×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Love Poets Society«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Love Poets Society« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Love Poets Society

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Wir alle kennen es, dieses Gefühl, dass ein Taylor-Swift-Song alles besser machen kann. Ob Herzschmerzerinnerungen, Schmetterlinge-im-Bauch-Augenblicke oder die typischen Durchs-Schlafzimmer-Tanzen-und-in-die-Haarbürste-Singen-Momente - Taylors Songs sind der perfekte Begleiter für Romantikerherzen und Datingrealisten.

Unsere LOVE POETS SOCIETY hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau diese Gefühle in 13 romantischen Kurzgeschichten einzufangen. Jede einzelne widmet sich einem Song von Taylor Swift, ist herzzerreißend und herzerwärmend, schwermütig und federleicht, angereichert mit klitzekleinen versteckten Anspielungen – genau wie ein Taylor-Swift-Album!

Eine Playlist voller Liebesgeschichten mit den Autorinnen Anabelle Stehl, Mounia Jayawanth, Janine Ukena, Marina Neumeier, Gabriella Santos de Lima, Sophia Como, Marie Weis, Leandra Seyfried, Ruby Braun, Jennifer Wiley, Rabia Doğan, Valentina Fast und Tina Köpke.

Are You Ready For It?


  • Erscheinungstag: 17.04.2025
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704839

Leseprobe

Cover for EPUB

Wir alle kennen es, dieses Gefühl, dass ein Taylor-Swift-Song alles besser machen kann. Ob Herzschmerzerinnerungen, Schmetterlinge-im-Bauch-Augenblicke oder die typischen Durchs-Schlafzimmer-Tanzen-und-in-die-Haarbürste-Singen-Momente - Taylors Songs sind der perfekte Begleiter für Romantikerherzen und Datingrealisten. 

Unsere LOVE POETS SOCIETY hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau diese Gefühle in 13 romantischen Kurzgeschichten einzufangen.  Jede einzelne widmet sich einem Song von Taylor Swift, ist herzzerreißend und herzerwärmend, schwermütig und federleicht, angereichert mit klitzekleinen versteckten Anspielungen – genau wie ein Taylor-Swift-Album!

Eine Playlist voller Liebesgeschichten mit den Autorinnen Anabelle Stehl, Mounia Jayawanth, Janine Ukena, Marina Neumeier, Gabriella Santos de Lima, Sophia Como, Marie Weis, Leandra Seyfried, Ruby Braun, Jennifer Wiley, Rabia Doğan, Valentina Fast und Tina Köpke. 

Are You Ready For It?

Love Poets Society

von

Mounia Jayawanth · Gabriella Santos de Lima · Marina Neumeier · Sophia Como · Anabelle Stehl · Valentina Fast · Marie Weis · Ruby Braun · Rabia Doğan · Jennifer Wiley · Tina Köpke · Leandra Seyfried · Janine Ukena

reverie

Playlist

01 Paris

(Anabelle’s Version)

02 Begin Again

(Mounia’s Version)

03 Seven

(Leandra’s Version)

04 the last great american dynasty

(Marina’s Version)

05 You Are in Love

(Marie’s Version)

06 I Can Do It With a Broken Heart

(Ruby’s Version)

07 ivy

(Sophia’s Version)

08 Red

(Gabriella’s Version)

09 The Archer

(Rabia’s Version)

10 Shake It Off

(Tina’s Version)

11 Midnight Rain

(Janine’s Version)

12 Wildest Dreams

(Valentina’s Version)

13 How You Get the Girl

(Jennifer’s Version)

Für alle Swifties.
Auf den Zauber, den wir geschaffen haben.

Paris  Taylor Swift
(Anabelle’s Version)

01

Hast du die Fotos gesehen?

»Miss Brooks!«

Ich zucke so stark zusammen, dass ich gegen den Kaffeebecher des Mädchens neben mir stoße, das mir einen genervten Blick zuwirft.

»Ja?«

Professor Dr. Grant sieht mich mit zusammengekniffenen Augen über seine Brille hinweg an. Ziemlich sicher, dass sein Ausdruck weniger mit seiner Sehschwäche zu tun hat als sehr viel mehr mit der Tatsache, dass ich mal wieder in der Vorlesung gepennt habe. Wortwörtlich. Denn bis eben ruhte mein Kinn auf meinem Handgelenk, und ich habe keine Ahnung, was in den letzten fünf Minuten passiert ist.

»Gern wiederhole ich meine Frage noch einmal für Sie, womöglich möchten Sie sie in dem Zuge auch direkt beantworten.«

Ich höre das Mädchen neben mir leise lachen und spiele mit dem Gedanken, noch einmal gegen ihren Becher zu kommen – dieses Mal absichtlich.

»Wie beeinflussen bakterielle Biofilme die Entstehung und das Fortschreiten von Parodontalerkrankungen?«

»Sie, ähm …« Oh Gott, ich hätte mehr als vier Stunden schlafen sollen. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, die Bildschirmzeit auf meinem Handy wieder zu kürzen. Weniger Instagram und TikTok, mehr Biologiebücher. »Sie sind schlecht für das Zahnfleisch?«

Dr. Grant sieht aus, als würde er mich am liebsten aus dem Fenster des Hörsaals schmeißen. Ich kann es ihm nicht verübeln, ich spiele selbst mit dem Gedanken, hinauszuspringen, allerdings befindet sich der Hörsaal im fünften Stock, und ich glaube, den Sturz auf den New Yorker Gehweg würde ich nicht überleben.

»So weit waren wir schon, danke sehr für die freundliche Auffrischung, Miss Brooks.« Er wendet sich von mir ab und dem restlichen Kurs zu. »Wenn Sie Ihre Pflichtlektüre im Reader besser gelesen haben als Ihre Kommilitonin, sollten Sie wissen, dass die Bakterien Toxine und Stoffwechselprozesse freisetzen, die …«

Es liegen immer noch einige Blicke auf mir, doch ich schalte mit leisem Seufzen wieder ab. Wieso sitze ich eigentlich in der letzten Reihe des Hörsaals, wenn ich trotzdem drangenommen werde? Und wieso verdammt noch mal bin ich ständig so müde?

Sollte ich mich mit neunzehn schon so müde fühlen? Nicht die Art von müde, die ich durch Koffein bekämpfen könnte, eher die, die einen überfällt, wenn man sich zu lange auf der gleichen Stelle bewegt. Wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und doch keinen Zentimeter vorankommt. Doch leider ist das hier kein Traum, zumindest bin ich davon überzeugt, dass meine Fantasie sich niemals beige, rissige Wände ausgedacht, sondern dem Hörsaal zumindest einen frischeren Anstrich verpasst hätte.

Durch die geöffneten Fenster dringt der typische Lärm New Yorks zu uns: ein Gemisch aus Hupen, vorbeirauschenden Autos und Radklingeln. Zusammen mit der monotonen Stimme meines Professors bildet es den täglich gleich klingenden Soundtrack meines Lebens. Kein fröhlicher Popsong mit belebendem Beat, wie es in meinen Lieblingsfilmen der Fall ist, sondern langweilige Hintergrundgeräusche. So altbekannt, dass mir schon wieder die Augen zufallen. Entgegen meinem Vorsatz zur Reduzierung meiner Screentime ziehe ich mein Handy aus der Tasche hervor und entsperre es möglichst unauffällig unter dem Tisch.

Es ist nicht so, dass Dentologie mich nicht interessiert, aber … doch, gut, es interessiert mich nicht. Zumindest nicht mehr, als sich jede beliebige Person für Zähne interessiert. Warum ich dennoch hier sitze, dem Vortrag zuhöre und am Wochenende brav zum Lernen in die Bibliothek gehen werde?

Weil ich genau weiß, dass ich dankbar sein sollte, dass ich es an die City University of New York geschafft habe. Die CUNY brüstet sich damit, dass sie Studierende ungeachtet ihres Hintergrunds unterstützt und dass sechzig Prozent ihrer Graduierenden die Ersten in ihren Familien sind, die es aufs College schaffen – so auch ich. Eine Tatsache, die meine Nan jedem erzählt, ob er es hören will oder nicht: der Friseurin, den Leuten auf dem Markt, letztens sogar einem Touristen, der sich lediglich nach dem Weg erkundigt hat. Alle sind so verdammt stolz auf mich.

Daisy Brooks, der Stolz und die Hoffnung der gesamten Familie. Dass ich nicht lache. In Wahrheit würde ich nichts lieber tun, als aus diesem Saal zu fliehen, mich in meinem Zimmer zu verkriechen, weiter Gitarre zu üben und Songs zu schreiben. Nur leider ist das nichts, was mir mein Leben finanziert. Damit hatten meine Eltern recht.

Mein Blick wandert zurück zu meinem Smartphone, das einige neue Nachrichten im Gruppenchat anzeigt. Six in the City – Mittlerweile tut es weh, unseren Gruppennamen zu lesen, denn gerade wäre All by myself in the City sehr viel passender. Die Nachrichten zu sehen, hilft auch nicht gerade, das aufkommende Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen. Gina, Mali, Dareene und Jill haben Fotos vom Lake Louise geschickt. Sie sehen ebenso schön aus wie die von den Niagara-Fällen vor einigen Tagen.

Gina

Wir denken an euch. xx

»Ich denke auch an euch«, schreibe ich zurück. Die ganze verdammte Zeit. Den letzten Teil behalte ich für mich.

Zoey hat mal wieder nichts dazu geschrieben. Sie ist, genau wie ich, ebenfalls nicht mit nach Kanada gefahren. Allerdings nicht, weil sie, wie ich, kein Geld hatte, sondern weil sie stattdessen in Paris abhängt, um ihr Modestudium dort zu absolvieren. Ich freue mich für sie. Wie könnte ich auch nicht, wenn sie seit Jahren davon träumt? Dennoch versetzt es mir einen Stich, da wir uns eigentlich geschworen haben, immer füreinander da zu sein. Laut Zoey ändert Distanz nichts an einer Freundschaft, doch mein Chatverlauf mit ihr sagt etwas anderes.

Zoey

Sorry, viel zu tun, melde mich noch. emoji

Das Ganze ist jetzt eine Woche her. Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch scrolle ich durch den Chat, der noch fünf weitere Nachrichten von mir anzeigt – und keine weitere von Zoey. Dabei gab es immer nur uns zwei, schon von klein auf. Die anderen vier sind ebenfalls zu engen Freundinnen geworden, doch Zoey und ich, wir sind schon immer unzertrennbar wie Zwillinge gewesen. Eine Weile haben wir sogar die gleiche Kleidung getragen. Da wir uns mit den braunen Locken und den hellblauen Augen so ähnlich sahen, haben wir uns oft einen Spaß daraus gemacht, uns für die jeweils andere auszugeben. Das alles fühlt sich nun an wie in einem anderen Leben.

Ich schließe den Chat und öffne Instagram. Mehr aus Instinkt, als dass ich wirklich möchte. Manchmal verstecke ich das App-Icon vor mir selbst, weil meine Finger die Stelle auf dem Display von allein öffnen. Ich weiß nicht wieso. Was ich weiß, ist, dass es mir danach wieder schlechter gehen wird, dennoch kann ich es nicht abschalten.

Während unser Prof ein Foto an die Wand projiziert, das die Auswirkungen von bakteriellen Biofilmen noch einmal bildlich verdeutlicht – zu bildlich –, scrolle ich mich durch Bilder, die sehr viel schöner sind, in mir jedoch noch mehr Ekel hervorrufen. Vor mir selbst. Weil einfach alle es geschafft zu haben scheinen. Wie kann jeder Mensch sein Leben so viel besser im Griff haben als ich? Tolle Reisen, ausgefallene Outfits, Partys, während ich abends einfach nur erschöpft ins Bett falle. In einem Zimmer, in dem sich die Wäsche auf dem Schreibtischstuhl stapelt, den ich seit Teenagertagen besitze. Schicke Büro-Optik? Fehlanzeige.

Ich scrolle weiter und halte dann, wie vom Blitz getroffen, inne.

»Was …«, flüstere ich. Zoey hat ein neues Bild gepostet. Sie sieht wunderschön darauf aus. Glücklich. Ihre kastanienbraunen Haare glänzen in der Sonne, auf dem Kopf trägt sie ein Paar schwarze Micky-Maus-Ohren. Das Mädchen neben ihr hat ebenfalls welche, sie bilden einen starken Kontrast zu ihrem honigblonden schulterlangen Haar. Disney-Land. Noch so ein Ding, das auf unserer Bucketlist stand. Meiner Bucketlist, wie es scheint. Denn Zoey hat sich diesen Traum bereits erfüllt.

»Every Brownie needs a Blondie«, murmle ich die unten stehende Beschreibung mit. Hinter dem Satz sind zwei Hashtags zu sehen: #besties und #dreamscometrue. Jedes einzelne Wort, jeder Pixel des Fotos sind Schläge in meine Magengrube. Wie von selbst gleitet mein Blick zu meinem Handgelenk, zu dem Freundschaftsarmband mit den Lettern Zaisy. Zoey und Daisy. Weil wir immer unzertrennlich waren. Bis heute anscheinend, denn Zoeys Armband ist nirgends zu sehen. Ihre Handgelenke sind völlig Daisy-frei. Ich sperre das Handy, lege es zu fest auf den Tisch des Hörsaals, sodass meine Kommilitonin neben mir unglücklich mit der Zunge schnalzt. Doch es ist mir egal. Mein Herz schlägt zu schnell, und ich weiß nicht, auf wen ich wütender bin: auf Zoey, dass sie mich so schnell abgeschrieben hat, dass sie mich einfach so ersetzt, oder auf mich, dass mir all das so nahgeht. Dass ich ihr die gute Zeit nicht gönnen kann, genauso wenig wie den anderen ihren Trip durch Kanada.

Die Folie am anderen Ende des Hörsaals verschwimmt vor meinen Augen. Meine Handinnenfläche brennt, und erst jetzt merke ich, dass ich die Finger zur Faust geballt habe und meine Nägel sich ins Fleisch bohren.

Ich muss hier raus.

Eilig werfe ich meinen ohnehin noch geschlossenen Block in den Rucksack. Mein Handy hinterher. Dann stehe ich auf, wobei der Sitz ein lautes Knarzen von sich gibt. Mein Blick trifft den der Kommilitonin – ich hab mir nie die Mühe gemacht, ihren Namen zu lernen. Oder irgendeinen. Wozu auch, ich war mir so sicher, meine Freundesgruppe fürs Leben bereits gefunden zu haben. Mit einem Nicken bedeute ich ihr, dass ich durchmöchte. Ich muss wirklich fertig aussehen, denn sie rollt weder mit den Augen noch erhalte ich eine schnittige Bemerkung. Stattdessen nimmt ihr Blick beinahe etwas Sorgenvolles an, während sie aufsteht und mir Platz macht.

»Ist alles okay?«, wispert sie, als ich mich an ihr vorbeischiebe, doch ich antworte nicht, sondern eile nur aus dem Hörsaal.

Nichts ist okay.

Ein Anblick, der mich überwältigt hat

Meine Schicht beginnt erst in drei Stunden, dementsprechend überrascht blickt mein Bruder mir entgegen, als ich die Tür zu seinem Laden aufdrücke. Der vertraute Geruch von Kunststoff, Metall und Kaffee umhüllt mich, doch heute vermag er nicht, mich zu beruhigen.

»Hi«, grüßt Liam mich über das helle Läuten der kleinen Glocke hinweg, die neue Besucher ankündigt. Er mustert mich mit zusammengezogenen dunklen Brauen. »Was machst du denn schon hier?«

»Frag nicht«, murmle ich, schmeiße meinen Rucksack hinter die Theke und hole mein Namensschild aus der Schublade unter der Kasse hervor. Hier hinten ist der Kaffeegeruch stärker, und ich bücke mich, um meine Lieblingstasse zu suchen und mir ebenfalls ein paar Schlucke aus der kleinen Küche zu holen. Vielleicht hebt Koffein ja meine Stimmung. Unwahrscheinlich, aber einen Versuch ist es wert.

»Okay«, erwidert mein Bruder gedehnt. »Aber gut, dass du da bist. Eben kam jemand und hat seinen PC abgegeben, Expressauftrag. Ihm ist die SD durchgebrannt, und ich schau mal, was für Daten ich retten kann und …« Er bricht ab, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. Im Gegensatz zu ihm habe ich keine Ahnung von Technik, und brenne vor allem kein Stück dafür. Ich bin nur hier, um mir ein wenig was dazuzuverdienen. Mit einer flinken Bewegung schnappt Liam sich meine Tasse und fährt sich durch das schwarze Haar, das einen Besuch beim Friseur vertragen könnte. »Ich hol dir mal Kaffee. Wenn du magst, kannst du die Post auspacken und die neue Ware einräumen.«

Ich nicke ergeben, wechsle den Radiosender von Rock zu aktuellen Charts und mache mich an die Arbeit. Die altbekannten Aufgaben bringen meine rasenden Gedanken zwar nicht zum Erliegen, beschäftigen aber immerhin meine Hände, sodass ich nicht schon wieder das Foto von Zoey und ihrer neuen besten Freundin betrachten kann. Ich bin so vertieft, dass ich nur am Rande mitbekomme, wie mein Bruder den Kaffee auf dem Tresen abstellt. Erst das erneute Klingeln der Glocke reißt mich aus der Arbeit.

»Hey.«

Mein Herz stolpert, noch bevor ich den Blick zur Tür richten kann. Muss ich auch gar nicht, ich würde diese Stimme unter Tausenden erkennen. Sie hat betrunken und schief mit mir Karaoke gesungen, mich mehr als einmal aufgezogen, aber auch getröstet, zum Beispiel, als ich mir beim Volleyball den Zeigefinger gebrochen habe. Diese Stimme war immer da, immer Teil meines Lebens. Und an einem Tag wie heute, da alles auseinanderzubrechen droht, klammere ich mich mit jeder Faser an sie. Eilig streiche ich mir durchs Haar und sortiere einige verirrte Strähnen.

»Hi.« Verdammt, ich klinge genauso atemlos, wie ich mich fühle.

Andrew tritt in den Laden. Sein Lächeln will mich glauben lassen, dass die Welt doch irgendwie okay ist. In seinen braunen Augen liegt ein Funkeln, seine Züge sind mir so vertraut wie meine eigenen. Die kleine Narbe an seiner Schläfe, der kantige Kiefer, die geschwungenen dunklen Brauen, die ihn immer ein wenig nachdenklich wirken lassen. Eilig sehe ich weg und widme mich wieder den Ladegeräten, die ich eines nach dem anderen einsortiere. Ich weiß nicht, wann genau es begonnen hat, dass mich seine Anwesenheit so nervös macht. Irgendwann vor zwei Jahren vermutlich, als mein Bruder ausgezogen ist und Andrew nicht mehr jeden Tag bei uns zu Hause rumhing. Erst als er fehlte, merkte ich, was für ein fester Bestandteil meines Lebens er geworden war.

Die Kurzschlussreaktion, die er in meinem Gehirn ausgelöst hat, scheint sich auf meine Finger auszuwirken, und das Ladegerät landet mit einem lauten Knall vor mir auf dem Boden.

»Mist.«

»Alles okay bei dir, Ivy?«

Ivy ist seit Jahren Andrews Spitzname für mich, da Daisy – Gänseblümchen – zu harmlos für mich sei und der giftige Efeu in seinen Augen besser zu mir passe. Wie immer, wenn er mich so nennt, rolle ich mit den Augen. Dabei mag ich es mittlerweile. Nicht, dass ich mir das jemals anmerken lassen würde.

»Bestens«, erwidere ich eine Spur zu fröhlich. Andrew scheint es ebenfalls zu bemerken, denn anstatt nach hinten zu meinem Bruder zu gehen, tritt er neben mich. Er greift nach dem Ladegerät und platziert es mit sicheren Fingern im Regal.

»Du trägst dein Armband nicht.« Ich zucke zusammen, als seine Hand meine berührt. Zwischen seinen Brauen entsteht eine senkrechte Linie, als er mein Handgelenk mustert.

»Hab ich wohl vergessen.« Ich versuche, gleichgültig zu klingen, was mir nicht ganz gelingen mag. Vermutlich kann er die Lüge in meinen Augen sehen, denn ich habe das Armband bisher nie vergessen. Es befindet sich in meinem Unirucksack. Nachdem Zoey es abgenommen hat, fühlte es sich falsch an, es weiter zu tragen. Es ist nun nur ein weiterer Hinweis darauf, dass sich alles verändert – und nichts zu meinem Vorteil.

»Liam ist hinten«, sage ich, als Andrew keine Anstalten macht, zu gehen.

»Ivy.« Seine Stimme ist so verflucht sanft, dass ich kurz davor bin, alles rauszulassen. Meine Wut, die Enttäuschung, das verdammte Gefühl der Einsamkeit, das sich einfach nicht abschütteln lässt, egal, was ich tue.

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass es wehtut. Doch kein Laut dringt über meine Lippen. Ich kann es ihm nicht sagen. Nichts von dem, was in mir vorgeht. Er ist die einzige Konstante in meinem Leben. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren. Also setze ich ein Lächeln auf und mache mich ohne weitere Worte wieder an die Arbeit.

»Hey, Andrew!« Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Liam auf die Verkaufsfläche tritt. »Na? Kommst du, um mir die guten News zu erzählen?«

Ohne mich umzudrehen, horche ich auf. Gute News?

»Falls ja: Zu spät. Deine Mom hat meine Mom begeistert angerufen, und diese dann mich.«

»Buschfunk«, murmelt Andrew und klingt nicht allzu froh darüber.

»Also geht’s für dich im Herbst nach London? Zahlen die deinen Umzug?«

»London?« Nun rede ich doch, und ich erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. Sie klingt so schwach und ängstlich, genau so, wie ich mich in diesem Moment fühle. Umzug?, ist das Wort, das ich nicht ausspreche, obwohl es mir sehr viel schwerer auf der Zunge liegt.

Ich kann ihn nicht auch noch verlieren.

Tja. Sieht aus, als wäre mein Stoßgebet nicht erhört worden. Das Blut rauscht in meinen Ohren, als Liam mit einem Lächeln nickt, völlig ahnungslos, was für Gefühle gerade durch meinen Körper jagen. »Ja, Andrew hat ein Jobangebot dort! Kaum mit der Uni fertig, schon geheadhuntet worden. Also streng dich an, Daisy, jetzt erwartet Mom das sicher auch von dir.« Er lacht freudig und klopft Andrew auf die Schulter.

Ich möchte mitlachen, wenn auch bloß, um den Schein zu wahren, doch der Laut erstickt in meiner Kehle, und es dringt kein Ton hervor. Stattdessen beiße ich die Zähne so fest zusammen, dass es wehtut, und drehe mich wieder zu dem Regal um.

Du bist ein furchtbarer Mensch.

Ich will so nicht sein. Ich will in der Lage sein, mich für ihn zu freuen. Für die anderen. Sogar für Zoey, so weh es auch tut. Doch das Gefühl, von allem und jedem abgehängt zu werden, frisst mich innerlich auf. Es schluckt die Teile von mir, die Freude für andere empfinden, und lässt nur hässliche, missgünstige Reste zurück.

Andrew brummt etwas in meinem Rücken. Ich verstehe die Worte nicht, aber sie klingen nicht gerade glücklich. Obwohl alles in mir danach schreit, blicke ich nicht über die Schulter, als er mit meinem Bruder nach hinten geht.

Still an meiner Seite im Schatten

»Oh Gott«, stoße ich leise unter zwei stechenden Atemzügen aus. Ich weiß wieder, warum ich nie joggen gehe. Weil ich es nicht kann. Das Runner’s High, von dem immer alle sprechen? Muss eine Lüge sein. Ich fühle mich mehr nach Runner’s Bye, weil ich mit Sicherheit in drei Minuten abkratze. Dass alle anderen im Central Park ein Lächeln im Gesicht und einen Sixpack auf dem Bauch tragen, hilft nicht gerade dabei, mir ein gutes Gefühl zu geben. Mein Gesicht glüht vor Hitze und macht den warmen Sonnenstrahlen Konkurrenz, die New York langsam, aber sicher zu der Sauna verwandeln, die es jeden Sommer ist. Als eine rotblonde Frau im Hamilton-Shirt und ein viel zu gut aussehender Typ mit schwarzen Haaren mich überrunden und mir einen lieben, aber mitleidigen Blick zuwerfen, jogge ich an den Rand des Wegs und lasse mich schnaufend auf die Wiese unter einen Baum fallen. Das dichte Blätterdach spendet ein wenig Schatten, immerhin.

Joggen war Punkt zwei auf der Liste mit dem fragwürdigen Titel »Zehn starke Wege, deine Gedanken zu transformieren«, die ich auf Pinterest gefunden habe. Punkt eins »Konzentriere dich auf das Positive in deinem Leben« war nur mäßig erfolgreich. Ich stoppe die Musik auf meinem Handy und öffne die Liste erneut. »Tagebuch führen« ist Schritt Nummer drei. Es wäre eine Ausrede, mir ein neues Notizbuch zu kaufen. Das wiederum würde meine Stimmung tatsächlich heben. Ich richte mich gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ein Jogger auf mich zukommt. Er ist dunkelblond, groß gebaut und grinst mich an, als müssten wir uns kennen. Eilig gehe ich die Gesichter meiner Kommilitonen durch und verfluche mich, dass ich sie mir nicht doch besser eingeprägt habe. Er kommt zum Stehen und streckt mir eine Hand entgegen.

»Na, hübsche Lady? Ganz allein unterwegs? Brauchst du vielleicht noch jemanden, der dir etwas Ansporn für den Rest der Strecke gibt?« Sein Lächeln nimmt einen süffisanten Zug an. »Ich kenne da eine Abkürzung.«

Hübsche Lady? Was hat es eigentlich damit auf sich, dass ich immer genau dann von Typen angegraben werde, wenn ich so aussehe wie jetzt? Und dann auch noch von solchen. Kein Wunder, dass ich das Dating aufgegeben habe.

»Nein, danke.«

»Komm schon, ein bisschen Unterstützung tut dir sicherlich gut. Du siehst aus, als könntest du sie gebrauchen.« Er lacht über seinen Witz, der eigentlich keiner ist.

»Dein Ernst? Hast du das bei einem Training für Pick-up-Artists gelernt? Wenn du so in Form bist, dann jogg weiter. Schnell. Und möglichst weit bitte.«

Der Typ lässt die Hand sinken und schnaubt. Von seinem Lächeln ist nichts mehr übrig, stattdessen starrt er mit zusammengezogenen Brauen auf mich hinab. In seinen hellblauen Augen liegt ein wütendes Funkeln. »Bildest dir ein, was Besseres zu sein, was? So gut bist du nicht, also …«

»Hey, Daisy!«

Mein Atem verfängt sich in meiner Lunge. Andrew. Genau wie gestern im Laden reicht seine bloße Anwesenheit, um mein Herz heftig zum Pochen zu bringen, dabei dachte ich nicht, dass es nach der Runde durch den Park überhaupt noch schneller schlagen kann. Mein Blick schnellt von dem Typen nach links, wo Andrew gerade über die Grünfläche auf uns zusteuert. Sein schwarzes Shirt betont seine muskulöse Statur, die er dem jahrelangen Basketballtraining zu verdanken hat – im Gegensatz zu mir liebt er Sport. Ich stehe auf und klopfe mir eilig Gras und Erde von der engen Laufhose, doch Andrew widmet mir nicht einmal einen Seitenblick. Seine Brauen sind ebenfalls zusammengezogen, allerdings konzentriert sich seine Wut nicht auf mich, sondern auf den Kerl vor mir.

»Zieh Leine.« Seine Stimme ist ruhig, aber schneidend. Kurz öffnet der Typ den Mund, als wolle er etwas erwidern, dann jedoch scheint er es sich anders zu überlegen. Vermutlich besser so, denn Andrew überragt ihn um einen halben Kopf und sieht nicht gerade aus, als wäre er bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Sein Blick ist unheilvoll und weicht nicht von seinem Gegenüber. Selbst dann nicht, als dieser entschuldigend die Hände hebt.

»Hättest ja auch einfach sagen können, dass du ’nen Freund hast«, murmelt er und joggt endlich weiter.

Hitze schießt mir in die Wangen, die nur noch verstärkt wird, als Andrew mich endlich ansieht. Im Gegensatz zu mir scheint ihn die Erwähnung, dass er mein Freund sei, völlig kaltzulassen.

Natürlich tut es das. Schlag ihn dir endlich aus dem Kopf. Bald ist er weg.

»Unfassbar.« Andrew schüttelt den Kopf.

»Die Vorstellung, einen Mann wie ihn abzulehnen, obwohl ich keinen Partner habe?« Ich sehe ihn mit einem bemüht lässigen Grinsen an. »Wirklich unfassbar.«

Er schnaubt und blickt dem Typen noch einmal hinterher, ehe dieser hinter dem Bethesda Fountain verschwindet. Ich mustere sein Profil. Die Sonnenstrahlen lassen sein Gesicht kantiger wirken, und ich schlucke, weil mein Hals plötzlich trocken wird. Niemand sonst hat eine solche Wirkung auf mich, niemand. Zoey war immer der Ansicht, dass es der Reiz des Verbotenen ist – immerhin hat mein Bruder sowohl seinem besten Freund als auch dem Rest des Basketballteams in meiner Anwesenheit eingeschärft, die Finger von mir zu lassen. Aber ich weiß, dass es mehr ist als das. Leider weiß ich auch, dass ich es dennoch unterdrücken muss. Der Freundschaft zu Andrew aber auch meinem Bruder zuliebe. Die beiden sind seit frühester Kindheit unzertrennlich, genau wie Zoey und ich es waren. Der Gedanke an sie tut weh. Ich könnte mir niemals verzeihen, Andrew und Liam einen solchen Schmerz zuzufügen. Außerdem sind diese Gedankenspiele nun, da er nach Europa auswandert, ohnehin unnütz.

»Du hast mich Daisy genannt.« Die Worte sind raus, ehe ich darüber nachdenken kann. Sie gleiten über meine Lippen, weil Reden besser ist als Schweigen oder diesem Schmerz schon wieder nachzuhängen.

»Ja, so faul, wie du auf der Wiese herumlagst, passt das gerade besser zu dir als Ivy.«

Ich rolle mit den Augen. »Schön, dass du wieder ganz der Alte bist. Als du mir gerade zur Hilfe geeilt kamst, hätte man ja denken können, du magst mich.«

Andrew verspannt sich sichtlich, und ich unterdrücke ein Seufzen. Ist selbst die Vorstellung, in mir mehr als die kleine Schwester seines Freundes zu sehen, so ekelerregend für ihn?

»Keine Sorge.« Ich tätschle ihm den Arm, und seine Muskulatur verkrampft noch weiter. »Ich weiß es natürlich besser.«

»Gut«, erwidert er und räuspert sich. »Was machst du überhaupt hier? Du hasst Sport.«

»Hättest du mir das nicht zwei Stunden früher sagen können? Du hättest mir einiges erspart.«

Andrews tiefes Lachen jagt Schauer über meinen gesamten Körper. Es ist melodisch und ansteckend und schöner als jedes meiner Lieblingslieder. »War das ein verspäteter Neujahrsvorsatz?«

»Nein, Punkt zwei meiner Liste, um mich abzulenken.«

»Von?«

Mist. Ich hätte den Mund halten sollen.

»Dingen.«

»Ivy …« Andrews Blick ist bohrend, und mir ist klar, dass ich jetzt ohnehin verloren habe. Er ist viel zu neugierig, um die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Heute Mittag geht ein neuer Song online«, sage ich ausweichend.

»So wie jeden Samstag. Warst du letzte Woche auch joggen?«

»Glaubst du mir, wenn ich Ja sage?«

»Nein.« Andrews Mundwinkel zucken.

Ich seufze und lasse mich wieder auf die Wiese fallen. Andrew sinkt daneben und lehnt sich an den breiten Baumstamm. Er sieht mich abwartend an, beinahe geduldig, was ihm so gar nicht ähnlich sieht. »Also?«

»Du bist ganz schön nervig, weißt du das?«

Er zuckt mit den Schultern. »Besser als geheimnisvoll zu tun. Also, erzähl.«

»Ich tu gar nicht …«, beginne ich zu protestieren, dann schüttle ich den Kopf. »Egal. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich hab keine Lust, zu Hause zu sitzen, ständig die Website zu aktualisieren und zu schauen, ob Zoey das Video kommentiert.«

Andrews Brauen ziehen sich zusammen, nicht wütend wie vorhin, sondern irritiert. »Aber sie kommentiert doch immer als Erste.«

»Normalerweise«, murmle ich. Das typische Erster!, mit dem Zoey jedes einzelne meiner Videos versehen hat, war ein Running Gag, da sie jeden Song vorab hören durfte. Ihr Kommentar stand, bevor das Video online ging, und die kleine Community, die sich mittlerweile auf meinem Kanal gebildet hat, hat seit einer ganzen Weile einen Wettbewerb am Laufen, wer es schafft, Zweiter! zu schreiben. Die Tatsache, dass einer von ihnen heute den ersten Kommentar tippen wird, beschäftigt mich mehr, als es sollte. Womöglich, weil es dann offiziell ist, dass ich gerade meine beste Freundin verliere.

Andrew mustert mich immer noch. »Was meinst du mit normalerweise?« Sein Blick sinkt zu meinem Handgelenk. Die Stelle, an der sonst mein Armband zu sehen ist, hebt sich weiß von meiner leicht gebräunten Haut ab.

Ich presse die Lippen zusammen und lasse mich wortlos tiefer auf die Wiese sinken, bis mein Kopf im kühlen, leicht feuchten Gras landet. Als Andrew nicht aufhört, mich mit fragendem Blick zu durchbohren, schließe ich die Augen.

»Ivy …« Etwas, vermutlich sein Finger, piekst mich in die Taille. »Komm schon, irgendwas ist los. Du siehst so angefressen aus wie sonst nur an einem Montagmorgen. Was ist zwischen dir und Zoey vorgefallen?«

»Nichts«, bringe ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Sonnenstrahlen, die Muster auf meine geschlossenen Lider malen, stehen in krassem Kontrast zu meiner düsteren Stimmung, die sich gerade mit jeder Millisekunde verschlechtert.

Ich kann ihn seufzen hören. »Du schmollst genauso wie damals mit dreizehn, als du nicht mit Liam und mir ins Kino konntest, weil der Film erst ab sechszehn war.«

»Hör auf.« Meine Stimme klingt flach.

»Weißt du noch? Du warst so lange angefressen, du wolltest ihn danach nicht mal auf DVD schauen, du bist noch genauso stur wie …«

»Hör auf!« Ruckartig setze ich mich auf, mein Herz rast in meiner Brust. Ich weiß, er will mich nur aufmuntern und ablenken, aber es tut so verdammt weh: dass er in mir immer noch dieses dreizehnjährige, kleine Mädchen sieht. Dass sich das nie ändern wird. Dass es nun ohnehin egal ist, weil auch er bald weg ist. Genau wie alle anderen. »Kannst du einmal aufhören, mich wie ein Kind zu behandeln? Ich bin neunzehn verdammte Jahre alt.«

»Dann benimm dich nicht wie eines, und rede mit mir.«

Ich lache auf, mein Puls rast, und meine Atmung geht zu schnell. Was glaubt Andrew, wer er ist? »Denkst du, mich ein Kind zu nennen, führt dazu, dass ich dir irgendwas erzähle?«

Ich springe auf, meine Kleidung ist feucht vom Gras. Andrew tut es mir gleich, und ich hasse, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um seinen Blick zu halten. Er funkelt mich trotzig an.

»Auf die sanfte Art gestern hat es ja nicht geklappt«, gibt er umgehend zurück.

»Ah, und da dachtest du, Beleidigungen sind der bessere Weg?«

»Wenn du mich anders nicht einlässt …«

»Warum sollte ich?«, schnappe ich zurück. »Wozu? Du bist doch ohnehin bald weg.« Ich blinzle, weil meine verräterischen Augen zu brennen beginnen. Ich will mir nicht die Blöße geben und vor ihm losheulen, als wäre ich wirklich das kleine Kind, für das er mich hält. »Warum also die Sorge?«

»Wovon redest du?«

»Von London.«

»Was hat das mit Zoe …«, er hält mitten im Satz inne. Als er weiterspricht, ist seine Stimme ebenfalls lauter. »Darum geht es hier?«

Sichtlich frustriert fährt Andrew sich durch das dunkle Haar, das im Sonnenlicht fast schwarz glänzt. Ich ringe die Schuldgefühle nieder. Er hat kein Recht, wütend zu sein, er ist bald nur ein weiterer Eintrag auf der Liste der Menschen, die es hier rausgeschafft haben. Er kann nicht verstehen, dass es um alles geht.

»Ich geh nicht nach London.«

»Was?«

»Ich hab das Jobangebot abgelehnt. Deshalb bin ich überhaupt hier in der Gegend, ich hab mich mit meinen Eltern zum Frühstück getroffen, um es ihnen mitzuteilen.«

Erleichterung. Sie flutet meinen Körper, dicht gefolgt von heißer, brennender Scham.

Ich will weinen. Ich sollte fragen warum. Ich sollte irgendwas tun, was man nach einer solchen Offenbarung eben so tut. Stattdessen mache ich das genaue Gegenteil: Ich beweise Andrew, dass ich tatsächlich noch ein Kind bin, und laufe weg.

Eine Karte an der Schlafzimmerdecke

Es ist bereits dunkel, als ich endlich nach Hause komme. Im Haus ebenfalls, Mom und Dad sind bei meiner Tante zum Essen eingeladen. Liam wird später auch hingehen, doch ich habe mich mit der Ausrede, lernen zu müssen, abgemeldet. Dieselbe Ausrede habe ich schon benutzt, um mich den Rest des Wochenendes in meinem Zimmer zu verkriechen. Andrew hat mir zweimal geschrieben und gefragt, ob alles okay ist und wir reden wollen, doch ich habe nicht geantwortet. Was auch? Alles, was ich ihm sagen könnte, würde meine Gefühle nur zu deutlich zeigen. Also habe ich das Wochenende damit verbracht, neue Songs aufzunehmen und die Kommentare unter dem aktuellen Video zu lesen. Es gab ein Erster!, und es war nicht von jemandem aus der Community.

Mein Herz klopft schneller bei der bloßen Erinnerung. Es war Andrew. Ich habe keine Ahnung, ob er es tatsächlich geschafft hat, das Video als Erster zu kommentieren, oder ob er sich zunutze gemacht hat, dass die anderen es schon gar nicht mehr versuchen. Aber er hat den Song gehört – und er hat mich trotz allem, was gerade vor sich geht, zum Lächeln gebracht.

Ich schalte das Licht im Flur ein und kicke die Sneakers von meinen Füßen, dann nehme ich die Treppe nach oben. Jedes Knarzen der Dielen ist mir vertraut, ebenso die Rillen des hölzernen Geländers. Sosehr ich die Veränderungen in meinem Leben gerade stoppen möchte, sosehr wünsche ich sie mir hier. Ich wäre am liebsten direkt zu Beginn des Studiums ausgezogen, doch selbst mit meinem Stipendium sind die Mietpreise unmöglich zu zahlen. Nicht mit dem wenigen Geld, das ich bei Liam und beim Kellnern verdiene. Meine YouTube-Videos und TikToks werfen ein bisschen was ab, doch das reicht gerade einmal, um meinen Gitarrenunterricht zu finanzieren. Also wird das vertraute Knarzen der Dielen mich auch noch die nächsten Jahre begleiten.

Die Hand bereits an der Klinke, will ich gerade die Tür zu meinem Zimmer öffnen, als ich innehalte. Irgendetwas ist anders. Doch nicht auf diese altbekannte und vertraute Art. Ich brauche einen Moment, um zu registrieren, was es ist: Das Schild an meiner Tür, das ich vor Jahren gebastelt habe, damit mein Bruder aufhört, einfach so mein Zimmer zu betreten, ist herumgedreht. Es steht nicht wie sonst auf »Come in«, stattdessen steht in roten fetten Lettern »Privacy« dort. Dabei habe ich diese Seite seit Liams Auszug nicht mehr genutzt. Irritiert drehe ich es herum, dann stoße ich endlich die Tür auf – und stutze schon wieder.

»Was zur …?«

Sanftes Licht, leise Musik, der Geruch von Duftkerzen und frischer Farbe – und Andrew, der auf meinem Boden kniet. Sein Blick trifft meinen, und mein Herz setzt für einen Moment aus. Andrew war seit Ewigkeiten nicht mehr in meinem Zimmer. Und wenn, dann um mich aufzuziehen, mir zu sagen, dass ich dringend aufräumen soll, oder mich mit sonst irgendetwas zu nerven. Das Bild hier, er inmitten der Kerzen, das passt nicht zusammen.

»Du bist früher da, als ich dachte.« Andrew wedelt wie wild mit der Hand, sodass das brennende Streichholz zwischen seinen Fingern erlischt. Der Duft nach verbranntem Holz und Schwefel, der mich an Weihnachten erinnert, vermischt sich mit den anderen. Andrew steht auf und macht einen Schritt auf mich zu. Ich hingegen verharre immer noch stocksteif in der Tür, unsicher, was ich tun soll. Er wischt die Hände an der Jeans ab und wirkt seltsam nervös. Wider Erwarten muss ich auflachen, weil das Szenario zu abstrus ist. Ich hab ihn noch nie nervös erlebt, normalerweise ist er das Selbstbewusstsein in Person. Nun jedoch liegt in seinen braunen Augen ein beinahe fragender Ausdruck, dabei bin ich diejenige mit den etlichen Fragezeichen im Kopf.

»Was machst du hier?« Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, der definitiv mein Zimmer ist, aber so viel gemütlicher aussieht, als ich ihn verlassen habe. Die Vorhänge sind zugezogen, überall sind Kerzen verteilt und meine Lichterkette am Bett ist eingeschaltet, sodass warmes Licht den Raum erhellt. Auf meinem Nachttisch … Ich runzle die Stirn. »Ist das ein Beamer?«

»Ja.«

Ich hebe die Brauen, warte, dass er weiterspricht, doch er tut es nicht.

»Okay, ich formuliere es um: Warum steht da ein Beamer? Was ist das? Warum die Kerzen?«

Seine Miene wird ernst, und ich meine, Unsicherheit darin zu erkennen. Seltsam. Andrew mag vieles sein, aber unsicher? Ob es an meiner Aktion gestern lag?

»Ich hab Zoeys Post gesehen«, sagt Andrew. Seine Stimme ist sanft, sein Blick weich. Ich habe das Gefühl, ich sollte das Mitleid darin hassen, doch ich tue es nicht. Ich habe keine Lust mehr, kleinzureden, wie beschissen sich alles anfühlt. Also nicke ich nur.

»Es tut mir leid, dass du nicht mit ihr nach Paris konntest. Oder mit den anderen nach Kanada.«

Erneutes Nicken, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll – und noch weniger, was hier gerade passiert. Ich spüre mein Herz heftig in meiner Brust pochen, als wolle es all das Zögern und die Angespanntheit zerschlagen. Halluziniere ich vielleicht? Ich habe echt wenig geschlafen, denkbar wäre es.

»Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber ich dachte …« Er hebt die Schultern, und auch in dieser Geste und der Art, wie er den Blick durch mein Zimmer schweifen lässt, liegt Unsicherheit. Es verwirrt mich, ihn so zu sehen. Kein flapsiger Spruch, kein Witz, um der Situation die Tiefe zu nehmen. Stattdessen räuspert er sich, geht zu meinem Schreibtisch und holt eine Flasche Weißwein aus einem Kühler. Ich blinzle, doch das Bild verändert sich nicht. Andrew schraubt den Korken aus der Flasche, bis er sich mit einem lauten Plopp löst.

»Champagner?« Ich muss lachen, da der kleine orange Aufkleber mit dem Preis darauf verrät, dass es sich definitiv nicht um Champagner handelt, doch ich spiele mit.

»Gern, wollte ich schon immer mal probieren.«

Andrews Mundwinkel heben sich. »Hervorragend.« Er gießt etwas Wein in die beiden Sektgläser, die er aus der Küche geholt haben muss, und reicht mir eines davon. »Cheers.«

Ich stoße mit ihm an und probiere einen Schluck. »Witzig. Wer hätte gedacht, dass Champagner genauso schmeckt wie mein Lieblingswein aus dem 7-Eleven.«

»Lustiger Zufall«, erwidert Andrew und schafft es im Gegensatz zu mir, seine ernste Miene zu wahren. »Aber es ist definitiv Champagner. Importiert aus Frankreich. Gemeinsam mit diesen hier.« Er deutet auf ein kleines Tablett, auf dem sich eine Packung Macarons befindet.

»Andrew … was wird das hier?«, frage ich und schwanke zwischen ungläubigem Lachen und – schon wieder – Heulen. Ich entscheide mich für Variante Nummer eins, denn ich habe verdammt noch mal genug geweint in den letzten Tagen.

»Ich dachte, wenn du nicht nach Paris kannst, holen wir Paris eben zu dir. Und Kanada.« Er zückt eine kleine Fernbedienung aus seiner Jeanstasche und schaltet den Beamer ein. Im nächsten Augenblick befindet sich der Eiffelturm in meinem Zimmer, direkt auf meinen weißen Vorhängen, deren Enden ich schon seit Monaten kürzen will.

»Wenn du dich bitte setzen würdest, wir haben Programm.«

»Programm?«, hake ich nach, doch Andrew antwortet nicht, sondern deutet nur mit ausladender Geste auf mein Bett. Immer noch zu perplex, um irgendetwas zu hinterfragen, folge ich der Aufforderung und lasse mich darauf fallen. Andrew schnappt sich das Tablett, dann kommt er ebenfalls herüber und setzt sich, mit etwas Abstand, auf die Matratze.

Andrew ist in meinem Bett. Mit mir.

Holy shit.

Mein Herz klopft nicht länger in meiner Brust, sondern in meinem gesamten Körper. Jede einzelne Zelle vibriert vor Aufregung,

Atmen, Daisy.

Ich zwinge mich, einen zittrigen Atemzug zu nehmen. Durch den Nebel in meinem Kopf dringt erneut der Geruch von Farbe. Stärker nun. Irritiert sehe ich mich um, bis mein Blick nach oben gleitet.

»Was …«, murmle ich schon wieder und schüttle den Kopf. An meiner Zimmerdecke befindet sich eine gezeichnete Weltkarte. In Beige- und Rosatönen gehalten passt sie farblich perfekt in mein Zimmer. Ich stelle mein Sektglas auf meinem Nachttisch ab und klettere auf das Bett, um die Karte besser betrachten zu können. Die Länder sind farblich voneinander abgehoben. Mein Blick gleitet über Europa, über Frankreich, wo Zoey in diesem Moment ist. Dann zu Kanada, wo der Rest unserer Clique verweilt – und dann nach unten, abgelenkt von etwas Schimmerndem. Auf New York, wo wir uns gerade befinden, klebt ein kleiner goldener Punkt. Ich streiche mit dem Finger darüber. Er ist nicht gemalt, sondern tatsächlich aufgeklebt. Ich entdecke noch einen, ganz im Westen, in Oregon. Und dann einen weiteren in Washington. »Du hast die Orte markiert, an denen ich schon war«, flüstere ich so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob Andrew es überhaupt hören kann. Doch irgendetwas muss er gehört haben, denn ich spüre am Nachgeben der Matratze, dass er sich aufrichtet, noch bevor er sich neben mich stellt.

»Hast du das gemalt?«

»Ja. Und keine Sorge, ich hab weiße Farbe gekauft, wenn du sie nicht magst und …«

»Ich liebe sie«, sage ich leise und will mit dem Finger den Rest der Karte nachfahren – als mein Atem plötzlich stockt. Andrew hält meine Hand. Ich schlucke, mein Blick fliegt zu ihm, trifft auf dunkelbraune Augen, und Hitze schießt mir in den Bauch, die Wangen, überall hin.

»Die Farbe ist noch feucht.«

»Oh.« Ich blinzle. Als Andrew meine Hand loslässt, fühlt sie sich seltsam kalt an. »Natürlich.«

Eine Weile stehen wir beide schweigend nebeneinander und blicken in Richtung Decke. »Sie ist so leer.«

»Noch«, erwidert Andrew, da ist so viel Zuversicht in seiner Stimme, dass es in meiner Brust zieht. Ich wünschte, ich könnte sie ebenso empfinden. Er bringt mich ins Wanken, indem er zu meinem Schreibtisch läuft, während mein Blick weiter über die einzelnen Länder schweift. Ich kann nicht glauben, dass Andrew sie gemalt hat. Nicht, weil er nicht malen kann – das konnte er schon immer –, sondern weil das bedeutet, dass er heute in meinem Zimmer war, sich die Zeit genommen hat.

»Hier.« Etwas Schimmerndes schiebt sich in mein Sichtfeld. Noch mehr Sticker. Als ich sie Andrew aus der Hand nehme, muss ich lachen. »Das sind drei Packungen. Gab’s Mengenrabatt?«

»Du wirst sie alle brauchen.«

Ich seufze, aber es ist keiner dieser schweren, finalen Seufzer. Gerade fühlt sich alles okay an. »Wohl kaum.«

»Ivy …«

Etwas berührt mich am Oberarm. Warm, sanft. Mein Körper reagiert wie auf Kommando und beginnt zu prickeln.

»Du bist neunzehn.«

»Wenn das jetzt wieder ein Vortrag darüber wird, dass ich mich wie ein Kind verhalte, habe ich keine Hemmungen, noch ein weiteres Mal wegzulaufen.«

»Kein Ding, dann bleib ich. Dein Zimmer ist sowieso gemütlicher als meine Wohnung.«

Wider Erwarten muss ich schon wieder lachen. Mit jedem Laut, der sich aus meiner Brust löst, wird der Druck darin weniger.

»Was ich sagen will: Du bist neunzehn. Dein Leben fängt gerade erst an. Unser Leben fängt gerade erst an. Du hast noch so viel Zeit, all diese Orte zu erkunden. Vielleicht wirst du wirklich Zahnärztin, behandelst nur Privatpatienten, machst deine Praxis mit 35 dicht und eine Weltreise. Vielleicht geht einer deiner Songs auf TikTok viral und du gibst Konzerte in Europa.« Ich lache wieder, halte jedoch inne, als er nicht mit einsteigt. »Ich meine das ernst. Dir steht die gesamte Welt offen. Irgendwann wirst du auf diese Karte gucken und neue Sticker brauchen.«

»Na ja, das hier sind dreihundert Aufkleber und es gibt nur rund zweihundert Länder auf der Welt, also …«

Andrew rollt mit den Augen, so wie ich es sonst bei ihm tue. »So verpeilt wie du bist, verlierst du zwei Packungen, die anderen sind Back-up.«

»Hey!«, protestiere ich und setze an, ihn zu schubsen, doch Andrew schnappt sich erneut meine Hand. Dieses Mal lässt er nicht los. Mein Protest erstirbt auf meiner Zunge, und meine Kehle wird trocken, als mir klar wird, wie nah wir beieinanderstehen.

Reiß dich zusammen.

Ich wiederhole die drei Worte wie ein Mantra, so wie ich es immer tue, doch sie werden schwächer und schwächer mit jeder Sekunde, die seine raue Hand meine berührt. Sein Blick ist intensiv und weicht nicht von meinem, und plötzlich beginne ich wie von selbst zu reden.

»Es tut so verdammt weh, wenn alle anderen dich überholen und du zurückbleibst.« Die Worte brennen heiß in meiner Kehle, dennoch bin ich froh, dass sie heraus sind. »Ich will es den anderen ja gönnen, mich für sie freuen, aber …« Ich hebe die Schultern. »Ich hab einfach das Gefühl, alle kommen voran, und ich dreh mich einfach nur im Kreis.«

Andrew bleibt stumm, hält weiter meine Hand und gibt mir den Raum, all das, was sich viel zu lange in mir angestaut hat, rauszulassen.

»All meine Freundinnen sind weg. Sie erleben Abenteuer, wachsen, lernen neue Länder kennen, neue Menschen …« Wie von selbst schiebt sich das Bild von Zoey mit der blonden Frau vor mein inneres Auge. »Meine weiteste Reise war nach Oregon. Dort über uns sind nur drei Punkte. Als ich noch klein war, dachte ich immer, das ändert sich einmal. Klar, wir hatten kein Geld zum Reisen, aber ich hab fest daran geglaubt, dass ich irgendwann erwachsen bin und arbeite und alles sich ändert. Jetzt hab ich immer mehr das Gefühl, dass das nur eine Lüge ist, die wir uns erzählen, um weiterzumachen. Ich studiere etwas, das ich nicht mag, und dann? Arbeite ich in einem Job, den ich nicht mag. All das, was du eben genannt hast? Die Weltreise, Konzerte in anderen Ländern …« Ich lächle, und die Wehmut brennt ein Loch in meine Brust. »Denkst du, davon träume ich nicht jede Nacht? Dabei ist es genau das: ein Traum.«

»Daisy.« Mein Name, mein echter. Andrews Finger streicht sanft über meine Handfläche. »Du hast Zeit. Gib sie dir.«

Ich dachte, ich wüsste alles über Andrew. Was ich jedoch nicht wusste, war, wie sich seine Haut anfühlt, wenn es mehr als eine flüchtige Berührung ist. Ich wusste nicht, dass in seinen dunkelbraunen Augen noch dunklere Sprenkel sind. Ich wusste nicht, dass mein Herz noch heftiger pochen kann, als es das ohnehin schon tut, wenn er den Raum betritt.

Andrews Blick hält meinen gefangen, und ich kann beobachten, wie sein Adamsapfel hüpft, als er schluckt. Dann unterbricht er den Blickkontakt und räuspert sich.

»Und sei verdammt noch mal nicht so streng mit dir, sonst hab ich bald Hemmungen, dich aufzuziehen, wenn du dich selbst schon so fertigmachst.« Seine Hand sinkt, meine mit ihr, dann lässt er sie los und läuft zu seinem Laptop, der anscheinend mit dem Beamer verbunden ist. Ich bleibe auf dem Bett stehen und sehe ihm dabei zu, wie er auf der Tastatur herumtippt. Normalerweise sollte ich froh sein, dass er die Situation mit einem lockeren Spruch entspannt hat, doch ich fühle mich seltsam.

Gut, endlich alles ausgesprochen zu haben.

Leer, weil in mir so lange nur angestaute Wut war.

Hoffnungsvoll, wenn auch nur ein wenig. Denn wenn Andrew diese Wege sieht – was, wenn sie wirklich existieren?

Wir waren in Paris

»Bereit?«, fragt Andrew, als wir kurz darauf wieder nebeneinandersitzen. Sekt und ein Pistazien-Macaron auf meinem Schoß, der Laptop auf Andrews. Ich versuche, einen Blick darauf zu erhaschen, doch er dreht ihn eilig zur Seite. »Vergiss es! Kannst du nicht einmal eine Überraschung genießen?«

»Es war schon Überraschung genug, dich in meinem Zimmer zu sehen, stell dir vor, ich hätte nicht aufgeräumt oder Unterwäsche herumliegen gehabt.«

Für einen Moment wirkt Andrew perplex, so als sei ihm dieser Gedanke gar nicht gekommen. Bilde ich mir das ein, oder röten sich seine Wangen?

»Ich kenne ja deinen Ordnungstick, also …« Er macht eine wegwerfende Handbewegung, doch seine Stimme klingt jetzt rauer. Ist ihm die Vorstellung unangenehm oder … Ich betrachte sein Profil. Jap, seine Wangen sind eindeutig gerötet.

Da ist schon wieder dieses leise, hoffnungsvolle Gefühl in meiner Brust.

Was, wenn …

»Mach dich bereit für Reise Nummer eins«, unterbricht Andrew meine Gedanken. »Wir starten in Vancouver.«

Bevor ich nachhaken kann, was er damit meint, erklingt Jills Stimme. »Daisy!« Mein Kopf schnellt nach vorn in Richtung Fenster, wo Jills Gesicht zu sehen ist. Durch die Falten der Gardine ist es leicht verzerrt, trotzdem krampft mein Herz, als ich die vertrauten, sommersprossigen Züge erblicke. »Wir sind gerade in Vancouver angekommen!« Sie dreht die Kamera so, dass ich die Skyline sehen kann. Offensichtlich ist sie gerade in einem Hotel oder Hostel.

»Und wir haben dir schon etwas gekauft!« Gina drängt sich ins Bild und reckt eine kleine Papiertüte in die Höhe. Ihre sonst so blasse Haut hat etwas Farbe abbekommen.

»Verrat ihr das doch noch nicht«, tadelt Jill, und ihre grünen Augen funkeln verärgert.

»Ich sag doch nicht, was drin ist.« Bei Ginas trotzigem Tonfall muss ich lachen.

Jill positioniert sich so, sodass auch Dareene und Mali zu sehen sind. Die beiden winken in die Kamera. »Gott, mein Arm ist zu kurz«, meint Jill, die sichtlich Mühe hat, alle vier gleichzeitig im Bild zu behalten.

»Und zu schwach«, sagt Mali. »Du wackelst voll.«

Gott, ich vermisse sie alle. Ich habe gar nicht bemerkt, wie sehr mir unsere Schlagabtausche und Kabbeleien, die seltsamen Gespräche und die durchgemachten Nächte in den letzten Wochen gefehlt haben.

»Ein Grund mehr, warum es noch viel besser wäre, wenn du dabei wärst, Daisy«, sagt Dareene und wirft sich das dunkle Haar über die Schulter. »Du hättest sicher ein Stativ mitgenommen.«

»Du fehlst uns!«, sagt Jill ebenfalls, und die Worte sind Balsam für meine Seele. Die vier geben mir eine kurze Zusammenfassung der letzten Tage, und auch wenn sie mich die gesamte Reise über mit Bildern versorgt haben, ist es irgendwie etwas anderes, das Ganze aus ihren Mündern zu hören. Bilder zeigen nur Momentaufnahmen, nicht die lustigen Erlebnisse dazwischen, die neue Insider schaffen, aus denen ich mich sonst mit Sicherheit ausgeschlossen gefühlt hätte.

»Ich hoffe, du passt gut auf New York auf«, sagt Gina nach einigen Minuten. »Wenn wir wieder da sind, feiern wir unsere Reunion ganz groß im Stammcafé.«

»Es ist super weird, das aufzunehmen, ohne dass du antwortest«, meint Jill. »Keine Ahnung, wie du das bei TikTok und YouTube immer hinkriegst. Aber na ja. Andrew hat versprochen, er schneidet es, wenn wir es zwischendrin verkacken, von daher … viel Spaß damit. Bis bald!«

»Wir lieben dich!«, ruft Mali und wirft mir eine Kusshand zu. Dann endet das Video. Ich starre noch einige Sekunden auf die Gardine, auf der aktuell ein Standbild von Vancouver zu sehen ist, dann erst drehe ich mich zu Andrew um, dessen Blick bereits auf mir ruht. Wie lange schon?

»Du hast die vier kontaktiert?«, frage ich, und meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

Er nickt. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Danke.«

Ein guter Anfang und doch lange nicht genug.

»Du kannst dich am Ende bedanken.«

»Da ist noch mehr?«

Anstelle einer Antwort öffnet Andrew ein weiteres Video. Als ich den Eiffelturm im Hintergrund sehe, schießen Tränen in meine Augen, noch bevor Zoey im Bild erscheint. Meine Finger krallen sich wie von selbst in die Bettdecke unter mir.

»Hey, Süße.« Sie klingt so glücklich. Selbst bei diesen beiden kurzen Worten. Mein Herz wird schwer, weil ich all das beim Betrachten der Fotos und Nachrichten nicht bedacht habe. Wie gut es ihr damit gehen muss, dass sie ihren Traum wahr gemacht hat. »Ich hoffe, dir geht’s gut. Ich wünschte, wir könnten gerade gemeinsam hier stehen. Vor allem, weil ich es vermisse, Englisch mit jemandem zu reden, mein Französisch ist so viel schlechter, als ich dachte. Als ich mit den anderen essen war und was von Food Baby meinte, dachten alle, ich wäre schwanger.«

Ich lache auf, weil ich mir Zoey in diesem Szenario nur zu gut vorstellen kann.

»Ich habe natürlich nicht verstanden, warum alle so schockiert geguckt haben, und so hat sich das Gerücht eine Woche lang gehalten – und verbreitet. Eine Kommilitonin hat mir die Tage schockiert den Rotwein aus der Hand geschlagen, als wir abends weg waren.« Sie schmunzelt bei der Erinnerung, und ich lächle mit. Es tut nach wie vor weh, nicht Teil dieser Momente sein zu können. Aber immerhin verpufft die glühende Wut nach und nach. »Na ja, ich hab mittlerweile alles aufgeklärt, hoffe ich, und mich noch mal für einen Auffrischungskurs an der Uni angemeldet, kann nicht schaden.« Sie kommt ein Stück näher an die Kamera heran. »Es tut mir leid, dass ich mich gerade so wenig melde. Lass uns unbedingt facetimen. Es war nur so viel zu tun und … Ich vermisse dich ganz schrecklich.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Andrew schneid das raus, wenn es noch ’ne Überraschung sein soll, aber …« Ihre Mundwinkel heben sich, und ich sehe von ihr zu Andrew, der mir mit einem Nicken bedeutet, Zoey weiter zuzuhören. »… wir sehen uns vielleicht früher wieder, als du dachtest.«

Ihr Grinsen ist das Letzte, was ich sehe, bevor das Video endet. Vor mir ist der Eiffelturm. Dieses Mal kein Standbild, sondern ein Video. Er funkelt im Halbdunkel.

»Was meint sie?«, frage ich und drehe den Kopf langsam zu Andrew. Er hat den Laptop weggestellt. Wortlos reicht er mir einen weißen Umschlag. Es steht nichts darauf, und er ist nicht zugeklebt. Als ich den Inhalt daraus hervorziehe, weiten sich meine Augen. Ich lese die Worte darauf mehrmals und habe doch Schwierigkeiten zu begreifen, was ich in den Händen halte.

»Das … sind Flugtickets«, sage ich, wie um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht täusche. »Echte?«

»Nein. Ich mach das hier alles, um dir eins auszuwischen, und hab sie gefälscht.«

»Das ist einer dieser Momente, die du nicht mit deinen Sprüchen kaputt machen kannst«, sage ich leise und streiche über das Papier, nach wie vor fassungslos. Ich habe ein Flugticket. Nach Paris. Ich kontrolliere das Datum auf dem Rückflug. Zehn Tage.

...

Autor