleitet habe. Eigentlich sollte sie jetzt im Konvent am Golden Square sein, vor dessen Pforte ich mich von ihr verabschiedet habe. Wie sie hierhergekommen und was passiert ist, ist mir ein Rätsel, aber Sie sehen ja die Verletzung in ihrem Gesicht.“

Der Diener, den beinahe nichts aus der Fassung brachte, beugte sich über die Chaiselongue. „Eine üble Prellung. Ich schlage vor, dass wir ihr Umhang und Schuhe ausziehen und die verwundete Stelle reinigen, bevor sie wieder aufwacht. Solange sie ohnmächtig ist, spürt sie die Schmerzen nicht.“

Sie nahmen ihr den Hut ab und zogen ihr das Cape und die Stiefel aus, von denen einer oberhalb des verbundenen Knöchels ohnehin nicht zugeschnürt war.

„Sie trägt keine Handschuhe“, stellte Byfleet fest und hielt Alex ihre rechte Hand hin. Ihre Nägel waren blutverschmiert. „Vermutlich hat sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt.“

„Na wunderbar!“, murmelte Alex und hielt die Schüssel, als Byfleet begann, ihre verletzte Wange zu reinigen.

Byfleet nahm eine Kompresse, bestrich sie mit Salbe und legte sie auf die verwundete Stelle. Vorsichtig untersuchte er die Wange mit den Fingerspitzen. „Der Wangenknochen scheint nicht gebrochen zu sein.“

Plötzlich kam Tess wieder zu sich. Einen Augenblick zuvor hatte sie noch willenlos dagelegen, nun schlug sie wild um sich. Alex packte ihre Handgelenke, bevor sie den Diener treffen konnten. „Ganz ruhig. Bleiben Sie ruhig liegen. Sie sind jetzt in Sicherheit. Sie sind bei mir. Das ist Byfleet, mein Diener. Er will Ihnen nur helfen.“

„Alex.“ Sie ließ zu, dass er sie wieder in die Kissen drückte. „Es tut mir leid.“ Sie wollte Byfleet anlächeln, zuckte bei dem Versuch jedoch vor Schmerz zusammen.

„Der Arzt und meine Haushälterin sind auf dem Weg hierher. Haben Sie außer der Prellung im Gesicht noch andere Verletzungen davongetragen?“

Sie lag ganz still da, als ob sie nachdenken würde. „Mein Knöchel schmerzt wieder, weil ich so schnell wie möglich fliehen musste. Außerdem tut mir die Schulter weh. Sie haben mich gepackt, und ich wurde gegen eine Wand geschleudert.“

Zu allem Übel ist es also auch noch mehr als ein Angreifer gewesen … und sie ist noch ein halbes Kind und vollkommen wehrlos. Er hätte diesen feigen Kerlen am liebsten den Hals umgedreht, bis sie keinen Ton mehr von sich gaben.

Byfleet kniete sich hin und löste den Verband an ihrem Knöchel. „Das muss sich der Doktor ansehen, Mylord. Der Fuß ist stark angeschwollen.“

„Wer waren diese Männer?“, fragte Alex und versuchte, sich den Zorn nicht anmerken zu lassen.

Tess hob die Schultern und zuckte abermals vor Schmerz zusammen. „Gott allein weiß das. Es waren einfach zwei Männer, die gedacht haben, dass sie in der Dunkelheit ein leichtes Opfer gefunden hätten.“

„Wie konnten Sie entkommen?“

„Ich habe einem von ihnen ein Knie in die Leistengegend gerammt und dem anderen habe ich meinen Handkoffer gegen den Kopf geschleudert. Dann bin ich losgerannt und habe eine Droschke gefunden. Der Kutscher hatte gerade eine Fahrt beendet, sodass ich sofort einsteigen konnte.“

„Das haben Sie gut gemacht“, sagte Alex leise. Noch ein halbes Kind, das vollkommen wehrlos ist? Vielleicht nicht. „Nachdem wir geklärt haben, dass Sie einen Raufbold mit einem gekonnten Hieb außer Gefecht gesetzt, einen anderen entmannt haben und überdies mit einem verstauchten Knöchel durch Londons Straßen gehastet sind, bleibt nur noch eine Frage offen. Warum in aller Welt liegen Sie jetzt nicht friedlich in Ihrem Bett im Kloster?“

Tess verzog das Gesicht. „Weil ich ein gefallenes Mädchen, zweifellos Ihre Mätresse und ungeeignet für den Umgang mit ehrbaren Leuten bin.“

„Was?“

„Eine ältere Frau, die mit der Mutter Oberin bekannt ist, hat sich auch auf unserem Schiff befunden. Sie hat mich wiedererkannt und Sie und mich gemeinsam an Deck gesehen. Wenn Sie sich recht erinnern, habe ich auf Ihrem Schoß geschlafen.“ Tess schloss die Augen.

Sie war übermüdet, hatte Schmerzen und schämte sich. Wie hatten diese Weiber es wagen können, sie zu beschämen? Sie war unschuldig! Er war derjenige gewesen, der zwei Tage und Nächte gegen lüsterne Gedanken hatte ankämpfen müssen …

„Die Mutter Oberin hat mich vor die Tür geworfen, und ich war auf der Suche nach einer Unterkunft, als es passierte. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solchen Ärger bereite, aber nach dem Vorfall hatte ich keine Kraft mehr, eine Bleibe zu suchen …“ Sie sprach nun ganz schleppend. Alex umfasste ihr rechtes Handgelenk, und sie sammelte sich wieder. „Es tut mir leid, dass ich so lästig bin. Sobald es morgen hell ist, finde ich irgendwo eine Unterkunft.“

Die laute Betriebsamkeit auf dem Gang kündigte die Ankunft von Dr. Holt und Hannah Semple an. Alex blieb an Tess’ Seite und erklärte den Eintretenden, was vorgefallen war.

Die Haushälterin drückte MacDonald Hut und Cape in die Hände. „Die arme junge Lady! Ich werde bei ihr bleiben, während der Arzt sie untersucht.“ Sie verwies Alex und Byfleet mit einer Geste des Zimmers, als ob es sich um zwei kleine Jungen handelte, die sich in unerlaubte Gefilde verirrt hätten.

Alex verließ das Arbeitszimmer und schritt besorgt und aufgebracht den Gang entlang. Am liebsten wäre er sofort zum Kloster geeilt, um der Mutter Oberin gehörig die Meinung zu sagen und anschließend die Gegend von Soho nach den zwei Männern abzusuchen. Aber das hätte auch nicht viel gebracht.

Außerdem war es nicht seine Schuld. Er hatte sie wohlbehalten an der Klosterpforte abgesetzt. Oh, du lieber Himmel! Natürlich bin ich für das Debakel verantwortlich! Wenn ich ihre Gesellschaft nicht so unterhaltsam gefunden hätte, wäre sie nie in diese missliche Lage geraten.

Obgleich Alex danach zumute war, gegen den Hutständer zu treten, zog er sich stattdessen in das Gesellschaftszimmer zurück, um so geduldig wie möglich abzuwarten.

7. KAPITEL

Zu Alex’ Erleichterung tauchte Dr. Holt bereits nach zehn Minuten wieder auf. Dankend nahm der Arzt ein Glas Brandy entgegen und ließ sich nicht lange bitten, sich auf einen der Sessel vor dem Kamin zu setzen. „Der Überfall muss für die junge Dame ein großer Schreck gewesen sein, aber wenigstens ist es nicht zum Äußersten gekommen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Prellung im Gesicht wird rasch abklingen, auch wenn es wahrscheinlich noch eine Weile schmerzhaft ist. Nach dem, was Miss Ellery mir berichtet hat, war ihre Knöchelverstauchung schon beinahe abgeheilt, aber die plötzliche Belastung hat die Lage wieder verschlechtert. Sie sollte den Fuß ein paar Tage lang schonen, bis die Schwellung zurückgeht. Ich habe Ihrer Haushälterin genaue Anweisungen gegeben, was zu tun ist.“

„Ich bin über Ihre Diagnose beruhigt. Meine arme Cousine Teresa“, sagte Alex und bemühte sich, glaubhaft zu klingen.

„Oh, sie ist also Ihre Cousine?“ Der Arzt schwenkte das Glas mit Brandy zwischen den Handflächen, atmete den Duft ein und lehnte sich seufzend zurück. „Ich habe sie nicht mehr als nötig gefragt. Im Augenblick muss das Sprechen für sie recht schmerzhaft sein.“

Dem Himmel sei Dank! „Sie kam spontan nach London, um eine alte Freundin zu besuchen. Ich nehme an, dass sie die Hoffnung hegte, als Gesellschafterin eingestellt zu werden“, fantasierte Alex aus dem Stegreif. „Auf dem Weg durch die Stadt muss sie sich verlaufen haben und war dann zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich stehe mit ihr normalerweise kaum in Kontakt, aber in ihrer Verzweiflung ist ihr wohl nur meine Adresse eingefallen.“ Er beugte sich vor, um dem Arzt nachzuschenken. „Ich werde sie in meiner Kutsche nach Hause bringen lassen, sobald sie sich besser fühlt.“

„Da Sie Junggeselle sind, ist das natürlich eine heikle Situation“, entgegnete Dr. Holt. „Andererseits braucht es ja keiner zu wissen, nicht wahr? Und Sie haben ja in Mrs. Semple eine hervorragende Haushälterin.“

Glaubte der Mann ihm wirklich, dass Tess seine Cousine war? Allerdings machte es ohnehin keinen Unterschied. Selbst wenn sie wirklich eine Cousine ersten Grades gewesen wäre, würde man ihre Gegenwart in seinem Haus als skandalös betrachten, solange nur eine Bedienstete als Anstandsdame zugegen war.

„Ja, das ist eine schwierige Situation“, bestätigte Alex. Betont gelassen legte er die Beine übereinander. „Aber zu dieser Uhrzeit lässt sich nicht viel anderes machen. Ich bin froh, dass Sie zu Hause waren, und ich nicht jemanden rufen musste, auf dessen Verschwiegenheit ich mich nicht verlassen kann.“ Der Hinweis war eine deutliche Warnung. Kein Arzt, der in der feinen Gesellschaft behandelte, konnte es sich leisten, den Zorn eines einflussreichen Aristokraten auf sich zu ziehen.

Es klopfte an der Tür, Hannah Semple kam herein und knickste. „Ich habe das blaue Gästezimmer vorbereitet, Mylord. Soll ich MacDonald bitten, die junge Dame nach oben zu tragen?“

„Ich bin gleich bei Ihnen, Mrs. Semple.“ Er schüttelte dem Arzt zum Abschied die Hand, begleitete ihn bis zur Tür und ging dann in das Arbeitszimmer. Tess lag mit bleichem Gesicht gegen die Kissen der Chaiselongue gelehnt. Die geschwollene Wange hatte sich tiefrot verfärbt. „Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Morgen früh werden Sie sich gewiss viel besser fühlen.“

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite“, murmelte Tess.

„Hören Sie auf, sich zu entschuldigen.“ Alex hob sie hoch. Sie muss dringend mehr essen, dachte er, als er sie vorsichtig die Stufen hochtrug. Sie wog wirklich fast nichts, obgleich ihr Körper diese verwirrenden Kurven aufwies. Was hatte diese zarte Person nicht alles in den letzten Tagen durchstehen müssen? Jede andere Frau, die er kannte, hätte längst die Fassung verloren.

Was zum Teufel soll ich nur mit dir machen, kleine Nonne? fragte er sich und betrachtete das zerzauste Haar, das ihm den Blick auf ihr Gesicht versperrte. Für heute Nacht war Tess hier bei ihm in Sicherheit, aber morgen um diese Uhrzeit musste er einen Plan haben, wie er sie aus dem Haus schaffen konnte.

„Da sind wir.“ Die Tür zum Blauen Zimmer stand halb offen, und er trug sie mit der rechten Schulter voran hinein. Das Feuer im Kamin prasselte anheimelnd, und die Decken auf dem Bett waren aufgeschlagen. Hannah Semple hatte sogar dafür gesorgt, dass ein Schemel bereitstand, um das Gewicht der Decken von Tess’ verletztem Knöchel fernzuhalten.

„Was ist mit Noël?“ Tess legte den Kopf zur Seite, um Alex anzusehen. „Der arme kleine Kerl war von dem wilden Hin- und Herschaukeln vollkommen verstört, aber als ich mit ihm floh, konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen.“

„Ich werde mich um ihn kümmern“, versprach Alex und starrte in die tiefblauen Augen, die ihn ernst anblickten.

„Vielen Dank.“ Tess legte ihm den Arm fester um den Nacken, und bevor er wusste, wie ihm geschah, drückte sie ihre weichen Lippen auf seinen Mund.

Himmel und Hölle! Alex kämpfte gegen die Versuchung an und spürte, dass er wehrlos war, als ob ein Gegner ihm eine Degenspitze in die Seite gerammt hätte. Tess’ Duft war ihm bereits vertraut, doch ihre Lippen zu berühren war wie ein Schluck besten Champagners. Er ließ die Zunge über ihre Lippen gleiten und bemerkte ihre Überraschung, als sie keuchend den Mund öffnete. Es lag Unschuld in ihrer Reaktion, aber er hatte kein Mädchen vor sich, sondern hielt eine erwachsene Frau in den Armen – eine sinnliche Frau, die behutsam ihre natürlichen Regungen entdeckte. Nach den vielen erfahrenen Frauen hatte dies eine besonders starke Wirkung auf ihn.

Mit einem großen Schritt trug er sie zum Bett, ohne den Kuss zu unterbrechen. Dabei streifte ihr Haar seine Fingerknöchel, und es war ebenso weich, wie er es sich vorgestellt hatte …

Er stieß mit einem Fuß gegen den Bettpfosten, was ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Alex löste sich von ihren Lippen, bettete Tess auf die Kissen und trat einen Schritt zurück, als ob er an einer Kette zurückgezogen worden wäre.

„Verzeihen Sie. Das wollte ich nicht.“ Was zum Teufel war bloß in ihn gefahren?

„Es war meine Schuld.“ Sie zitterte und blickte ihn mit großen Augen an. Es sah so aus, als ob die Prellung noch dunkler würde. „Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken, und ich habe nicht daran gedacht … Ich wollte Sie nur auf die Wange küssen.“

Natürlich hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt. Nach dem schrecklichen Tag, den sie hinter sich hatte, hatte er ihre unschuldige Geste ausgenutzt, und nun gab sie sich auch noch die Schuld. „Tess …“

„Vielen Dank, Mylord.“ Tatkräftig wie eh und je betrat Hannah das Zimmer. Zwar lächelte sie, aber die Art und Weise wie sie die Worte aussprach, ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihn aus dem Raum schickte. Sie kannte ihn, seit sie beide Kinder gewesen waren. „Sie können Miss Ellery getrost meiner Fürsorge überlassen.“

„Gute Nacht, Miss Ellery“, verabschiedete sich Alex förmlich. „Mrs. Semple wird sich gut um Sie kümmern, da können Sie ganz beruhigt sein.“

„Ich werde im angrenzenden Ankleidezimmer schlafen, Mylord.“ Hannah nickte in die entsprechende Zimmerecke. „Ich lasse die Tür geöffnet, damit Miss Ellery mich jederzeit rufen kann, wenn sie in der Nacht Hilfe benötigt.“

Ich halte ein Schüreisen in Händen für den Fall, dass lüsterne Männer das Zimmer betreten! las er zwischen den Zeilen. Er brauchte einen Brandy.

Zurück im Arbeitszimmer, ließ er sich auf seinen Sessel sinken, griff nach dem Glas und wollte es gerade an die Lippen heben, als ein aufgebrachtes Maunzen, das wie ein gejaulter Fluch klang, aus dem Weidenkorb ertönte, der neben dem Kamin stand.

„Du sprichst mir aus der Seele, Noël“, sagte Alex und erhob sich mit dem Schwenker in der Hand, um den Korb zu öffnen. In sehr kurzer Zeit hatte er sich ein Kätzchen und eine Nonne angeschafft, und schon war seine wohlgeordnete, vergnüglich selbstsüchtige Lebensweise auf den Kopf gestellt.

Hatte Hannah sie gesehen? Tess kämpfte gegen den Impuls an, einfach die Augen zu schließen und so zu tun, als ob der Kuss nie stattgefunden hätte. Aber damit machte sie es sich natürlich zu leicht. Sie blickte der Haushälterin in die Augen und erkannte nichts als Sorge darin.

„Ich habe ein Nachtgewand für Sie mitgebracht“, sagte Mrs. Semple. „Ich helfe Ihnen jetzt beim Umkleiden, damit Sie rasch schlafen können, Miss Ellery.“

Die Frau ist kaum älter als ich, dachte Tess. Für eine Haushälterin war sie ungewöhnlich jung. „Ist Mr. Semple der Butler dieses Hauses?“, erkundigte sie sich.

„Ich bin Witwe, Miss Ellery. Normalerweise pflege ich nicht hier zu übernachten. Schließlich handelt es sich um einen reinen Männerhaushalt, Sie verstehen schon.“

„Aber Sie sind noch so jung. Oh, verzeihen Sie, das war taktlos von mir. Ich kann noch nicht klar denken.“

„Das ist nicht verwunderlich. Mein Mann fiel in Waterloo. Er war einer der Reitknechte des alten Lords, wollte aber unbedingt zur Armee.“ Sie wickelte Tess in die warmen Decken, strich kurz das Betttuch glatt und blickte sich prüfend im Zimmer um. „Was kann ich Ihnen zu essen bringen, Miss Ellery? Möchten Sie vielleicht ein Omelett mit etwas Brot und Butter und eine Tasse Tee?“

„Das klingt großartig, vielen Dank.“ Tess schloss die Augen und lehnte sich in die bequemen Kissen zurück. Im Dämmerzustand überlegte sie noch, ob es ihr gelingen würde, wach zu bleiben, bis das Essen kam. Dann schlief sie ein.

„Sie schläft.“ Hannah Semple schloss hinter sich die Arbeitszimmertür und nahm Alex gegenüber auf dem Sessel Platz. „Und wen hast du da auf deinem Schoß sitzen?“

Alex strich mit der rechten Handfläche über den winzigen Katzenkörper und lächelte, als das Schnurren seine Finger vibrieren ließ. „Das ist Noël. Ich bin auf den Kontinent gereist, um mit vielen Kunstwerken heimzukehren, und am Ende brachte ich ein Kätzchen und eine Nonne mit, die keine ist.“

Hannah schob sich die Schuhe von den Fersen und machte es sich im Sessel bequem. „Und was hast du mit den beiden vor?“

„Ich hoffte, dass du mir bei der Lösung dieser Frage behilflich bist, Hannah.“ Er blickte die Spielgefährtin aus Kindertagen und Tochter des Verwalters von Tempeston voller Zuneigung an. Alex hatte mitangesehen, wie sie losmarschiert war, um Willie Semple in den Krieg zu folgen. Damals waren Hannah und er gerade erst siebzehn Jahre alt gewesen. Fünf Jahre später hatte sie ihm geschrieben, als sie nach England zurückkehrte. Da war sie Witwe und hatte nach einem Ort gesucht, an dem sie bleiben konnte. In der Gegenwart anderer achtete sie peinlich genau darauf, nie aus der offiziellen Rolle zu fallen. Aber wenn sie unter sich waren, waren sie einfach nur gute alte Freunde.

„Der kleine Kater bleibt bei Tess, aber was zum Teufel soll ich bloß mit ihr machen?“

„Allem Anschein nach möchtest du am liebsten mit ihr das Bett teilen“, bemerkte Hannah.

Alex zuckte zusammen. „Du hast es gesehen? Sie wollte mir nur einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange geben. Dabei ist mir die Sache aus dem Ruder gelaufen. Sie ist eine unschuldige Person, Hannah, nicht die Art von Mädchen, die man zu seiner Mätresse macht.“

„Darin kann ich dir nur Recht geben. Es reicht, sie anzusehen, um zu wissen, dass sie keine Ahnung hat, auf was sie sich einlässt.“ Das ist zweifellos eine verbale Ohrfeige, dachte er. „Was tut sie in London?“

Er berichtete, was Tess ihm erzählt hatte. „Ich muss eine ordentliche Anstellung für sie finden“, schloss er.

„Zunächst muss sie so schnell wie möglich aus deinem Haus verschwinden“, widersprach Hannah. „Wenn es ihr morgen gut genug geht, kann ich sie mit zu mir nehmen. Ich habe ein freies Zimmer in meiner Wohnung. Es ist nicht besonders groß, aber immerhin müsste sie sich dort nicht vor Gerede fürchten. Dann können wir in Ruhe für sie nach einer Arbeit suchen.“

Er verspürte eine seltsame Mischung aus Erleichterung und schmerzhaftem Bedauern. „Selbstverständlich werde ich für ihre Unterbringung und für alles, was du für sie brauchst, bezahlen. Außerdem muss sie dringend neu eingekleidet werden. Diese Nonnen haben sie in dieser Jahreszeit mit viel zu dünnen Sachen losgeschickt. Noch dazu dürfte es schwer sein, mit dieser Kleidung eine passable Anstellung zu finden.“

„Ich kümmere mich darum. Du kennst dich eher mit Paradiesvögeln als mit anständigen jungen Frauen aus.“ Hannah blickte ihn stirnrunzelnd an. „Also, wie sehen deine Pläne aus? Was hast du an Weihnachten vor?“

„Wie du nur zu gut weißt, werde ich hierbleiben. Möchtest du an Weihnachten gemeinsam mit mir speisen, Hannah?“

„Nein, aber vielen Dank für das Angebot. Ich werde wie in jedem Jahr meine Schwiegereltern besuchen.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, du Dickkopf würdest auch nach Hause reisen.“

„Ich bin zu Hause, und solange keine herzliche Einladung aus Tempeston kommt, werde ich auch hier bleiben.“ Und wahrscheinlich landeten eher fliegende Schweine auf dem Dach, als dass eine solche Einladung bei ihm eintraf.

„Es ist zehn Jahre her, Alex.“ Hannah blickte ins Kaminfeuer. „Ist es nicht langsam an der Zeit zu vergeben?“

Sie wusste doch ganz genau, dass es nicht nur um ihn ging. Ein junger Mann war an diesem bitteren Weihnachtstag gestorben, und Alex’ Vater trug die Schuld.

„Eines Tages musst du zurückkehren. Du bist schließlich der Erbe.“

„Nur über seine oder meine Leiche. Wenn das Letztere der Fall sein sollte, nehme ich an, dass sie mir eine Grabstelle in der Familiengruft zugestehen.“ Er lächelte sarkastisch.

Hannah schüttelte nur den Kopf. „Du bist ebenso starrköpfig wie der Earl – und das weißt du auch, nicht wahr?“ Sie legte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn aufmerksam. „Weshalb heiratest du nicht und setzt einen Erben in die Welt? Das wäre doch auch eine Form der Rache für dich. Lord Moreland würde dann erfahren, dass dieser Tollpatsch von einem jüngeren Sohn, den er immer bevorzugt hat, niemals erben wird.“

„Damit würde ich aber all das, was er über mich glauben will, zunichtemachen. Das wäre nicht nett von mir. Und was ist, wenn ich mich als ebenso miserabler Ehemann und Vater herausstelle, wie es bei ihm der Fall ist?“

„Das ist unmöglich.“ Sie lächelte. „Niemand kann darin derartig scheitern. Ich lege mich jetzt besser hin. Ich hoffe bloß, dass diese nette kleine Person nicht von Albträumen verfolgt wird.“

Als sich die Tür mit leisem Klicken hinter ihr schloss, blieb Alex noch eine Weile sitzen, streichelte den winzigen Kater und starrte gedankenverloren auf die glühende Asche, die in sich zusammensank.

„Ich sollte mich noch von Lord Weybourn verabschieden“, sagte Tess, als Mrs. Semple Noëls Korb schloss. „Ich möchte mich wenigstens bedanken.“

„Sie können ihm eine Nachricht schicken.“ Die Haushälterin nickte MacDonald zu, der die Haustür öffnete und Tess’ Handkoffer zu der wartenden Droschke trug. „Wir sollten Sie jetzt besser zu Ihrer neuen Unterkunft bringen und die nötigen Einkäufe für Sie tätigen.“

„Ich habe kaum Geld“, wagte Tess einzuwenden. Offenbar soll ich unbedingt aus dem Haus geschafft werden, dachte sie, als sie auf einen Sitz in der Droschke geschoben wurde und die junge Haushälterin ihr den Katzenkorb auf den Schoß stellte. Mrs. Semple mag mich nicht. Bestimmt hat sie den Kuss gesehen, und jetzt denkt sie …

„Seine Lordschaft kommt für alle Unkosten auf. Er will auch, dass Sie neu eingekleidet werden.“

Sie glaubt, dass ich mit ihm das Bett geteilt habe und er mich jetzt ausbezahlt. „Ich nehme es nur als Darlehen an. Sobald ich eine Anstellung gefunden habe und Geld verdiene, werde ich es zurückzahlen.“

Mrs. Semple blickte mit zusammengezogenen Brauen aus dem Fenster.

„Mrs. Semple, ich bin nicht seine Mätresse. Was Sie gestern Abend gesehen haben …“

„War von Ihrer Seite her ganz unschuldig. Ja, das weiß ich.“ Die Haushälterin drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein Lächeln.

„Von beiden Seiten her.“

„Er ist ein Mann und ganz gewiss seit vielen Jahren nicht mehr unschuldig, Miss Ellery. Nein, regen Sie sich nicht auf. Er ist niemand, der Jagd auf anständige Mädchen macht. Aber wie ich bereits erwähnte, ist er ein Mann, und Sie sind eine Frau – noch dazu eine ausgesprochen hübsche, sogar noch in dieser trostlosen Kleidung und mit den Blessuren. Wenn er an Ihnen kein Interesse zeigte, würde ich mir ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit machen.“

Tess lachte halb erfreut, halb entsetzt. „Sie kennen Lord Weybourn sehr gut, oder irre ich mich?“

„Ja, seit unserem sechsten Geburtstag. Mein Vater war der Verwalter des Earl of Moreland. Alex ist ein guter Mann. Auch wenn er ebenso dickköpfig ist wie sein alter Herr.“ Erneut legte sie die Stirn in Falten.

„Sie machen sich Sorgen um ihn, nicht wahr? Was ist in seiner Familie schiefgelaufen?“

Mrs. Semple verzog das Gesicht. „Das muss er Ihnen schon selbst erzählen. Aber eines kann ich Ihnen sagen. Er macht sich die schlimmsten Vorwürfe, dass er Sie irgendwo abgesetzt hat, wo Sie nicht in Sicherheit waren. Sie verletzen seinen Stolz, wenn Sie ihm das Geld für eine ordentliche Garderobe zurückzahlen.“

„Er konnte doch nicht wissen, dass es ein Problem geben würde“, widersprach Tess. „Daran trägt er überhaupt keine Schuld.“

„Dennoch sollten Sie Ihren Stolz hinunterschlucken und es einfach genießen, vernünftige und schöne Kleidung zu bekommen.“

„Einverstanden“, gab Tess nach. Ich bin dem Pfad der Freude, der direkt in die Hölle führt, jetzt so weit gefolgt, dass ich auch gleich den Tatsachen ins Auge blicken kann. Ich bin ruiniert, und ein Mann kauft mir Kleidung. Es ist bloß bedauerlich, dass ich nicht vollständig ruiniert wurde, wenn ich schon dabei war … Der Gedanke kam ihr ganz unerwartet, und sie zog ihr Taschentuch hervor, um ihre Verlegenheit hinter einem Husten zu verbergen. „Schöne Kleidung schickt sich allerdings nicht für jemanden, der nur nach einer Stelle als Gouvernante oder Gesellschafterin sucht.“

„Wir werden sehen. Wenn Lord Weybourn die Angelegenheit in die Hand nimmt, kann er Ihnen vermutlich eine weit bessere Anstellung verschaffen, als es das Kloster gekonnt hätte.“ Mrs. Semple blickte sie prüfend an. „Hm, ja, ich kann mir da eine Reihe von Möglichkeiten vorstellen.“ Ein rätselhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Jetzt versorgen wir das Kätzchen und machen eine Liste, welche Dinge Sie benötigen. Und bitte nennen Sie mich Hannah.“

8. KAPITEL

Wo zum Teufel bleibt mein Kaffee?“, fragte Alex, obgleich sich außer ihm niemand im Frühstückszimmer aufhielt. Nirgends war ein Lakai, seine Kaffeetasse war bereits seit zehn Minuten leer, es waren keine warmen Toasts in Sicht, und das Kaminfeuer musste geschürt werden. Er hätte es wissen müssen. Seit Tess und Noël vor einer Woche aus dem Haus verschwunden waren, hatte eine Ruhe geherrscht, die zu schön war, um wahr zu sein.

Seufzend stand er auf, stieß das Schüreisen in die Kohlen und zog dann lange an der Klingel. Stille. Als er die Tür öffnete, war kein Mensch zu sehen. Alex ging zu der Bedienstetentür unter der Treppe.

Er war bereits die Hälfte der knarrenden Stufen in den Küchentrakt hinuntergestiegen, als er ein Poltern hörte. Mit drei großen Schritten eilte er die letzten Stufen hinunter. Ihm den Rücken zugewandt, stand eine fremde Frau in einem grünen Kleid in der Küche. Er sah die große Schleife der wallenden Schürze, die sie sich umgebunden hatte, und eine weiße Haube krönte ihr glänzendes dunkles Haar. Sie hielt eine verbogene Toastgabel in einer Hand, und ein halbes Dutzend Brotscheiben lagen zu ihren Füßen.

„Nichtsnutziges männliches Miststück!“, rief sie erbost.

Ein kurzer Blick durch die Küche verhalf Alex zu der Erkenntnis, dass er das einzige männliche Wesen in Sichtweite war. „Madam? Wenn Sie mir freundlicherweise verraten, wer Sie sind, bin ich gern bereit, mich nützlich zu erweisen.“

Sie wirbelte herum und trat dabei auf die Brotscheiben. „Oh nein“, sagte Tess ausdruckslos. „Sie sind es.“

„Ja, ich“, bestätigte Alex. „Was tun Sie hier – ich meine, außer Toast zu pulverisieren und die Küchenausstattung zu zerstören? Und wo steckt Mrs. Semple?“

Sie kam ein Stück auf ihn zu, sodass sie jetzt in dem besser beleuchteten Bereich der Küche stand. Oh, du meine Güte, ihr Gesicht! Die verletzte Wange schimmerte in allen Farben des Regenbogens. „Außerdem sollten Sie doch Ihren Knöchel schonen.“ Alex hätte sie am liebsten schwungvoll hochgehoben und sie irgendwo hingelegt. Aber wenn ich sie erst einmal in den Armen halte, weiß ich nicht, ob ich sie wieder loslassen kann.

„Hannah fühlt sich schlecht und liegt mit Kopfschmerzen im Bett. Mein Knöchel ist verheilt. Daher bin ich dabei, Ihnen Ihr Frühstück zu machen. Und zuerst lief doch auch alles ganz gut, oder nicht?“ Sie warf die Toastgabel auf den Tisch und sah ihn stirnrunzelnd an. „Es war nur plötzlich kein Kaffee mehr da, und Noël hat das Brot vom Tisch gestoßen, nachdem ich es gerade in Scheiben geschnitten hatte. Beim Versuch es aufzufangen, habe ich die Gabel verbogen.“

„Und wo sind Byfleet, MacDonald und Phipps?“

„MacDonald ist losgeeilt, um Kaffee und neues Brot zu kaufen. Phipps hatte ich zuvor mit einer Medizin losgeschickt, um die Hannah gebeten hatte. Byfleet ist in die Jermyn Street aufgebrochen, glaube ich. Er wollte Hemden kaufen.“ Das alles trug Tess murmelnd in gebückter Haltung vor, während sie die Brotbrocken einsammelte.

„Darf ich fragen, weshalb mein Diener um diese Uhrzeit Hemden kaufen muss?“ Alex blickte auf ihren Nacken, dessen weiche Haut geradezu nach seinen Lippen zu schreien schien. Er ergriff die Toastgabel, drückte den verbogenen Eisengriff gegen die Tischfläche und stemmte sich dagegen. Als er die Gabel gegen das Licht der Lampe hielt, war sie fast wieder gerade. Außerdem hatte er seine animalischen Gelüste wieder unter Kontrolle.

Die Hände voller Brot richtete sich Tess auf und blickte sich nach einer Ablagemöglichkeit um.

„Werfen Sie es in das Feuer“, schlug Alex vor.

„Ich soll Essen vernichten? Das kann ich nicht machen. Schwester Amanda sagt, man kommt direkt in die Hölle, wenn man so etwas tut.“

„Und das glauben Sie ihr?“

„Natürlich nicht.“ Tess entdeckte den Futtereimer und beförderte die Brotstücke hinein. „Aber es ist ein wenig so wie mit der abergläubischen Angewohnheit, nicht unter Leitern durchzugehen. Es geht einem einfach in Fleisch und Blut über.“

„Wahrscheinlich pflegen Nonnen solche Gewohnheiten noch mehr als andere Menschen“, bemerkte Alex und setzte sich auf die Tischkante. Er entdeckte eine Kruste Brot und bestrich sie mit reichlich Butter. Im Grunde hätte er sowohl irritiert als auch besorgt sein müssen, weil Tess wieder zurück in seinem Haus war. Doch seltsamerweise war er ausgesprochen gut gelaunt.

Tess ergriff die Gabel, betrachtete sie und lächelte. „Sie sind wirklich stark.“

„Ach, das kommt nur davon, dass ich ständig Nonnen hin- und herschleudere. Aber was hat es mit den Hemden auf sich?“ Er widerstand der Versuchung, ihr Lächeln zu erwidern. Es konnte gefährlich werden, wenn sich eine zu behagliche Stimmung zwischen ihnen ausbreitete.

„Offenbar befanden sich Ihre sauberen Hemden heute Morgen alle im Bügelkorb in der Waschküche. Dann hat Noël sie gefunden.“

„Aha.“

„Na ja, das Ergebnis hat Mr. Byfleet jedenfalls veranlasst, Flüche auszustoßen, wie ich sie nie zuvor vernommen habe.“ Sie blickte ihn vorsichtig an. „Ich kann Ihnen sofort einen Tee machen und ihn nach oben bringen, wenn Sie möchten.“

„Nein, das möchte ich nicht. Ich werde mich hier unten hinsetzen, bis ich herausgefunden habe, weshalb meine unfehlbare Haushälterin keinen Kaffeevorrat angelegt hat und überdies mit Kopfschmerzen im Bett liegt, obgleich sie in den vielen Jahren, in denen ich sie kenne, noch niemals krank geworden ist. Aber vor allem will ich wissen, warum sie ausgerechnet Sie hierher geschickt hat, um mir ein Frühstück zu machen.“

„Ich fürchte, ich habe Hannah eine Menge zusätzlicher Arbeit bereitet. Sie hat mir geholfen, Kleidung zu kaufen und das Zimmer für mich einzurichten. Vermutlich hat sie angesichts dieser zusätzlichen Aufgaben ganz vergessen, den Vorratsschrank zu überprüfen. Und gestern Abend war sie ungewöhnlich still. Ich dachte, sie sei einfach in Gedanken, aber vermutlich lag es bereits an den Kopfschmerzen.“ Tess begann, schmutziges Geschirr in die Spülschüssel zu stellen. Ihm fiel auf, dass sie gar nicht mehr humpelte. „Hannah sagte mir, später würde ein Küchenmädchen kommen.“

„Ja, ich glaube schon. Tess, kommen Sie an den Tisch und setzen Sie sich hin.“ Er wartete, bis sie Platz genommen hatte. In dem neuen Kleid und mit der sauberen weißen Schürze sah sie trotz der Verletzung sehr adrett aus. Sie faltete die Hände im Schoß und betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. „Sie sollten nicht hier sein“, sagte er. Er musste ein Machtwort sprechen.

„Sie hätten bestimmt nicht gemerkt, dass ich hier bin, wenn die Probleme mit dem Kaffee und dem Toast nicht aufgetaucht wären. Sie haben wirklich hervorragendes Personal.“ Alex öffnete den Mund, aber sie fuhr fort: „Und es muss doch auch keiner wissen.“

„Ich weiß es.“ Und ich finde es höchst beunruhigend. „Sie sind keine Bedienstete.“

„Ich betätige mich bei Ihnen als Haushälterin. Diese Rolle ist in vielen Häusern mindestens ebenso angesehen wie die der Gouvernante.“

„Nein, das gilt nicht für eine unverheiratete Dame.“ Alex wischte sich die Krümel von den Fingern und stand auf. „Ich werde eine Droschke für Sie rufen, die Sie zurück zu Ihrer Unterkunft bringt.“

Die Hausbotentür öffnete sich, und Phipps trat ein. Er machte große Augen, als er Alex erblickte und zog den Hut. „Guten Morgen, Mylord.“

„Guten Morgen. Wie geht es Mrs. Semple?“

„Nicht gut, Mylord. Ich habe allerdings nicht persönlich mit ihr sprechen können, nur mit Mrs. Green, der Wirtin. Sie sagt, es sei die Grippe, und zwei weitere Frauen, die bei ihr wohnen, sind ebenfalls davon betroffen.“

„Ich muss mich um Hannah kümmern.“ Tess war sofort auf den Beinen und legte die weiße Haube und die Schürze ab.

„Nein, Miss. Mrs. Green hat ausdrücklich gesagt, dass sie und ihr Hausmädchen sich um die Kranken kümmern. Mrs. Semple möchte auf keinen Fall, dass Sie in die Unterkunft zurückkommen und das Risiko eingehen, sich anzustecken. Sie hatte bereits eine Reisetasche und Ihren Handkoffer für Sie gepackt und an Mrs. Green übergeben. Ich habe Ihr Gepäck gleich mitgebracht.“

„Das geht auf gar keinen Fall. Sie kann nicht hierbleiben“, sagte Alex, als sich die Tür erneut öffnete und MacDonald eintrat.

„Ich bringe den Kaffee und drei Laibe Brot, Miss Ellery … Mylord?“ Der Lakai stellte den Einkaufskorb auf dem Boden ab und starrte Alex an, während ein mageres Mädchen hinter ihm durch die Tür schlüpfte.

„Guten Morgen, Mr. MacDonald, Mr. Phipps. Oh!“ Sie blieb wie angewurzelt stehen.

„Sie müssen Annie sein. Am besten fangen Sie sofort an, das Frühstücksgeschirr zu spülen“, befahl Tess mit fester Stimme.

Alex schritt durch die Küche, um die Dienstbotentür zu schließen, in der Hoffnung, dem Ansturm von draußen Einhalt zu gebieten und zu verhindern, dass die frostige Dezemberluft weiter in das Haus drang.

Tess winkte Annie zu sich. „Mrs. Semple ist an der Grippe erkrankt. Ich bin Mi…Mrs. Ellery und vertrete sie in ihrer Abwesenheit als Haushälterin. Phipps, bitte setzen Sie einen Kessel Wasser für den Kaffee Seiner Lordschaft auf. MacDonald, reichen Sie mir bitte einen Laib Brot.“

„Nach dem Frühstück möchte ich Sie in meinem Arbeitszimmer sprechen, Mrs. Ellery“, verkündete Alex stirnrunzelnd. Das Vergnügen, mit Tess allein zu sein, war ihm nicht lange vergönnt gewesen. Mit einer schwungvollen Bewegung hob er das Kätzchen von seinen Schuhen hoch und zog sich so würdevoll wie möglich aus der Küche zurück.

„Da werde ich aus meiner eigenen Küche vertrieben, Noël. Und was soll ich jetzt mit ihr machen?“

Der kleine Kater miaute und biss Alex in den rechten Daumen.

Eine duftende Tasse mit frischem Kaffee, heiße Toasts und der letzte Topf von dem, was Phipps als Mrs. Semples beste Erdbeermarmelade bezeichnet hat, wird die aufgebrachte Männerseele gewiss beruhigt haben, dachte Tess. Auf halber Treppe rückte sie die Haube zurecht, die auf dem fest zusammengebundenen Haar zur Seite gerutscht war.

Wenige Augenblicke später klopfte sie an der Tür des Arbeitszimmers.

„Herein!“ Das klang nicht gerade einladend. Tess war beklommen zumute, als hätte die Mutter Oberin sie zu sich bestellt.

„Mylord.“ Sie knickste, faltete die Hände und bemühte sich zu lächeln.

„Um Himmels willen, Tess! Setzen Sie sich hin und hören Sie mit dem Theater auf!“ Mit der Spitze des Briefmessers drehte er einen Stapel goldgeränderter Karten auf dem Schreibtisch um.

„Das werde ich nicht tun. Ich bemühe mich nach besten Kräften, mich wie eine erstklassige Haushälterin zu benehmen.“

„Sie können nicht meine Haushälterin sein.“ Alex stieß das Briefmesser in einen Becher mit Schreibfedern.

„Ich bin für die Arbeit durchaus geeignet. Im Kloster wurde uns beigebracht, wie ein Haushalt zu führen ist. Ich komme mit den Aufgaben gut zurecht.“

„Das habe ich nicht gemeint.“ Der Blick seiner haselnussfarbenen Augen blieb auf ihrem Mund heften, während er die Lippen zusammenkniff.

Diese Lippen hatten sich fest und dennoch zärtlich auf ihren angefühlt. Stark und doch fordernd. Sie hatten Fragen gestellt, die sie … Tess schloss die Augen, und Alex stieß hörbar Luft aus. Sie blinzelte und sah, dass er sie noch immer anstarrte.

„Es geht um den Kuss, nicht wahr? Sie denken, dass ich mich Ihnen an den Hals werfen wollte.“ Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, hatte sie die Worte ausgesprochen.

„Nein, ja, teilweise.“ Alex stützte sich mit den Ellbogen auf den Armlehnen ab und verschränkte die Hände, als ob er beten würde. „Sie sollten sich nicht in einem Junggesellenhaushalt aufhalten. So einfach ist das. Es gehört nicht zu meinen Angewohnheiten, über meine weiblichen Bediensteten herzufallen. Und auch wenn ich keine Erklärung für das, was an jenem Abend vorgefallen ist, finden kann, gibt es dafür keine Entschuldigung – zumindest keine, die akzeptabel wäre.“

Er legte die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, was Hannah sich dabei gedacht hat, Sie herzuschicken. Sie hielt es für ebenso wichtig wie ich, Sie aus meinem Haus zu schaffen.“

„Sie ist krank, und wahrscheinlich hatte sie lange genug Zeit, um darüber nachzudenken. Sie wusste, dass mir hier nichts passieren kann.“ Tess hörte auf, die feine Wolle ihres Kleides zwischen den Fingern zu kneten. „Ich denke, anfangs hat sie sich mehr Sorgen um Sie gemacht als um mich.“

„Um mich?“ Alex setzte sich kerzengerade hin und blickte sie fragend an.

„Wahrscheinlich dachte sie, ich würde versuchen, Sie um den kleinen Finger zu wickeln“, sagte Tess zögerlich. Das war natürlich lächerlich.

Alex warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. „Sie?“

„Ich weiß, das ist lachhaft, nicht wahr?“ Natürlich ist es das. Aber warum verursachte sein Gelächter bei ihr ein derartig schmerzhaftes Gefühl der Scham?

„Bestimmt hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits diese fiebrige Erkrankung eingefangen“, sagte Alex kopfschüttelnd.

Ja, natürlich war es unsinnig. Teresa Ellery, die ebenso wenig von der großen weiten Welt wusste wie der winzige Noël, mit geprellter Wange und gekleidet wie eine Waise aus einem Kloster, appellierte vielleicht an Lord Weybourns Ritterlichkeit, verleitete ihn aber gewiss nicht zu Liebesabenteuern. Dieser Kuss, auf dessen Grundlage sie in ihren Träumen tags wie nachts zahllose Luftschlösser gebaut hatte, war nichts als die normale Reaktion eines jeden Mannes auf eine jede Frau gewesen, die so töricht war, ihre Lippen auf die seinen zu pressen.

„Wie auch immer, ich kann jedenfalls im Augenblick nicht zu Hannah zurück. Ich würde mich nur anstecken“, erklärte Tess. „Solange ich mich nicht in den oberen Bereichen des Hauses aufhalte, wenn Sie Besucher haben, wird es doch gar keiner bemerken.“

Er rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, was bei einem so eleganten Mann seltsam unbeholfen wirkte. „Über meinem Zimmer befindet sich ein Gästezimmer, das Sie benutzen können“, sagte er mit hörbarem Zögern. „Keiner der männlichen Bediensteten schläft auf dieser Etage, und die Tür lässt sich abschließen. Wir werden für Sie eine Zofe einstellen, die im Ankleidezimmer schläft.“ Er zog an der Klingelschnur und schwieg, bis MacDonald das Zimmer betrat. „Begleiten Sie Mrs. Ellery zu der Agentur, die uns immer das Personal vermittelt. Helfen Sie ihr, eine geeignete Zofe zu finden.“

„Es handelt sich um eine sehr gute Agentur“, vertraute ihr MacDonald an, als sie draußen vor der Tür mit dem blank polierten Messingschild standen. „Seine Lordschaft bezieht sein gesamtes Personal über diese Vermittlung.“

Twinford & Musgrave – Agentur für häusliches Dienstpersonal. Gegründet 1780. Das klingt in der Tat nach einer noblen Institution, dachte Tess, auch wenn es ihr befremdlich vorkam, für sich eine Zofe auszuwählen.

MacDonald hielt ihr die Tür auf. „Mrs. Ellery aus Lord Weybourns Haus sucht nach einer geeigneten Zofe“, sagte er zu dem Mann am Empfang, der sofort aufstand, nachdem er Tess’ Kleidung in Augenschein genommen hatte. Jetzt war sie dankbar, dass Hannah beim Kauf auf einer sehr guten Qualität bestanden hatte. Ansonsten hätte sie sich wahrscheinlich gleich in die Schlange der Bewerber und Bewerberinnen auf der anderen Seite des Gangs einreihen können.

„Gewiss, Madam. Wenn Sie so freundlich wären, sich direkt in das Büro zu begeben. Dort können Sie Ihre Wünsche äußern, und man wird prüfen, wer dafür …“

Er wurde vom Weinen eines Babys unterbrochen. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich, und eine junge Frau, die ihr Kind an die Brust drückte, trat rückwärts auf den Gang. „Aber, Mr. Twinford, ich kann jede Arbeit übernehmen. Ich wasche, nähe, putze …“

Die Frau war mittelgroß und sauber und ordentlich gekleidet, wenngleich die Sachen für das Wetter nicht warm genug waren. Tess warf einen besorgten Blick auf das Baby, das in eine umgenähte Pelisse eingewickelt war.

„Sie haben sich schon genug Dingen zugewandt, die nicht in Ihren Bereich fielen!“ Die Stimme aus dem Büro klang entrüstet. „Wie können Sie die Frechheit besitzen, von einer Agentur mit unserem Ruf zu erwarten, eine schamlose Person wie Sie an einen anständigen Haushalt zu vermitteln?“

„Aber, Mr. Twinford, ich habe nie …“ Die Frau war blass und dünn. Tess spürte ihre Verzweiflung.

„Hinaus!“ Die Tür wurde der Frau mit dem Baby vor der Nase zugeschlagen, und taumelnd wich sie zurück.

„Ich bitte Sie um Verzeihung, Mrs. Ellery. Wie unangenehm!“ Der Empfangsangestellte umrundete sein Pult. „Und Sie verschwinden jetzt, Sie …“

„Hören Sie auf! Sie erschrecken das Baby.“ Tess trat zwischen den Mann und die junge Frau. „Wie heißen Sie?“

„Dorcas White, Madam.“ Sie klang leise und erschöpft. Jetzt, da Tess die Frau ganz aus der Nähe sah, bemerkte sie, wie säuberlich ihre Kleidung ausgebessert und mit welcher Sorgfalt die improvisierte Bekleidung des Kindes genäht worden war.

„Sind Sie eine Zofe, Dorcas?“

„Ja, Madam, das war ich einmal.“

„Folgen Sie mir.“ Tess drehte sich zu dem hustenden Angestellten um, der versuchte, Dorcas am Arm zu packen. „Würden Sie bitte die junge Frau in Ruhe lassen? Wir werden sofort gehen!“ Widerstandslos ließ sich Dorcas von ihr hinaus auf die Straße führen und stieg hinter ihr in die wartende Kutsche ein. „Nun können wir ungestört miteinander reden. Sie sagten, dass Sie als Zofe gearbeitet hätten und nach einer neuen Stelle suchen?“

„Ja, ich war Zofe, aber mit meiner kleinen Daisy hier, wird das nicht mehr möglich sein. Ich bin bereit, jede Art von Arbeit anzunehmen, aber ich werde sie nicht abgeben.“

„Natürlich nicht.“ Von dem kleinen Mädchen waren nur eine winzige Stupsnase und eine winkende Faust zu sehen. „Wer ist der Vater?“

Dorcas wurde noch blasser. „Er warf mich aus dem Haus, als erkennbar wurde, dass ich ein Kind bekomme.“

„Was? Sie waren also bei ihm angestellt?“ Die junge Frau nickte. „Hat er Sie gezwungen?“ Wieder nickte die Frau. „Und seine Frau ist nicht eingeschritten?“

„Er behauptete ihr gegenüber, ich hätte … Er sagte, ich hätte …“

Sie würde die ganze Geschichte schon noch früh genug erfahren, sobald Dorcas sich etwas beruhigt hatte. „Nun, darüber machen wir uns jetzt erst einmal gar keine Gedanken. Ich brauche eine Zofe. Sie können gern mitkommen und für mich arbeiten, oder für Lord Weybourn, um genau zu sein.“

„Sind Sie Lady Weybourn?“ Dorcas starrte sie an, als ob sie ihren Ohren nicht trauen würde.

„Ich?“ Tess bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Nein, ich bin seine neue Haushälterin. Aber da es sich um einen reinen Männerhaushalt handelt, benötige ich eine Zofe, damit der Anstand gewahrt bleibt. Sie verstehen, was ich meine?“ Sie blickte in das schmale besorgte Gesicht und auf die rissigen Hände, mit denen die junge Mutter sanft das Baby wiegte. „Würden Sie die Arbeit annehmen?“

„Oh ja, Madam. Oh ja, bitte!“ Dorcas brach in Tränen aus.

9. KAPITEL

Wo ist Miss … Mrs. Ellery?“ Heute war das Frühstück hervorragend gewesen. Alex faltete die Zeitung zusammen und horchte. Im Haus war es verdächtig ruhig. Gewiss machte er sich zu große Hoffnungen, wenn er annahm, dass Hannah wie durch ein Wunder genesen und wieder auf ihrem Posten war.

„Mrs. Ellery ist in der Küche, Mylord.“ Phipps balancierte das Silbertablett mit einem Stapel Briefe ins Zimmer und senkte es ein wenig, damit Alex sehen konnte, wie viel Post er bekommen hatte. „Soll ich die Korrespondenz in Ihr Arbeitszimmer bringen, Mylord? Mr. Bland bat mich, Ihnen mitzuteilen, dass er zum Schreibwarengeschäft gegangen ist und gleich zurückkehren wird.“

„Sehr gut.“ Alex machte eine vage Handbewegung in Richtung der Tür. Er konnte sich jetzt noch nicht auf Geschäftliches konzentrieren.

Tess hatte also die Nacht in dem Zimmer über seinem verbracht. Alex nahm erneut die Zeitung in die Hand und starrte eine Weile auf den Parlamentsbericht. Viel leeres Geschwätz … Er hatte nicht einmal Schritte auf den Holzbohlen über sich vernommen. Aber zweifellos hatte sie schon fest geschlafen, als er aus dem Klub heimgekehrt war, und bestimmt war sie lange vor ihm aufgestanden. So weit, so gut. Der Himmel war nicht über ihm zusammengebrochen, und er hatte sich offenkundig ganz umsonst Sorgen gemacht.

Alex warf die Zeitung auf den Tisch. Er musste sich etwas einfallen lassen, um eine Sammlung ausgefallener französischer Möbel, die mit Malergold verziert waren und deren Erwerb er mittlerweile bereute, zu verkaufen. Er schritt den Gang hinunter zu seinem Arbeitszimmer und blieb wie angewurzelt stehen, als ein vollkommen fremdartiges Geräusch die Stille durchdrang.

Ein weinendes Baby? Alex drehte sich um und näherte sich der Eingangstür. Es hatte doch wohl keine verzweifelte Mutter ihren Nachwuchs auf seine unbescholtene Eingangstreppe gelegt? Nun, wenn er ehrlich war, konnte er zwar seine Treppe als unbescholten bezeichnen, kaum aber sich selbst. Allerdings hatte er stets penibel darauf geachtet, dass seine Liebschaften keinen unerwünschten Nachwuchs zur Folge hatten.

Das Weinen wurde leiser. Er ging wieder zurück. Jetzt war das Lärmen deutlicher zu vernehmen – und es kam aus dem Untergeschoss. Dann verstummte das Geräusch.

Er stieg die Bedienstetentreppe hinunter. Als er die Küchentür öffnete, bot sich ihm eine häusliche Szene, bei der so mancher Genremaler ins Schwärmen geraten wäre. Tess saß am Tisch vor einem Stapel mit Rechnungsbüchern. Byfleet stand neben dem Kaminfeuer und polierte Alex’ neuestes Paar Stiefel, während das Küchenmädchen am anderen Tischende Kartoffeln schälte.

Auf dem Schaukelstuhl gegenüber von Byfleet stillte eine Frau ein Baby. Noël jagte zu ihren Füßen einer Papierkugel hinterher. Die Fremde summte ein Schlaflied, und Alex hielt unwillkürlich den Atem an.

Sie sehen wie eine Familie aus, in der echte Harmonie herrscht. Alex atmete hörbar aus, und alle Köpfe – bis auf den des Babys – drehten sich in seine Richtung. Das winzige Kind war nur auf die Brust der Mutter fixiert, die es behutsam in ihren Schal gewickelt hatte und ihn verängstigt anstarrte, als ob er wütend mit einem Schüreisen um sich schlagen würde.

„Mylord.“ Tess klang vollkommen gefasst. „Haben Sie nach uns geläutet? Ich fürchte, dass wir die Klingel nicht gehört haben.“

Von dem langen Luftanhalten schmerzte sein Brustkorb, und er rieb sich das Brustbein. „Nein. Ich habe nicht nach Ihnen gerufen. Aber als ich den Gang durchquerte, habe ich ein Kind weinen hören.“

Die Fremde schloss eilig ihr Mieder, stand auf und legte das Baby auf den Schaukelstuhl. „Mylord.“ Sie knickste, und er bemerkte, dass sie ordentlich gekleidet und schrecklich dünn war. „Es tut mir sehr leid, dass Sie gestört wurden, Mylord. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie hatte eine sanfte Stimme, und die Augen wirkten ängstlich.

„Babys schreien nun einmal“, erwiderte er achselzuckend. Zugegebenermaßen taten sie das normalerweise nicht in der Küche eines Junggesellenhaushalts in Mayfair. Er selbst war in einem Kinderzimmer aufgewachsen, das so weit von den Stockwerken, in denen seine Eltern sich aufhielten, entfernt lag, dass eine ganze Militärkapelle hätte spielen können, ohne dass ein Ton zu ihnen gedrungen wäre. Und auch der Unterricht in seinen frühen Jahren hatte in einem Schulzimmer in einem der Seitenflügel stattgefunden, in den seine Eltern nie einen Blick warfen. „Es hat mich nicht gestört, nur neugierig gemacht.“

„Ich möchte Ihnen Dorcas White vorstellen, Mylord.“ Tess stellte sich neben die Frau. Dachte sie, dass sie die Fremde vor ihm beschützen musste? „Sie ist meine neue Zofe.“

„Und das Baby?“

„Es ist mein Kind, Mylord.“ Dorcas sah aus, als ob sie gleich in Ohnmacht fallen würde.

Alex blickte auf ihre Hände, die sie vor dem Körper verschränkt hatte. Sie trug keinen Ring. Sein Blick und der von Tess trafen sich. Die Unbeugsamkeit in ihren blauen Augen überraschte ihn.

„Das Baby heißt Daisy, Mylord.“

„Vielen Dank für die Auskunft, Mrs. Ellery. Mir ist bewusst, dass Babys auch Menschen sind.“ Sie errötete. Vermutlich ist sie verärgert. Dann sind wir schon zu zweit. „Wir haben uns also einen weiteren Streuner zugelegt? Da wir jetzt schon ein Baby im Haus haben, muss ich wahrscheinlich davon ausgehen, zur Weihnachtszeit einen Ochsen und einen Esel in meinen Stallungen zu beherbergen.“

Tess sog Luft durch die Nase ein und starrte ihn mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Sie scheinen eine besondere Vorliebe für Gotteslästerungen zu haben, Mylord. Doch wie dem auch sei, Dorcas ist eine erfahrene Zofe, die alle nötigen Qualifikationen besitzt.“

„Und zweifellos verfügt sie auch über hervorragende Referenzen, oder etwa nicht?“ Sein Tonfall klang barsch, und Tess reckte das Kinn. Ihr gefiel also nicht, wie er mit ihr sprach? Sein kleiner Junggesellenhaushalt war mit einem Mal voller Frauen und hatte sich in eine regelrechte Weihnachtskrippe verwandelt. Er hatte wahrhaftig allen Grund, ungehalten zu sein. Er staunte schon über sich selbst, dass er nicht laut wurde.

„Können wir bitte kurz unter vier Augen sprechen, Mylord?“, fragte Tess mit einem gezwungen wirkenden Lächeln. „Oben?“

Er hielt ihr die Tür auf, folgte ihr mit hölzernen Schritten die Treppe hoch und führte sie in das Arbeitszimmer. Tess wartete nicht ab, bis er sich hinter der Barriere seines Schreibtischs befand, sondern ging zum Angriff über, bevor er sich hinsetzen konnte. „Nein, Dorcas White hat keine Referenzen vorzuweisen. Ein Mann, der seine Bedienstete nötigt und dann seiner Frau erzählt, das Flittchen habe ihn verführt, ist keiner, der anschließend ein Empfehlungsschreiben für sein Opfer verfasst.“

„Sind Sie sicher?“ Als er die Frage aussprach, schämte er sich bereits dafür. Diese schmalen verzweifelten Hände, dieser verwundete Blick, die Art und Weise, wie sie ihr Kind festgehalten hatte … Nein, diese junge Mutter war nicht irgendein kleines Luder, dass Tess’ Gutherzigkeit ausnutzte. „Ja, ich sehe ein, dass Sie recht haben“, sagte er, bevor sie etwas Wütendes erwidern konnte. „Was benötigt sie für das Kind? Kaufen Sie es für sie, ganz gleich, um was es sich handelt.“

Wenn er sich eine Belohnung erhofft hätte, was nicht der Fall war, er hätte sich nichts Schöneres wünschen können als das Lächeln, das Tess’ Gesicht erhellte.

„Wer ist der Vater?“ Er vermied es zurückzulächeln. Diese Angelegenheit war viel zu ernst.

„Ich habe sie nicht nach dem Namen gefragt. Warum?“

„Weil er zur Rechenschaft gezogen werden muss“, erklärte Alex und erschrak über sich selbst. Hielt er sich etwa für einen fahrenden Ritter, der Gerechtigkeit für geschändete Jungfern einforderte? „Allerdings würde sie den Namen wahrscheinlich ohnehin nicht preisgeben. Und ich möchte nicht, dass sie Angst hat, dieses Schwein könnte herausfinden, wo sie sich aufhält.“

„Oh, vielen Dank“, sagte Tess und ergriff seine rechte Hand. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Ich wusste, dass Sie ein wahrer Sir Lancelot sind, ganz gleich wie sehr Sie über Noël und andere Dinge gegrummelt haben.“

Ihre Hand war klein und fühlte sich warm an, als er ihre Finger drückte und sie spöttisch musterte. „Sir Lancelot? Sehe ich etwa wie ein verwirrter Trottel aus, der mit seiner Rüstung klappert? Im Übrigen war das ein fragwürdiger Held, der Unzucht mit der Frau seines Königs getrieben hat.“

„Als sie den Matrosen niedergeschlagen haben, dachte ich, dass Sie ein Ritter wie aus dem Märchen seien. Dann waren sie ganz mürrisch zu mir, weshalb ich meine Meinung änderte. Aber diese Griesgrämigkeit ist nur Fassade, nicht wahr?“ Ihre Augen funkelten fröhlich.

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