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Mademoiselle Coco und die Entführung des Picasso

Als Buch hier erhältlich:

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Paris in Aufruhr – Mademoiselle Coco ermittelt!

Paris in den 1910er Jahren: eine Stadt voller Magie, Glanz und Künstler aus aller Welt– und eine Metropole der Halbwelt. Es herrscht große Aufregung, als in der Nähe von Coco Chanels Atelier ein Toter gefunden wird. Dann verschwinden Frauen, und Coco bangt um das Leben ihres Geliebten, eines britischen Millionärs. Schnell stellt sie fest, dass auch der ehrgeizige Pablo Picasso in kriminelle Machenschaften verstrickt ist. Führen die Spuren des Verbrechens zu ihm? Die kluge Modeschöpferin lässt nichts unversucht, um zur Aufklärung beizutragen, und entdeckt dabei so manches Geheimnis.


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907137
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Diese Geschichte ist ein Märchen.
Sie handelt von historischen Personen und beruht in Teilen auf wahren Begebenheiten, ist aber insgesamt ausschließlich ein Produkt meiner Fantasie.

PROLOG

Durch die Ritzen der geschlossenen Läden drang nur spärliches Licht, die Schatten warfen Streifen auf ihr Lager wie die Gitterstreben vor einem Gefängnis.

In dem Haus war es so still, als hätte man sie allein zurückgelassen. Kein Laut drang aus den Fluren und Räumen in ihr Zimmer.

Anders der Lärm vor ihrem Fenster. Auf der Straße hatten sich anscheinend große Gruppen aufgeregter Menschen versammelt. Der Klang der Stimmen ließ wütende Proteste vermuten, doch in den Raum wehte nur der Zorn, kein Wort war zu verstehen. Irgendjemand stimmte »Die Internationale« an, das alte französische Kampflied, das für die Pariser Kommune geschrieben worden war. Sie erkannte diese Melodie ebenso wie die Töne des Vorkriegschansons »Bonsoir, mon amour«. Im nächsten Moment schrillten Trillerpfeifen …

Polizei!

Sie wünschte verzweifelt, sich bemerkbar machen zu können. Sie lauschte und konnte nichts tun, um sich zu retten. Bewegungslos lag sie auf dem Bett, ihre Handgelenke waren mit Seidenbändern an die massiven Pfosten des altmodischen Himmelbetts gefesselt. Vorhin hatte sie um Hilfe gerufen, bis ihre Stimme brach und nur noch ein Flehen daraus wurde. Niemand hörte sie.

Es war wie Folter: Ihre Entführung und die Einsamkeit in diesem heruntergekommenen Haus waren schlimm genug, die Demonstration anhören zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass sich eine große Menschenmenge nur durch die Mauer getrennt von ihr aufhielt, aber niemand da war, der sie befreien würde, steigerte ihre Verzweiflung noch. Der Tränenstrom, den sie bisher aus Stolz zurückgehalten hatte, begann, über ihre Wangen zu fließen.

Je lauter es draußen wurde, desto mehr schluchzte sie. Nach ein paar keuchenden Atemzügen ging ihr durch den Kopf, was aus ihr werden würde, wenn die Polizei ihre Entführer verhaftete. Nicht als Kriminelle an sich, sondern als linke Demonstranten. Gewiss würde kein Mann zugeben, der unter diesen Umständen auf der Präfektur landete, dass er weitere Straftaten begangen hatte. Wie lange würden die Männer dann in Gewahrsam bleiben? Nahmen sie den Tod ihres Opfers in Kauf, wenn sie nicht gefunden würde und verhungerte, verdurstete – oder was auch immer …?

Ihr Schluchzen verwandelte sich in ein hysterisches Gelächter.

Draußen fielen Schüsse.

1

Paris, Frühling 1916

1

»Die Deutschen kommen!«

Der gellende Schrei folgte auf einen dumpfen Knall auf der Rue Cambon, der die Fensterscheiben zum Innenhof von Haus Nummer einundzwanzig erzittern ließ.

Vor Schreck stach sich Gabrielle Chanel mit einer Stecknadel in den Finger. »Au!«

Die eben noch geschäftig ratternden Nähmaschinen in dem kleinen Atelier standen plötzlich still. Einen Atemzug lang herrschte beklemmende Ruhe. Dann setzte ein aufgeregtes Stimmengewirr ein, die Schneiderinnen und Putzmacherinnen wussten nicht recht, wohin sie zuerst schauen sollten – zu der schreienden Kollegin, dem Fenster, der Tür zum angrenzenden Hutgeschäft oder zu ihrer Chefin, die den Zeigefinger zwischen ihre blutrot bemalten Lippen steckte und daran saugte wie ein Säugling.

Einer wogenden Welle gleich strömten die Frauen an den Durchgang, sowohl neugierig als auch ängstlich oder gar sensationsgierig. In ihren weißen Kitteln schienen sie zu einer Masse zu verschmelzen, weil möglichst alle freie Sicht haben wollten auf das, was da kommen mochte – vor allem, wenn es die Boche waren.

Tatsächlich betrat ein sehr attraktiver Mittdreißiger in britischer Uniform den Laden und strebte auf die Verbindungstür zu, wo die zappeligen jungen Frauen sofort eine Gasse für ihn bildeten.

»Zurück an die Arbeit!«, kommandierte Gabrielle ihre Mitarbeiterinnen. »Vite, vite!« Und an die aufgelöste junge Näherin fügte sie empört hinzu: »Was schreist du so herum, Magali? Du hättest beinahe die Schwesterntracht der Comtesse d’Argentan ruiniert.« Sie meinte, dass ihr eigenes Blut einen kaum zu entfernenden Flecken auf dem weißen Batist des Oberteils hätte hinterlassen können. Und das nur, weil Magali sich vor den feindlichen Truppen des deutschen Kaisers, die rund achtzig Kilometer vor Paris lagen, offenbar mehr fürchtete als vor dem Zorn ihrer Chefin.

»Keine Aufregung, Desmoiselles.« Der Ton des Offiziers war charmant, sein Französisch exzellent: »Der Knall rührte nicht von einem deutschen Geschütz, es war nur eine Fehlzündung meines Automobils.«

Obwohl Gabrielle versuchte, ihre Angestellten mit einem strengen Blick an die Nähmaschinen zurückzubeordern, blitzten ihre Augen angesichts ihres Geliebten und Geschäftspartners auf. »Bonjour, mon capitaine«, grüßte sie den Hauptmann, und ihre Stimme wurde noch eine Nuance tiefer als sonst. »Wie schön, dass du wieder in Paris bist.«

»Den Fronturlaub habe ich Monsieur Clemenceau zu verdanken«, erklärte Arthur Capel, von seinen Freunden und Freundinnen Boy genannt, strahlend.

Ohne seine überraschende Nachricht zu kommentieren, wies Gabrielle mit einer eleganten Geste auf die Tür zu dem abgetrennten Teil des Hinterzimmers, der ihr als Büro diente. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass alle Angestellten wieder an ihre Arbeit zurückgekehrt waren. Zufrieden schloss sie den Eingang und zog anschließend sorgfältig die blickdichten Vorhänge vor die Glasfront, die sie und Boy von den Näherinnen trennte. Erst als sie sicher war, unbeobachtet zu sein, warf sie die Arme um den Mann, der ihr gefolgt war. Endlich küsste er sie. Es war der leidenschaftliche Auftakt ihres Wiedersehensrituals, das ihre Hände mit rascher Entschlossenheit zu seiner Hose wandern ließ. Seit Kriegsbeginn und Boys Einberufung zur British Expeditionary Force mussten die wenigen Stunden seines Urlaubs gut genutzt werden. Sie hob ein Knie zu seiner Hüfte und dankte sich selbst für den Einfall, einen schlichten Rock entworfen zu haben, der den Frauen zu größtmöglicher Bewegungsfreiheit verhalf.

Sanft schob er sie von sich. »Wir haben Zeit, Coco. Georges Clemenceau hat mir ein paar Tage Ferien bewilligt.«

»Was hast du mit dem Präsidenten der französischen Armeekommission zu tun?«, fragte sie erstaunt, während sie sich über ihren Sekretär beugte, um aus einem Etui zwei Gitanes zu nehmen. Diese schob sie sich zwischen die Lippen und zündete die Zigaretten mit ihrem Feuerzeug an. Dann reichte sie eine der beiden an Boy weiter.

Nach einem Lungenzug antwortete er: »Der Alte schätzt mich, unser Humor ist ähnlich. Wir haben Freundschaft geschlossen.«

»Wie das denn? Er könnte dein Großvater sein, nicht wahr? Clemenceau muss vierzig Jahre älter sein als du!«

»Monsieur ist im Geiste jung geblieben.« Boy schmunzelte, versank kurz in seinen Gedanken, bevor er fortfuhr: »Wir begegneten uns am Rande der Frontlinie. Trotz seines Alters besucht Georges Clemenceau regelmäßig die Soldaten in den Schützengräben ebenso wie die Offiziere in der Etappe. Fein herausgeputzt, du wirst es nicht glauben, in einem schwarzen Rock, als hielte er eine Rede vor der Nationalversammlung, aber mit einem komischen, fürchterlich abgetragenen Filzhut auf dem Kopf. Wenn du nicht nur Modistin für Damen wärst, würde ich ihn zu dir schicken.«

»Nun, damit ist geklärt, dass ich ihn kaum kennenlernen dürfte. Aber wie bist du zu der Ehre gelangt?«

»Er kam auf einen Überraschungsbesuch vorbei, als meine Einheit neben einem französischen Corps an der Kampflinie in Ruhigstellung lag. Niemand hatte damit gerechnet. Und mir war langweilig, verstehst du? Die Franzosen spielen in solchen Momenten Belote oder Tarot, trinken, singen melancholische Lieder oder schreiben irgendetwas – ich organisierte ein Polospiel für meine Männer.«

»Du hast an der Front Polo gespielt?«, wiederholte sie fasziniert.

Ein unbefangenes Grinsen glitt über sein Gesicht. »Ich bin Kavallerist.« Er war offensichtlich sehr stolz auf sein Regiment.

»Und dann?«

»Natürlich waren alle ganz aufgeregt.« Er zog an seiner Zigarette, und der Qualm umwölkte kurz seinen Schnauzbart. »Die französische Delegation betrachtete ein Polospiel wohl als Affront. Hinter vorgehaltener Hand wehten mir die ersten despektierlichen Kommentare entgegen. Nicht von Monsieur Clemenceau. Er brach in schallendes Gelächter aus, fand den Sport großartig und nannte mich ›einen verflixten Engländer‹. Voilà! Jetzt gehöre ich zu den persönlichen Beratern des Präsidenten der französischen Armeekommission.« Er verneigte sich leicht.

»Oh!«

Er küsste sie zärtlich auf den Mund. »Diese Verbindung eröffnet mir neue gesellschaftliche, politische und finanzielle Möglichkeiten. Du wirst noch staunen. Jedenfalls sind wir heute Abend zum Dinner bei Cécile Sorel. Ausnahmsweise hat sie mich zuerst eingeladen. Mach dich hübsch! Es ist dort ein Treffen zwischen mir und Józef Retinger vorgesehen, diesem brillanten Literaten und Politiker aus Krakau, und du weißt, die Polen lieben schöne Frauen.«

»Habe ich dich jemals enttäuscht?«

»Nein. Noch nie. Bis dahin habe ich noch einige Besorgungen zu erledigen. Wir sehen uns nachher …«

Während er sprach, hatte Gabrielle, ohne den Vorhang aufzuziehen, die Tür geöffnet. Zuerst fiel ihr ein Schatten auf, dann die hektische Magali, die an ihren Arbeitsplatz eilte. Hatte die junge Näherin etwa versucht, Gabrielles Gespräch zu belauschen? Warum nur? Es kam selten vor, dass sie und Boy in dem Hinterzimmer eine so bedeutsame Unterhaltung führten …

Ich werde das Mädchen im Auge behalten, fuhr es Gabrielle durch den Kopf. Ein seltsam beklemmendes Gefühl ergriff sie.

2

Bei dreihundert Angestellten, vornehmlich Näherinnen in Heimarbeit, vergaß Gabrielle die Verfehlungen einer einzelnen Mitarbeiterin zwar nicht, aber Magalis Verhalten beschäftigte sie nicht für den Rest des Tages.

Die Kundinnen nahmen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, allen voran Madame Grosjean, eine geborene Comtesse, die einen schwerreichen Industriellen geehelicht hatte. Dessen Mätresse, eine bekannte Opernsängerin, kaufte ebenfalls bei Chanel ein, weshalb Gabrielle ihre Konzentration darauf legen musste, den Damen nicht dieselben Modelle zu verkaufen. Heute führte Madame zudem ihre Tochter ein: »Amélie hat sich in den Kopf gesetzt, in dem Lazarett im Grand Palais zu arbeiten. Es gibt zweifellos kein schöneres Krankenhaus in Paris. Mein Augenstern braucht dafür angemessene Kleidung. Führen Sie noch diese exquisiten Hauben, die Sie damals in Ihrem Geschäft an der See anfertigten, Mademoiselle Chanel?«

»Selbstverständlich«, versicherte Gabrielle. »Ich lasse Ihnen das Modell sofort holen.« Sie gab ihrer Verkäuferin, die sich diskret im Hintergrund gehalten, aber das Gespräch verfolgt hatte, ein Zeichen. Dann schob sie zwei Stühle vor den dekorativen Toilettentisch in der Mitte der Längswand. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Madame. Und Sie auch, Mademoiselle Grosjean.«

Die meisten Frauen, für die Gabrielle neue Hüte modellierte, hatten weniger in ihrem Kopf als auf ihrem Bankkonto. Das war ihr von Anfang an klar gewesen, als sie begann, Entwürfe für die Freundinnen ihres Förderers Étienne Balsan herzustellen. Amélie Grosjean wirkte jedoch nicht vergnügungssüchtig und einfältig, ihre Augen blickten ohne jede Scheu mit einer Wachsamkeit, die wahrscheinlich ein Zeichen von Intelligenz war, und der energische Zug um ihren herzförmigen Mund deutete auf Durchsetzungskraft hin. Ein Mann, der sich von dem ansonsten hübschen Äußeren und den blonden Locken der etwa Achtzehnjährigen blenden ließ, könnte womöglich sein blaues Wunder erleben. Aber Männer übersehen derartige Charakterzüge gerne, das wusste Gabrielle. Sie selbst gab sich vor Boy schließlich auch niemals aufbrausend und unduldsam wie manchmal vor ihren Angestellten.

Eine davon balancierte nun die gewünschte Haube auf ihren Fingern. Als sich Gabrielle in dem ersten heißen Kriegssommer mit Boy in ihrer damals erst kürzlich eröffneten Boutique in Deauville aufgehalten hatte, war sie vor allem von Damen, die Paris aus Angst vor einer deutschen Besatzung in Richtung Meeresfrische verlassen hatten, um neue Garderobe gebeten worden. Nicht nur, dass das Gepäck auf dieser Reise reduziert sein musste. Das noble Hotel Royal wurde in ein Lazarett verwandelt, und den vormaligen weiblichen Gästen war es eine Ehre und Pflicht, dort als Pflegerinnen zu dienen. Es war nur keine Krankenschwesterkleidung vorrätig, und die Zofentrachten aus den Kammern des Hotels mochte keine der künftigen Wohltäterinnen tragen, vor allem nicht die Spitzenhäubchen, die deutlich wie nichts anderes auf den Beruf der Trägerin hinwiesen. Man erinnerte sich an die Hüte von Mademoiselle Chanel, und voilà – sie sorgte mit einer von dem Klobuk der christlich-orthodoxen Nonnen inspirierten Haube für Eleganz auf den Hochsteckfrisuren der Damen.

Amélie Grosjean betrachtete sich skeptisch in dem Spiegel vor ihrem Platz. »Nun, wenigstens sehe ich nicht aus wie eine Köchin«, stellte sie fest. »Aber dafür rutscht mir dieses Ding in die Stirn.«

»Das Kopfband muss enger sein«, erwiderte Gabrielle freundlich. »Ich werde gleich Maß nehmen und für die perfekte Passform sorgen.«

»Ja, das sollten Sie«, stimmte Madame Grosjean zu, woraufhin Amélie ihren eben zu einer raschen Antwort geöffneten Mund wieder schloss. »Wir wollen die Haube sofort mitnehmen, Mademoiselle, sonst kann meine liebe Tochter ihren Dienst nicht pünktlich antreten.«

»Benötigen Sie noch Kleid und Schürze dazu?«, erkundigte sich Gabrielle beiläufig, während sie das Maßband um den Blondschopf legte.

»Das haben wir schon bei Monsieur Poiret gekauft«, versetzte Amélie mit einem gewissen Unterton. Der sollte wohl sagen, dass sie sich ihre Garderobe nicht von einer kleinen Hutmacherin schneidern ließ, sondern von dem bekanntesten Modeschöpfer in Paris. Jenem Mann, dem Coco Chanel mit aller Kraft Konkurrenz machen wollte.

»Was für ein Irrtum meinerseits«, behauptete Gabrielle ironisch. »Ich dachte, Paul Poiret entwirft nur noch Mäntel für das Militär.« Dann senkte sie den Blick auf ihre Arbeit.

Nach ein paar Handgriffen und mittels ein paar Stecknadeln saß die Kopfbedeckung der künftigen Pflegerin, wie sie sollte. Amélie schien zwar noch immer nicht glücklich darüber zu sein, doch ihre Mutter war zufrieden. Daraufhin schickte Gabrielle ihre Verkäuferin in die Nähstube, um die Änderungen sofort vornehmen zu lassen. In der Zwischenzeit wollte sie sich um die Cloche kümmern, die Madame Grosjean vor einer Weile bestellt hatte. Als sich die Aufmerksamkeit der Modistin von ihr zu ihrer Mutter verlagerte, begann sich Amélie offenbar zu langweilen. Sie betrachtete ihre Fingernägel, rutschte auf dem Stuhl hin und her, schnitt sich im Spiegel Grimassen. Da ist wohl doch nicht so viel Klugheit hinter der Fassade, dachte Gabrielle mit einem inneren Seufzen.

Eine Stunde später knotete sie jeweils eine Schleife um die Hutschachteln, die für die Kundinnen vorbereitet worden waren.

Die ältere Kundin überreichte Gabrielle einen Scheck und versprach, bald wiederzukommen. Gabrielle nickte beflissen und wartete, dass Madame und Mademoiselle Grosjean den Laden verließen. Erst als die beiden durch die Tür waren, ging Gabrielle zu dem Verkaufstisch und öffnete die hübsche chinesische Schatulle, in der sie ihre Tageseinnahmen aufbewahrte. Die Zahlungsanweisung in der Hand, erstarrte sie.

Bis auf ein paar Silbermünzen war die Kasse leer.

Sie hob den Metalleinsatz hoch, blickte darunter.

Nichts.

Ihr Herz klopfte wild, doch sie schaffte es, einen hysterischen Anfall zu unterdrücken. Ebenso widersetzte sie sich dem Impuls, die Kassette auf den Boden zu schleudern. Stattdessen herrschte sie ihre Verkäuferin an: »Angèle, was ist hier los?«

Die herbeigeeilte Mitarbeiterin blickte über Gabrielles Schulter – und wurde puterrot. »Oh! Mademoiselle, oh! Da ist nichts drin.«

»Wo sind die Münzen und Scheine, die sich hier befanden?« Gabrielle trommelte mit dem Zeigefinger auf das leere Futteral.

»Mademoiselle, das weiß ich nicht. Ganz bestimmt nicht. Sie sind die einzige Person, die einen Schlüssel für die Kassette besitzt, Mademoiselle, niemand kann sich darin bedienen.«

Mit spitzen Fingern zog Gabrielle eine Zigarette aus dem Etui in der Tasche ihres Rocks. Während sie mit dem Feuerzeug spielte, das Boy ihr geschenkt hatte, überlegte sie, wann sie die Kasse aufgeschlossen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wahrscheinlich war dies geschehen, als sie die erste Kundin empfing – so wie immer. Die Tageseinnahmen kamen jeden Abend in den Safe in ihrem Büro. Jedenfalls war irgendwann der Bote von Madame Savigny gekommen und hatte die Kollektion bezahlt, die Gabrielle für die Sommerfrische der Dame angefertigt hatte. Da war noch alles in Ordnung gewesen. Desgleichen geschah nichts Auffälliges, als Mademoiselle Hugo vorbeischaute, und ob die britische Touristin, die etliche Modelle aufprobiert, aber dann doch keinen Hut gekauft hatte, ob also diese Frau in die Nähe der Kassette gekommen war, wusste Gabrielle nicht mehr.

Sie fand keine Erklärung für den Verlust. Annähernd einhundert Francs in bar hatten in der Schatulle gelegen, abgesehen von den Schecks. Wenn man bedachte, dass so kostbare Waren wie ein Kilogramm Butter über drei und ein Sack Kohle fast fünf Francs kosteten, war das sehr viel Geld. Definitiv zu viel, um es zu verlieren.

Sie steckte sich die Zigarette an. Durch den ausgeatmeten Rauch fragte sie scharf: »Wer war an der Kasse, Angèle?«

»Niemand, Mademoiselle. Niemand außer Ihnen. Ich schwöre es!« Die junge Verkäuferin wirkte wie ein verschrecktes Kaninchen.

Obwohl Angèle natürlich die Person war, die am ehesten in die Schatulle greifen könnte, glaubte ihr Gabrielle genau aus diesem Grunde. Außerdem arbeitete die junge Frau seit der Gründung von Chanel Modes in Paris bei ihr, sie war immer zuverlässig gewesen. »Kein Wort. Zu niemandem. Oder ich sage, Sie sind die Diebin. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Mademoiselle, selbstverständlich. Ich tue alles, was Sie wünschen, wenn Sie nur nicht ernsthaft glauben, dass ich Sie bestehlen könnte.«

»Ich kümmere mich um die Angelegenheit«, erklärte Gabrielle. Sie hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wie sie das angehen sollte, aber sie würde die Sache aufklären.

Der erste Weg sollte sie eigentlich zur Polizei führen, das war Gabrielle klar. Doch lag ihr nichts ferner, als Angèle oder eines der anderen Mädchen zur Préfecture zu schicken, um Anzeige zu erstatten. Wenn sich unter ihren Kundinnen herumsprach, dass ein Dieb oder eine Diebin bei Coco Chanel lange Finger machte, würde es mindestens bösen Klatsch, wenn nicht sogar einen Skandal geben. Jede der feinen Damen würde Angst um die eigene Handtasche haben, womöglich sogar um die wertvollen Ketten am Hals, und sich eine Putzmacherin suchen, die zwar weniger schicke Modelle kreierte, aber mehr Sicherheit vermittelte. Das konnte Gabrielle nicht zulassen. Dafür hatte sie zu hart für ihren guten Ruf als Modistin gearbeitet. Bestehlen lassen würde sie sich allerdings auch nicht. Doch nur sie selbst konnte herausfinden, wer das getan hatte und ihr Eigentum wiederbeschaffen.

Sie legte den Scheck von Madame Grosjean in die Kasse, als wäre nichts passiert.

3

Gabrielle saß Stunden an ihrem Schreibtisch vor einem Stapel Papier. Sie hatte ihren Laden skizziert, die Plätze vor den Spiegeln, die Regalborde mit den Hutständern, den Tisch mit der Schatulle. Dann versuchte sie, die Wege nachzuvollziehen, die ihre Kundinnen, die Verkäuferin und sie selbst gegangen waren. Wer war nahe an der Kasse vorbeigegangen? Wer hatte die Möglichkeit, die Kassette zu öffnen und hineinzugreifen? Wer besaß genug Zeit und Ruhe dafür? Gabrielle zeichnete immer wieder auf einem neuen Blatt, aber die einzigen beiden Personen, die nach ihrer Überlegung infrage kamen, waren Angèle und sie selbst. Könnte die Unschuld der jungen Frau also nur gespielt sein? Dann machte sie Cécile Sorel in der Comédie-Française allerdings heftig Konkurrenz, ihre schauspielerische Leistung wäre schwer zu übertreffen. Seufzend legte Gabrielle ihren Stift beiseite.

Dummerweise konnte sie sich nicht erinnern, wann genau sie die Schatulle aufgeschlossen hatte. War es gewesen, bevor Boy auftauchte? In den Minuten, die sie mit ihm allein verbrachte, hätte alles in ihrer Boutique passieren können – sogar ein Sturm der Boche –, sie hätte es nicht bemerkt. Touristinnen reisten derzeit vor allem aus Großbritannien an, manche auch aus Amerika, einige Spanierinnen waren dabei, aber es waren deutlich weniger als vor Kriegsbeginn. Wenn Gabrielle nicht vor Ort war, trug die Verkäuferin die Verantwortung. Also Angèle …

Wieder lief alles auf Angèle hinaus. Doch Gabrielle glaubte unverändert an deren Unschuld, ihre eigene Menschenkenntnis und ihr Gottvertrauen.

Am Ende des Tages stellte sie fest, dass sie zu wenig gearbeitet und zu viel gegrübelt hatte. Sie ärgerte sich, weil sie zu keinem Ergebnis gekommen war. Und nun drängte die Zeit. Sie musste sich fertig machen für Boy und die Einladung zum Diner bei Cécile Sorel und hinter sich lassen, was sie die vergangenen Stunden bewegt hatte.

Trotz der Furcht vor einem deutschen Luftangriff war das abendliche Paris ein einziges Lichtermeer, durch das Boy seinen Rolls-Royce zu dem Palais am Quai Voltaire lenkte, in dem die berühmte Schauspielerin Cécile Sorel, verheiratete und geschiedene Comtesse de Ségur, residierte. Die Restaurants hatten geöffnet, und bei dem warmen Wetter standen sogar Tische und Stühle auf den Straßen, vor den Theaterkassen bildeten sich lange Schlangen, an der Seine schlenderten verliebte Paare durch den milden Abend, und nicht nur in dunklen Ecken boten junge Frauen ihre Dienste liebeshungrigen Soldaten auf Heimaturlaub an.

Gabrielle kannte diese Art Männer aus ihrer Jugend. Damals hatte sie als lebenslustige Näherin in der Garnisonsstadt Moulins mehr als nur Hosennähte repariert. Inzwischen hatte sie eine solche Angst davor entwickelt, wiedererkannt zu werden, dass sie sich weigerte, in den Kriegsdienst zu treten oder auch nur einen einzigen Knopf an den Uniformrock eines Offiziers zu nähen. Umso größer ihr Schreck, als sie unter den Gästen von Cécile Sorel einen hochgewachsenen Mann in der Uniform eines Artillerieleutnants antraf. Da er in ihrem Alter war, bestand die – wenn auch schwache – Befürchtung, dass sie einander schon einmal begegnet waren. Allerdings konnte sie sich an die wachen Augen, die unter einem Kopfverband hervorblitzten, nicht erinnern. Der Verwundete interessierte sich nicht für Gabrielle und Boy, sondern redete in einer slawischen Sprache auf eine bildschöne elegante Frau mit rotblondem Haar ein, die Gabrielle ebenfalls noch nie gesehen hatte.

»Meine Liebe, Sie sehen verwirrt aus!«, stellte Cécile fest. »Das sind meine Freunde Misia Edwards und Guillaume Apollinaire. Kennen Sie einander schon?«

»Nein. Nicht dass ich wüsste.«

»Sie haben beide polnische Wurzeln und unterhalten sich in der gemeinsamen Muttersprache – ist das nicht herrlich? Hören Sie diesen weichen Klang? Ich liebe das. Eine Frau, die schon Auguste Renoir Modell saß, und ein Kunstkritiker haben sich natürlich viel zu erzählen, aber wenn Józef Retinger kommt, werde ich alle bitten, Französisch zu sprechen, damit wir nicht ausgeschlossen sind von der Unterhaltung …« Cécile winkte eine junge Kellnerin herbei, die wahrscheinlich zu einer Agentur für Leihpersonal gehörte und nun die Getränke auf einem Silbertablett anbot. Die Gastgeberin unterbrach ihren Redeschwall, um kaum merklich Atem zu holen. »Der Genuss von Brioches ist zwar verboten, und das Baguette wird anders als früher gebacken, aber der Champagner ist nicht rationiert. Das müssen wir ausnutzen. Jede Flasche, die wir trinken, entgeht den Deutschen. Also greifen Sie zu. Und dann machen Sie sich bitte selbst bekannt, ich höre, es ist ein Gast gekommen. Ich glaubte, es ist Jean Cocteau …« Ihr zwitschernder Plauderton verklang, als sie aus dem Salon in das Entree enteilte.

Boy nahm zwei Gläser von dem dargebotenen Tablett, dann reichte er eines Gabrielle und stieß mit ihr an. »Betrinken wir uns zu Ehren der Grande Nation. Santé, Coco!«

Über den Rand ihres Sektkelchs blickend, entdeckte Gabrielle einen Mann, der etwas abseits stand und die Gemälde an der Wand eingehend zu studieren schien. Er war etwas kleiner als sie mit ihren hundertsechsundsechzig Zentimetern, und er trug sein dunkles Haar auf merkwürdige Art gescheitelt, sodass ihm bei jeder Bewegung eine Strähne in die Stirn fiel. Wahrscheinlich will er verwegen wirken, dachte sie.

Der gerade eingetroffene Gast war tatsächlich der Dichter Jean Cocteau. Er breitete die Arme aus, küsste Gabrielle auf beide Wangen und bedauerte wortreich, dass sie einander lange nicht gesehen hatten. Zuletzt waren sie einander ebenfalls bei Cécile begegnet und hatten sich ausgezeichnet unterhalten. Cécile Sorel, Comtesse de Ségur, ließ seit geraumer Zeit ihre Hüte bei Chanel anfertigen und war vernarrt in Gabrielle. Sie lud sie regelmäßig zu ihren eleganten wie illustren Abendessen ein, bei denen sie brillante Köpfe, einflussreiche Personen, Schönheiten beiderlei Geschlechts sowie Erfolg versprechende Künstler und Künstlerinnen zusammenführte. Obwohl nur eine Modistin mit Ambitionen, fand Gabrielle – meist ohne Boys Begleitung – rasch Anklang in diesem Kreis.

»Wir müssen uns unbedingt öfter treffen«, befand Cocteau, wobei er Boy miteinbezog, dessen Hand er gerade schüttelte. »Misia, meine Liebe, laden Sie doch Mademoiselle Chanel und Commander Capel zu einem Ihrer wunderbaren Mittagessen ein.«

Gabrielle öffnete ihren Mund, um freundlich abzulehnen, weil sie mittags arbeitete, aber gerade rechtzeitig fiel ihr ein, dass Madame Edwards’ Déjeuners möglicherweise sinnvoll für die Akquise neuer Kundinnen war. Allerdings kannte sie den Einfluss der Dame noch nicht und wusste nicht, ob es sich lohnte, Boutique und Atelier für ein Mittagessen allein zu lassen.

Sie suchte nach einer vagen Antwort, doch der kleine Mann vor den Bildern kam ihr zuvor: »Das ist so dekadent! Lassen Sie es, Mademoiselle, gehen Sie lieber in den Louvre, wenn Sie sich über Kunst unterhalten wollen.« Er sprach Französisch mit einem Akzent.

»Ach, Pablo«, seufzte Cocteau, »wir sind gerade nicht im Klassenkampf …«

»… und wir sind auch nicht in den Vereinigten Staaten«, fügte Boy belustigt hinzu. »Monsieur Clemenceau sagte neulich zu mir, in Amerika sei die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur vorangeschritten. Davon sind wir hier unter uns glücklicherweise weit entfernt.«

Alles lachte. Nur der kleine Mann mit der Strähne, die ihm in die Stirn fiel, wirkte etwas missmutig. War er gekränkt? Oder nur schlecht gelaunt?

»Nehmen Sie Picasso nicht ernst«, lächelte Cocteau, »er ist für die Arbeiterbewegung, kauft sich aber gleichzeitig ein Schlösschen am Stadtrand.«

»Immerhin liegt die Villa in einem Arbeiterviertel«, warf Apollinaire ein, und wieder lachte alles.

»Du hattest schon immer einen fabelhaften Geschmack«, behauptete Misia Edwards, trat neben den Mann, über den sich alle amüsierten, und hakte sich bei ihm unter. Sie überragte ihn um Haupteslänge. »Ich bewundere deine Malerei ebenso wie deine Art zu leben.«

Cocteau setzte zu einer fast höfischen Geste an. »Ich glaube, die Herrschaften kennen sich noch nicht: Mademoiselle Chanel, Commander Capel, darf ich Ihnen Misia Edwards und Pablo Picasso vorstellen? Und hier haben wir Guillaume Apollinaire, der nach einer schweren Verwundung auf Heimaturlaub geschickt wurde und somit endlich wieder unter uns weilt. Wir alle können unser Glück kaum fassen.«

»Trinken wir auf die Gesundheit von Guillaume Apollinaire«, rief Misia aus. »Na zdrowie!«

Gläser klirrten beim Anstoßen, der Champagner wurde von den Männern in einem Zug ausgetrunken, während die beiden Damen nur einen Schluck nahmen. Gabrielle bedauerte, zu viel übrig gelassen zu haben – sie konnte ihr Glas nicht wie die anderen auf den Boden werfen, ohne für eine Pfütze zu sorgen. Aber eigentlich schätzte sie Extravaganz nicht bei sich selbst. Deshalb behielt sie ihren Sektkelch in der rechten Hand, während die linke eine Zigarette zu ihrem Mund führte.

Die Männer hatten ihren Spaß, und ein Dienstmädchen lief herbei, um die Scherben aufzufegen. Pablo Picassos Klassenkampf erstreckte sich nicht darauf, ihr zu helfen. Die junge Kellnerin brachte rasch frische Gläser. Der Knall eines Korkens übertönte das Gelächter der Gäste.

»Ich höre, wir kommen gerade recht …« Die fröhliche Stimme eines Mannes war in dem Partylärm kaum zu verstehen.

Cécile erschien endlich wieder auf der Bildfläche. Sie klatschte in die Hände. »Ruhe bitte. Seid doch kurz still …!« Als sie sich der Aufmerksamkeit ihrer Freunde und Freundinnen sicher war, fuhr sie fort: »Ich möchte euch den Künstler Serge Férat vorstellen, der seine Muse Irène Lagut …«

»Kollegin«, protestierte die junge Frau an seiner Seite. »Ich bin nicht nur seine Muse und sein Modell, sondern ebenfalls Malerin.« Dabei klang sie unbekümmert und keinesfalls vorwurfsvoll.

Gabrielle, die den Umgang mit Schönheit zu ihrem Beruf gemacht hatte, sah die etwa Zwanzigjährige interessiert an. Zweifellos war Irène Lagut eine Frau, die nicht nur durch ihre Selbstständigkeit auffiel, sondern auch durch ihr attraktives Äußeres. Sie trug das brünette Haar zu einer Bubikopffrisur, die ihr hübsches Gesicht betonte, und ihr Rock endete an ihren Knöcheln. Eine überaus moderne Person.

Zufällig streifte Gabrielles Blick den eigensinnigen kleinen Mann im Hintergrund. Unwillkürlich registrierte sie das Aufflackern in seinen lebhaften dunklen Augen. Er starrte die junge Frau an, als wollte er sie unverzüglich ausziehen. Gabrielle überlegte, ob er Irène malen oder verführen wollte. Offensichtlich war er hingerissen.

Sie vergaß ihre Beobachtung, denn neue Trinksprüche erforderten ihre Aufmerksamkeit und das Öffnen und Trinken weiterer Flaschen Champagner. Mit Charme sorgte Cécile dafür, dass ihre Gläser nicht wieder zu Bruch gingen. Dennoch wurde ausschweifend getrunken, bis Józef Retinger schließlich als letzter Gast erschien und Cécile zu Tisch bat.

Im Speisezimmer wurde weiter getrunken, dazu gegessen und neben der Plauderei gelacht. Die Spitzen, mit denen der eine oder andere Satz gewürzt war, wurden ebenso geschluckt wie der Pfeffer auf dem Rindfleisch, und als das Dessert kam, erreichten die Witze durchaus die Gürtellinie und die Teile darunter. Gabrielle fiel auf, dass Irène Lagut ungewöhnlich freizügig mithielt, ein wenig leichtsinnig vielleicht, aber dabei nicht peinlich. Sie selbst pflegte eine damenhaftere Haltung, die sie anscheinend mit Misia Edwards teilte, deren gen Himmel gerichteten Blick sie zuweilen bemerkte und mit einem stillen Lächeln beantwortete. Die Männer an der Tafel hingen jedoch alle an Irènes Lippen.

Trotz der feuchtfröhlichen Stimmung und des allgemeinen Tändelns gelang es Boy, mit Józef das ernste Gespräche zu führen, für das er Gabrielle begleitet hatte. Er zog sich mit dem Polen und seinem gut gefüllten Zigarettenetui zurück. Als er Gabrielle später nach Hause in ihre Mietwohnung am Boulevard Malesherbes brachte, schwärmte er von seinem Gespräch. »Die Idee einer europäischen Union unter der Führung von Großbritannien und Frankreich ist wunderbar. Natürlich vollkommen revolutionär, aber genial. Ich werde Monsieur Clemenceau darüber informieren.« Und Gabrielle gratulierte ihm zu seiner Klugheit, obwohl sie sich nicht das Geringste aus Politik machte.

4

Es war wie ein Déjà-vu, obgleich Magali heute nicht schrie, weil sie die Fehlzündung eines Automobils mit dem Donner einer deutschen Kanone verwechselte. Diesmal gab es einen anderen Grund: »Ein Toter. Im Hof liegt ein Toter.«

Wieder endete das Geratter der Nähmaschinen abrupt, Stühle knarrten und Füße scharrten, als Magalis Kolleginnen aufsprangen und der Sensation entgegenstrebten. Diesmal war es nicht das Fenster des Ateliers, sondern der rückwärtige Ausgang.

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