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Mit dem letzten Schiff

Frankreich, August 1940: Der junge amerikanische Journalist Varian Fry erhält vom Emergency Rescue Committee in Marseille den Auftrag, 200 verfolgten Künstlern die Ausreise in die USA zu ermöglichen. Die Arbeit Frys ist illegal und brandgefährlich, denn das Vichy-Regime hat sich verpflichtet, Gegner des Nationalsozialismus an die deutsche Regierung auszuliefern. Unter Einsatz seines Lebens verhilft er im Verlauf eines Jahres fast 2000 Menschen, vor allem Künstlern und Intellektuellen, aber auch vielen Unbekannten, zur Flucht vor den Nazis. Eveline Hasler erzählt die Geschichte dieses „amerikanischen Schindlers“ und seiner Helfer mit großer Eindringlichkeit – ein mitreißendes Geschichtsdrama.
  • Erscheinungstag: 28.01.2013
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312005635
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

New York, Hotel Commodore,
25. Juni 1940

Varian Fry sah Erika Mann vorn am Referententisch im Commodore sitzen – für die bevorstehende Tagung war das ein gutes Omen.

Die junge Frau hielt den schmalen Kopf mit dem kurzgeschnittenen dunklen Haar in die Hand gestützt, zwischen den Fingern die brennende Zigarette. Fry mochte ihre herzförmigen, stark geschminkten Lippen. Noch besser gefiel ihm, dass sie kein Blatt vor den schönen Mund nahm, wenn sie im Rundfunk oder am Rednerpult sprach – fast die einzige Stimme, die das lethargische Amerika vor Hitler warnte.

An der Versammlung sprach sie als Erste. Sie vertrete ihren Vater Thomas Mann, auf dessen Vorschlag hin man sich ja heute im Commodore versammelt habe. Seit drei Jahren genieße der deutsche Schriftsteller in den Vereinigten Staaten Gastrecht. Sie überbringe seine Grüße. Berichtete dann von den Hilferufen verzweifelter Kollegen, die täglich an ihn, den Nobelpreisträger, gelangten, von antifaschistischen Künstlern und Wissenschaftlern in Internierungslagern oder in den Fängen der Gestapo. «Es sind unsere besten kreativen Kräfte, in Europa ist eine Kultur dabei, unterzugehen!», rief sie. Ihre Stimme war voller Emotion, vom vielen Rauchen leicht brüchig.

Man lauschte ihr aufmerksam. Nach einer langen Zeit der Zurückhaltung hatte zehn Tage zuvor eine Nachricht aus Übersee ganz Amerika aufgerüttelt: Die Nazis hatten am 14. Juni Paris erobert. Dann hatte General Pétain in Vichy den Friedensvertrag unterzeichnet mit dem berüchtigten Artikel 19: Frankreich verpflichtete sich, auf Verlangen Nazigegner an die deutsche Regierung auszuliefern.

Im Commodore äußerte man sich empört über die Verletzung des Asylrechts. Zehntausende von Antifaschisten, die sich nach Frankreich gerettet hatten, waren jetzt in Lebensgefahr! Von Paris aus versuchten sie nach Süden zu fliehen, in die noch unbesetzte Zone, und stauten sich, da der Schiffsverkehr in den verminten Gewässern eingestellt war, in Marseille.

Deshalb war man an diesem 25. Juni 1940 nach einem Aufruf von Thomas Mann und unter dem Patronat der First Lady Eleanor Roosevelt in New York zusammengekommen. Es sollte ein Komitee gegründet werden mit dem Zweck, den verfolgten Künstlern und Intellektuellen zur Flucht in die Vereinigten Staaten zu verhelfen. Emergency Rescue Committee (ERC) nannte sich dieses neue Gremium, es benötigte Affidavits und Notvisa, Geld für Transitgenehmigungen und Schiffspassagen.

Durch Erika Manns Aufruf wurde klar: Ein Vertreter des Komitees musste hingeschickt werden, über den Ozean, mitten in den Hexenkessel von Marseille.

Eine nicht ungefährliche Aufgabe.

Die meisten der Anwesenden, wie der eben zum Chairman gewählte Frank Kingdon, verfügten über sichere Posten an Universitäten und anderen Institutionen und zeigten wenig Lust, diesen riskanten Auftrag zu übernehmen.

Da wurde Varian Frys Name genannt.

Der Harvard-Absolvent habe sich als Journalist seit Jahren mit den Mechanismen der Diktaturen beschäftigt. Fry sei ein Experte in alten Sprachen, beherrsche Französisch und Deutsch und besitze ausgezeichnete Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur.

Man sah sich nach Fry um, er erhob sich. Ein großgewachsener Mann Anfang dreißig, gepflegt und gutaussehend auf eine amerikanische Art, mit dunklen Haaren und einer modernen, doch nicht zu modischen Hornbrille. Seine Stimme war ruhig, seine Ausdrucksweise etwas steif und reserviert, nichts gab zu erkennen, wie sehr er darauf brannte, diesen Auftrag anzunehmen.

Wenn kein besserer Kandidat sich melde, sagte er, wolle er sich gerne überlegen, die Aufgabe zu übernehmen. Als einer, der sich für Kunst und Literatur begeistere, verehre er die betroffenen Künstler und Wissenschaftler sehr und wolle, wenn es dem Komitee genehm sei, nach Möglichkeit zu ihrer Rettung beitragen.

Während der Kaffeepause bildeten sich kleine Gruppen. Im Gespräch bezeichnete man Fry da und dort als introvertiert und eigenwillig. Konnte ihm eine solche Aufgabe anvertraut werden?

Ein älterer Vertreter der Harvard-Verwaltung gab im kleinen Kreis seine Erinnerungen an den als Student eher konventionellen, als Mensch aber rebellischen Varian Fry zum Besten. Auf eine eigenbrötlerische, fast etwas verdruckste Art habe er die Direktion mit Ausbrüchen antiautoritären Einschlags geärgert: «Mit seinem Packard ist er vor dem Universitätsgebäude durch eine Absperrung aus Ketten gedonnert. Hat im Zorn das Telefon im Flur des Sekretariats aus der Wand gerissen und aus dem Fenster geworfen. Später auch noch eine Tafel mit der Aufschrift For Sale geklaut und sie im Rasen vor der Villa des Rektors eingepflanzt! Harvard hat ihn für ein paar Monate ausgeschlossen, doch sein Examen hat er glänzend bestanden.»

Nach der Pause meldete sich Thomas Manns Sohn Klaus zu Wort. Der scheue, melancholisch aussehende junge Mann zeigte sich für gewöhnlich, im Gegensatz zu seiner Schwester, kaum in der Öffentlichkeit. Er wohnte meist im New Yorker Bedford Hotel und erregte in literarischen Kreisen Aufsehen mit seinen brillanten Essays über die deutsche Kultur im Exil. Amerika müsse Hitler ernst nehmen, mahnte er. Hitler strebe nach der totalen Herrschaft. Falls die USA in den Krieg eintreten, melde er sich jetzt schon an, um als amerikanischer Soldat gegen den Naziterror zu kämpfen.

«Als erklärter Homosexueller dürfte er die Aufnahme in unsere Armed Forces kaum schaffen», flüsterte in der Reihe vor Fry ein Veteran mit einer Navymütze.

Dann kam die Rede nochmals auf den Kandidaten. Ein deutschstämmiger Kaufmann aus Washington erwähnte, Fry habe als junger Journalist schon Zivilcourage gezeigt. Als er 1935 für die Zeitung The Living Age in Berlin gewesen sei, habe er auf dem Kurfürstendamm mit angesehen, wie wehrlose jüdische Bürger von Nazitrupps zusammengeschlagen wurden. Noch in derselben Nacht habe er einen aufrüttelnden Leitartikel für die New York Times geschrieben: «Der erste Augenöffner jenseits des Ozeans über die Zustände im neuen Deutschland!»

Direktor Frank Kingdon verkündete, dass in den kommenden Tagen entschieden werde, wen man nach Frankreich schicke. Man stelle auch das Pflichtenheft dieses Delegierten zusammen und eine Liste mit den Namen derer, die er retten solle. Der Gewählte erhalte demnächst Nachricht. Dann schloss Kingdon die Sitzung.

 

Fry hatte seine Frau Eileen gebeten, den ersehnten Brief des Komitees gleich zu öffnen, falls er nicht zu Hause sei. So erfuhr Eileen in ihrer Wohnung am Irving Place an einem Julimorgen als Erste von dem positiven Entscheid. Da sie ihren Mann unweit im Gramercy Park wusste, eilte sie mit dem Brief zu der kleinen grünen Oase zwischen altmodischen Backsteinhäusern, wo sich Fry bei der Lektüre fremdsprachiger Literatur und der Beobachtung von Vögeln zu entspannen pflegte. Von einem Mitglied des ornithologischen Vereins hatte er den Schlüssel zu dem für die Öffentlichkeit geschlossenen Park bekommen.

Eileen fand Varian mit dem Fernglas in der Hand auf seiner Lieblingsbank, neben sich ein Roman von André Gide. Lieber hätte sie Varian beim Baseball gesehen, doch sie hatte gelernt, seine eigenwilligen Beschäftigungen zu tolerieren.

«Varian, sie schicken dich!», rief sie ihm entgegen.

Er stand von der Bank auf und umarmte sie schweigend.

«Nun», sagte sie lachend, als er sie wieder losließ, «drüben wirst du deine Künstlervögel beobachten und zu retten versuchen! Schick uns die besten über den Ozean, man wird ihnen hier goldene Volieren bauen!»

Er zog erst sein Taschentuch aus der Brusttasche und reinigte die von der freudigen Emotion beschlagenen Brillengläser. «Volieren?», murmelte er und lächelte. «Was Vögel brauchen, Eileen, das ist Freiheit.»

 

Ausgestattet mit dreitausend Dollar und der Namensliste von zweihundert Menschen, die er retten sollte, doch ohne Vorstellung, wie das praktisch zu bewerkstelligen sei, erreichte Varian Fry am 16. August 1940 Marseille.

Er schritt die monumentale Treppe vor dem Bahnhof Saint Charles hinunter, die Marmorstufen hatten die Schwere und Kühle von Grabplatten.

Im Taxi nannte Fry das Hotel Splendide.

«Haben Sie dort reserviert?», fragte der Chauffeur.

Fry verneinte.

«Marseille quillt über von Reisenden und Emigranten, in den großen Hotels finden Sie heute garantiert keinen Platz!» Und er fuhr den Gast zu einem kleinen Hotel mit dem Namen Suisse. Dessen Zimmer waren sauber, aber zu klein für Frys Aufgabe. Ein Safe war nicht vorhanden, besser also, er trug seine Kostbarkeiten mit sich: in die Taschen eingenäht einige Tausend Dollar, in einer Mappe die Namensliste. Fry fiel auf bei seinem Erkundungsgang durch die Straßencafés an der Canebière, mit seinem neuen Maßanzug aus New York und den zielstrebigen, elastischen Schritten. An der Rezeption des Splendide gelang es ihm, für den übernächsten Tag zwei Zimmer zu reservieren.

«Für wie lange?»

«Ein Monat dürfte reichen.»

Dann machte er sich auf zum Büro des amerikanischen Konsulats an der Place Saint-Ferréol. Dort wies ihn eine nicht sehr höfliche, wasserstoffblonde Frau darauf hin, dass sich das Visa-Büro im Konsulat selbst außerhalb der Stadt befinde, doch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in einer Viertelstunde bequem zu erreichen sei.

Das Konsulat, eine hübsche, in einem Park gelegene Villa, war weiß und wirkte wie aus dem Ei gepellt. Vor dem Tor zu dieser heilen Welt stand eine graue Warteschlange von Emigranten. Fry beobachtete betroffen die von Entbehrung und Enttäuschung gezeichneten Gesichter. Er ging um die Schlange herum und nahm die Treppe zum Hauptportal. Eine Wache wies ihn zurück.

«Ich bin Amerikaner», sagte er.

Der Uniformierte zeigte sich beeindruckt. Führte Fry dann in einen abseits gelegenen Raum mit Konferenztisch und versprach, Frys Visitenkarte dem Konsul zu überreichen.

Nach einer Weile betrat ein Mitarbeiter des Konsulats das Zimmer und scheuchte Fry hinaus: Was er hier zu suchen habe, er gehöre zurück in den Warteraum!

Hier drängten sich die vom stundenlangen Ausharren erschöpften Emigranten. Der Hoffnungsfunke, der draußen in der Warteschlange angesichts der hübschen Villa noch in ihren Augen geschimmert haben mochte, war jetzt erloschen. Fry zog mit seinem sauber rasierten Gesicht und dem tadellosen Anzug feindliche Blicke auf sich, mit Schadenfreude forderte man ihn auf, sich hinten anzustellen.

Er wartete über eine Stunde, ging auf in der grauen, teils Französisch, teils Deutsch sprechenden Menge, dann kehrte er um und fuhr mit dem Bus in die Stadt zurück.

Am dritten Tag nach seiner Ankunft bezog er ein Zimmer im vierten Stock des Hotels Splendide. Er setzte sich an das schmale Tischchen, das eine Frisierkommode gewesen war, den Spiegel hatte er abgeschraubt und im Badezimmer verstaut. Saß da in der Nachmittagshitze, saß da und wartete darauf, dass die zu ihm fänden, die er retten sollte.

Noch in New York hatte er sich vorgestellt, wie er mit einem Fahrrad durch Südfrankreich fahren würde, um seine durch den Krieg verstreuten Künstlervögel zu suchen. Unweit von Marseille, in Gordes, wohnte zum Beispiel der von ihm bewunderte Marc Chagall. Heinrich Mann und seine Frau waren wohl in Nizza zu finden, doch wo befanden sich, um nur ein paar weitere zu nennen, Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Max Ernst, André Breton? Wo steckte Walter Mehring, der Autor frecher, tollkühner Kabaretttexte?

Sein erster Mitarbeiter, der kluge Albert Hirschmann, riet ihm zu Geduld: «Der Exodus der Flüchtlinge von Paris hierher ist noch im Gange. Pass auf, es kommen nicht zweihundert, sondern hunderttausend! Marseille, heißt es, ist die Endstation jeder Flucht.»

 

1

 

Die Emigrantenkommode in Paris,

Frühsommer 1938

 

«Sie wünschen?» Die Wirtin, eine kleine Blondine in reifem Alter, griff nach der Lesebrille und beugte sich über ihr Buch.

«Ein Zimmer für einige Wochen. Vielleicht auch für länger», sagte die junge Frau.

Die Frau am Tresen blickte hoch. «Ihr Name, Mademoiselle?»

«Miriam Davenport. Aus Massachusetts.»

«Also Amerikanerin?» Die Wirtin musterte das rundliche, hübsche Gesicht mit den auf dem Kopf zusammengebundenen blonden Haarflechten. «Seltsam», sagte sie langsam. «Frankreich ist dabei unterzugehen, und Sie wollen nicht nach Hause, sondern in Paris bleiben …»

Die junge Frau meinte lächelnd, sie warte auf ihren Verlobten. Als Sohn eines jugoslawischen Diplomaten habe er der politischen Lage wegen in sein Land reisen müssen. «Wissen Sie», sagte sie und blickte in die blauen, verkniffenen Augen der Patronne, «wir haben beide in Paris die École des Beaux Arts besucht. Sobald es die Verhältnisse zulassen, möchten wir unsere Studien abschließen. Mein fiancé malt selbst …» Sie hielt inne, um belustigt dem Wort fiancé nachzuhorchen, fuhr dann weiter: «Es heißt doch, Sie hätten ein Herz für Künstler, Madame?»

Die Patronne schaute nochmals in ihr Buch, legte dann mit einer entschlossenen Geste die Brille ab. «Bedaure, Mademoiselle. Das letzte Zimmer ist seit Tagen vergeben. An einen Schriftsteller aus Österreich. Sein Freund, der schon eine Weile unser Gast ist, hat für ihn reserviert.»

Ein kleingewachsener Mann war eben in den Flur getreten, die Wirtin wandte sich ihm zu. «Ach, da kommt er ja, unser Stammgast! Bonsoir, Monsieur Mehring! Wie immer mit Baby im Arm?»

Sie zeigte auf die in braunes Packpapier eingewickelte Weinflasche. Der Mann mit den scharfen, aber nicht unschönen Gesichtszügen lachte. Bat dann die Wirtin, die er Madame Boucher nannte, um ein drittes Weinglas. «Wir sitzen heute Abend zusammen. Ist Herr Horváth schon aus der Stadt zurück?»

«Nein. Aber Ihre Freundin aus Wien, Madame Pauli, ist schon da.»

Mehring bemerkte jetzt die junge Frau am Tresen, die für ihn zur Seite gewichen war. Er nickte ihr zu, stieg dann, auf der Spur von lockenden Essensgerüchen, die Treppe hinauf. Eine Dame aus der Wiener Gesellschaft pflegte auf einem primitiven Gaskocher für ihren blinden Sohn erstaunliche Mahlzeiten zu zaubern, und Mehring war heute eingeladen.

Die Besitzerin des Hotels wandte sich wieder zu Miriam Davenport. «Sie können, wenn Sie wollen, morgen oder übermorgen nochmals anfragen, Mademoiselle. In diesen Zeiten, wissen Sie, sieht die Welt jeden Tag anders aus.»

Miriam nickte, verabschiedete sich und trat aus dem dunklen Flur auf die Straße.

Von außen betrachtet, war die Herberge mit dem Anbau verwinkelt, der Innenhof schäbig, mit den Mülltonnen, dem Getrippel der rotfüßigen Tauben, den Wäscheleinen mit dem rosa Unterzeug der poules de luxe. An der Fassade las die Amerikanerin lächelnd die blauen Buchstaben mit dem Namen des Hotels: DE L’UNIVERS.

So also geht das Universum vor die Hunde, dachte sie.

Sie entnahm ihrer Mappe ein Notizbuch, in das sie eintrug: Nochmals nachfragen: Hotel de l’Univers, Rue Monsieur le Prince 63.

Zwei Tage später, als sich Miriam Davenport wieder am Empfang meldete, erinnerte sich die Wirtin sofort: «Ah, die Amerikanerin.»

Sie setzte die Lesebrille auf. Und murmelte, mit dem Blick in ihr Buch: «Des einen Unglück ist des andern Glück, c’est la vie, Mademoiselle! Der Herr aus Österreich, er soll berühmte Theaterstücke geschrieben haben, ist tot. Ein Unfall. Während des Gewitters hat ihn auf den Champs-Élysées ein herunterfallender Ast erschlagen. Sie können sein Zimmer haben.»

Mehring hatte gestern in seiner Dachkammer auf Ödön von Horváth gewartet, die Weingläser standen schon auf dem Tisch. Seine Wiener Freundin war noch schnell hinübergegangen in den Nebenbau, um ihren Taftrock aus dem Koffer zu holen, sie wollte sich schön machen, denn Ödön war in Wien ihr Geliebter gewesen. Mehring, der jetzige Geliebte, wusste es, es sah ganz so aus, als entstünde da im Univers so etwas wie eine Ménage à trois.

Draußen hatte ein Blitz den Himmel erhellt, doch das Donnergrollen klang fern, das Ende des Gewitters, dachte Mehring. Ein heftiger Regenguss hatte ihn aus der Innenstadt zurück in sein Hotel getrieben.

Von seinem Fenster blickte er jetzt auf den von der Nässe geschwärzten Hof. Er sah seine Freundin zurückkommen, die ihm mit der Hand heftige Zeichen machte, kein normales Winken, eher der Hilferuf einer Ertrinkenden.

Mehring riss einen Fensterflügel auf.

«Ödön …!», schrie sie.

«Ist er zurück?»

«Ödön …»

«Was ist?»

«Ödön ist tot!»

Die Freunde des Toten, meist deutschsprachige Schriftsteller und Theaterleute, suchten Mehring auf, den sie für ein Mitglied der Trauerfamilie hielten, von der echten Trauerfamilie erschienen nur zwei Angehörige aus Wien, trotz der deutschen Besatzung hatten sie sich nach Paris durchschlagen können.

Sie baten Mehring um Auskunft. «Bitte, sagen Sie uns die Wahrheit, war es die Geheimpolizei?»

«Nein», wiederholte Mehring, «es war ein Ast.»

«Und das mitten in Paris?»

Mehring nickte. «Hinter dem Rond Point, bei den alten Platanen. Ein heftiger Sturm hat einen der Bäume gespalten.»

«Ein gewöhnlicher Ast? Nach welcher Regie?»

Mehring blieb für einmal still. Stumm trank er seinen Wein aus. Erst als er sein Glas auf die Tischplatte zurückstellte, murmelte er: «In Zeiten, wo der Mensch dem Menschen sein Untergang ist, ist es wohl eine Gnade, durch einen gewöhnlichen Ast zu Tode zu kommen.»

Später trug er in sein Heft ein:

 

Doch Horváth, den ein Baum erschlug

Damit solch Kleinod im Exil

Den Säuen nicht zum Fraße fiel

Starb ganz er selbst: ein Satyr-Spuk …

 

Paris, 1940

 

In Paris waren die Untergangsszenarien bedrohlicher geworden.

Tausende hatten sich in Frankreich, dem verlässlichen Land der Emigration, sicher gewähnt. Nun rückten die Nazis, vor denen sie geflohen waren, von Norden her näher. In Paris brodelte die Gerüchteküche, Holland und Belgien hätten sich in einem Blitzkrieg ohne Widerstand den Hitlertruppen ergeben, nun erwartete man in der französischen Kapitale den Einmarsch.

In den Nächten, bei Fliegeralarm, trafen sich die Gäste des Hotels in den Gewölben der Luftschutz- und Kohlenkeller. Die erste, die dem Alarmzeichen folgte, war immer die beleibte Matrone aus Wien, sie schleppte jedes Mal einen Koffer mit Essensvorräten, auch den Methangas-Kocher. Ihr Sohn, ein Chemiker, folgte ihr nur unwillig mit einem zweiten Koffer, im militärischen Laboratorium der Sorbonne war er bei einem Unfall erblindet. Er liebte Frauen, konnte sie jedoch nicht mehr sehen. Umso intensiver nahm er ihre Gerüche war.

Am Eingang des Kellers, von ihrem Klappstuhl aus, hatte die Wirtin ihre Gäste unter Kontrolle. Wenn alles sich eingefunden hatte, erschienen als letzte die poules de luxe, die jenseits des Hofs wohnten. Sie trugen klaffende Morgenröcke, die sie ab und zu mit der einen Hand über der nackten Haut zu raffen suchten, während am andern Handgelenk ein lackiertes Köfferchen mit Toilettensachen baumelte. Der Blinde erschnüffelte erfreut ihre Parfums.

Der Lärm der Geschütze kam jetzt näher, man befürchtete den Einschlag der Bomben. Die Wirtin senkte das altersmürbe Gesicht über die gefalteten Finger mit dem Rosenkranz.

Die Davenport saß im Keller neben Mehring und seiner Freundin auf einer Seifenkiste und nahm, um aus der Schreckstarre zu kommen, nach jeder Detonation das Gespräch mit ihren Nachbarn wieder auf. Die schöne Wienerin hieß Hertha Pauli, eine Buchautorin und Schauspielerin, Mehring hatte gestern beim Frühstück stolz von ihrer Glanzrolle als Shakespeares Ophelia am Burgtheater erzählt. Doch die alte Wiener Dame hatte Miriam im Flur aufgeklärt: «Auch der bescheidene Herr Mehring ist eine Berühmtheit! Seine bissigen Kabaretttexte erregten in Berlin und Wien großes Aufsehen! Die Nazis hassen ihn!»

Miriam dachte über die Rollen der beiden Künstler nach und betrachtete das Paar: die Pauli großgewachsen, eine strahlende Erscheinung. Mehring klein, mit einem scharf geschnittenen, sensiblen Gesicht und spöttisch-melancholischen Augen. Auch im Keller hielt er sein in Packpapier gewickeltes Baby im Arm, er kaufte die Weinflasche täglich an der Rue Monsieur le Prince beim Épicier, hinter den Salat- und Kohlköpfen, auf einem Gestell an der Wand, standen verschämt die alkoholischen Getränke.

Mehring, im Gegenzug, machte sich ebenfalls seine Gedanken über die Davenport.

«Ihre Frisur», sagte er schließlich, und deutete auf ihre blonden Haarflechten, «lässt an eine Österreicherin oder an eine Schweizerin denken. Alpin jedenfalls. Doch ich weiß, Sie sind Amerikanerin.»

Sie lächelte. «Auch in Boston, Massachusetts trägt man diese Frisuren.»

Die Davenport sprach fließend, wenn auch mit rollendem R Französisch.

Nun merkte auch die Pauli auf.

«Wo Sie herkommen, da wollen wir alle hin! Weit weg von diesem Krieg, fort über den Ozean …»

«Ja», sagte die Davenport. «Ich kann das begreifen.»

Die Pauli neigte sich vor: «Miriam, sind Sie Jüdin?»

Sie verneinte. «In Massachusetts ist der Name Miriam bei den Presbyterianern beliebt. Hier werde ich aber oft gefragt, ob ich Jüdin sei. Und wissen Sie, ich lasse die Frage manchmal offen, als Verfechterin der Würde des Menschen entsetzt mich das, was ich über die Verfolgung der Juden zu hören bekomme.»

«Mehring und ich sind Juden», sagte die Pauli. «Ich wuchs ohne Kenntnisse meiner jüdischen Abstammung protestantisch auf …»

Ein Bombeneinschlag ließ die Wände des Kellers erzittern.

«Mon dieu … Das war gegenüber», murmelte die Wirtin.

Miriam versuchte ihren Schrecken zu überwinden. «Was schreiben Sie, Herr Mehring?»

«Gedichte.»

«Und wer druckt sie?»

«Sie scherzen! In dieser Zeit niemand. Ich bin froh, dass eine Stiftung aus Ihrer Heimat mich nicht verhungern lässt. Prinz Hubertus zu Löwenstein erhält mich knapp am Leben mit einer Zuwendung der American Guild of German Cultural Freedom. Eine Hilfsorganisation für das emigrierte deutsche Geistesleben. Und Sie, Miriam? Weshalb wohnen Sie als Amerikanerin nicht feudaler?»

Sie wartete mit der Antwort, bis der Lärm der Detonationen nachließ. «Nun, mein Vater war Kapitän auf dem Hudson. Er und meine Mutter sind tot. Mein kleiner Bruder studiert noch. Das Geld ist knapp.»

 

Die Stadt knisterte in nervöser Erwartung des Schlimmsten.

Das Hotel de l’Univers ist überbelegt, dachte Mehring. Die vollen Schubladen der Emigrantenkommode klemmen. Er saß in seiner Dachkammer, durch die blau bemalte Lucke sickerte Licht auf die Tischplatte. Er beugte sich über ein Notizheft und schrieb: Die Sintflut ist nah. Das Hotel de l’Univers treibt als Arche auf dem Wasser.

Stand ihm wieder, und nun zum dritten Mal, die Vertreibung bevor?

Die erste Flucht: Februar 1933, Berlin. In Max Reinhardts Theater Schall und Rauch gab er mit seinem schmalen, zugespitzten Gesicht auf der Bühne die Wühlmaus. Seine Texte gruben unterirdische Gänge, Fallgruben unter einem unmenschlichen System.

Die Menschen strömten ins Kabarett. In einer Zeit, wo man nicht die Wahrheit sagen durfte, hungerten sie nach scharfzüngigen, doppelbödigen Aussagen. Auch die Lieder der jungen jüdischen Dichterin Mascha Kaléko waren beliebt, die vom Alltag der kleinen Leute erzählten. «Asphaltlyrik, die ins Schwarze trifft», schrieb ein Kritiker anerkennend.

An jenem Abend 1933 stand die Kaléko schon auf der Bühne. Mehring liebte ihre Kirschenaugen, ihren vollen sinnlichen Mund. Als Marienkäfer, in getupften Pumphosen und schwarzen Strümpfen kletterte sie am Stamm eines Frühlingsbaums hoch. Da – ein Pierrot tänzelt heran. Entdeckt das hübsche Käferchen, spannt ein Sprungtuch, schüttelt den Baum. Im Sprung verliert der Käfer ein schwarzes Beinchen, der verliebte Pierrot klebt es mit Spucke an. Das Käfermädchen setzt sich ins Gras, und das Publikum wartet auf ein lockeres, in berlinerischem Ton vorgetragenes Gedicht:

 

Es gibt beinahe überall Natur

Man darf sich nur nicht sehr um sie bemühen –

Und so viel Wiesen, die trotz Sonntagstour

Auch werktags unbekümmert weiterblühen …

 

Der Vorhang geht zu, Mehring, im dunklen Anzug auf der Bühne, zum Auftritt bereit.

Da flüstert die Kaléko, noch immer im Käferkostüm: «Mehring, im Publikum warten SS-Leute! Nehmen Sie die Wendeltreppe!»

So verließ Mehring das Gebäude durch den geheimen Ausgang und reiste mit einem Köfferchen, das lange schon fluchtbereit im Zimmer stand, noch an diesem Abend nach Paris.

In der Nacht nach Mehrings Flucht brannte der Reichstag.

Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Egon Erwin Kisch und andere unbequeme Autoren wurden verhaftet. Erika und Klaus Mann, Annette Kolb, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Alfred Döblin und viele andere verließen Deutschland.

Am 10. Mai wurden in Berlin die Bücher missliebiger Autoren verbrannt, Mehrings Gedichte züngelten lärmend und stinkend wie Knallbonbons.

 

Walter Mehrings Emigrantenleben. Teils in Paris, teils in Wien. Im März 1938 in Wien die zweite Flucht: Die großdeutsche Luftwaffe donnerte über den Kahlenberg, transportierte Einheiten der schwerbewaffneten Reichswehr. Diese Nazi-Invasion nannte sich Anschluss. Auf den Straßen in der Innenstadt machten Braunhemden Jagd auf Juden und Bolschewiken.

Kehliger Gesang da und dort: «Heute gehört uns Österreich – und morgen die ganze Welt!»

Mehring, gewarnt, versuchte am Wiener Bahnhof den Zug Istanbul–Paris zu nehmen, doch die neuen Herren Österreichs sperrten mit einem Kordon den Bahnsteig ab. Der kleingewachsene Mann zog sich eine gestrickte Bauernmütze über den Kopf.

«Wo wollen S’ denn hin?»

«Zu meinem Onkel nach Salzburg.»

«Wenn einer zu seinem Onkel nach Salzburg will, so einen Trottel kann man laufen lassen.»

Der Trottel Mehring zog die Zipfelmütze mit der Hirschstickerei tiefer ins Gesicht, rettete sich in den Zug.

An der Grenze in Feldkirch scharfe Kontrollen, die Nachtreisenden zum Aussteigen gezwungen, erst Stunden später fuhr der Zug durch die neutrale Schweiz Richtung Frankreich. Mehring erreichte am andern Abend sein geliebtes Paris, das er von früheren Besuchen her gut kannte. Mittellos, ein angefangenes Manuskript im Handgepäck. Die dreißig Dollar der American Guild verschafften ihm ein Dach über dem Kopf, zum Essen blieb kaum etwas übrig.

1939, zu Beginn des Kriegs, hatte sich das Klima in der Ville des lumières verändert, Mehring und andere Ausländer wurden zu indésirables, Unerwünschten erklärt und interniert. Mit dreihundert Leidensgenossen schmachtete er im Lager Les Falaises in der Normandie, erst im Februar 1940 gelangte er wieder nach Paris.

Und jetzt wird der 14. Juni 1940 zum Tag der dritten Flucht.

Vor den Fenstern des Hotels de l’Univers bleibt es am Morgen finster, die Luft ist von Ruß geschwängert.

Es heißt, die Deutschen haben eine Kohlenstaubwolke in die Luft geblasen, um den Vormarsch durch das Seinetal zu tarnen. Erst gegen Mittag dringt die Sonne in den schmuddeligen Innenhof.

Madame Boucher eilt mit ihren Einkaufstaschen aufgeregt in ihr Univers zurück. Sie hat das Getrappel der feindlichen Stiefel auf dem Pflaster der Innenstadt noch im Ohr und Tränen in den Augen. In der Hotelküche schmiert sie Brötchen mit Ersatzbutter und schickt, zusammen mit den Brötchen, alle ihre Gäste fort auf die Reise: «Allez, vite! Wer nicht flieht, wird eingesammelt und zu den indésirables in ein Lager gebracht.»

Die Straßen sind überfüllt vom Exodus der Pariser. Man flieht mit hastig zusammengerafften Habseligkeiten auf Kinderwagen, Gemüsekarren, auf dem Fahrrad oder zu Fuß. Den Feind vermutet man im Norden, also Flucht nach Süden in die noch unbesetzte Zone. Der Menschenstrom ergießt sich aus den Pforten der Stadt in die Bannmeilen, von da auf die von Feldern umsäumte Landstraße.

Hertha Pauli und Walter Mehring werden von einem Gemüsetransporter mitgenommen.

Über der Straße plötzlich Blitze, das Dröhnen feindlicher Flugzeuge. Ein Schuss durchlöchert das Wagendach, die Mitfahrer kollern samt den Kisten mit Salat- und Kohlköpfen hinaus. Hastige Deckung im Straßengraben.

Nach dem Schreck schleppen sich die Pauli und Mehring zwei Stunden zu Fuß weiter.

Doch Hertha, die Ophelia, wird trotz des von Straßenstaub verschmutzten Gesichts und wilder Frisur beachtet. Deserteure der französischen Armee, auf einem tuckernden Traktor, heißen sie aufsteigen.

Sie setzt sich oben auf ein Fass. Winkt. Und jetzt taucht Walter Mehring auf, unscheinbar, in den vom Straßengraben verdreckten Kleidern.

«Ihr Mann?»

Sie nickt.

«Was für ein Paar», flüstert einer der Soldaten.

«Not schmiedet zusammen», sagt der andere.

 

In der Nacht, in einer Scheune.

Draußen der Angriff tieffliegender Jäger, Hertha sucht bei ihrem Mehring, dem Fluchterfahrenen, Wärme und Schutz.

Zwei junge Burschen, Kinder eigentlich, die durch ihr Eintreten aus dem Stroh gescheucht wurden, wollen eben mit ihren Fahrrädern den Unterstand verlassen.

«Ach, bleibt doch!»

«Nein, nachts kommt man besser voran. Wir müssen weiter bis zur Küste.»

Dorthin wollen wir auch, dachte sie, doch erst etwas essen – und sie griff nach dem Sack mit den Brötchen der Wirtin. Die Art, wie die beiden Jungen, die Fahrräder neben sich, auf die Brötchen schielen, macht sie betroffen.

«Da ist auch genug für euch! Kommt, setzt euch nochmals hin.»

Sie hat keine Kinder, vielleicht nimmt sie sie deshalb ernst wie Erwachsene. Diese da haben Hunger, das ist ihr klar.

Die beiden Jungen fassen Vertrauen. Das Paar spricht ihre Sprache und flieht ebenfalls vor den Hakenkreuzlern.

Auf die Bitte der Frau hin beginnt Justus, der Größere, zu erzählen: «Als mein Vater in Danzig hörte, dass wir jüdische Buben nicht in die höheren Schulen durften, ordnete er an, dass ich mit meinem Freund Fred zu einem Bruder unserer Französischlehrerin nach Paris fahren solle. Der wollte uns für ein Jahr aufnehmen und hatte uns schon in einem Lycée angemeldet. Der Mann heißt Nime. Er wollte uns in Paris in Empfang nehmen.

Aber bei unserer Ankunft im Gare de l’Est war ein Durcheinander von Zivilisten und Militärs. Monsieur Nime sollte vorn am Perron warten, als Kennzeichen ein Buch mit rotem Umschlag. Er war nicht da. Im Notfall warte er links beim großen Kiosk, hatte er unserer Lehrerin geschrieben. Schon auf dem Weg dorthin sagte Fred, er ist ein Spaßvogel: ‹Du wirst sehen, dort steht nicht Monsieur Nime. Dort steht Herr Niemand!›

So war es. In diesem Fall sollten wir ein Taxi nehmen, die Adresse hatten wir ja. Das Taxi, das wir nur mit Mühe auftreiben konnten, brachte uns in eine Vorstadt, in eine Gegend mit kleinen Häusern und Gärten. Die Tür fanden wir angelehnt, wir läuteten.

‹Wetten, Herr Niemand lässt grüßen›, lästerte Fred. Mir wurde unheimlich. Ich stieß die Tür ganz auf, wagte mich hinein, fand die Zimmer leer, verwüstet.

Wieder draußen, stand am Zaun des nächsten Gartens ein altes Ehepaar: ‹Zu Monsieur Nime? Mon Dieu, sie haben ihn abgeholt, in ein Lager gebracht! Vorgestern haben die Deutschen Paris überfallen, alles ist durcheinander, la pagaille. An der hinteren Hauswand lehnen zwei Fahrräder, Monsieur Nime hat sie wohl für euch hingestellt. Nehmt sie, ihr Jungen, und fahrt, solange ihr könnt, immer nach Süden in die unbesetzte Zone … Auch wir werden heute fliehen, zu unseren Verwandten nach Toulouse.›

Wir nahmen also die Fahrräder. Folgten draußen auf der Straße den fliehenden Menschen, an Vororten vorbei, ins offene Land. Bei dem Luftangriff vorhin wollte man uns im Straßengraben die Räder klauen.»

Während sie erzählen, beißen die Jungen gierig in die Brote mit der Ersatzbutter. Bedanken sich dann höflich.

Hertha tun sie leid, und sie ruft ihnen hinterher: «Gebt gut auf euch acht!»

«Auch wir sollten weiter», sagt sie zu Mehring.

Aber sie sind beide zu müde. Zudem sind sie nun allein in der Scheune, Hertha kann aus den staubverdreckten Kleidern schlüpfen. Sie liegt im Hemdchen, er legt sich zu ihr ins Stroh, wärmt sie. Ihr Körper ist ihm Heimat. Später schreibt er die Zeilen:

 

Im Stroh: wie schien Dein Leib ein Schloss

Zuhaus, wenn Regen uns umfloss –

Schiff im Orkan – und muttersacht …

 

Die Pauli kann trotz seiner Fürsorge nicht einschlafen und bittet Mehring, ihr Lieblingslied zu summen: «Weißt du, dieses Lied vom Schlaf, der ein Geschenk der Mütter ist.»

Er nickt. Als er einmal krank lag, hat er das Lied gedichtet und es später in Berlin auf der Bühne gesungen.

Wiegt sie nun damit in den Schlaf, seine Ophelia.

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