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Mein (geheimes) YouTube-Leben

hier erhältlich:

Ich wünschte, ich wäre so hübsch wie Lily. Soeben hat sie auf Instagram ein Selfie gepostet, weil sie jetzt drei Millionen Abonnenten hat - und sie sieht einfach umwerfend aus. Sie hat riesengroße Augen, dick umrandet mit schwarzem Eyeliner, die Wimpern lang und dicht. Ihre Haare sind natürlich perfekt. Sie trägt einen lässig gestylten kurzen Pixie-Cut. Mir würden kurze Haare nicht stehen, dafür ist mein Gesicht viel zu rund. Ich liebe Lilys Blog. Ich verschwende gut eine Stunde damit, mir Video um Video anzusehen. Im Vergleich zu Lilys ist mein Leben echt bescheiden. Kann ich das wirklich bringen? Entschlossen gehe ich auf "Veröffentlichen"...


  • Erscheinungstag: 01.08.2019
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Klappenbroschur
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505142925

Leseprobe

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 1

Lily

 

 

 

Ich kann mir drei Millionen Menschen noch nicht mal vorstellen.

Mir fällt es schon schwer, mir zehn Leute vorzustellen, die in einer Schlange stehen. Geschweige denn hundert. Bei Bryans Auftritten sind manchmal mehrere Hundert Nasen da. Wie viele Menschen passen wohl in das größte Stadion der Welt? Fünfzigtausend? Oder sogar hunderttausend?

Ich versuche mir Reihen um Reihen von Zuschauern vorzustel­len. Jedes einzelne Gesicht ein Leben voller Erfahrungen, jeder Ein­zelne mit eigener Familie und Freunden. Nein, da muss ich passen. Ich schaffe es einfach nicht. Selbst hunderttausend kriege ich nicht hin.

3.003.031.

Eine Woge der Panik schwappt über mich hinweg.

Ich überlege mir nicht jeden Tag, wie viele Leute mir zugucken. Aber wenn ich es doch tue, hat die Zahl für mich keinerlei Bezug zur Realität. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich finde es unbegreiflich, dass ich wirklich bei drei Millionen Followern angekommen sein soll. Das ist gigantisch. Und völlig verrückt.

Instinktiv greife ich nach meiner Kamera. Was Bryan wohl sagen wird? Seit Monaten reden wir davon, dass wir bald die Drei-­Millionen-Marke geknackt haben. Die Abonnentenzahl war höher und immer höher geklettert. Ich kann es kaum erwarten, es ihm zu erzählen!

Ich beuge mich zum Spiegel und überprüfe mein Make-up. Mist, ich sehe schrecklich aus. Den ganzen Tag habe ich kein einziges Mal daran gedacht, ein Video zu drehen. Ich streiche meine Haare mit den Händen glatt, lege ein wenig Lipgloss auf und ziehe eine Grimasse – ach, ist doch egal. Ich sah schon schlimmer aus. Dann schalte ich die Kamera ein. Der Sucher fokussiert, bis mein Gesicht scharf ist, und … Aufnahme.

„Bryan! Ich habe drei Millionen Abonnenten!“

Es fühlt sich seltsam an, die Zahl laut auszusprechen. Drei Millionen Menschen sehen sich unsere Videos an. Drei Millionen Menschen, die wissen, wer wir sind. Drei Millionen!

Keine Reaktion.

„Bryan! Ich habe die drei Millionen geknackt!“, versuche ich es erneut.

Hm, wo steckt der denn? Im Flur ist alles still, aber vom Zimmer ganz am Ende ist ein elektrisches Surren zu hören. Die Kamera in der Hand, stürme ich los, reiße die Tür auf und sehe ihn über seine E-Gitarre gebeugt dasitzen, sein Handy auf dem Schoß. Grinsend guckt er aufs Display.

Okay, dann werde ich ihm mal einen gehörigen Schrecken einjagen. Das wird sagenhaft. Ich lege den Zeigefinger an die Lippen und schicke ein lautloses „Psst“ in Richtung Kamera. Dann richte ich sie auf meine Füße und schleiche mich betont leise auf Zehenspitzen an ihn ran.

„WIR HABEN DIE DREI MILLIONEN GEKNACKT!“, brülle ich ihm ins Ohr, als ich direkt hinter ihm stehe.

Erschrocken reißt Bryan den Kopf hoch und dreht gleichzeitig den Laptop von mir weg. Dann zieht er mit wütender Miene seine Kopfhörer herunter.

„Scheiße, Lily, was soll das?!“

Seine offene Kapuzenjacke ist ihm von den Schultern gerutscht, jetzt sitzt er in einem langen grauen Tanktop da, unter dem seine Tätowierung hervorblitzt, ein schwarzer Rabe. An den vom Gitarrespielen schwieligen Fingern klappern Ringe, als er nach seinem Telefon greift und es mit einem lauten Poltern auf den Schreibtisch wirft.

Abwartend starre ich ihn an und sehe, wie seine geweiteten Pupillen zwischen mir und der Kameralinse hin und her huschen. Endlich scheint die Botschaft bei ihm angekommen zu sein, man sieht förmlich, wie es in ihm arbeitet.

„Äh … du hast die drei Millionen geschafft? Ist nicht wahr – 
Glückwunsch!“

Er steht auf und zieht mich in seine Arme. Im ersten Moment bin ich leicht irritiert und versteife mich unwillkürlich. Doch dann drückt er mich so fest, dass ich mich entspanne und mich an seine schmale Brust schmiege. Ich spüre sein kratziges Kinn an meiner Stirn. Gleichzeitig hebe ich den Arm so, dass ich uns beide gut im Bild habe.

Mein Herz schlägt wie wild, wenn ich an die vielen Abonnenten denke – vor meinem inneren Auge ziehen unzählige Gesichter vorüber. Mir fällt es schwer, das zu verarbeiten, es sind einfach zu viele. Wie soll ich all diese Leute zufriedenstellen? Das ist so krass!

„I–ich kann es selbst immer noch nicht fassen“, murmle ich mit belegter Stimme und merke, wie meine Augen zu schwimmen beginnen.

Bryan flüstert in mein Haar, vom Mikro abgewandt. „Wow, das sind ganz schön viele präpubertäre Stalker.“

Doch als er meine warnende Miene sieht, bügelt er seinen Fauxpas schnell wieder aus.

„Weißt du was? Zur Feier des Tages gehen wir brunchen“, sagt er laut und deutlich, verzieht die Lippen zu einem breiten Lächeln und grinst dämlich in die Kamera.

Ich muss schmunzeln. Weil ich schon wieder überlege, wie ich das zu einem Videoblogbeitrag zusammenschneide. Wir werden noch ein paar Aufnahmen von uns beim Brunchen brauchen, vielleicht bekomme ich ein paar gute Schnappschüsse vom Essen für einen Instagram-Post hin … und dann drehen wir noch eine Sequenz, in der wir den Abonnenten danken. Vielleicht bei einem Spaziergang im Park, das käme bestimmt gut an. Oder hatten wir so eine Parkszene schon letzte Woche? Zum Schluss könnte ich mir einen Monolog vor laufender Kamera vorstellen, in dem ich mich bei meinen Fans bedanke.

Mein Brustkorb ist wie zugeschnürt. Ich muss heute unbedingt noch zwei gesponserte Videos fertigstellen, und ich bin erst zur Hälfte durch die E-Mails durch, die meine Assistentin Sam mir weitergeleitet hat. Außerdem muss ich dringend einen neuen Instagram-Post veröffentlichen. Diese letzte Einstellung für den Blogbeitrag ist kein Problem, das habe ich schnell im Kasten. Und wenn ich beim Brunch genügend Material zusammenbekomme, kann ich das Video später fertig machen, sobald ich alles andere erledigt habe. Ich muss zwar noch alles zusammenschneiden, aber das kriege ich hin. Mir schwirrt der Kopf, wenn ich an die viele Arbeit denke, die ich noch vor mir habe. Nervös lege ich eine Hand an meinen Hals und spüre das Blut unter den Fingerkuppen pulsieren.

Ich muss unbedingt einen Blogbeitrag hochladen, daran führt kein Weg vorbei. Immerhin habe ich die Drei-Millionen-Marke geknackt, das muss gefeiert werden. Wenn ich morgen gleich in aller Früh aufstehe, kriege ich das mit dem Bearbeiten und Schneiden auch noch hin. Es wird schon nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Video muss ja nicht lang sein, knapp unter zehn Minuten reichen.

Autsch. Ich zucke vor Schmerz zusammen und stelle fest, dass ich mir so fest auf die Unterlippe gebissen habe, dass ich blute. Scheiße. Das muss ich jetzt auch noch wegretuschieren. Endlich sehe ich zu Bryan auf.

„Das ist eine wunderbare Idee!“ Ich strahle in die Kamera und schiebe den Arm an Bryan vorbei, um sie auf dem Schreibtisch abzulegen.

Im selben Moment fängt Bryans Telefon an zu summen, und er streckt die Hand über meinen Kopf hinweg danach aus. Als sein Blick auf das Display fällt, verziehen sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen. „Ich, äh, muss hier weitermachen, hab noch einen Song zu Ende zu bringen.“ Er deutet mit dem Kinn Richtung Tür. „Sieh zu, dass du um zehn fertig bist.“

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 2

Melissa

 

 

 

Ich wünschte, ich wäre so hübsch wie Lily. Soeben hat sie auf Instagram ein Selfie gepostet, weil sie jetzt drei Millionen Abonnenten hat – und sie sieht einfach umwerfend aus. Sie hat riesengroße Augen, dick umrandet mit schwarzem Eyeliner, die Wimpern lang und dicht. Ihre Haare sind natürlich perfekt. Sie trägt einen lässig gestylten kurzen Pixie-Cut, zwei blonde Strähnen fallen ihr locker ins Gesicht.

Mir würden kurze Haare nicht stehen, dafür ist mein Gesicht viel zu rund. Und von meiner Mutter habe ich das langweilige Mausbraun geerbt. Ich würde garantiert aussehen wie ein Junge. Und zwar nicht wie einer von diesen süßen Typen mit mädchenhaften Zügen. Sondern wie ein richtiger Junge. Die Leute in der Schule würden mich bestimmt damit aufziehen: „Hey, wer ist denn der Neue?“ Und wenn ich mich dann zu Suze setzen würde, würde sie vermutlich knallrot anlaufen und sich weigern, mit mir zu reden.

Wenn es um Jungs geht, ist sie nämlich ziemlich eigen.

Mit einem Doppelklick öffne ich Lilys letzten Blogpost – „Ein kleines London-Abenteuer“ – und scrolle durch die Bilder. Auf einem steht sie vor einem Marktstand und hält ein Schälchen herrlich roter Erdbeeren in der Hand, an den Fingern Ringe mit ungeschliffenem Amethyst und Topas. Ich war mit einer Freundin auf Entdeckungsreise durch London und hatte einen wundervollen Tag – ich hoffe, ihr hattet ebenfalls ein fabelhaftes Wochenende! Alles Liebe, Lily xoxox

Ich liebe Lilys Blog. Sie besucht immer die tollsten Orte; wenn man sich ihre Fotos ansieht, will man da sofort hin. Oder wenn sie auf Instagram ein Bild von ihrem Frühstück postet, möchte ich am liebsten durch den Bildschirm greifen und davon naschen, so verlockend sieht das immer aus.

Ich kann von Glück sagen, dass das nicht geht. Meine Oberschenkel sind ohnehin viel zu dick. Wenn ich essen würde wie Lily, müsste ich mich vermutlich mit dem Kran ins Schulgebäude befördern lassen. Es gibt ein Foto von ihr, auf dem sie in Leggings auf einem Sitzsack liegt, mit langen silbernen Ketten um den Hals. So dünn werden meine Beine nie aussehen.

Vor einigen Wochen habe ich versucht, dieses Foto nachzustellen, mit meinen billigen Silberketten von H&M. Leider habe ich sie schon so oft getragen, dass das Silber völlig abgewetzt ist, und jetzt sieht man, dass sie aus Plastik sind. Deshalb wollte ich mir heimlich ein paar von Mums goldenen Halsketten borgen. Aber als sie mitbekommen hat, dass ich Fotos mache, ist sie ausgeflippt. Sie hat doch keine Ahnung!

„Was treibst du da? Wieso machst du Fotos von dir? Sind das meine Halsketten? Du hast doch nicht etwa vor, die Bilder ins Internet zu stellen? Melissa, bitte sag, dass du das nicht im Internet postest!“

Sie sagt I-N-T-E-R-N-E-T, als handele es sich um einen schrecklichen Ort, an dem Pädophile Kindern auflauern. Ich wette, sie hat keine Vorstellung, mit was für Tricks die Mädchen an meiner Schule arbeiten. Sie legen Jungs rein, indem sie sie dazu bringen, im Messenger zuzugeben, dass sie auf sie stehen, und dann machen sie davon einen Screenshot und schicken das an den kompletten Klassenverteiler. Was soll ich ihr da groß erklären, worum es beim Videobloggen geht? Sie versteht das ja ohnehin nicht.

Aber das spielt so oder so keine Rolle mehr – mein Selfie sah schrecklich aus. Ich habe einfach nicht den richtigen Knochenbau für solche Posen.

Während ich durch Lilys Feed scrolle, öffne ich einen zweiten Tab und gelange auf Bryans YouTube-Kanal. Leider finde ich den nicht halb so witzig wie ihren, er erzählt meistens was von schräger Musik, die kein Mensch kennt. Dann klicke ich weiter zu seiner Instagram-Seite. Die Fotos von seinem Bandkollegen Jerry sehe ich mir gerne an, er ist total süß, aber am liebsten sind mir die von Bryan und Lily.

Es dauert nicht lange, bis ich fündig werde – da ist ein neues Selfie von Bryan und Lily, eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa, zwischen ihnen Polar, der kleine weiße Welpe, der eigentlich Bryans Eltern gehört. Bryan macht zum Spaß ein tierisch ernstes Gesicht, weil Polar seine Pfoten in seinem Bart vergraben hat. Lily hat lachend den Kopf in den Nacken gelegt.

Sie wirken so glücklich. Als Nächstes klicke ich mich durch Lilys Vlog-Kanal, LilyLives, und öffne ein Video, in dem sie zusammen London unsicher machen. An solchen Filmen habe ich die größte Freude. Bryan läuft voraus und springt lachend auf ein Geländer, während Lily ihn tunlichst ignoriert und augenrollend in die Kamera schaut.

„Jetzt mal im Ernst, Lily, welches Jahr haben wir? 2005? Bestellen wir doch online“, jammert er, als sie ihn in einen Supermarkt zerren will. Lily schiebt die Unterlippe vor und schmollt, was ihn wiederum zum Lachen bringt, und schon wirbelt er herum und folgt ihr in den Laden.

Ich verschwende gut eine Stunde damit, mir Video um Video anzusehen. Es ist bald Mittag, ich habe gar nicht mitbekommen, wie rasend schnell die Zeit vergangen ist. Um Himmels willen. Mum, Dad und mein Bruder Aidy werden bald aus dem Schwimmbad zurück sein. Widerstrebend eise ich mich vom Bildschirm los und sehe mich mit einem prüfenden Blick um. Mum wird ausrasten. Überall liegen Klamotten, Haarbürsten und irgendwelche Make-up-Utensilien herum. Im Vergleich zu Lilys ist mein Leben echt bescheiden. Ich wünschte, ich hätte auch so ein wunderschönes Zuhause und einen Freund wie sie.

Nicht dass Bryan mein Typ wäre – es gibt einige Jungs in der Zwölften, die besser aussehen als er. Bryan ist extrem dürr, und seine Augen stehen für meinen Geschmack viel zu dicht beieinander. Andererseits spielt er in dieser Band, das macht ihn doch wieder attraktiv. Abgesehen davon scheint er Lily aufrichtig zu lieben.

Nachdenklich kaue ich auf den Nägeln herum und überlege, wie es wäre, wenn ich einen Freund hätte. Schon male ich mir aus, wie ich und ein hochgewachsener dunkelhaariger, irre gut aussehender Typ auf Streifzug durch London gehen, Fotos auf meinem Blog posten, ausgefallene Restaurants besuchen und dann zu mir nach Hause in meine eigene Wohnung gehen, um uns gemeinsam was zu essen zu machen. Sein Lachen, während er mir seine Kochtricks zeigt. Vielleicht wären wir aber auch beide ganz miese Köche, und deshalb lassen wir uns was liefern, machen es uns auf dem Sofa gemütlich und küssen uns gegenseitig die Tomatensoße von der Pizza von den Lippen …

Ich zwinge mich aus meinem Tagtraum zurück in die Realität und gehe erneut auf Lilys Blog. Echt schade, dass ich keinen Freund habe. Ich habe noch nicht mal einen Jungen geküsst. Okay, nicht richtig. Vor ein paar Jahren kam es zu mehreren unbeholfenen Knutschversuchen mit meinem Freund Josef, aber wir waren noch Kinder – das war keine richtige Beziehung. Zum Ende der neunten Klasse musste er die Schule wechseln, und das war’s dann: Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Die große Liebe war es jedenfalls nicht.

Jetzt bin ich sechzehn Jahre alt und hatte noch nie einen richtigen Freund. Das ist so typisch für mein Leben.

Als Nächstes öffne ich meinen eigenen Blog und schiebe das Fenster neben Lilys Blog. Ich habe bislang fast ausschließlich über Make-up geschrieben, aber mittlerweile ist in meiner Kosmetiktasche nichts mehr übrig, das ich noch bewerten könnte. Die Zahl meiner Abonnenten bleibt konstant bei einundfünfzig. Langsam gehen mir die Ideen aus.

Gelangweilt klicke ich mich durch einige Beauty-Blogs, allesamt von Mädchen, die in London leben. Ein Street-Art-Foto lässt mich innehalten. Es wurde in Shoreditch aufgenommen. Eine typische Aufnahme, wie man sie auf Flickr häufig findet.

Hmm, ich frage mich …

Hastig wechsle ich zur Seite von Flickr und tippe „Shoreditch Street-Art“ im Suchfeld ein. Eine riesige Auswahl an Aufnahmen aus dem Londoner Eastend erscheint auf dem Bildschirm. Die meisten sehen echt cool aus. Wenn ich nur selbst schon mal da gewesen wäre. Dann hätte ich bestimmt auch so ein tolles Foto gemacht. Damit würde mein Blog richtig was hermachen.

Ich klicke auf eines der Bilder und bemerke einen kleinen Kreis mit einem winzigen durchgestrichenen „C“, darunter steht „nicht geschütztes Material“. Augenblick, bedeutet das etwa, dass ich die Aufnahme für meinen Blog verwenden könnte?

Aufgeregt lese ich das Kleingedruckte. Soweit ich das überblicken kann … ja, sieht ganz so aus, als ginge das.

Wenig später habe ich mir ein ganzes Archiv an gemeinfreien Fotos von London angelegt – Marktstände mit Essen, Street-Art, sogar ein paar Bilder vom Buckingham-Palast. Die haben wahrscheinlich irgendwelche Touris gemacht.

Mit zitternden Händen lade ich sie für einen neuen Post auf meinen Blog hoch. Dann fange ich an zu tippen, Lilys Blogseite immer noch neben dem Fenster mit meiner geöffnet:

Ich hatte einen wundervollen Tag in London zusammen mit meinen besten Freundinnen! Ihr müsst unbedingt dieses Obst probieren, das die hier anbauen – einfach köstlich, nahezu göttlich. Ich habe extra ein Foto für euch gemacht, das wollte ich euch nicht vorenthalten. Küsschen, Issa Adores xoxox

Anschließend verpasse ich dem Ganzen noch den Titel „Issas Londoner Eskapaden“. Sieht wirklich nach einem tollen Tag aus. Unsicher verharrt mein Finger über der Taste. Wenn ich sie drücke, geht das online. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich damit eine unsichtbare Grenze überschreite.

Ach, was soll’s. Ich hätte genauso gut hinfahren und diese Fotos selbst schießen können. Es ist doch nichts dabei – vielleicht besuche ich diese Orte eines Tages ja wirklich und schaue mir das alles in echt an. Dann kann ich die Fotos ja durch eigene ersetzen. Im Grunde sind das doch nur Platzhalter.

Entschlossen drücke ich die Taste, und sofort durchströmt mich ein freudiges Gefühl. Mein Blog macht sofort einen viel cooleren Eindruck – er sieht schon fast ein bisschen aus wie der von Lily. Ich warte ein paar Minuten ab, dann gehe ich auf „Aktualisieren“. Wow. Die Zahl meiner Abonnenten ist bereits hochgegangen auf dreiundfünfzig.

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 3

Lily

 

 

 

Bryan ist schuld daran, dass wir wieder einmal zu spät kommen.

Ich stehe schon eine ganze Weile unten im Flur und warte auf ihn, als mein Blick auf sein Telefon fällt, das auf dem kleinen Beistelltischchen liegt. Das Display leuchtet auf. Eine neue Snapchat-Nachricht.

„Bryan!“, rufe ich ungeduldig. „Dein Handy!“

Ich höre ihn im Badezimmer etwas Unverständliches nuscheln und dabei ordentlich Krach machen.

Ich weiß genau, womit er so lange beschäftigt ist. Er stutzt seinen Bart penibel auf die richtige Länge zurück und stylt seine Haare so, dass sie möglichst lässig und zerzaust aussehen.

Wenn er sich doch endlich beeilen würde. Wobei, ich habe ja vor zu filmen, da ist es natürlich besser, er gibt sich Mühe mit seinem Äußeren.

Erneut leuchtet das Handy auf, das Snapchat-Symbol blinkt, und ich wische über das Display.

„Darf ich dein Snapchat öffnen?“, rufe ich.

Wieder ein unüberhörbares Scheppern. Er flucht lautstark.

„Bryan, bitte! Wir kommen zu spät!“

Ich ziehe mir die Ärmel meines Pullis über die Finger und beiße die Zähne fest aufeinander, weil sie mir vor Kälte klappern. Ich habe heute bereits ein Skype-Telefonat mit meiner Managerin Mindy abgesagt – und wenn wir nicht bis drei Uhr zurück sind, schaffe ich es auch nicht zu dem Meeting mit BeautyCult, das sie arrangiert hat. Meine Hände zittern kaum merklich, deshalb balle ich sie zu Fäusten und presse sie mir gegen die Wangen. Als Nächstes halte ich sie vor die Augen. Fast reflexartig presse ich sie mir auf die Augenhöhlen, bis ich schwarze Sternchen sehe.

Abermals fängt das Smartphone an zu leuchten und brummt wütend, sodass es mich jäh zurück in der Realität holt.

„Echt jetzt, Bryan! Beeil dich! Wenn du nicht bald kommst, öffne ich dein Snapchat!“, rufe ich die Treppe hoch. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er mich hören kann, weil er offenbar in seinem Zimmer ganz am Ende des Flurs verschwunden ist.

Ach, was soll’s. Ich schau mir das jetzt an. Mit irgendwas muss ich mir schließlich die Zeit vertreiben, während ich warte.

Beiläufig wische ich über das Display und öffne die App, gucke aber gar nicht richtig hin. Wird wohl ein Foto von seinem Bandkollegen Jerry sein, der hat sich ein neues Tattoo stechen lassen. Oder er testet wieder mal eine neue Kaffeesorte, Bioqualität, versteht sich.

Ich brauche also eine Weile, um zu realisieren, dass das, was ich da sehe, ein Selfie von einem Mädchen ist. Von einem hübschen dunkelhaarigen Mädchen, das seinen hellgrauen Pullover nach unten gezogen hat, damit man einen guten Blick auf ihr Dekolleté hat.

Häh? Was soll das denn!

Neugierig tippe ich auf das Display, um mir das näher anzusehen, aber schon ist das Foto wieder verschwunden. Mist. Wie krieg ich das jetzt noch mal auf den Bildschirm?

Mist. Die Replay-Funktion scheint nicht aktiviert zu sein.

Der Snap kam von einer gewissen Nina MacGill, das konnte ich sehen. Wir kennen doch gar keine Nina … Aber sie taucht unter seinen Kontakten auf, also muss er sie kennen.

Wer ist dieses Mädchen?

„Okay, ich bin so weit“, tönt es von oben. Bryan kommt die Treppe heruntergesprungen.

Jetzt weiß ich, warum er so lange gebraucht hat, es ist nicht zu übersehen. Er trägt eine nagelneue, tief sitzende Jeans, ein langes T-Shirt, das ihm fast bis zu den Knien reicht, dazu mehrere Halsketten mit Dreiecksanhängern auf der dürren Brust und fast an jedem Finger einen Ring. Er fängt meinen Blick ein, sein Gesicht ist auffallend bleich im Kontrast zu seinen dunklen Augen.

„Hey! Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht lange brauche.“ Sein schwarzer Bart verdeckt seine Zähne, als er mich angrinst.

Dann scheint er zu merken, dass etwas nicht stimmt, offenbar hat mich mein Gesichtsausdruck verraten.

„Was ist los? Warum siehst du mich so an?“

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 4

Melissa

 

 

 

Das Foto, das ich gestern Abend gepostet habe, sieht richtig toll aus. Darauf stehe ich am Strand, im Hintergrund der Brighton Pier, in weißer Shorts, einem blassrosa T-Shirt und einer auffallenden Goldkette, wie Lily sie in einem ihrer Videos trägt. Gelangweilt tippe ich auf meinem Handy herum, das ich gegen mein Geschichtsbuch gelehnt habe.

Mr Packham scheint nicht zu bemerken, dass die halbe Klasse mit ihren Smartphones beschäftigt ist. Er ist total altmodisch und lebt in seiner eigenen Welt. In seiner schlecht sitzenden Cordhose wetzt er hinter seinem Pult hin und her und nuschelt in seine Krawatte hinein, irgendwas von früheren Zeiten. Wenn man ganz hinten sitzt, versteht man kein Wort von dem, was er sagt, ich hab nur mitgekriegt, dass er in dieser Stunde schon öfter was von „Kolonialismus“ gemurmelt hat. Seine dicken Backen beben, als er mit dem Finger energisch an die Tafel tippt. Oh Mann. Ich werde meine Freundin Suze bitten, mir sofort den Gnadenschuss zu geben, falls ich jemals so langweilig werden sollte wie er.

Suze sitzt auf dem Platz neben mir, kaut abwesend auf einer Haarsträhne herum und linst zu mir herüber. Der Titel meines Posts lautet „Kurztrip nach Brighton“.

„Wann warst du denn in Brighton?“, fragt sie erstaunt und zieht die Nase kraus.

Schlagartig werde ich rot.

„Das war letztes Wochenende.“

„Wie kann das denn sein?“, lässt sie nicht locker. „Letztes Wochenende warst du doch auf dieser Taufe? Deine Mum hat sich mit meiner darüber unterhalten, wie Aidy …“

„Warte mal, ich glaube, das ist doch schon länger her.“

Suze öffnet den Mund, als wollte sie noch was sagen, doch dann kaut sie nur wieder auf ihrer Haarsträhne herum.

Ich schließe die Blogseite und lasse mein Handy auf meinem Schoß verschwinden. Das ist das Problem, wenn die beste Freundin einen schon kennt, seit man vier war – immer durchschaut sie mich sofort, es ist, als könnte sie meine Gedanken lesen.

Wir haben uns an unserem ersten Schultag kennengelernt. Ich war die totale Tiernärrin und habe die ganze Zeit was von „Löwe“ gebrüllt, als ich ihre üppige blonde Strubbelmähne sah. Doch statt wegzulaufen wie die meisten Kinder, zahlte sie es mir sofort heim und schrie „Maulwurf“, weil ich damals noch diese überdimensionale Brille trug.

Mittlerweile habe ich natürlich Kontaktlinsen, aber Suzes Frisur ist immer noch die gleiche wie damals. Sie hat auch nicht vor, daran etwas zu ändern.

Die Jungs in der Reihe hinter uns filmen sich gegenseitig dabei, wie sie Mr Packhams Jackett mit spuckefeuchten Papierkügelchen bewerfen. Eins der Kügelchen segelt zwischen uns hindurch und landet vor Suze auf dem Tisch. Sie ist wie erstarrt.

Auch in meinen Haaren klebt ein nasser Papierklumpen. Langsam drehe ich mich um und werfe ihnen einen vernichtenden Blick zu. Ben, der direkt hinter mir sitzt, hat ein Papierröllchen in der Hand und grinst verlegen.

Ich wische mir die Haare mit dem Spuckekügelchen darin von der Schulter und rolle mit den Augen. Oh Mann, die sind ja so was von kindisch.

Zur Ablenkung öffne ich auf meinem Handy eine Snapchat-Story von LilyLoves. Es ist ein animiertes Foto von ihr, auf dem sie an ihrem Schminktisch sitzt und einen wunderschönen Lippenstift im Nude-Look hochhält. Der stammt aus ihrer aktuellen Kollektion.

Macht süchtig!, steht quer über das bewegte Bild geschrieben, dazu der Hashtag #makeupinspiration.

Das Bild zaubert mir ein verzücktes Lächeln auf die Lippen. Ihre neue Produktlinie ist einfach toll. Ich habe mir sogar extra Tickets für ihre Launch-Party in London besorgt. Die findet Ende des Monats statt, und ich werde Suze mit hinschleifen. Zum ersten Mal werde ich Lily in echt sehen. Ich kann es kaum erwarten.

Ein weiteres Papierkügelchen mit Spucke fliegt knapp an mir vorbei und landet vor mir auf dem Tisch. Das nächste bleibt in Chloe MacNeils glänzenden Locken kleben. Sofort reißt sie den Kopf herum und sieht mich finster an.

Das bringt die Jungs zum Kichern. Sie verstummen aber sofort wieder, als Chloe ihre Augen auf sie richtet. Im nächsten Moment fällt ihr Blick auf mein Handy, woraufhin sie ihre perfekt gezupften Augenbrauen wölbt.

„War das LilyLoves?“, will sie wissen.

Ich nicke. Suze wirft mir einen fragenden Seitenblick zu.

„Ja, eine neue Snapchat-Story.“

Ich gehe auf Wiederholen und halte Chloe das Display hin. Während sie auf den Bildschirm starrt, presst sie ihre üppigen Brüste gegen unsere Tischplatte. Chloe ist echt umwerfend. Sie ist eins von diesen Mädchen, die einfach in jeder Lebenslage klasse aussehen – sogar in der sackartigen schwarzen Hose und dem weiten Schulpullover macht sie eine gute Figur.

Trotz des schummrigen Lichts hier im Klassenzimmer zaubert der Highlighter ein Strahlen auf ihre Wangen. Mit einem Lächeln auf den Lippen lässt sie die Wimpern flattern. Ich könnte niemals aussehen wie sie, da hilft alles Make-up der Welt nichts.

Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie mit Tom Taylor zusammen sein soll, aus der Zwölften. Natürlich weiß ich, wer er ist. Er hängt in der Mittagspause immer mit seiner Clique vor dem Kollegstufenraum herum. Er ist groß und breitschultrig mit sandfarbenen Haaren, die ihm lässig in die Stirn hängen und seine Augen verdecken. Jemanden wie ihn hätte ich gern als Freund. Er ist noch eine Klasse besser als Bryan.

Schon fange ich an, mir einen Blogpost auszumalen, in dem Tom und ich am Meer entlangspazieren und glücklich in die Kamera strahlen. Dabei schaut er bewundernd auf mich herunter. So etwas würde meine Abonnentenzahlen garantiert nach oben treiben.

„Ich brauche unbedingt diesen Lippenstift“, verkündet Chloe und reicht mir mein Handy zurück.

„Oh, äh, den hab ich“, sage ich.

Chloe legt den Kopf schief. „Im Ernst?“

Ihre Freundin Louise hat sich jetzt ebenfalls zu uns umgedreht und mustert mich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Louise sieht aus wie ein Model, neben ihr fühlt sich jedes Mädchen total unscheinbar. Alles an ihr ist lang und schlank, und sie hat glatte blonde Haare. Ihre Augen stehen so dicht beisammen, dass man ständig den Eindruck hat, sie würde einen spöttisch ansehen.

Ich bücke mich, krame in meinem Rucksack und hole mein Kosmetiktäschchen heraus. Sofort schnappt Chloe es sich und öffnet den Reißverschluss.

„Oh mein Gott, du hast ja das limitierte Fire Red! Wie bist du denn an den gekommen?“

Verlegen lächelnd nehme ich ihr das Täschchen ab und fische eine Tube Lipgloss heraus. „Der ist ganz gut, trocknet die Lippen aber ziemlich aus. Hast du den hier schon probiert? Er ist aus der Lip-Luxe-Linie. Ohne den könnte ich nicht mehr leben.“

Chloe schiebt die Sachen, die ich nach und nach vor ihr auf den Tisch gelegt habe, in meine Richtung.

„Ich brauche Make-up von dir.“

„Du kannst dir gern was borgen“, sage ich schulterzuckend.

Chloe wendet sich Louise zu. „Ach, ist sie nicht süß? Warum nehmen wir sie heute Abend nicht einfach mit?“

Ein warmes Gefühl steigt in mir hoch. Doch dann bemerke ich Louises Miene.

„Tut mir leid, Issa, aber das geht nicht“, verkündet Louise mit einem gezwungenen Lächeln. „Wir gehen mit Tom und den Jungs ins Playshack. Deshalb treffen wir uns direkt nach der Schule bei Chloe, um uns zurechtzumachen …“

Enttäuscht lasse ich die Schultern hängen.

Da fällt Chloe ihr ins Wort. „Quatsch, wir kriegen dich schon irgendwie unter. Sie ist so süß, lass sie uns mitnehmen. Wir können uns doch alle gemeinsam hübsch machen. Was sagst du, Issa, hast du Zeit?“

Ich habe immer Zeit, denke ich, spreche es aber nicht laut aus.

„Ich könnte dir die Haare frisieren, wenn du möchtest“, fügt sie hinzu, den Blick auf den schief auf meinem Hinterkopf sitzenden Haarknoten gerichtet. Dafür habe ich heute Morgen gerade mal fünf Sekunden gebraucht, und um ehrlich zu sein, sieht die Frisur katastrophal aus.

Bewundernd betrachte ich Chloes fließende Locken und verspüre einen Anflug von Vorfreude und Nervosität. Ich war schon immer neidisch auf ihre Haare.

„Klar, ich hab Zeit.“ Grinsend zucke ich mit den Schultern.

Chloe holt ihr Smartphone heraus und lässt sich meine Nummer diktieren.

„Cool, dann treffen wir uns doch nach der Schule bei den Schließfächern. Hast du was dagegen, wenn ich mir den ausleihe?“ Sie greift nach dem Lipgloss.

Ich kann unmöglich Nein sagen.

Wir tun wieder so, als würden wir Mr Packhams Vortrag folgen, doch gedanklich bin ich schon bei heute Abend.

Ich kann kaum glauben, dass ich tatsächlich was mit Tom und seinen Freunden unternehmen werde. Was, wenn ich einen Jungen kennenlerne? Einen Jungen, der ganz anders ist als die mit Papierkügelchen schießenden Kindsköpfe in meiner Klasse? Einen richtigen Mann, groß und breitschultrig, mit einer tiefen, sexy Stimme?

Ich muss an ein Video von Lily und Bryan denken, das ich mir angeschaut habe. Darin laufen sie Seite an Seite durch den Greenwich Park, wobei er sie zum Spaß kitzelt und sie total süß kichert, bevor sie sich lachend zusammen ins Gras fallen lassen. Das könnte meine Chance sein, jemanden zu treffen, der ähnlich perfekt zu mir passt.

Die Schulglocke reißt mich jäh aus meinen Tagträumen, und Mr Packham stammelt: „S-s-sitzen bleiben. Ich beende den Unterricht, nicht der Gong.“ Doch niemand beachtet ihn.

Wie alle anderen stehe ich auf und sehe, wie Suze sich auf die Unterlippe beißt.

„Willst du heute Abend wirklich was mit Chloe machen?“, fragt sie zweifelnd.

Ich schwinge mir den Rucksack über die Schulter und runzle die Stirn. „Klar, warum nicht. Komm doch einfach mit!“

Entschieden schüttelt sie den Kopf. „Nein, das geht nicht. Weißt du denn nicht mehr? Du wolltest heute Abend kommen und bei der Probe meiner Swing-Band zuhören.“

Oh Gott. Das hatte ich komplett vergessen. Suze spielt jeden Freitag nach der Schule in dieser Swing-Band, und ich hatte ihr versprochen, sie zu begleiten. Die Musik interessiert mich kein bisschen, aber sie steht neuerdings total drauf. Außerdem meinte sie noch, es gäbe da etwas, worüber sie nach der Probe mit mir sprechen wolle.

Ich kaue seitlich auf meiner Unterlippe.

Andererseits, wann bekomme ich je wieder die Chance, mit Chloe, Louise und Tom und seiner Clique auszugehen?

Das könnte meine große Chance sein, endlich jemanden ken­nenzulernen. Ich muss an Lily und Bryan und ihr Leben in ihrer schicken Londoner Wohnung denken. Wenn ich heute Abend da hingehe, könnte sich in meinem Leben ernsthaft etwas verändern. Ich könnte Fotos posten, wie wir es uns zusammen gemütlich machen, könnte Videos drehen, in denen wir zusammen kochen, und ich könnte auf Instagram Bilder von leckerem Essen in Restaurants einstellen. Die Zahl meiner Abonnenten würde im Nu durch die Decke gehen.

Suze mustert mich eindringlich.

„Ist schon gut.“ Sie seufzt. „Komm einfach nächste Woche mit.“

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 5

Lily

 

 

 

Der heutige Tag fängt nicht gut an. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden, kaue auf einem Doppeldecker-Schokoriegel herum, weil ich keine Zeit zum Frühstücken hatte, und signiere lustlos einen Stapel Fotos, auf denen ich freudestrahlend einen Lippenstift hochhalte. Den ganzen gestrigen Tag habe ich mit Telefonaten und Meetings verbracht, um die Party anlässlich der Markteinführung meiner neuen Lippenstift-Kollektion Ende des Monats zu organisieren.

Das ist alles so was von ermüdend. Versteht mich nicht falsch, natürlich bin ich wahnsinnig aufgeregt und freue mich riesig, meine eigene Lippenstift-Linie auf den Markt zu bringen. Als die Leute von BeautyCult vor ungefähr anderthalb Jahren an mich herangetreten sind, um mich zu fragen, ob ich eine Kollektion entwerfen wolle, kam es mir vor, als würde ein lang ersehnter Traum in Erfüllung gehen. Aber jetzt, wo der Termin unmittelbar bevorsteht, dröhnt mir der Kopf, und jeder einzelne Muskel am Leib tut mir weh. Gestern habe ich bis Mitternacht E-Mails an Zulieferer geschrieben und bin dann um vier Uhr morgens wieder aufgestanden, um die gesponserten Videos für nächste Woche abzusegnen. Siobhan, meine Kreativchefin, hat sie für mich bearbeitet. Jedes Mal, wenn ich meine Initialen auf ein weiteres Foto kritzle, spüre ich diese Beklommenheit in der Brust.

Mein Gehirn ist wie vernebelt. Nebenbei sehe ich mir im Fernsehen einige Beiträge von meinen liebsten YouTube-Bloggern an, doch ihre Stimmen scheinen zu einer einzigen zu verschmelzen, und ich kriege gar nicht richtig mit, was sie sagen.

Ich beiße in meinen zweiten Schokoriegel heute und versuche angestrengt, mich auf das Signieren der Fotos zu konzentrieren. Eigentlich eine einfache Sache, das mache ich normalerweise zwischendurch, wenn ich mal Pause habe, doch mein Blick schweift immer wieder hoch zur Facebook-App auf meinem Handy.

Ich weiß, es ist verrückt, aber ich muss die ganze Zeit an dieses Mädchen denken, das den Snap an Bryan geschickt hat. Nina MacGill. Ich verstehe einfach nicht, warum ich noch nie von ihr gehört habe. Bryan und ich, wir wohnen zusammen, deshalb weiß ich genau, mit wem er sich so abgibt. Warum hat er sie nie auch nur mit einem Wort erwähnt? Sie gehört nicht zu seinen Freunden von der Uni; und sie ist auch kein Fan seiner Band.

Wer ist sie?

Es kostet mich große Selbstbeherrschung, nicht auf das App-­Symbol zu tippen. Tu es nicht. Es wäre dumm. Warum willst du es unbedingt wissen? Ich greife nach dem nächsten Foto. Als ich die Spitze des Stifts aufsetze und meine Initialen schreiben will, reißt das Papier entzwei.

Verdammt.

Reflexartig schnappe ich mir mein Handy, öffne die App und suche nach Nina MacGill. Ihr Facebook-Profil ist im Nu gefunden: 1 gemeinsamer Freund. Bryan Merton.

Da sind nur ein paar wenige Fotos, die für die Öffentlichkeit einsehbar sind. Auf einem hält sie eine Tasse Kaffee in der Hand, den Blick nach unten gerichtet, in einem blau-weiß gestreiften Top, im Hintergrund hängende Kakteen und bunte Graffitis. Das nächste Foto zeigt sie in einem recht exotisch aussehenden Café, wie sie sich über einen Tisch beugt und an einer Shisha-Pfeife zieht. Das letzte aber ist das deprimierendste: Darauf sieht man ihren nackten Rücken, nur mit einem Bikini bekleidet. Sie steht an einem wunderschönen Strand, vermutlich irgendwo in Thailand, die Arme weit nach vorn ausgestreckt, als wolle sie den Sonnenuntergang umarmen. Ihre Haare glänzen in den letzten Sonnenstrahlen. Sie ist so dünn, dass an ihrem Rücken kleine Grübchen zu sehen sind.

Es ist wie ein Schlag in die Magengrube.

Was mache ich hier?

Das ist doch reine Selbstquälerei. Dieses Mädchen kennt meinen Freund. Na und? Wahrscheinlich hat sie dieses Selfie an alle ihre Kontakte geschickt.

Ich brauche einfach nur dringend Schlaf. Das ist alles.

Der Stapel noch zu signierender Fotos muss jetzt warten, ich gehe auf Bryans Instagram-Seite und scrolle willkürlich durch die Kommentare neben seinen Fotos. Hunderte verschiedener Mädchen haben etwas zu seinen Selfies zu sagen:

Lecker, siehst gut aus

Cool!

Hab das Foto meiner Oma gezeigt und ihr gesagt, dass du mein Traumtyp bist. Darauf sie so: „Gute Wahl, er sieht wirklich sehr nett aus.“

Seufzend klicke ich auf meine eigene Instagram-Seite. Es ist ja nicht so, als hätte Bryan sich nicht schon des Öfteren mit dem gleichen Problem herumschlagen müssen wie ich. Er musste genauso mit verliebten Teenies klarkommen, mit Stalkern und sogar mit Todesdrohungen. Wieso mache ich mir jetzt wegen eines einzigen bescheuerten Selfies Gedanken?

So gut wie jeden Tag kreuzt jemand draußen vor unserem Haus auf und späht in unsere Einfahrt oder lungert auf dem Gehweg oder am Ende der Straße herum. Bryan lässt sich von solchen Leuten nicht aus der Ruhe bringen, nicht einmal dann, wenn uns eine ganze Meute Fans auf der Straße auflauert und uns umzingelt. Er zuckt mit keiner Wimper.

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und beiße geistesabwesend einen vertrockneten Hautfetzen ab. Autsch. Ich nehme den metallischen Geschmack von Blut wahr.

Andererseits war Bryan nie derjenige, der gestalkt wurde. Vielleicht ist das der große Unterschied. Er wurde nie von jemandem bis nach Hause verfolgt, nie hat jemand seinetwegen bei uns am Zaun gestanden und drei geschlagene Stunden seinen Namen gebrüllt. Nie hat ihm ein wildfremder Mensch vorgeworfen, ihm seine Identität geklaut zu haben. Er hat keine Ahnung, wie es ist, wenn man sich ins Bett legt, an die Wand starrt und angestrengt auf jedes noch so leise Knarzen auf der Treppe lauscht, auf jedes Klopfen von nebenan. Und er musste sich nie vor Angst wie gelähmt fragen, ob unten wohl jemand ist.

Ungefähr vor einem Jahr fing es an, dass eine Frau im Internet behauptete, ich wäre nicht die echte Lily Henshaw. Sie hat sogar die Polizei eingeschaltet und wollte mich wegen Identitätsklau anzeigen. Sie behauptete, sie sei die echte Lily: eine Zahnärztin aus Colorado, die in ihrer Freizeit Videos dreht.

HALLO ZUSAMMEN, DU BIST NICHT DIE ECHTE LILYLOVES, LILY IST IN WIRKLICHKEIT ZAHNÄRZTIN.

Anfangs fielen mir ihre Kommentare gar nicht auf. Unzählige Leute schreiben etwas zu meinen Posts, ich kann das gar nicht alles lesen. Aber irgendwie ist es ihr dann gelungen, mein privates E-Mail-Konto zu hacken, und sie fing an, an meinen Fotos herumzubasteln.

HÜBSCHES HAUS, ABER WANN SAGST DU DEN LEUTEN ENDLICH, DASS DU IN WAHRHEIT ZAHNÄRZTIN BIST? DU BELÜGST UNS ALLE. DU RUINIERST MEIN LEBEN. HÖR AUF DAMIT, SONST ZAHLE ICH DIR DAS HEIM. XX

Irgendwann postete sie alle meine Selfies, Instagram-Fotos und diverse Screenshots aus meinen Videos auf meiner Facebook-Seite – nur mit minimalen Veränderungen: Blut am Hals, geschwärzte Augen oder tiefe Schnittwunden in den Armen.

ICH WEISS, WO DU WOHNST. HÖR AUF, DICH FÜR MICH AUSZUGEBEN, SONST KOMME ICH UND SETZE DEM EIN ENDE. DU ZERSTÖRST MEIN LEBEN. XX

Mittlerweile hatte ich einen von Bryans Freunden, der als Softwareentwickler arbeitet, gebeten, ihre Nachrichten zu blockieren, woraufhin sie ihre IP-Adresse verbarg und mir unter verschiedenen anderen Namen schrieb.

ICH HAB GENUG VON DIR UND DAVON, DASS DU DICH FÜR MICH AUSGIBST. ICH BIN DIE ECHTE LILYLOVES, ICH ARBEITE ALS ZAHNÄRZTIN. WARUM LÜGST DU? HÖR AUF DAMIT. XX

DAS IST DEINE LETZTE CHANCE. WENN DU NICHT AUFHÖRST, WERDE ICH DICH FINDEN, LILY, UND DANN MACHE ICH DIESEM SPIEL EIN ENDE. ICH WERDE DICH FESSELN UND AUFSCHLITZEN. XX

Ein Schauder rieselt über meinen Rücken, wenn ich daran zu­rückdenke. Dabei war sie noch nicht mal die Schlimmste von allen.

Wenige Monate später stand plötzlich ein Mann draußen vor unserer Tür. Keine Ahnung, woher er unsere Adresse hatte. Er muss uns mithilfe unserer Videos gestalkt und sich genau überlegt haben, durch welche Straßen wir gekommen sind, in welche Richtung wir nach Hause gegangen sind, oder er hat sich aus meinen Instagram-Posts die jeweiligen Standorte zusammengesucht und hat es so herausgefunden. Mittlerweile verberge ich meine Position immer. Vielleicht hat er aber auch unsere Nachbarn gefragt?

Jedenfalls hat er uns irgendwie ausfindig gemacht. Eines Nachmittags saß ich gerade am Laptop, um Fotos zu bearbeiten, als es plötzlich laut an der Tür klopfte. Erst hörte ich es gar nicht, weil ich meine Kopfhörer aufhatte, und Bryan war oben, um ein neues Gitarrenriff aufzunehmen.

Ich war also wie vom Donner gerührt, als ich plötzlich dieses bleiche, ausgezehrte Gesicht am Wohnzimmerfenster sah. Der wilde Ausdruck in seinen Augen verriet mir, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte. Kaum hatte er mich entdeckt, fing er an, mit den Fäusten gegen die Terrassentür zu trommeln. Ich rannte nach oben und holte Bryan. Das Hämmern wurde lauter, bis die Schläge sogar den Türrahmen zum Erbeben brachten.

Schließlich ging Bryan nach draußen und forderte ihn auf zu verschwinden, doch der Typ wollte nicht lockerlassen. Er verschaffte sich Zugang zu unserer Wohnung und fing an, mich mit zusammengeknüllten Blättern zu bewerfen.

„Verlass ihn, Lily!“, schrie er völlig außer sich, während Bryan versuchte ihn zurückzuhalten. „Wir gehören zusammen! Das wirst du schon noch merken, wenn du mich erst mal kennenlernst … Es ist Schicksal, wir sind füreinander bestimmt!“

Ich erinnere mich noch gut an den irren Ausdruck in seinen blauen Augen – Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn, und er krallte seine schmutzigen Fingernägel in die Wand.

Mit einem letzten erstickten Schrei beförderte Bryan ihn schließlich nach draußen vor die Tür. Sofort verriegelten wir die Haustür doppelt, doch das Hämmern ging unverzüglich weiter. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.

Wochen später fand ich ein winziges Papierknäuel ganz unten in der Tasche meines Mantels. Der hatte die ganze Zeit im Flur gehangen. Ich öffnete die Kugel und strich das Papier glatt, bis ich die verschnörkelte rote Schrift darauf lesen konnte. Da stand: „Unsere Liebe ist alles für mich …“

Wütend zerriss ich den Zettel, ohne weiterzulesen.

Wenn ich heute nur an Lily, die verrückte Zahnärztin, oder diesen kranken Typen denke, wird mir kotzübel. Die Gmail-Adresse, die mit meinem YouTube-Konto verlinkt ist, benutze ich schon lange nicht mehr, meine Agentur managt sie, stattdessen verwende ich eine private Mailadresse, die nur meine engsten Geschäftspartner kennen. Leute wie diese beiden haben also gar keine Möglichkeit mehr, mich direkt zu kontaktieren.

Natürlich kriegt man solche Ereignisse nicht so schnell aus dem Kopf, ich denke oft an sie: an die Zahnärztin, den liebeskranken Mann – und die vielen Tausend weiteren Verrückten. Aus meinem Leben mögen sie verschwunden sein, aber richtig weg sind sie deshalb noch lange nicht. Sie existieren nach wie vor. Irgendwo da draußen sitzen sie vor ihren Bildschirmen und beobachten mich.

Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare und reibe mir die müden Augen. Das Witzige ist ja, dass mir diese Cyber-Stalker zwar Angst machen, ich aber trotzdem hier sitze und auf Facebook das Gleiche mit dieser Nina mache.

Was bin ich nur für ein scheinheiliger Mensch?

Wie würde sie es finden, wenn sie wüsste, dass Bryans Freundin sich ihre Fotos ansieht? Wenn sie wüsste, dass ich genau weiß, wo sie ihre letzten beiden Urlaube verbracht und welche Farbe ihr Bikini hat?

Ich schließe Ninas Facebook-Seite und widme mich wieder dem Stapel Fotos, den ich signieren soll.

Will die überhaupt irgendein Mensch? Sie sind als Geschenk für die ersten 1000 Leute gedacht, die meine komplette Lippenstift-Kollektion, bestehend aus zehn verschiedenen Farbnuancen, vorbestellen. Das wären 149,90 Pfund pro Nase nur für die Chance auf ein handsigniertes Foto von mir. Ich glaube nicht, dass es das wert ist.

Mein strahlend weißes Lippenstift-Lächeln auf dem Bild wirkt derart übertrieben, dass es beinahe komisch ist. Ich kneife die Augen leicht zusammen. Mein strahlendes Gesicht verschmilzt mit der goldenen Lippenstifthülse, bis alles nur noch ein glänzender verwischter Fleck auf dem Papier ist.

Ich muss hier raus. Das ist das Problem, wenn man von zu Hause aus arbeitet: Nach kürzester Zeit fällt einem die Decke auf den Kopf, und dann fängt man an, plemplem zu werden.

Instinktiv greife ich nach der Videokamera. Ich habe nichts mehr für LilyLives gefilmt, seit ich die Drei-Millionen-Marke geknackt habe. Die Zeit für die Bearbeitung zu finden ist nicht das größte Problem, sondern wie ich mein Leben möglichst interessant aussehen lasse. Keiner will einem dabei zusehen, wie man vor dem Computer sitzt und wie ein Zombie E-Mails beantwortet.

Ich könnte shoppen gehen und das filmen. Einfach nur ein ganz entspanntes Video drehen, in dem ich irgendwelche belanglosen Dinge erzähle. Bryan wird bald von der Bandprobe zurück sein, ich könnte uns also beim Vorbereiten des Abendessens filmen, und am Ende könnten er und Jerry ein bisschen Musik machen.

Ich aktiviere den Sucher und schaue blinzelnd auf den Bildschirm. Wenn ich ehrlich bin, ist das einzige Problem mein Gesicht. Normalerweise drehe ich die Videos möglichst natürlich geschminkt, aber weil ich in letzter Zeit viel zu wenig Schlaf abbekomme, ist meine Haut rot gefleckt, und ich habe dunkle Ringe unter den Augen. Mist.

Ich ziehe die Schreibtischschublade auf. Sie ist fast randvoll mit ungeöffneten Produktproben. Auf gut Glück klaube ich irgendein Make-up heraus. Diese Schublade ist im Übrigen nichts im Vergleich zu unserem Schlafzimmer, der Abstellkammer oder dem Büro; die sind bis in die letzte Ecke vollgestopft mit ungeöffneten Paketen. Mein Management sortiert die Sachen, die man mir unaufgefordert zuschickt, zwar vor und spendet den Großteil an wohltätige Organisationen, aber trotzdem erreichen mich alle paar Tage ganze Postsäcke voll mit Zeug, das mein Team für mich ausgesucht hat.

Manchmal wird mir richtig schlecht bei dem Gedanken, wie viele Kosmetika ich besitze. Seufzend drücke ich einen Klecks Foundation aus dem Pumpspender auf meinen Handrücken und schaue in den Sucher.

Eine Stunde später sitze ich lächelnd vor der Kamera, mit makellosen Wangen, auf denen ein zarter rosa Schimmer liegt, auf den Augenlidern ein Hauch goldener Eyeshadow, umrahmt von dichten dunklen Wimpern.

„Hallo-o zusammen! Na, wie geht’s euch heute? Nicht zu fassen, was für ein herrlicher Tag das ist …“ Mit einem gut gelaunten Lachen richte ich die Kamera zum Himmel. „Das macht mich total glücklich. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich rauszugehen!“

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 6

Melissa

 

 

 

Ein schwaches elektrisches Surren ist zu hören, in der Luft liegt ein moschusartiger Geruch. Mit schweißnassem Rücken sitze ich dicht vor dem Bildschirm. Es ist die letzte Stunde, gerade bin ich aus dem Kunstunterricht geflitzt, um an einem der vorsintflutlichen Computer im IT-Raum die Zeichnung eines weiblichen Körpers auszudrucken, weil ich es selbst nicht richtig hingekriegt habe. Ich brauche dringend eine Vorlage.

Der Bildschirm friert schlagartig ein.

Oh Mann, das ist ja wieder mal typisch. Der Monitor ist eine riesige eckige Kiste in einem schmutzigen Beigeton, wahrscheinlich wird so was schon seit den Nullerjahren nicht mehr benutzt.

Ich betätige die Taste für den Druck. Nichts. Dann drücke ich auf Escape. Wieder nichts.

Nervös wippe ich mit dem Fuß und spähe zur Tür hinaus in Richtung Kunstraum. Im Flur sind Lärm und aufgeregtes Geschwätz zu hören. Vielleicht sollte ich besser wieder zurückgehen und den Rest der Stunde so tun, als würde ich an meiner Zeichnung arbeiten, auch wenn das Ergebnis katastrophal ist.

Wieder muss ich an den heutigen Abend denken, und sofort schnellt mein Puls vor Aufregung in die Höhe.

Was soll ich bloß anziehen? Chloe meinte, ich könne mir von ihr etwas borgen, sie hat echt tolle Klamotten. Auf ihrem Instagram-Konto sieht man sie in Jumpsuits, Schürzenkleidern, Jeansröcken und süßen kurzen Latzhosen.

Was ich mir wohl ausleihen darf?

Als ich jetzt auf das Internet-Icon klicke, tut sich tatsächlich was, der Computer scheint zu arbeiten. Ein surrendes Geräusch ist zu hören, es klingt, als würde das Ding husten, dann baut sich die Google-Seite vor mir auf. Mit einem letzten vorsichtigen Blick über die Schulter logge ich mich bei Instagram ein und scrolle durch meinen Feed.

Dabei stoße ich auf ein Foto von LilyLoves, auf dem sie schlafend an Bryans Schulter gekuschelt ist, während er mit hochgezogener Braue ratlos in die Kamera schaut. Einfach süß. Sofort herze ich das Bild und scrolle durch die Seiten von einigen anderen Bloggern, bis mein Blick an diesem unglaublichen Foto von einem Victoria’s-Secret-Model hängen bleibt.

Sie trägt ein kurzes schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt und einem Gürtel um die Taille. Es ist nur ihr Spiegelbild zu sehen, das Handy verdeckt ihr Gesicht. Aber sie sieht auch so umwerfend aus. Ihr Körper ist nahezu perfekt. Ich wünschte, ich könnte so aussehen wie sie.

Ich zoome näher heran. Hm, das ist witzig – sie hat die gleichen schulterlangen braunen Haare und die gleiche blasse Haut wie ich, nur dass an ihr alles glänzt und schimmert. Sie ist wie ich, nur in einer Hochglanzversion. Die Art von Mensch, der ich gerne wäre.

Gott, man stelle sich vor, wie toll mein Leben wäre, wenn ich so ­aussehen könnte.

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