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Love Made of Diamonds

Als Buch hier erhältlich:

Luxus, Skandale und die ganz großen Gefühle

Als ihr Bruder August starb, hat Stella fluchtartig ihre Heimat verlassen. Zwei Jahre später muss sie wegen eines Familiennotfalls nach München zurückkehren – und sich den Menschen stellen, die sie damals zurückgelassen hat. Auch ihrem Ex-Freund Matthew, der jetzt ausgerechnet im Kaufhaus ihrer Familie arbeitet. Eigentlich will sie so schnell wie möglich wieder verschwinden, doch dann stößt sie auf Hinweise, dass Augusts Flugzeugabsturz kein Unfall war. Auf ihrer Suche nach der Wahrheit gerät sie ständig mit Matthew aneinander. Ihr Herz schlägt noch immer für ihn, aber reichen die Wunden der Vergangenheit zu tief, um jemals zu heilen?


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Aus der Serie: Made Of
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703566
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Freunde,
ohne euch
ergibt einfach nichts Sinn.

Playlist

Sing of the Moon – The Collection

Way down We Go – KALEO

Burn – David Kushner

Uncall it – Devon Cole

Vienna – The Fray

Slide Away – Oasis

I Only Miss You When I’m Breathing – Dan Elliott

10 Jahre – EMMA6

Stupid Face – Abe Parker

Come Home – The People’s Thieves, Peyton Andrus

Running Away – Genevieve Stokes

The Words You Say – Harrison Storm

No Right To Love You – Acoustic – Rhys Lewis

The Mask – Matt Maeson

Like I Used to – MyKey

Glory – Maverick Sabre

running away – Dylan Flynn and the Dead Poets

I Was Wrong – Ed Prosek

Prolog

STELLA

Lärm. Er umgibt mich zu allen Seiten. Ich kann ihn nicht mehr nur hören, sondern auch sehen, riechen und schmecken. Lärm ist bunt. Tausend Farben, die über alle Oberflächen tanzen und sich hektisch bewegen, als wären sie vor irgendwas auf der Flucht. Lärm schmeckt süßlich und riecht nach Rauch.

Während die Bässe meine Fußsohlen massieren, schwinge ich wild meine Haare, bis mir einzelne Locken vom Schweiß an der Haut kleben bleiben. Die Welt schwankt, aber das ist in Ordnung, weil ich mich genau nach diesem Gefühl gesehnt habe. Mein Magen ist flau, als würde ich Achterbahn fahren. Mein Kopf ist dumpf, als würden die vielen Geräusche meine Gedanken einfach verdrängen.

Direkt vor mir sitzt noch immer ein Kerl auf der Couch und lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Vor eineinhalb Jahren bin ich völlig übereilt in ein Flugzeug gestiegen, um meiner Heimat zu entkommen. Und während er mich mit seinen Blicken auszieht, scheint alles, was ich zurückgelassen habe, ewig weit entfernt zu sein. Deswegen lasse ich mich auch von ihm auf seinen Schoß ziehen.

Ich habe keine Ahnung, wie er heißt, und das spielt auch keine Rolle. Solche Dinge verlieren spätestens nach dem fünften Tequila ihre Bedeutung, falls sie jemals eine hatten. Ich lege meine Arme um seinen Hals und küsse ihn.

Er küsst eigentlich ganz gut. Vermutlich, weil ich nicht die erste betrunkene, fremde Frau bin, die er in seinem Leben geküsst hat. Mein Name ist ihm bestimmt genauso egal wie mir seiner. Aber auch das spielt keine Rolle. Ich vergrabe intuitiv meine Finger in seinen Haaren, deren Farbe ich schon wieder vergessen habe.

Als seine Hände langsam unter mein T-Shirt fahren, wird mein Magen noch flauer. Als wäre die Achterbahn nun ganz oben angekommen, kurz bevor sie herunterrast. Ich stehe gerade an der obersten Spitze. Dies ist die eine Sekunde, in der alles still und ruhig ist. Die Sekunde, in der man sich vor Erwartung in seinen Sitz presst und das Herz viel zu schnell schlägt, weil man sich fragt, ob man sich vielleicht doch überschätzt hat und wie man aus der Sache wieder rauskommt.

Doch ich will nicht aussteigen. Ich will mich nicht eines Besseren besinnen oder einen Rückzieher machen. Und was ich als Allerletztes will, ist an zu Hause denken. Und solange ich raue Hände auf meiner nackten Haut fühle, den Tequila nicht mehr nur in meinem eigenen Mund, sondern auch auf der Zunge dieses Typen schmecke und nichts anderes höre als irgendeinen austauschbaren Techno-Beat, ist in meinem Körper kein Platz für Traurigkeit.

»Wollen wir in mein Zimmer gehen?«, flüstert er in mein Ohr, bevor er eine Spur meinen Hals hinunterküsst. Ich nicke nur, und er stellt mich wieder auf meine Füße. Dafür, dass er bestimmt auch betrunken ist, ist er noch ziemlich feinmotorisch. Sehr beeindruckend.

Er nimmt meine Hand und zieht mich durch die Wohnung an fremden Gesichtern vorbei, die zu einer Masse verschwimmen, als würde ich in einem Auto an ihnen vorbeirasen. Da hat er auch schon eine Tür erreicht und führt mich in ein Zimmer. Ich mache mir keine Mühe, mich umzusehen. Dafür bleibt mir auch keine Zeit, denn sofort sind seine Lippen wieder auf meinen. Irgendwie stolpern wir zum Bett herüber und fallen hinein.

Ich will nicht aussteigen, und das tue ich auch nicht. Die Achterbahn rast hinunter, und das aufregende Gefühl, das die Fahrt in meiner Magengrube auslöst, löscht für mehrere Stunden einfach meine Sorgen aus.

***

Ein lautes Seufzen weckt mich auf. Verwirrt sehe ich mich um, bis mir klar wird, dass ich dieses Geräusch ausgestoßen habe. Weil mir einfach alles wehtut. Und mein Magen ist nicht wie gestern angenehm flau. Das Gefühl erinnert mich nicht länger an die Aufregung einer Achterbahnfahrt, sondern an den Moment danach, wenn man einsehen muss, dass man sich doch überschätzt hat und sich wünscht, man wäre niemals eingestiegen.

Langsam sehe ich mich in dem fremden Zimmer um und brauche erstaunlich lange, um die letzte Nacht zusammenzusetzen. Als ich meinen Hals noch ein bisschen weiter verrenke und mein Blick auf einen mir fremden Haarschopf fällt, erinnere ich mich wieder. Der namenlose Typ neben mir, der für immer namenlos bleiben wird, schläft Gott sei Dank noch. Ich werde nicht hier sein, wenn er aufwacht – und für ihn für immer das namenlose Mädchen bleiben. Das passt doch.

Ich stehe auf, und sofort wird mir schlecht. Schnell schlüpfe ich in meine Unterwäsche, meine Hotpants, mein dünnes Top und in meine bunten Sneakers. Leise öffne ich die Zimmertür und schließe sie hinter mir, ohne mich noch einmal umzudrehen. Wozu auch?

Die Wohnung ist beunruhigend still. Vermutlich fühlt es sich so falsch an, weil es vor wenigen Stunden noch so laut war. Und nun scheinen selbst die Wände den Lärm schmerzlich zu vermissen.

Obwohl die meisten Leute, die sich gestern dicht an dicht hier aneinandergedrängt haben, weg sind, stoße ich doch auf ein paar schlafende Gestalten. Auf dem Sofa liegt ein großer Typ, dessen Beine über die Lehne hängen. Diese Schlafposition sieht nun wirklich alles andere als bequem aus. Aber immer noch bequemer als die von der jungen Frau, die mit dem Kopf auf dem Küchentisch schläft. Das gibt Nackenschmerzen, so viel ist sicher.

Nachdem ich die ganze Wohnung zweimal durchkämmt habe, finde ich endlich, wonach ich suche. Mein riesiger Rucksack lehnt unter der Fensterbank, genau dort, wo ich ihn gestern zurückgelassen habe. Eigentlich war es ziemlich leichtsinnig von mir, ihn einfach so unbeaufsichtigt herumstehen zu lassen auf einer Party, wo ich nicht eine Person kannte. Na ja, bis auf das Mädel, das ich gestern in einem Café kennengelernt habe und das mich hierher mitgenommen hat, ah, und den Typen, mit dem ich letzte Nacht Sex hatte. Obwohl kennen wohl in beiden Fällen übertrieben ist.

Als ich den Rucksack auf meinen Rücken hieve, entfährt mir ein kleines Stöhnen, aber der Riese auf der Coach wird nicht wach. Ich schleiche mich aus der Wohnung, die aussieht, als wäre die Party gestern sogar für Mick Jagger zu krass gewesen. Ich bin nicht neidisch auf die Menschen, die sich heute mit diesem Chaos auseinandersetzen müssen.

Ich schließe so leise wie möglich die Tür hinter mir und laufe mehrere Stockwerke hinunter. Sobald ich draußen ankomme, schlägt mir die frische Luft entgegen wie eine Ohrfeige. Ich hatte gehofft, dass sie meinen rumorenden Magen beschwichtigen würde, doch sie scheint ihn nur noch wütender zu machen. Ich schaffe es gerade noch, über die Straße zum angrenzenden Parkstück zu rennen, bis ich mich übergebe. Mit einem zwanzig Kilo schweren Rucksack auf den Schultern ist das wirklich keine angenehme Sache.

Nachdem ich mich meines Abendessens entledigt habe, lasse ich mich schlapp auf die nächste Parkbank fallen und setze meinen Rucksack neben mich, als wäre er ein richtiger Mensch. So schwer wie er ist, ist er das eigentlich fast schon. Zu Beginn meiner Reise habe ich ihn deswegen Winnie getauft, damit ich mich nicht so einsam fühlen musste.

Einsam … dieses Wort holt viele Gefühle aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hoch, die ich doch gar nicht mehr fühlen wollte. Als ich München vor fast zwei Jahren verlassen habe, wollte ich sie eigentlich alle zurücklassen, doch sie sind einfach unbemerkt mit mir ins Flugzeug gestiegen. Manchmal hoffe ich, dass ihnen eine Stadt so gut gefallen wird, dass sie einfach dort bleiben. Doch dann tauchen sie ungefragt wieder auf.

Ich atme tief aus, um mich aus meinem Kopf zurück in die Realität zu holen. Ich bin nicht einsam. Schon lange nicht mehr. Um es mir zu beweisen, hole ich mein Handy aus meiner Hosentasche und schicke Luc eine Nachricht und meinen Standort. Schon wenige Minuten später teilt er mir mit, dass er sich auf den Weg macht, um mich abzuholen.

Während ich auf ihn warte, sehe ich mich bedächtig um. Mein Gehirn ist noch immer so stark von billigem Alkohol verklebt, dass ich mir gar nicht mehr sicher bin, in welcher Stadt ich mich gerade befinde. Als ich meinen Blick schweifen lasse und die blauen Kacheln am Haus gegenüber erkenne, fällt mir wieder ein, dass ich seit ein paar Tagen in Lissabon bin.

Die quietschenden Bremsen verraten schon, dass Luc sich mir nähert, bevor ich ihn sehe. Ein besonders lautes Quietschen erklingt, und dann steht sein alter VW-Bus, den er über alles liebt, auch schon vor mir. Er hat ihn sich vor ein paar Monaten gekauft, und wir haben ihn zusammen eingerichtet. Er ist nicht nur unser fahrbarer Untersatz, sondern auch so was wie ein Zuhause.

Er kurbelt das Fenster auf der Beifahrerseite runter und mustert mich. Nicht zum ersten Mal holt er mich ab, weil es mir so mies geht. Ich weiß, dass er viel dazu sagen will, doch er wird es nicht kommentieren. Das tut er nie.

»Worauf wartest du? Spring rein«, ruft er noch und stößt die Tür auf.

Ich stehe auf und horche kurz in mich hinein. Luc würde mir quasi alles verzeihen, außer, wenn ich mich in seinem Auto übergebe. Die Übelkeit ist zwar noch da, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie unter Kontrolle habe. Also schnappe ich mir Winnie, hieve ihn in den Fußbereich und steige in den Wagen, den ich liebevoll Rocky getauft habe. Wie immer, wenn ich einsteige, tätschle ich kurz das Handschuhfach, als wäre es kein Auto, sondern ein Tier.

Luc verdreht wie immer die Augen, wenn er das sieht, und fährt los, sobald ich die Tür hinter mir zugezogen habe.

»Anschnallen«, meint er nur. Normalerweise mache ich mich darüber lustig, dass er sich so aufführt, als wäre er mein Erziehungsberechtigter. Aber mein Rachen ist zu ausgetrocknet für schnippische Kommentare.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, reicht er mir eine große Flasche Wasser, die ich auch sofort an meine Lippen führe. Er lässt mich in Ruhe trinken, und erst als ich die Flasche in den Fußraum lege, richtet er das Wort wieder an mich.

»Heute Nachmittag habe ich ein Shooting«, sagt er und steuert gekonnt durch den unübersichtlichen Verkehr und die schmalen Gassen Lissabons. Immer wieder habe ich Angst, dass sie zu eng sind und Rocky einfach stecken bleiben wird. Doch wenn Luc am Steuer sitzt, scheint alles irgendwie zu passen. Ich glaube, das liegt an seiner Einstellung. Einem so optimistischen Menschen möchte die Welt nicht beweisen, dass Pessimismus vielleicht angebrachter wäre. Sein Optimismus sollte zum UNESCO-Kulturerbe gehören. Man muss ihn schützen.

Ich nicke nur, werfe einen Blick auf seine Fototasche, die schon bereit hinter seinem Sitz ruht, und starre dann durch die Frontscheibe. Zum Glück muss ich heute nicht arbeiten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich heute keinen zusammenhängenden Satz schreiben könnte, geschweige denn einen ganzen Artikel.

Meine Reise hat als Flucht begonnen. Aber ich wollte nicht von der Kreditkarte, für die meine Eltern bezahlen, Gebrauch machen, und irgendwann hat meine reine Willenskraft nicht mehr ausgereicht, um mich durchzuschlagen. Da bin ich Luc begegnet. Ich glaube nicht an Schicksal und den ganzen Quatsch. Nach unserem Zusammentreffen jedoch hat mein Unglaube kurz geschwankt.

Ich saß allein in der Ecke eines überfüllten Aufenthaltsraums in einem Hostel in Amsterdam und hatte mein Notizbuch im Schoß ruhen, in das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr wage, etwas hineinzuschreiben. Als hätte ich Angst vor dem, was meine Worte heraufbeschwören könnten. Trotzdem habe ich es immer bei mir. Ich hole es ständig hervor, starre die Seiten an, den Stift in der zitternden Hand. Und doch setze ich ihn nie aufs Papier. Ich habe immer über die Dinge geschrieben, die mich beschäftigt haben. Aber die Dinge, die mich beschäftigen, sind zu groß geworden, um sie in meine gedrungene Handschrift zu quetschen.

Luc ist Reisefotograf. Seit Jahren geht er dorthin, wohin ihn der nächste Auftrag und der Wind wehen. Und er brauchte jemanden, der Texte für seine Bilder schreibt, um sie bei einem Magazin einzureichen. Also hat er mich in dem Hostel einfach angesprochen und sich damit an ein verlorenes Mädchen gewendet, das danach wenigstens ein bisschen weniger verloren war. In das Notizbuch schreibe ich immer noch nicht. Seine Seiten sind für die persönlichen Dinge reserviert, denen ich mich vermutlich niemals stellen werde. Ich habe es dazu verflucht, unbeschrieben zu bleiben. Aber Luc hat mir einen Block gegeben, und in den kann ich meine Schrift setzen, denn über Sehenswürdigkeiten und Modelshootings lässt sich so viel leichter schreiben als über ein gebrochenes Herz.

Ich schüttle mich leicht, um in die Realität zurückzukehren. Obwohl ich Luc nicht ansehe, kann ich seinen besorgten Blick auf mir spüren. Seine dunklen Augen erkennen mehr als andere, aber er spricht weniger als die meisten. Denn für ihn sind Worte keine Gebrauchsgegenstände, sondern etwas, das man bewusst einsetzen sollte.

Mein Handy vibriert und lässt mich zusammenzucken. Ich hole es hervor und sehe auf das Display. Ich kenne die Handynummer nicht. Aber sie hat eine deutsche Vorwahl, was mir sofort den Schweiß in den Nacken treibt.

Nach ein paar Sekunden verstummt mein Handy, und die Nummer verschwindet. Ich atme erleichtert auf, obwohl ich keine Ahnung habe, wen oder was ich gerade verpasst habe.

Ich schaue zu Luc. Seine Augenbrauen hat er hochgezogen, während er erst mein Handy und dann mich ansieht.

»Wenn es wichtig ist, wird die Person noch mal anrufen«, sage ich schulterzuckend, als wäre nicht Angst der wahre Grund gewesen, warum ich nicht abgenommen habe.

Luc sieht einfach wieder auf die Straße. Obwohl er seine Gedanken nicht ausspricht, habe ich das Gefühl, sie laut und deutlich zu hören.

Er will, dass ich mich mit meinen Problemen auseinandersetze. Das hat er mir genau einmal gesagt und dann nie wieder. Luc glaubt nicht daran, dass man wichtige Dinge wiederholen muss. Man sagt sie einmal, und wenn die andere Person sie nicht hören will, dann ist es nicht seine Aufgabe, sie eines Besseren zu belehren. Aber aus irgendeinem Grund hat er es sich zur Aufgabe gemacht, für mich da zu sein, und ich werde wohl nie verstehen, wie ich diese Freundschaft verdient habe.

Mein Handy klingelt ein zweites Mal, und wieder zucke ich viel zu heftig zusammen. Es ist dieselbe Nummer. Wieder starre ich sie an, ohne mich zu rühren.

»Du brauchst keine Angst vor einem Telefonat zu haben«, meint Luc mit seiner beruhigenden, tiefen Stimme. »Wenn die andere Person etwas sagt, was du nicht hören willst, legst du einfach auf und vergisst, was sie erzählt hat.«

Luc sagt meistens sehr wahre Dinge, und mir bleibt eigentlich nie etwas anderes übrig, als ihm in Gedanken recht zu geben. Dieser Moment ist eine Ausnahme. Ich weiß, welche zerstörerische Kraft ein einzelnes Telefonat haben kann. Und ich weiß, dass man gewisse Worte niemals vergessen wird, egal, wie viele selbstzerstörerische Dinge man auch tut, um sie wieder auszulöschen.

Aber das will ich ihm nicht sagen, also nicke ich nur und nehme den Anruf tatsächlich an.

»Hallo?«, frage ich kritisch.

»Bist du Stella?«, fragt eine weibliche Stimme zurück, die ich noch nie gehört habe.

»Ja, wer will das wissen?« Ich versuche gar nicht erst, mein Misstrauen zu verstecken.

»Juli«, sagt die junge Frau. »Ich weiß nicht, ob du schon mal was von mir gehört hast. Ich bin deine Cousine.«

Mein Bruder Benny hat mir von ihr erzählt, als wir vor ein paar Monaten telefoniert haben. Mein Magen wird flauer. Sie wird einen Grund haben, dass sie sich bei mir meldet.

»Habe ich«, kriege ich nur mit Mühe hervor. Ich traue mich nicht zu fragen, warum sie mich anruft, weil ich die Antwort eigentlich gar nicht erfahren will. Aber das scheint ihr egal zu sein.

»Es tut mir leid, dass ich dich störe. Ich weiß ja nicht mal, in welcher Zeitzone du bist. Vielleicht habe ich dich gerade geweckt. Wenn dem so ist, dann tut es mir leid. Du kennst mich schließlich nicht, und von einer fremden Person angerufen zu werden, auch wenn man eigentlich verwandt ist, ist bestimmt seltsam.« Sie hält abrupt inne, als sie realisiert, dass sie plappert, und atmet einmal tief durch. »Ich würde mich nicht melden, wenn es nicht wichtig wäre. Ich kann Benny seit ein paar Tagen nicht erreichen, und als ich eure Eltern gefragt habe, wurde ich einfach abgewimmelt. Dein Vater kann mich nicht gerade gut leiden, deswegen hätte ich es ja darauf geschoben, aber auch Lorena und Johann haben nichts mehr von deinem Bruder gehört, und deine Eltern tun so, als wäre nichts.«

Mein Herz rast mit so viel Wucht in meiner Brust, dass es mich nicht wundern würde, wenn ich mir davon die Rippen prellen würde.

Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Das ist nicht das erste Mal, dass meine Eltern Benny vom Rest der Welt abschirmen. Diese Situation kommt mir so fürchterlich vertraut vor.

Meine freie Hand, die das Handy nicht zu fest gegen mein Ohr presst, verkrampft sich zur Faust.

Vermutlich erwartet Juli von mir, dass ich irgendwas sage, aber ich kann nicht.

Nach einer kurzen Stille fährt sie fort. »Ich kenne Benny nicht so gut, aber ich habe schon ein paar Gespräche mit ihm geführt, die mich ein bisschen beunruhigt haben.« Sie hält so abrupt inne, als wollte sie die letzten Worte am liebsten wieder zurücknehmen.

»Wie meinst du das?«, frage ich alarmiert nach.

»Ich habe mal mit ihm gesprochen, und er hat Sachen über … den Tod eures Bruders gesagt.«

Auf einmal fühle ich mich hohl. Als hätte sie mich mit jedem Wort von innen ausgeschabt, bis nichts mehr übrig bleibt, das von Substanz ist. So fühle ich mich. Wie eine Hülle, ohne die Füllung, die einen Menschen ausmacht.

Seit ich aufgebrochen bin, habe ich mich vor der Wahrheit versteckt. Genau einmal habe ich Luc von August erzählt. Ich war so betrunken an dem Abend, dass ich mich bis heute nicht genau erinnern kann, was ich eigentlich gesagt habe. Danach haben wir es nicht mehr thematisiert. Das Wort Tod ist nicht gefallen, als würde es, wenn man es nicht mehr verwendet, einfach seine Bedeutung verlieren.

In diesem Moment realisiere ich, dass das nicht stimmt.

Ich renne vor so vielen Dingen davon, dass es nichts gibt, das mir mehr Angst einjagt als Stillstand. Doch genau das ist es, was ich nun tun muss. Stehen bleiben. Zurückkehren. Denn egal, wie groß die Panik ist, die auf einmal von mir Besitz ergreift, ich kann Benny nicht im Stich lassen. Nicht noch mehr, als ich es ohnehin schon getan habe.

»Ich komme.« Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, diese Worte auszusprechen.

»Sag mir Bescheid, wann und wo du ankommst. Ich hole dich ab«, verspricht Juli ohne zu zögern, obwohl ich sie nicht einmal kenne.

Wir sagen, glaube ich, noch ein paar Dinge zueinander. Wir verabschieden uns bestimmt. Doch an diese Sätze kann ich mich nicht erinnern. Im nächsten Moment halte ich das Handy, aus dem kein Ton mehr dringt, an mein Ohr und höre nur noch meinem wild pochenden Herzen dabei zu, wie es mir seine Angst buchstabiert.

»Was ist los?«, fragt Luc. Seine Stimme ist so sanft, als wollte sie mich mit weichen Händen zurück in die Realität locken. Ich würde ihm überallhin folgen. Nur nicht dorthin. Doch mir bleibt keine andere Wahl.

Ganz langsam lasse ich das Handy sinken, und noch langsamer wende ich mich ihm zu. Ich kann meine Gefühle nicht benennen, aber ich weiß, dass sie die gleiche Farbe haben wie der fast schon bläuliche Kern einer Flamme.

»Fahr mich zum Flughafen«, flüstere ich, in der Hoffnung, dass meine Stimme so leise ist, dass er mich gar nicht verstehen kann.

Er hat mich verstanden. Er sagt nichts, aber die Falten, die sich in seinem Gesicht einnisten, formen ellenlange Absätze, die jeden Dichter zum Weinen bringen würden. An der nächsten Kreuzung setzt er ohne Kommentar den Blinker, und das sonst so leise Klicken erinnert mich nun an Paukenschläge, die etwas Bedrohliches ankündigen.

Ich bin nicht bereit.

Ich will nicht zurückkehren.

Doch das spielt keine Rolle mehr.

1. Kapitel

STELLA

Als die Stewardess den Sinkflug auf München ansagt, überlege ich, wie ich dem Piloten verständlich machen kann, dass wir unter keinen Umständen landen dürfen.

Vielleicht sollte ich einen auf Final Destination machen und rumschreien, dass ich eine Vision hatte, dass das ganze Flugzeug in Flammen aufgehen wird, sobald wir den Boden berühren. Aber nein. In den Filmen hat das doch auch nie richtig funktioniert. Niemand hat den Leuten geglaubt. Oder? Normalerweise merke ich mir Filmdialoge Wort für Wort, genauso wie jeden Schauspieler in der Besetzungsliste. Doch gerade ist mein Kopf wie leer gefegt.

Das Flugzeug setzt auf dem Boden auf, und wir gehen nicht in Flammen auf – ein kleiner Teil von mir ist enttäuscht.

Meine Hände schwitzen, obwohl die Klimaanlage so hoch eingestellt ist, dass ich den ganzen Flug über gefroren habe. Meine Panik will meinen Körper wohl als kalter Schweiß verlassen.

Eineinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Doch für manche Dinge wohl nicht lang genug. Verjähren manche Fehler? In meinem Fall vermutlich nicht.

Wie soll ich ihnen allen gegenübertreten? Wie soll ich erklären, dass ich sie verlassen habe, als sie mich gebraucht haben? Wie soll ich es wiedergutmachen?

Ich versuche mich auf Benny und meine Familie zu konzentrieren, um nicht an ihn zu denken.

Als alle Menschen hektisch aufspringen, um ja nicht im Flugzeug vergessen zu werden, bleibe ich wie gelähmt sitzen. Bis mich meine Sitznachbarin fast aus dem Sitz schmeißt. Es hat keinen Sinn. Ich muss aufstehen. Das Flugpersonal wird mich wohl kaum wieder mitnehmen.

Ich schnappe mir meinen Turnbeutel, der schon fast auseinanderfällt. Und folge der Menschenmasse. Am Gepäckband ist mein Rucksack das erste Gepäckstück, das aufs Laufband fällt. Es passiert wirklich immer genau das, was man vermeiden will. Das habe ich inzwischen gelernt.

Ich lasse Winnie zwei Runden drehen, bevor ich es endlich schaffe, ihn zu ergreifen. Mit einem lauten Schnaufen hieve ich ihn mir auf den Rücken und laufe mit mechanischen Schritten los. Jeden Moment rechne ich damit, dass meine Beine unter mir nachgeben werden. Doch das tun sie nicht.

Ich warte darauf, dass mir die äußeren Umstände eine Ausrede liefern, warum ich nicht mehr vorankomme. Doch sie tun mir nicht den Gefallen. Ich kann weiterlaufen und durch die Glastüren treten, die sich für mich zur Seite schieben.

In der Ankunftshalle fallen sich Familien um den Hals. Eine junge Frau springt ihrem Freund mit Anlauf in die Arme, und irgendwas in mir verknotet sich so stark, dass ich es wohl nie wieder auseinanderziehen kann.

Ich sehe mich um, obwohl mein erster Impuls ist, den Kopf zu senken, um Juli gar nicht erst entdecken zu können. Aber was denke ich, was dann passiert? Nur weil ich nicht vom Flughafen abgeholt werde, wäre das noch kein Grund, ihn nicht zu verlassen. In diesem Gebäude kann ich mir vielleicht noch vormachen, dass ich nicht in München bin, aber das ändert auch nichts an den Tatsachen. Mich an Illusionen festzuhalten, hat mich in den vergangenen Monaten allerdings vorm Ertrinken bewahrt. Und es ist schwer, Angewohnheiten loszulassen, denen man vielleicht nicht unbedingt sein Überleben, aber zumindest seinen Verstand zu verdanken hat.

Benny hat mir erzählt, dass Juli aus allen Erwartungen, die an einen Kronenberger gestellt werden, fällt. Doch was er genau damit meint, wird mir erst klar, als ich die junge Frau entdecke, die ein Schild hochhält, auf dem in schönen geschwungenen Buchstaben verziert mit kleinen Blumen Stella steht.

Ihre Haare sehen aus, als hätte sie die Spitzen kurz in einen pinken Farbeimer gehalten. Ein Septum lenkt den Fokus auf ihre schmale Nase. Während sich überall um uns herum Frauen in bunten Sommerkleidern bewegen, trägt sie nur schwarze Kleidung.

Eigentlich will ich mich gerade nicht besser fühlen. Aber sobald ich sie anschaue, kommt es mir so vor, als wäre es gar nicht mehr so schlimm, dass ich nicht den Vorstellungen unserer Familie entspreche. Wenn man nicht die Einzige ist, ist es vielleicht in Ordnung, aus der Reihe zu tanzen.

Mit unsicheren Schritten steuere ich auf sie zu und bleibe dann direkt vor ihr stehen.

Ich deute ein bisschen unbeholfen auf das Schild. »Das bin dann wohl ich.«

Juli blinzelt zweimal und mustert mich kurz von Kopf bis Fuß. Sie hat etwas anderes erwartet. Das kann ich an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck ablesen. Bestimmt hat sie sich die Familienfotos auf der Website des Kaufhauses angeschaut. Selbst Menschen, die mich kennen, werden mich wohl nicht wiedererkennen. Beruhigt oder beunruhigt mich das? Keine Ahnung.

»Ich habe mich verändert.« Ich weiß selbst nicht, warum ich das sage. Vermutlich verspüre ich einfach nur das Bedürfnis, die Stille zwischen mir und dieser Fremden zu füllen, die sich gar nicht so fremd anfühlt.

Juli braucht noch eine Sekunde, um zu reagieren. Dann legt sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Eine Sekunde später hat sie mich in die Arme geschlossen, die Kante des Schilds drückt sich in meine Seite, doch ich beschwere mich nicht. Ich bin so überrumpelt, dass mir die Worte fehlen.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagt sie, und ich zweifle keine Sekunde daran, dass die Dankbarkeit in ihrer Stimme echt ist. »Ich habe mir Sorgen gemacht und wusste nicht weiter. Lorena hat angedeutet, dass Benny schon mal von der Bildfläche verschwunden ist. Aber Kronenbergers muss man irgendwie immer alles aus der Nase ziehen.«

Ich nicke, während ich ihr durch den Flughafen zum Ausgang folge. Die ganze Zeit mustere ich sie aus dem Augenwinkel.

Wenn man einen Ort verlässt, geht man irgendwie auch ein bisschen davon aus, dass dort alles so bleibt, wie es immer war. Doch Juli ist der atmende Beweis dafür, dass das überhaupt nicht stimmt.

Ich habe eine Cousine, von der ich nie etwas wusste. Und ich kenne meine Familie gut genug, um zu wissen, dass nicht jeder mit Begeisterung auf ihr Auftauchen reagiert haben wird.

»Du und Lorena versteht euch gut?«, frage ich vorsichtig. Lorenas Name brennt auf meiner Zunge wie eine Ermahnung. Ich hätte ihr Bescheid geben sollen, dass ich komme. Aber ich war mal wieder zu feige. Deswegen verkrieche ich mich bei Juli, statt in meine eigene Wohnung zurückzukehren. Lorena und ich sind direkt nach unserem Schulabschluss zusammengezogen. Und ich bin einfach gegangen und nicht wiedergekommen. Gibt es mein Zimmer noch oder hat sie inzwischen einen Fitnessraum daraus gemacht? Verübeln würde ich es ihr nicht.

»Erst nicht«, gibt Juli zu und grinst mich über die Schulter an. »Aber inzwischen schon. Lorena ist so ein Mensch, mit dem man erst warm werden muss. Sobald man allerdings diese Hürde genommen hat, ist sie echt toll.«

Dem kann ich nicht widersprechen. Sie kann ganz schön kühl wirken. Doch dieser Eindruck trügt. Lorena fühlt sehr viel, sie fühlt sehr intensiv.

Das schlechte Gewissen, das ich Tausende Kilometer von meinem Zuhause entfernt ignorieren konnte, legt sich wie eine Zwangsjacke um meinen Körper. Ich hätte da sein müssen. Das ist mir bewusst. Aber gleichzeitig weiß ich nicht, ob ich dazu in der Lage gewesen wäre. Ich kam nicht mal mit meinen eigenen Gefühlen zurecht. Die anderer Menschen, vor allem der Menschen, die ich liebe, konnte ich nicht ertragen. Ich bin gerannt, weil ich geglaubt habe, es sonst nicht zu überstehen. Aber macht mich das wirklich weniger egoistisch?

»Ich habe viel verpasst«, flüstere ich in mich hinein.

Juli läuft immer noch vor mir und dreht sich diesmal nicht zu mir um. Einen kurzen Moment zögert sie, bevor sie antwortet.

»Das mag sein. Aber du hast bestimmt auch viel zu erzählen.«

Ich zucke nur mit den Schultern, obwohl sie es nicht sehen kann. Ich war immer unterwegs, habe tausend Dinge unternommen, aber in diesem Moment kommt es mir ein bisschen so vor, als hätte ich doch nichts von meinen Reisen zu erzählen. Nichts Wichtiges, das entschuldigen könnte, was ich in meiner Abwesenheit versäumt habe.

Wir treten hinaus, und auf einmal erwischt es mich wie ein Schlag. Er ist so heftig, dass es mich überrascht, dass ich nicht nach hinten umkippe. Ich spüre den Aufprall deutlich auf meinem Körper, obwohl mich niemand berührt hat. Doch vielleicht sind Emotionen stärker als Muskeln.

Atmen fällt mir schwer, während ich unter der warmen Sonne auf Münchner Boden stehe und ein Gedanke immer und immer wieder seine Kreise durch meinen Kopf zieht.

Mein großer Bruder ist tot. Und er ist es schon seit fast zwei Jahren.

»Ist alles okay?«, fragt mich Juli und legt beruhigend eine Hand auf meine Schulter. Tatsächlich hilft mir das. Ihre Berührung holt mich zurück. Aus meinem Kopf. Zurück in meinen Körper. Doch gerade weiß ich nicht, an welchem Ort es schlimmer ist, gefangen zu sein.

»Ja, sorry. Ich war nur lange nicht mehr hier.«

Sie lächelt verständnisvoll und läuft nun neben mir, während wir auf ein Auto zusteuern. Ich habe keine Ahnung, welche Marke es ist, aber ich weiß trotzdem, dass es sehr teuer ist.

»Ich hab es mir nur geliehen«, erklärt Juli, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Wir steigen ein, und dann lenkt sie den Wagen durch den etwas zähen Feierabendverkehr. Die Straßen sind mir so vertraut und doch so fremd. Vielleicht weil ich mir selbst vertraut und fremd zugleich bin. Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne ich mich kaum wieder, aber manchmal weiß ich nicht, ob die Veränderungen nicht noch viel tiefer reichen und über mehr Sommersprossen, zehn extra Kilo und lockigere Haare hinausgehen.

Die Vergangenheit streckt sich nach mir aus und versucht nach mir zu greifen. Ich wehre mich gegen den Sog, der mich mit sich reißen will. Doch dann fahren wir am Hotel Jordan vorbei, die helle Fassade von der Spätnachmittagssonne beschienen, und auf einmal habe ich den Erinnerungen nichts mehr entgegenzusetzen.

Vier Jahre vor dem Unfall

Ich trat mit viel Schwung auf, weil ich endlich ein Geräusch verursachen wollte. Aber die Teppiche dämpften alles ab. Sie schluckten meine Schritte einfach, als wäre ich niemals hier gewesen.

»Was genau tust du da?«, fragte Matt kritisch und beäugte mich von der Seite, blieb aber nicht stehen, lief weiter den Gang entlang und setzte für jede Tür, die wir passierten, einen Strich auf seine Liste.

Sein Vater hatte ihm gesagt, dass es genau 356 Zimmer in diesem Hotel gab, aber anscheinend glaubte er dieser Zahl nicht, bis er sie selbst überprüft hatte. Die Vorstellung, dass es vielleicht nur 355 waren oder gar 357 hatte ihn einfach nicht mehr losgelassen. Und deswegen begleitete ich ihn nun auf seinem sinnlosen Spaziergang durch das Hotel seiner Familie. Weil ich, ohne es verstehen zu können, wusste, dass es ihm wichtig war, diese Information ohne Zweifel zu kennen.

»Der Teppich ist schalldämmend, oder?« Ich sprang ein paar Mal an der Stelle auf und ab.

Matt blieb tatsächlich stehen, um mich mit hochgezogenen Augenbrauen zu betrachten. Man könnte meinen, dass er genervt war. Aber ich kannte das subtile und doch verräterische Zucken seines rechten Mundwinkels. Er amüsierte sich. Er wollte es nur nicht zugeben, weil er dachte, dass man ihn dann für erwachsener hielt. Das machte er, seitdem er siebzehn war und in Begleitung seiner Eltern Auto fahren durfte. Aber ich kommentierte es nicht. Wenn er diese seltsame Phase durchmachen musste, sollte er das ruhig tun. Ich wusste trotzdem, dass er mich lieb hatte und gern Zeit mit mir verbrachte. Sonst hätte er nicht mich gefragt, um ihn auf einer seiner Matt-Missionen – MM, wie ich sie nannte – zu begleiten.

»Nein, sie sind nicht schalldämmend«, sagte er fachmännisch, als könnte er das mit Sicherheit wissen. Matt kannte dieses Hotel vielleicht besser als die meisten. Aber auch er wusste nicht alles. Obwohl er gern so tat.

»Warum hört man mich dann nicht?«, fragte ich gespielt empört. Ich holte einen Kinderriegel aus meiner Jackentasche. »Vielleicht muss ich erst schwerer werden.«

Das Zucken seines Mundwinkels wurde stärker. Es erinnerte mich immer ein bisschen an einen Berg, der von einem Erdbeben erschüttert wurde.

Er verstand mich vielleicht auch nicht immer, aber wir hatten schon als Kinder festgestellt, dass unsere Freundschaft eben genau deswegen so gut funktionierte, weil wir so unterschiedlich waren. Wir versuchten einander zu verstehen, und bei dem Versuch erweiterten wir unsere Horizonte. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich ihm mal gesagt, dass wir durch unsere verschiedenen Perspektiven gemeinsam dafür sorgen würden, dass wir die Welt besser durchdringen konnten als alle anderen Menschen, die jemals gelebt hatten. Ich glaubte auch heute noch daran.

Ich aß einen Kinderriegel und dann direkt den nächsten. Nun entfuhr Matt doch ein Lachen.

»Pass auf, dass dir nicht schlecht wird«, ermahnte er mich.

Ich verdrehte die Augen. »Du bist nur zwei Jahre älter, kein Grund, dich wie mein Vater aufzuführen.«

»Muss ich dich daran erinnern, wie schlecht es dir vor ein paar Wochen ging, als du eine ganze Packung auf einmal gegessen hast? Tod durch Kinderriegel ist bei dir ein valides Risiko.«

Ich streckte ihm die Zunge raus, und ich glaubte, dass er etwas vor sich hin murmelte, das ein bisschen wie »Kleinkind« klang. Schon wollte ich ihn deswegen zur Rede stellen, doch dann stieß er einen besonders deftigen Fluch aus.

»Jetzt weiß ich nicht mehr, bei welcher Tür ich aufgehört habe. Ich muss noch mal von vorne anfangen.«

Anstatt mich darüber zu beschweren, dass eine halbe Stunde durchs Hotel irren umsonst gewesen war, grinste ich nur in mich hinein, hakte mich bei ihm unter und bugsierte ihn zum Aufzug, während sein Kopf vor Frust rot anlief. Wenn etwas nicht nach Plan ging, konnte Matt nicht damit umgehen. Das war schon immer so gewesen. Aber deswegen war es gut, dass er mich hatte. Denn ich hatte nie einen Plan. Und wenn man sich keinen zurechtlegte, konnte auch gar nichts schieflaufen.

»Iss einen Kinderriegel und beruhig dich«, sagte ich, als wir zurück in den ersten Stock fuhren.

Und diesmal war das Zucken des Mundwinkels so stark, dass sich seine Lippen zu dem schiefen Lächeln verschoben, das ich so liebte.

Die Erinnerung spuckt mich wie ein altes Kaugummi wieder aus. Ich fühle mich so, als würde ich auf dem Bordstein landen und am Schuh des nächsten Passanten kleben bleiben.

»Wir sind da«, reißt mich Juli aus meinen Gedanken.

Der Motor läuft nicht mehr, das Auto parkt am Straßenrand. Und ich sitze immer noch unbeweglich dort und starre durch das Fenster auf der Beifahrerseite, obwohl das Hotel längst verschwunden ist und sich vor mir nur noch ein Wohnhaus auftut, das ich noch nie gesehen habe.

»Danke, dass ich hier unterkommen kann«, sage ich, während ich mich aufraffe und endlich aussteige. Juli ist mir schon einige Schritte voraus und lädt Winnie aus dem Kofferraum. Sie hat wohl nicht mit so viel Gewicht gerechnet, denn der Rucksack fällt ihr fast direkt wieder aus der Hand.

»Fuck«, stößt sie mit einer Inbrunst aus, die ich noch nie gehört habe. Wenn sie ein Schimpfwort sagt, klingt es nicht nur wie ein Fluch über die nervigen Unannehmlichkeiten des Alltags, sondern wie eine Verfluchung der ganzen Welt. Irgendwie macht sie das sympathischer.

»Sorry«, murmle ich und hieve mir Winnie auf den Rücken.

Juli macht eine wegwerfende Handbewegung. »Der ist schwerer, als er aussieht. Und bedank dich nicht dafür, dass du in der WG unterkommst. Das ist gar kein Problem. Du könntest auch länger als nur eine Woche bleiben.«

»Ich bleibe aber nur eine Woche«, sage ich viel härter als beabsichtigt.

Juli lässt sich nichts anmerken und zuckt nur unbeteiligt mit den Schultern. »Mach, wie du es für richtig hältst. Ich wollte nur, dass du weißt, dass du auch länger bleiben kannst. Mein Zimmer steht sowieso die meiste Zeit leer.«

»Wieso?«, frage ich. Ich folge ihr ins Haus, und wir laufen durch das alte Treppenhaus. Unter jedem meiner Schritte knarzen die Dielen. Die Vergangenheit will wieder nach mir greifen und mich an schalldämmende Teppiche erinnern, aber diesmal schaffe ich es, sie von mir zu schieben, bevor sie mich hinabreißen kann.

»Ich bin die meiste Zeit bei meinem Freund«, erklärt Juli. Wir schnaufen beide, als wir im fünften Stockwerk ankommen, und sie wirft mir ein Grinsen zu, bevor sie die Tür aufschließt.

Drei Menschen sitzen in einer Wohn-Ess-Küche und sehen uns an, sobald wir eintreten. Sie haben ihr Gespräch wohl genau in dem Moment unterbrochen, in dem sie den Schlüssel im Schloss vernommen haben. Die Neugier ist vor allem der jungen Frau mit den rotblonden Haaren anzusehen. Der tätowierte Typ wirkt zwar nicht unfreundlich, aber unbeteiligt. Die Dunkelhaarige mit dem Pony lächelt mich freundlich an.

»Stella, das sind Liv, Jakob und Hanna, meine Mitbewohner.«

»Ehemalige Mitbewohner«, meint Liv. »Sie ist ja kaum noch hier.« Es ist unverkennbar ein Vorwurf, aber Juli macht sich nicht die Mühe, es zu kommentieren. Sie bedeutet mir, ihr einen langen schmalen Gang entlang zu folgen. Er geht abrupt um die Ecke, und natürlich stoße ich mir sofort den Oberarm an der Wand.

»Das passiert jedem«, meint Juli entschuldigend. »Das ist mein Zimmer und für die nächste Zeit, so lange du willst, deins.«

An den hohen Decken entdecke ich Stuck, der zwar ein bisschen abblättert, aber dadurch noch authentischer wirkt. Das Parkett ist hell, und der Rahmen der Doppelkastenfenster ist weiß. An den Wänden hängen Skizzen, aber man kann dem Zimmer ansehen, dass dessen Bewohnerin nicht mehr regelmäßig hier schläft. Überall scheinen sich Lücken aufzutun, die sonst von alltäglichen Tätigkeiten gefüllt werden. In keiner Steckdose steckt ein Ladekabel. Der Nachttisch ist komplett leer. Die Topfpflanze sieht aus, als hätte sie in letzter Zeit zu wenig Wasser und Zuwendung abbekommen. Auf dem Schreibtisch liegen nur noch einsame Radiergummis, leere Blätter und ein paar Stifte.

Ich lasse Winnie auf den Boden sinken und atme tief durch.

Ich bin in München, aber nicht in dem Teil von München, vor dem ich geflüchtet bin, und irgendwie macht es das ein bisschen einfacher, diese Luft zu atmen.

»Soll ich dich direkt zu deinen Eltern fahren?«, fragt Juli mich, als ich mich ihr zuwende.

»Vielleicht erst morgen«, sage ich so beiläufig, als wollte ich mich nur von meiner langen Reise erholen. Doch ich durchschaue mich selbst. Ich gebe mir eine Schonfrist. Weil ich noch nicht bereit bin, all die schwierigen Gespräche zu führen, die mich hier erwarten. Vermutlich werde ich das niemals sein. Aber ich brauche wenigstens noch einen Tag.

»Wie du willst«, antwortet Juli und ahnt vermutlich gar nicht, wie sehr ihre lockere Art mir dabei hilft, nicht direkt wieder die Flucht zu ergreifen. »Du hast im letzten Jahr als Reisebloggerin und Reisejournalistin gearbeitet, richtig?«, fragt sie, um die Stille zwischen uns zu füllen.

»Genau«, gebe ich zurück und weiß danach schon nicht mehr, was ich noch sagen soll.

Einen kurzen Moment lang sehen wir uns einfach nur an. Auf eine seltsame, befangene Weise, die wohl von Menschen zu erwarten ist, die sich erst vor einer Stunde kennengelernt haben, aber verwandt sind.

Als mir ein nervöses Lachen entfährt, stimmt sie mit ein.

»Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll«, gestehe ich.

Sie nickt. »Ich auch nicht. Dabei sollte ich mich an diese Situation doch inzwischen gewöhnt haben.«

Ich will sie fragen, wie es für sie war, alle Kronenbergers kennenzulernen. Ich will sie fragen, wie Lorena und sie Freundinnen geworden sind. Ich will sie fragen, wie es allen geht, vor allem Benny. Doch bevor ich auch nur eine Frage stellen kann, klingelt es an der Tür.

»Juli, dein Freund ist hier«, schreit Jakob einmal quer durch den endlos langen Flur.

Ein nervöser Ausdruck huscht über ihr Gesicht, und dann sprintet sie auch schon ins Wohnzimmer zurück.

»Du hättest ihn nicht reinlassen sollen«, höre ich sie zu Jakob sagen.

Wieder stoße ich mich im Flur und reibe mir immer noch den Hüftknochen, als ich den Wohnbereich erreiche.

»Wieso soll ich deinen Freund nicht reinlassen?«, fragt Jakob verwirrt.

»Weil …« Juli bricht ab, sobald sie mich erblickt. Sie seufzt. »Ich wimmle ihn schnell ab.«

Ich sehe mindestens genauso verwirrt wie Jakob aus, während Juli die Tür nur einen Spaltbreit öffnet und auf jemanden auf der anderen Seite einredet.

»Was ist los?«, höre ich eine männliche Stimme gedämpft durch den Spalt.

Mein Herz rast, obwohl ich sie noch nicht ganz einordnen kann. Ich weiß, dass ich sie kenne. Ich bin nur zu überfordert, um zu erkennen, woher.

»Sei nicht albern. Ich will doch auch deine Freunde mal wiedersehen.« Julis Freund stößt die Tür auf und tritt ein.

Auf einmal steht Isaac Jordan vor mir, und der Sog der Vergangenheit wird wieder stärker.

Er sieht Matt so ähnlich, dass mir sein Anblick körperliche Schmerzen bereitet. Sie haben die gleiche Haarfarbe, die Augenbrauen haben eine ähnliche Form. Doch Matts Lippen sind voller, seine Augen heller und seine Wangenknochen kantiger. Vor mir steht eine sehr ähnliche Kopie, aber doch nicht er. Ein Teil von mir will deswegen trauern. Ein anderer will erleichtert aufatmen.

Isaac betrachtet mich und will schon mit einer ausgestreckten Hand auf mich zugehen. Er erkennt mich nicht sofort. Natürlich nicht. Als ich München verlassen habe, war ich schlanker, meine roten Haare habe ich täglich geglättet, statt sie in offenen Locken bis zu meinen Schultern fallen zu lassen. Und mein Gesicht voller Sommersprossen habe ich geschminkt, damit es ebenmäßiger wirkte. Nun tue ich das nicht mehr.

Isaac hält inne und lässt die Hand sinken. Zwei Sekunden ticken unendlich langsam vorbei, während er mich einfach anstarrt. Und dann erkennt er mich endlich. Sein höflicher Gesichtsausdruck verschwindet so endgültig, als wäre er niemals da gewesen, und zurück bleibt Unglaube und vor allem die Traurigkeit, die ich jede Sekunde jeden Tages auch in mir selbst spüren kann.

»Stella«, flüstert er, als hätte er Angst davor, meinen Namen laut auszusprechen.

»Hey«, hauche ich ebenfalls. Mein Herz schlägt in meinem Hals.

»Ich weiß nicht, ob ich dich anschreien oder umarmen soll«, kriegt er hervor.

»Das verstehe ich«, antworte ich und meine es auch so. Ich hätte es wohl mehr verdient, angeschrien statt umarmt zu werden.

Kurz rechne ich damit, dass Isaac zum gleichen Schluss kommen wird. Dann löst er sich aus seiner Starre, überbrückt die wenigen Schritte, die uns noch voneinander getrennt haben, und schließt mich in eine feste Umarmung.

Mir entfährt ein Lachen, das in einem Schluchzer ertrinkt, und ich klammere mich schon fast verzweifelt an ihm fest. So fühlt man sich wohl, wenn man ein Stück Heimat, das sich nicht so sehr verändert hat wie befürchtet, zurückerhält.

»Ich habe dich vermisst.« Seine Worte schweben direkt neben meinen Ohren und entlocken mir einen weiteren Schluchzer. Ich glaube, Isaac weint auch. Aber ich lasse ihn nicht los, um es herauszufinden.

Wir müssen es nicht laut aussprechen, um beide zu wissen, warum wir einander so festhalten. Wir tun es, weil es einmal einen Menschen gab, den wir niemals wieder berühren können. Aber wenn wir uns kurz in die Wärme einer Person flüchten, die diesen ebenfalls geliebt hat, fühlt sich das Wissen, dass er für immer fort ist, wenigstens für einen kurzen Moment nicht mehr so herzzerbrechend an.

2. Kapitel

MATT

Als ich die Tür zum Schwimmbad aufdrücke, kommen mir so viele Gefühle auf einmal entgegen, dass ich am liebsten direkt wieder umdrehen würde.

Ich befinde mich noch in der Eingangshalle, aber ich kann schon die Stimmen und das Rauschen des Wassers vernehmen. Chlor setzt sich in meiner Nase fest, und sofort steigen mir Tränen in die Augen.

Diesen Geruch habe ich immer geliebt. Einmal hat er mich mit Euphorie und Tatendrang erfüllt. Nun ist da nur noch Traurigkeit.

Erneut atme ich tief durch, aber diesmal durch den Mund. Ich zwinge mich weiterzulaufen. Ich habe sie schon so oft vertröstet. Viel zu oft, wenn man bedenkt, was ich ihr zu verdanken habe. Noch einmal kann ich nicht absagen. Dafür respektiere ich sie zu sehr.

Außerdem wird sie niemals lockerlassen, also kann ich es genauso gut jetzt hinter mich bringen.

All das rede ich mir ein, während ich durch das Drehkreuz laufe und an den endlos erscheinenden Reihen mit Umkleiden vorbeigehe. Ich ziehe mir nur die Schuhe aus und trete dann durch die letzte Tür, die mich noch vom Wasser trennt.

Der Chlorgeruch ist hier so stark, dass ich ihn auch wahrnehme, obwohl ich mich ermahne, nur durch den Mund zu atmen. Warme Luft strömt mir entgegen und presst sich auf mich herab, als wollte sie mir sagen, dass ich für diesen Ort falsch gekleidet bin.

Nun stehe ich im Anzug am Rand des Beckens wie die Väter, die sich ansehen wollen, wie gut sich das Training ihrer Sprösslinge auszahlt. Ich hasse dieses Gefühl.

Ich wollte nicht an diesen Ort zurückkehren. Ich wusste, dass es mich schmerzen würde, hier zu sein, nachdem sich all das verändert hat, was mir einmal wichtig gewesen ist.

Doch Sabine wollte mich vielleicht daran erinnern, was mir dieser Ort mal bedeutet hat. Wir hätten uns auf einen Kaffee irgendwo in der Stadt treffen können. Aber das wäre die einfachere Lösung gewesen. Und die hat meine Trainerin nie bevorzugt.

Ehemalige Trainerin, ermahne ich mich in Gedanken.

Ich sehe überallhin, nur nicht ins Wasser, wo junge Sportler ihre Bahnen ziehen. Ich starre an die gefliesten Wände, zu den Handtüchern auf den Ablagen. Trotzdem vernehme ich die Schwimmer, und mein Gehirn füllt die Lücken von allein. Ich höre das Wasser gegen den Beckenrand schwappen wie Wellen in der Brandung. Ich höre Sabines Rufe. Und direkt habe ich alles vor Augen.

Ich würde mich gern von meinen Erinnerungen packen und unter Wasser drücken lassen. Das ist schließlich der Ort, an den ich immer gehört habe. Aber ich weiß, dass ich wieder auftauchen muss, und danach wird es mir noch beschissener gehen als vorher. Also wehre ich mich.

»Matthew.« Sabines präzise Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Sie sieht noch genauso aus wie früher. Ich weiß nicht genau, warum ich etwas anderes erwartet habe. Ich kenne sie seit fünfzehn Jahren, und gefühlt hat sie sich in der ganzen Zeit gar nicht verändert. Ihr Körper ist immer noch schlank und muskulös. Ihr Ausdruck streng mit diesem Hauch von Mitgefühl, von dem sie immer leugnen würde, dass es da ist.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagt sie und bleibt zwei Schritte vor mir stehen.

»Natürlich«, sage ich, als hätte ich mich nicht monatelang vor diesem Treffen gedrückt.

Sie kommentiert es nicht. Das ist nicht ihr Stil. »Wie geht es dir?«

»Gut«, erwidere ich zu schnell.

Sie weiß, dass es eine Lüge ist. Aber sie weist mich nicht darauf hin, weil ihr klar ist, dass ich die Wahrheit auch selbst kenne.

»Hast du es vermisst?« Sie deutet auf das Becken.

Mehrere Körper gleiten elegant durchs Wasser, und für einen kurzen Moment gestatte ich mir, mir vorzustellen, ich wäre einer von ihnen.

Die aufrichtige Antwort auf ihre Frage wäre: Sehr, jeden Tag. Doch dann spüre ich wieder den stechenden Schmerz in meiner Schulter und weiß, dass es ein für alle Mal vorbei ist.

»Klar«, sage ich leichthin, obwohl ich mich gerade sehr schwer fühle. Es kommt mir nicht so vor, als wäre meine Schulter der einzige Grund, warum ich nicht mehr schwimmen kann. All meine düsteren Gedanken scheinen mich zu beschweren. Vermutlich würde ich wie ein Stein untergehen, wenn ich mich ins Becken wagen würde.

Aber diese Gedanken sind überflüssig. Ich werde nicht ins Wasser gehen. Wenn ich nicht mehr so schwimmen kann wie früher, will ich es gar nicht mehr tun. Ich will mir nicht noch auf diese Weise beweisen, dass mein ganzes Leben auf einmal anders ist als vorher. Und anders, als es eigentlich sein sollte.

»Du könntest auch ins Wasser«, sagt Sabine, und ihre klaren Augen, die so blau sind wie das Becken, was ich schon als kleiner Junge sehr passend fand, blicken in meine.

»Nein danke«, entgegne ich, als hätte sie mir nur ein Heißgetränk angeboten und nicht eine neue Dosis emotionale Folter.

Ich atme noch einmal tief durch den Mund ein. Ich hasse meine Gedanken. Ich hasse es, dass ich mich selbst bemitleide. Könnte Sabine hören, was in meinem Kopf vorgeht, würde sie mir vermutlich sagen, dass ich mich nicht so anstellen soll.

»Du fragst dich bestimmt, warum ich dich hergebeten habe«, setzt sie an.

Ich nicke, aber ich kann es mir auch denken. Sie will, dass ich wieder schwimme, auch wenn ich es nie wieder professionell machen werde. Vermutlich will sie mir einreden, dass es mir guttun würde. Und vielleicht will ein Teil von ihr sich auch selbst beweisen, dass sie mich nicht einfach vergessen hat, nur weil ich nicht mehr ihr Starschüler bin. Vielleicht fühlt sie sich dann auch besser. Ich nehme es ihr nicht übel.

Als ich nicht reagiere, fährt sie fort. »Ich habe einen neuen sehr vielversprechenden Schüler, und es würde mich freuen, wenn du dich ein bisschen um ihn kümmern würdest.«

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Wie bitte?«, frage ich irritiert nach.

»Er ist sehr talentiert, aber manchmal fällt es ihm schwer, sich an den Trainingsplan zu halten. Er ist ein Fan von dir, und wenn sein großes Vorbild ihn ermutigen würde, sein Talent ernster zu nehmen, würde er das sicherlich tun.«

Ich habe mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit. »Ich schwimme nicht mehr. Wie soll ich ihm denn helfen?« Meine Worte klingen ruppiger als beabsichtigt.

Es kommt mir so vor, als wäre die Luft noch ein bisschen feuchter geworden, und die Hitze kriecht bereits unter den Stoff meines teuren Anzugs.

»Ich trete auch nicht demnächst bei Olympia an. Macht mich das zu einer schlechten Trainerin?«, fordert sie mich heraus.

Sofort fühle ich mich wieder wie ein kleiner Junge. Diese Taktik hat sie damals auch angewendet. Wenn ich nicht getan habe, was sie wollte, hat sie mich nicht angeschrien, sie hat mich herausgefordert. Und wenn man in ihre harten Züge und klaren Augen schaut, wird jedem aufmüpfigen Halbstarken schnell bewusst, dass er es mit ihr nicht aufnehmen kann.

»Natürlich nicht«, sage ich also.

»Das meine ich auch.«

Ich warte darauf, dass sie mir erzählt, wie sie in ihrer Jugend trainiert hat. Das hat sie oft getan, um uns klarzumachen, dass unsere Trainingspläne nichts sind im Vergleich zu denen, an die sie sich halten musste. Sie kommt gebürtig aus Magdeburg und hat ihre Jugend in der ehemaligen DDR verbracht. Wenn wir uns beschwert haben, hat sie gesagt, dass wir ihr Pensum nicht hinbekommen hätten. Ich habe das nicht eine Sekunde infrage gestellt.

»Er braucht keinen zweiten Trainer. Er braucht einfach ein Vorbild, einen Ansprechpartner«, erklärt Sabine nun mit für ihre Verhältnisse sanfter Stimme weiter.

Mein Hals ist so trocken, dass ich kaum schlucken kann. Ein Rauschen legt sich über meine Ohren. So erkläre ich mir auch, dass ich es erst verspätet wahrnehme, dass die Schwimmer eine Pause machen. Das Klatschen des Wassers an den Beckenrand wird von Stimmen abgelöst. Und auf einmal taucht ein Junge neben Sabine auf. Er ist vielleicht zwölf Jahre alt. Seine Taucherbrille hat Abdrücke in seinem Gesicht hinterlassen.

»Maximilian, das ist Matthew Jordan«, sagt meine ehemalige Trainerin.

Die Augen des Jungen werden groß. »Es freut mich sehr, dich … Sie kennenzulernen.« Er stolpert über seine Worte und streckt mir etwas unbeholfen die Hand entgegen.

Ich will sie ergreifen und ihm erklären, dass er mich nicht siezen muss, aber als ich meinen Arm bewegen will, fährt mir wieder ein so starker Schmerz in die Schulter, dass ich mich kaum noch rühren kann. Ich stehe einfach da, vor einem nervösen Jungen, der mein Zögern wohl als Ablehnung wahrnimmt. Was ich wirklich nicht will. Er soll sich nicht schlecht fühlen. Aber mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Ich habe die Kontrolle über etwas verloren, das mir vorher so viel Selbstwert gegeben hat. Nun weiß ich nicht, wo ich diesen sonst herbekommen soll.

Die anderen Jungs haben sich zu uns umgedreht. Ich meine, ein paar flüstern zu hören. Mein Name fällt. Wie viel davon meiner Einbildung entspringt, kann ich nicht sagen. Aber vermutlich spielt es überhaupt keine Rolle, was tatsächlich real ist. Solange mein Körper etwas für real hält, fühlt es sich auch so an.

Ich erinnere mich daran, wie es früher war, diese Halle zu betreten. Damals sind mir ehrfürchtige Blicke begegnet. Nun kommen sie mir mitleidig vor. Sie flüstern, aber ich glaube trotzdem, jedes Wort hören zu können, das sie hinter meinem Rücken über mich verlieren.

Ich war mal jemand. Nun werde ich immer, egal, wohin ich gehe, auf den schlimmsten Tag meines Lebens reduziert. Und es wird niemals aufhören. Der Unfall wird mich für immer definieren.

»Ich bin leider spät dran. Ich muss zur Arbeit. War schön, dich zu sehen, Sabine«, sage ich und kriege es gerade so hin, den Arm sinken zu lassen, ohne dass mir Tränen in die Augen treten. »Freut mich, dich kennengelernt zu haben, Maximilian.« Mehr bekomme ich nicht heraus. Dann drehe ich mich auch schon gehetzt um und verlasse die Schwimmhalle.

Inzwischen ist mein Hemd durchnässt. Ich fühle, dass der Stoff an meiner Haut klebt.

Ich muss tatsächlich gleich im Kaufhaus sein, aber in diesem Zustand kann ich dort nicht auftauchen. Auf der Straße angekommen, atme ich tief durch die Nase, fast schon energisch, um endlich den Geruch von Chlor loszuwerden. Ich spüre das verräterische Kribbeln im Nacken. Es breitet sich auf meine Arme und Beine aus. Was hat Juli damals gesagt? Vier Sekunden lang einatmen, sieben ausatmen, elfmal wiederholen.

Die Panik kann mich nicht in die Tiefe reißen, aber ich stand bereits am Abgrund, meine Fußspitzen hatten schon keinen festen Boden mehr unter sich. Noch habe ich es geschafft, einen Schritt zurück zu machen. Ich weiß, dass mir das nicht immer gelingen wird. Bald werde ich wieder stürzen. Aber nicht jetzt. Nicht heute.

Irgendwie schaffe ich es, nach Hause zu fahren. Ich schließe die Tür auf und trete ein. Meine Wohnung sieht eigentlich aus wie immer, aber irgendwas erinnert mich an sie. Ist es die Tatsache, dass ich vom Schwimmbad komme und sie danach so oft auf mich gewartet hat? Oder liegt es daran, dass ich mein Bett heute Morgen nicht gemacht habe und es sonst immer ihre Schuld war, wenn es unordentlich aussah?

So und so spüre ich ihre Abwesenheit in meiner Wohnung – in meinem Leben – auf einmal wieder wie einen Phantomschmerz. Als würde mir ein Körperteil fehlen und ich würde es dennoch fühlen.

Drei Jahre vor dem Unfall

»Da bist du ja endlich.« Wenn Stella mich begrüßte, klang es immer auch ein bisschen wie ein Vorwurf.

Ich verdrehte nur die Augen, stellte meine Schwimmtasche ab, packte die nassen Sachen aus, legte sie über die Heizung und ging dann zu ihr. Sie hatte es sich bereits in meinem Bett bequem gemacht. Sie ließ die Decken immer ein bisschen so aussehen wie Maulwurfshügel. So ein Chaos konnte sie mit wenigen Handgriffen anrichten. Der Fernseher war bereits aufs Bett ausgerichtet, sie lehnte mit der Fernbedienung in der Hand am Kopfteil.

Sie begann sich ungeduldig unter der Decke zu bewegen. Das tat sie immer, wenn ich mich nicht so schnell bewegte, wie sie wollte.

»Habe ich dir wirklich jemals den Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben oder hast du dir einfach einen Ersatzschlüssel geklaut?«, fragte ich, um sie zu ärgern, realisierte im gleichen Moment aber, dass ich die Antwort tatsächlich nicht kannte.

Stella streckte mir die Zunge raus. »Du findest es toll, wenn ich hier bin. Stell dich nicht so an.«

Ich entgegnete nichts, aber wir wussten beide, dass sie recht hatte.

»Rutsch rüber«, forderte ich. »Aber vielleicht solltest du dich auch manchmal ankündigen. Wer weiß, ob ich mal Besuch habe.«

»Oh Besuch«, sagte sie vieldeutig und machte den Fernseher an. »Da ist wohl jemand hoffnungsvoll.«

»Realistisch«, korrigierte ich und griff nach einer Packung Chips, die sie irgendwo zwischen den Decken versteckt hatte. Stella kam für einen Filmabend nie ohne Verpflegung vorbei. Das war eine goldene Regel. »Denkst du wirklich, dass ich keine Dates kriege?«

»Nein, tue ich nicht. Du kommst aus einer reichen Familie und bist Profisportler. Es gibt schlimmere Voraussetzungen.«

»Das ist, glaube ich, das Netteste, was du jemals zu mir gesagt hast«, zog ich sie auf. »Was ist noch mal als Letztes passiert?«

Stella öffnete die Serie Twin Peaks, die wir jetzt schon seit Wochen zusammen guckten. Ich verstand höchstens die Hälfte von dem, was passierte. Stella behauptete immer wieder, dass sie voll den Durchblick hätte. Aber ich war mir sicher, dass sie log, um mich aufzuziehen.

Sie schnaubte belustigt. »Wir haben vorgestern die letzte Folge gesehen. Das kannst du unmöglich schon wieder vergessen haben.« Sie warf mir einen seltsamen Blick von der Seite zu.

»Was willst du mir mit dem Gesichtsausdruck sagen?«, fragte ich sofort.

»Stimmt es, dass du was mit Ivona Kaufmann hattest?« Lag da Missbilligung in ihrer Stimme?

»Ja«, sagte ich zögerlich, weil ich nicht wusste, wie sie reagieren würde.

Eine Sekunde später stieß sie ein lautes Lachen aus und warf den Kopf in den Nacken. »Du hast einen fürchterlichen Frauengeschmack.«

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