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Mörderisches Watt

Als Buch hier erhältlich:

Touristenmagnet Büsum von seiner schaurigen Seite

Der pensionierte Oberstaatsanwalt Thies Jansen wird verdächtigt, seine Frau und deren Liebhaber, einen bekannten Krabbenfischer, ermordet zu haben. Seine Freunde Carsten Matthiessen und Hinnerk Petersen wollen das nicht glauben und setzen alles daran, die Unschuld ihres Freundes zu beweisen. Vor allem Carsten, der vor kurzem pensionierte Leiter der Büsumer Polizeistation, ist froh, wieder eine Aufgabe zu haben. Doch die Ermittlungen gestalten sich kompliziert, denn Thies hat sich in seinem Beruf über die Jahre einige Feinde gemacht. Und dann erfährt auch noch Carstens Tochter Lena, selbst Polizistin, von Carstens und Hinnerks Machenschaften und ist darüber alles andere als begeistert...


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906895
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Heiko und Elke Fedders betrieben wie andere ihrer Kollegen am Fischerkai einen Verkaufsstand, wo sie täglich fangfrischen Fisch, eine Auswahl unterschiedlichster Salate sowie Fischbrötchen und natürlich die bei Touristen so beliebten Krabben anboten. Ebenso bewarben sie hier die Möglichkeit, an einer Fangfahrt auf ihrem Kutter Tina teilzunehmen oder sich in speziellen Kursen in die Geheimnisse des Krabbenpulens einweihen zu lassen.

Elke Fedders war heute schon früh vor Ort, da sie einiges im Verkaufswagen umsortieren wollte. In den letzten Tagen hatte sie vier neue Fischsalate kreiert, die in der Auslage untergebracht werden mussten, außerdem gab es ihre beliebte Fischsuppe jetzt auch als Konserve, da hier eine große Nachfrage bestand und sich viele Kunden, in der Hauptsache Touristen, gewünscht hatten, diese Suppe mit nach Hause nehmen zu können. Das Regal, auf dem die Dosen stehen sollten, hatte sie gestern befestigt, jetzt galt es, die von zu Hause mitgebrachten Konserven ansprechend darauf zu arrangieren.

Öffnen würde sie erst gegen zehn, wenn ihr Kutter, den sie nach ihrer Tochter benannt hatten, mit einer hoffentlich reichen Beute von seiner Fangfahrt zurückgekehrt war. Sie hatte also noch Zeit.

Als von draußen lautes Fluchen zu vernehmen war, öffnete Elke die Tür und gewahrte Jonne Kersting, der mit grimmiger Miene und eiligen Schrittes auf den Verkaufswagen zusteuerte. Jonne und Elkes Mann Heiko wechselten sich mit dem Kommando auf dem Kutter ab.

»Was ist los?«, fragte sie beunruhigt, als Jonne vor ihr stehen blieb. Seine Kleidung war verdreckt, sein Atem ging schwer, sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so aufgebracht gesehen zu haben. »Wieso seid ihr denn jetzt schon zurück?«

»Der Drah ist gerissen«, wetterte er.

»Ach, du Elend!«, sagte Elke erschrocken. Am Drah, auch Kurrleine genannt, hing das Netz. Und da Netze teuer waren, wurde natürlich alles darangesetzt, sie nach einem solchen Vorfall wieder aus dem Meer zu fischen. »Habt ihr das Netz rausholen können?«

»Jo. Hat ’n büschen gedauert, aber dann hatten wir es. Es sieht allerdings nicht gut aus. Wenn wir Pech haben, wird das diesmal nix mehr mit flicken. Ich hab schon versucht, Heiko zu erreichen, aber auf seinem Handy ging nur die Mailbox ran.« Jonne strich fahrig über seine Stirn. »Hast du ’ne Ahnung, warum? Der macht sein Handy doch normalerweise nie aus.«

Oh doch, das macht er in letzter Zeit öfter, dachte Elke und fühlte bittere Galle aufsteigen. Aber sie würde sich hüten, ihren Verdacht über den Hintergrund dieses Verhaltens vor irgendjemandem auszusprechen. »Nee, keinen Schimmer.«

»Ist Heiko zu Hause?«

»Er wollte früh los, um sich in Husum einen Verkaufswagen anzusehen.« Elke sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass jetzt nicht die Frage kam, ob sie ihren Mann denn heute Morgen gar nicht gesehen hätte. Dass sie ihre Nächte mittlerweile im Gästezimmer verbrachte und dort auch das Frühstück einnahm, ging niemanden etwas an. Nur Tina hatte es mitbekommen, ebenso wie die anhaltende Missstimmung zwischen ihren Eltern, sich bis jetzt aber nicht dazu geäußert.

Und auch Jonne ersparte Elke die Peinlichkeit einer Erklärung und brummte nur: »Hmm, dascha gediegen. Hat er mir gar nix von gesacht.« Er deutete auf den Wagen, neben dem sie standen. »Ist denn irgendwas mit dem, dass ihr ’nen neuen anschaffen wollt?«

Elke schüttelte den Kopf. »Heiko hat über die Anschaffung eines zweiten Wagens nachgedacht, weil wir dann auch auf die Wochenmärkte im Umkreis fahren könnten.« Wofür sie allerdings jemanden anstellen müssten, weil sie mit dem Verkauf in Büsum ausgelastet war und ihr Mann sich jetzt ja allem Anschein nach anderweitig beschäftigte.

Jonne nickte bedächtig und drückte eine Nummer auf seinem Smartphone. Elke ahnte, um wessen Anschluss es sich handelte, was Jonne einen Augenblick später mit den Worten: »Mann, das nervt langsam, dass ich Heiko nicht zu fassen krieg«, bestätigte.

»Habt ihr denn überhaupt was gefangen?«, fragte sie, in der Hoffnung, das Gespräch so in eine andere Richtung lenken zu können.

»Geht so. Malte bringt es dir gleich.« Malte Höhner gehörte ebenfalls zur Besatzung des Kutters und half außerdem häufiger am Verkaufsstand aus.

»Das war wirklich blöd, dass ihr euren Festnetzanschluss abgeschafft habt«, ärgerte sich Jonne. »Dann könnt ich es nämlich darüber versuchen.«

»Ich glaub nicht, dass Heiko noch zu Hause ist«, versuchte Elke ihn zu beschwichtigen.

»Dat is aber ock allens ’n Schietkraam!«, schimpfte Jonne und blickte sie genervt an. »Sag mir Bescheid, wenn er sich meldet.«

Elke versprach es und blickte Jonne hinterher, als er zum Kutter zurückstapfte.

War Heiko wirklich nach Husum gefahren? Die Sache mit dem zweiten Verkaufswagen war schon länger ein Thema bei ihnen, und es bestand ja wirklich die Möglichkeit, dass es in Husum einen Wagen gab, den ihr Mann sich ansehen wollte. Andererseits stand er mit der Wahrheit in der letzten Zeit allzu häufig auf Kriegsfuß.

Sie hatte Heiko bei ihrer Rückkehr am Vorabend das letzte Mal zu Gesicht bekommen. Das war gegen neunzehn Uhr gewesen, als sie und Tina vom Hafen zurückgekommen waren. Heiko hatte mal wieder über Rückenschmerzen geklagt und wie ein sterbender Schwan auf dem Bett gelegen, woraufhin der fällige Lebensmitteleinkauf an ihr und Tina hängen geblieben war. Wie fast immer in der letzten Zeit. Als sie voll bepackt nach Hause zurückgekommen waren, war Tina umgehend zu ihrem Treffen mit Freunden aufgebrochen, und Elke hatte nicht mehr nach Heiko gesehen, weil ihr sein Gejammer auf den Geist ging und sie das zunehmende Abschieben lästiger Tätigkeiten auf sie wieder mal so wütend gemacht hatte, dass sie einen mordsmäßigen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Es war also gut möglich, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits dort gewesen war, wo sie ihn auch jetzt vermutete.

Im Hochhaus, in dem ihnen eine Ferienwohnung gehörte, die ihr Mann für diesen Sommer aus der Vermietung genommen hatte, mit der Begründung, dass sie dringend renoviert werden müsse.

»Wieso das?«, hatte Elke verwundert gefragt. »Die Wohnung ist doch tipptopp.« Aber Heiko hatte abgewunken und etwas von Beschwerden erzählt, die ihm auf einigen Internetportalen aufgefallen wären. So etwas müsse man ernst nehmen und die Mängel umgehend beheben.

Ihre Internetsuche hingegen hatte nichts ergeben, und ein Besuch in der Wohnung hatte ihr keinerlei Hinweise auf Mängel gezeigt. Zuerst hatte sie Heiko darauf ansprechen wollen, es dann aber unterlassen, weil etwas anderes bereits vor Wochen ihr Misstrauen geweckt hatte und sie plötzlich einen Zusammenhang herzustellen begann.

War es möglich, dass Heiko eine Affäre hatte und die Wohnung als Liebesnest nutzte?

Als ihr Mann vor einiger Zeit damit begonnen hatte, plötzlich auf sein Erscheinungsbild zu achten, dem er in ihrer nun dreißig Jahre andauernden Ehe selten eine größere Bedeutung beigemessen hatte, hatten bei Elke die Alarmglocken geschrillt. Plötzlich waren neue Klamotten angesagt gewesen, und im Bad hatte sie irgendwann doch tatsächlich eine Gesichtspflegeserie für den reiferen Mann entdeckt. Darauf angesprochen, hatte Heiko erwidert, dass man gerade in ihrem Alter etwas für sich tun müsse, und die Tatsache, dass er sie dabei von oben bis unten mit einem geringschätzigen Blick gemustert hatte, hatte sie so wütend gemacht, dass sie ihm am liebsten eine gescheuert und ich weiß, warum du jetzt plötzlich einen auf Gockel machst geschrien hätte. Dabei waren es nur Vermutungen, die sie seitdem jeden Tag quälten, weil sie zu feige war, sich endlich Gewissheit zu verschaffen.

Plötzlich hielt es Elke nicht mehr im Verkaufswagen. Sie streifte ihre Jacke über, da es zu dieser frühen Stunde hier am Wasser noch ziemlich frisch war, schloss die Tür ab und lief zum Kutter, der nicht weit entfernt am Kai lag. »Ich muss noch was erledigen. Bin inner Stunde zurück«, rief sie Jonne und Malte zu, und da die beiden zum Typ »wortkarger Norddeutscher« gehörten, blieben ihr Nachfragen zum Glück erspart.

2

Wenn Hinnerk Petersen mal wieder ins Grübeln geriet, wurde ihm bewusst, dass die Nächte, in denen er sein müdes Haupt im Bestattungsinstitut Gerdes zur Ruhe bettete, in der letzten Zeit definitiv zugenommen hatten. Was nicht mit einem heimlich praktizierten Vampirismus zusammenhing, wie man im ersten Moment vermuten mochte. Hinnerk mied zwar die Sonne, das hatte aber eher etwas mit empfindlicher Haut und einer damit einhergehenden Sonnenbrandgefahr zu tun.

Nein, Hinnerk kam nur aus einem einzigen Grund an diesen Ort, an dem er schon seit vielen Jahren arbeitete. Er suchte Zuflucht. Vor Mina. Seiner Frau. Diesem einstmals liebevollen und anschmiegsamen Weibsbild, das sich im Laufe der Jahre zu einer Xanthippe allererster Güte gewandelt hatte, um die jeder, der seiner Sinne auch nur halbwegs mächtig war, einen großen Bogen machte.

Mach mal! Zwei Worte, im Kasernenhofton hervorgestoßen, die ihn durch die Tage begleiteten und auch in den Nächten häufig nicht zur Ruhe kommen ließen. Er war zu Minas Hanswurst verkommen, zu ihrem Laufburschen, an dem sie tagtäglich ihre Launen ausließ. Oh, er hatte es so satt!

»Schiet di wat un klei mi ann Mors!« Oh, es tat so gut, wieder einmal herzhaft fluchen zu können. Hinnerk griente in sich hinein und betrat den kleinen, fensterlosen Nebenraum, in dem er Luftbett, Bettdecke und Kopfkissen in einem Schrank verstaut hatte. Der Raum diente als Abstellkammer, aber das störte Hinnerk nicht, solange er seine Ruhe hatte.

Ächzend hievte Hinnerk die große Tragetasche aus dem Schrank – Mann, war das Teil schon immer so schwer gewesen? – und zog das Luftbett heraus. Dann faltete er die zusammengeschrumpfte Hülle auseinander, um den Stecker einzustöpseln. Blasebalg und Aufpumpen mithilfe von Fußkraft lagen zum Glück Lichtjahre zurück, heutzutage bedurfte es nur einer Steckdose, und in vier Minuten war das Teil aufgepumpt. Praktischer ging’s nun wirklich nicht.

Ja, Hinnerk hatte sein Luftbett lieben gelernt …

Er betätigte den Starter, woraufhin die Pumpe mit lautem Getöse loslegte. Das würde selbst Tote wieder zum Leben erwecken, dachte Hinnerk und griente ein weiteres Mal.

Tote gab es allerdings keine in der Sarghalle. Die befanden sich im Kühlraum, der aber seit Wochen keine Neuankömmlinge mehr zu Gesicht bekommen hatte. Die Dithmarscher waren robust, die starben nicht so schnell, und wenn, dann erst im hohen Alter. Und auch die Touris hatten sich in diesem Jahr bisher kaum als zusätzliche Einnahmequellen erwiesen, was ein bisschen frustrierend war. Beim Joggen hatte schon lange keiner mehr den Löffel abgegeben, die Wattwanderer kehrten alle pünktlich bei auflaufendem Wasser an Land zurück und vom Büsum-Finger, dem scheußlichen Hochhaus an der Perlebucht, dessen Architekt an die Wand genagelt gehörte, war auch schon lange niemand mehr gesprungen. Was ihnen eine Zeit lang jede Menge neuer Kunden beschert hatte.

Angesichts dieser Umstände war der Begriff Sarghalle auch etwas zu hoch gegriffen, da es sich nur um einen mittelgroßen Raum handelte, in dem einige Modelle in Eiche, Buche und Kiefer herumstanden. Wo wenig gestorben wurde, musste man auch nicht viele Särge vorhalten. Seine Chefin Freya Gerdes, die mit ihrem definitiv nicht norddeutschen Vornamen erstaunlich gut zurechtkam, weil sie ebenso wie ihre verstorbenen Eltern eine große Wagner-Liebhaberin war, hatte im letzten Jahr die verwegene Idee gehabt, zwei extravagante Modelle aus Italien ins Sortiment aufzunehmen. Zur Probe sozusagen, um auszutesten, wie die Büsumer auf so etwas reagieren würden. Die Dinger waren echte Hingucker gewesen, der eine in glänzendem Dunkelblau, der andere in mattem Schwarz mit silbernen Einlegearbeiten. Allerdings arschteuer, weshalb sie sich dann auch als Ladenhüter erwiesen hatten, bis Freya sie schließlich an den Hersteller zurückgegeben hatte.

Hinnerk mochte sein Domizil im Institut, war sich aber vollkommen darüber im Klaren, dass seine Empfindung schon ein bisschen schräg war. Aber hier war nun mal der einzige Platz, an dem er seine Ruhe vor Mina hatte. Seine Frau würde nicht mal bei Tag hierherkommen, geschweige denn bei Nacht. Dass du da arbeiten kannst, war einer ihrer Standardsätze. Ich würde mich zu Tode fürchten. Was nun wirklich dumm Tüch war, denn wovor, bitte sehr, sollte man sich hier fürchten? War ja niemand da, der einem was tun konnte.

Das Luftbett war aufgepumpt, und Hinnerk warf einen nachdenklichen Blick auf das Bettzeug, das sich noch im Schrank befand. Reichte der Bettbezug oder sollte er auch die Bettdecke nehmen? Er entschied sich nach kurzer Überlegung für Letzteres. Die Tage waren für Ende Mai ein bisschen zu kühl, allerdings würde die leichte Sommerdecke ausreichen. Im Winter war das ein anderer Schnack, da mussten es wärmende Daunen sein, denn wenn hier der Wind um die Ecken fegte, wurde Hinnerk zu einem richtigen Frostbüdel.

Manchmal fragte er sich, ob Freya in der Zwischenzeit mitbekommen hatte, dass er diesen Raum als Unterkunft nutzte. Sie kannte Mina nicht besonders gut, und deshalb wusste Hinnerk auch nicht, ob seine Frau seiner Chefin genauso auf den Wecker ging wie ihm. Aber selbst wenn nicht, hatte Freya bestimmt nichts dagegen, wenn er hier hin und wieder schlief.

Hinnerk löschte das Licht und kroch unter die Decke. Wenn Mina nicht neben ihm lag, schlief er meistens durch, da kam auch seine Blase zur Ruhe.

Er war gerade weggedämmert, als ihn ein Geräusch hochschrecken ließ. Hinnerk runzelte die Stirn und lauschte angestrengt in die Dunkelheit, aber da war nichts mehr. Kurz überlegte er, aufzustehen und nachzusehen, auch wenn er nicht wusste, woher das Geräusch gekommen war. Gut möglich, dass die Ursache dafür im Freien lag. Vielleicht ein später Spaziergänger, der zu tief ins Glas geschaut und mit den Blumenkübeln vorm Eingang des Instituts schmerzhafte Bekanntschaft gemacht hatte.

Hinnerk schüttelte den Kopf und ließ sich wieder zurücksinken. Nee, er hatte jetzt keinen Bock aufzustehen. Konnte ja auch sein, dass es nur ein Traum gewesen war, er träumte manches Mal nämlich sehr realistisch.

Irgendwann weckte ihn dann doch seine Blase, und bei einem Blick auf die Armbanduhr stellte er fest, dass es schon kurz vor acht war. Junge, da hatte er aber lange gepennt.

Schlaftrunken versuchte er hochzukommen. Was für ein Akt. So praktisch diese Luftbetten auch waren, einen Nachteil hatten sie doch. Für Menschen ab einem gewissen Alter waren die Biester einfach zu niedrig, was dazu führte, dass man sich beim Aufstehen und beim Niederlassen ziemlich abplagen musste. Bei ihm ging das nur noch mit dem Umweg über die Knie, was immer einen heftigen Protest seines Rückens zur Folge hatte. Und wenn man dann eilig pieseln musste, hatte man ganz schlechte Karten.

Als Hinnerk endlich in der Senkrechten angekommen war, pressierte es schon sehr. Eilends verließ er sein Refugium und durchquerte die Sarghalle, hinter der sich das Büro mit der Toilette befand. Erst auf dem Rückweg wurde ihm bewusst, dass irgendetwas anders war.

Er hielt inne und schnupperte.

Was war das?

Das Licht, das durch zwei Oberfenster fiel, reichte nicht, um mehr als die schemenhaften Umrisse der Särge zu erkennen, also stellte er die Deckenbeleuchtung an und blickte sich um. Von den fünf Eichen- und Kiefernsärgen, die zur Besichtigung im Raum ausgestellt waren, standen zwei auf Podesten hochkant an der Wand, die übrigen drei waren nebeneinander auf dem Fußboden aufgereiht. Hinnerk hatte sie gestern noch alle poliert, Ordnung musste schließlich sein, auch wenn es mit der Nachfrage im Moment haperte.

Komisch … Hinnerk rieb sich den Schlaf aus den Augen, aber der erste Blick hatte ihn nicht getrogen. Einer der Särge war nicht vollständig geschlossen. Der Deckel lag zwar noch drauf, war aber ein kleines Stück zur Seite gerückt.

War ihm das gestern beim Putzen passiert?

Gut möglich. Wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ, konnte es schon mal passieren, dass er seine Arbeit etwas unkonzentriert erledigte.

Hinnerk trat näher, wobei ihm auffiel, dass der Geruch stärker wurde. Unwillkürlich schüttelte er sich und spürte einen Schauer über seinen Rücken laufen. Als Bestattungsfachkraft war er den Umgang mit Verstorbenen natürlich gewohnt, und etwaige mit dem Tod verbundene Gerüche nahm er kaum noch wahr. Aber dieser hier war anders. Irgendwie … metallisch.

Kurz entschlossen packte Hinnerk den Deckel und schob ihn beiseite. Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was da vor seinen Augen lag …

3

»Also wirklich, Papa, das ist doch eine Schnapsidee!«

»Wieso das denn?« Erbost blickte Carsten Matthiessen seine Tochter Lena an, die gerade ihm gegenüber am Frühstückstisch Platz genommen hatte und sich die erste Tasse Kaffee des Tages zu Gemüte führte. »Das machen andere Ermittler schließlich auch, nachdem sie in den Ruhestand gegangen sind. Guck dir doch mal den Buchmarkt an. Da gibt es True-Crime-Bücher ohne Ende, und die scheinen richtig gut zu laufen.«

»Die wurden aber von Kripobeamten geschrieben, die viele Jahre in Mordkommissionen oder anderen interessanten Dezernaten gearbeitet haben.« Lena fischte eine Scheibe Schwarzbrot aus dem Brotkorb, die sie zuerst mit Butter und dann dick mit Honig bestrich. »Aber doch nicht von Schutzpolizisten aus der Kleinstadt.«

Das leichte Lächeln, das sich während des letzten Satzes in den Mundwinkeln seiner Tochter eingenistet hatte, brachte Carsten auf die Palme. »Ich war zwanzig Jahre lang der hiesige Dienststellenleiter«, ereiferte er sich. »Was glaubst du, was in dieser Zeit alles in Büsum los war?«

»Ich weiß zumindest, was in den letzten acht Jahren hier los war, in denen wir beide zusammengearbeitet haben«, erwiderte Lena seelenruhig und pickte einige Weintrauben vom Obstteller. »Und das war jetzt nicht so wahnsinnig spannend. Verkehrsdelikte, ein paar Einbrüche und Schlägereien, Laden- und Taschendiebstähle. Wir hatten in der Zeit ja nicht mal ein Tötungsdelikt. Was beweist, dass das Verbrechen einen großen Bogen um Büsum macht.«

Carsten wollte zu einer Antwort ansetzen, sah dann aber davon ab. Er hatte bereits erste Schreibversuche unternommen, die seiner Meinung nach gar nicht mal so schlecht gelungen waren. Eine Geschichte war sogar schon fertig, na ja, viereinhalb Seiten bisher, das musste man jetzt nicht so eng sehen, neun weitere sollten folgen. Es wäre doch gelacht, wenn er das nicht hinbekäme. Außerdem war Schreiben eine äußerst befriedigende Beschäftigung für den Ruhestand. Ein Wort, das er übrigens so gar nicht mochte, Unruhestand gefiel ihm um Längen besser.

Dummerweise gab es zurzeit aber eine Baustelle, die er nicht so einfach ignorieren konnte, weil sie immer wieder versuchte, ihn vom Schreiben abzuhalten. Und diese Baustelle trug den Namen Fini, eine äußerst kapriziöse West-Highland-Terrier-Dame, die ihm Lena einige Monate nach seinem Eintritt in den bewussten Unruhestand aufgehalst hatte, weil sie das heißgeliebte Findelkind nicht länger mit in die Dienststelle nehmen wollte und konnte. Im Moment saß der Liebling gerade neben seiner Tochter auf der Küchenbank und verfolgte mit gierigen Blicken jeden Bissen, den Lena zu sich nahm.

Carsten mochte Hunde, gar keine Frage, allerdings begann ein richtiger Hund für ihn erst ab der Größe eines Schäferhundes. Alles darunter war irgendwie … Kleinvieh. Dass dieses Kleinvieh jedoch durchaus in der Lage war, sein Recht einzufordern und sich bei Ignoranz seiner Wünsche schon mal an Hosenbeinen und der Hauseinrichtung auszutoben begann, hatte Carsten erst lernen und schließlich zähneknirschend akzeptieren müssen. Seitdem blickte er mit einer Art Hassliebe auf den Neuzugang in seinem Haushalt und gestand sich nur in äußerst schwachen Momenten ein, dass die Kleine ja doch eine Süße war, wenn sie so vor einem saß und mit ihrem herzerwärmenden Blick aus dunklen Knopfaugen sämtliche Register zu ziehen verstand. Wenn sie sich dann allerdings im Freien in irgendwelchen Pfützen auszutoben begann und ihr Fell binnen Sekunden die Farbe von Schneeweiß zu Tiefschwarz wechselte, war es mit der kurz zuvor aufgeflackerten Liebe schon wieder vorbei.

Wollte man nämlich anschließend das Kunststück vollbringen, das Tier wieder in seine Ursprungsfarbe zurückzuverwandeln, musste man sich einer Duschaktion stellen, die nun wirklich nichts für schwache Nerven war. Fini hasste jegliches Wasser, das von oben kam, wie die Pest und nutzte jede Gelegenheit, um dieser Tortur zu entkommen – meistens mit Erfolg. Was eine Putzorgie zur Folge hatte, zumindest im Erdgeschoss des Hauses.

Und überhaupt … Fini … was hatte sich seine rationale, nicht zu überschüssigen Emotionen neigende Tochter eigentlich bei diesem lächerlichen Namen gedacht? Fini klang nach Heiteitei und was bist du für ein süßer, süßer Schnulli, aber doch nicht nach einem Namen für einen Hund! Was versuchte Lena damit zu kompensieren? War sie auf der Suche nach einem Ersatzbaby, weil ihr ein eigenes bisher versagt geblieben war? Was nun aber auch kein Wunder war, so wählerisch, wie sie sich dem männlichen Geschlecht gegenüber verhielt.

Womit hatte er das alles verdient? Er wollte sich mit keinem Haustier beschäftigen müssen, er wollte Bücher schreiben. Eine äußerst sinnvolle Tätigkeit, die den Geist forderte und vor Demenz schützte und allemal besser war, als Hundesitting zu betreiben, rumzusitzen, spazieren zu gehen, Löcher in die Luft zu starren und den ehemaligen Kollegen bei Besuchen auf den Geist zu gehen. Denn das tat er, da machte er sich nichts vor. Er hatte zu allen einen guten Draht gehabt, aber jetzt war er seit einem halben Jahr im Ruhestand und eben nicht mehr einer der ihren. Auch wenn es immer hieß: einmal Polizist, immer Polizist. Jetzt waren andere am Zug, wie zum Beispiel Lena. Der Gedanke, dass sie nun doch nicht seine Nachfolge antreten würde, schmerzte noch immer.

»Musst du nicht langsam mal los?«, wechselte er nach einem Blick auf die Küchenuhr das Thema. Fini spitzte die Ohren, der Blick, mit dem sie ihn anschaute, hatte etwas Aufmüpfiges. Als wenn sie sagen wollte, hehe, mein Frauchen kann gehen, wann sie will, und nicht, wann es dir passt, du alter Zausel.

»Ich hab mich zur Spätschicht eingeteilt.«

Carsten schaute seine Tochter unverwandt an, bis sie schließlich den Kopf hob und seinen Blick erwiderte.

»Was?«

»Ich denke, eure neue Dienststellenleiterin fängt heute an.«

»Und?«

Carsten ließ sich von Lenas vermeintlicher Gelassenheit nicht täuschen. Es brodelte in ihr, wofür er volles Verständnis hatte. Für die Sache als solche, allerdings nicht für ihr momentanes Verhalten.

»Du kneifst, Tochter!« Er machte eine abwehrende Geste, als sie etwas erwidern wollte. »Ich kann deinen Ärger vollkommen nachvollziehen. Man hat dir meine Nachfolge zugesagt und diese Zusage nicht eingehalten. Aber daran ist die Kollegin, die jetzt meinen Posten übernimmt, sicherlich nicht schuld. Unter Umständen weiß sie nicht einmal etwas davon. Also solltest du ihr vorurteilsfrei begegnen und jetzt umgehend aufbrechen, damit du bei ihrem Dienstantritt zur Stelle bist. Das werden die anderen Kollegen nämlich auch sein, und da macht es einen ziemlich blöden Eindruck, wenn du dich wie ein bockiges Kind benimmst und als Einzige nicht erscheinst. Immerhin bist du jetzt ihre Stellvertreterin und wirst hoffentlich eng und gut mit ihr zusammenarbeiten.«

Lena brummte etwas Unverständliches, machte aber keine Anstalten aufzustehen, sondern nahm ihr Tablet zur Hand, um sich vermutlich wieder in den Immobilienmarkt zu vertiefen. Das war jetzt seit zwei Monaten ihre morgendliche Beschäftigung beim Frühstück, seitdem ihr die Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt worden war und sie nun wieder in ihrem Elternhaus wohnte. Übergangsweise, wie sie stets betonte, aber wenn es nach Carsten ging, konnte dieser Übergang gerne noch etwas länger dauern.

Seit seiner Scheidung vor zehn Jahren war ihm noch nie die Decke auf den Kopf gefallen, erst jetzt, nach seiner Pensionierung, überkam ihn immer wieder dieses scheußliche Gefühl der Einsamkeit. Dank Lenas Anwesenheit ließ es sich jedoch in Schach halten. Auf Fini könnte er zwar gut verzichten, aber wenn sie der Preis war, um seine Tochter bei sich behalten zu können, würde er auch dieses Untier in Kauf nehmen.

Carsten unterdrückte einen Seufzer, als er seine Tochter betrachtete. Sie und ihre Zwillingsschwester Sanne hatten die Schönheit ihrer Mutter geerbt, mit ihren blonden Haaren, die beide in einem flotten Kurzhaarschnitt trugen, den blauen Augen und der schlanken Figur. Obwohl sie zweieiige Zwillinge waren und im Abstand von achtundvierzig Minuten das Licht der Welt erblickt hatten, waren sie für Außenstehende manchmal nur schwer zu unterscheiden. Weiterhin einte sie Sabines Sturheit, die Carsten bereits bei seiner geschiedenen Frau so manches Mal zur Weißglut getrieben hatte.

Als Lenas Handy zu klingeln begann, warf sie einen Blick aufs Display und nahm den Anruf mit einem Stirnrunzeln entgegen. Während sie dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung lauschte, machte sich Anspannung auf ihrem Gesicht breit.

»Ich komme.« Sie beendete das Gespräch und stand auf. »Ich muss los.« An Fini gewandt, die ebenfalls aufgesprungen war und erwartungsvoll hechelte: »Du bleibst bei Papa!«

»War das die Dienststelle?«

Lena war schon im Flur, nur Sekunden später hörte Carsten die Haustür ins Schloss fallen. Vielleicht hatte sie seine Frage nicht gehört, für ihn hatte es aber eher den Anschein gehabt, dass sie sie nicht hatte hören wollen. Denn der kurze und besorgte Blick, den sie ihm während des Telefonats zugeworfen hatte, war ihm nicht entgangen.

Carsten runzelte die Stirn. Am liebsten wäre er seiner Tochter hinterhergelaufen, um zu erfahren, was passiert war. Aber er wusste, dass er auch bei einem weiteren Versuch keine Antwort erhalten hätte.

Lenas Verhalten war eine neue Erfahrung für ihn, mit der er erst einmal klarkommen musste. Als sie noch zusammengearbeitet hatten, war es natürlich gewesen, dass sie sich über ihre Fälle auch privat ausgetauscht hatten. Seitdem er allerdings im Ruhestand war, erzählte ihm seine Tochter nur noch selten etwas über dienstliche Angelegenheiten. Ich will dich nicht damit behelligen, war ihr Standardspruch, wenn er nachfragte, du bist jetzt im Ruhestand, genieß das Leben. Carsten vermutete allerdings, dass Lenas Zurückhaltung mit ihrer Befürchtung zu tun hatte, dass er versuchen könnte, sich einzumischen und ihr Ratschläge zu erteilen. Womit sie nicht so ganz falschlag.

Fini war Lena hinterhergesprintet und stand jetzt an der Haustür, wo sie leise vor sich hin fiepte. Ihr Problem. Mit Lenas Abwesenheit musste sie allein fertigwerden.

Carsten räumte die Frühstücksreste in den Kühlschrank und bestückte den Geschirrspüler, bevor er sich wieder an sein Notebook setzte, um die erste Story endlich voranzubringen. Er hatte mal irgendwo gelesen, dass das Schreiben der Rohfassung eines Romans eine einzige Quälerei sei. Ein Grund mehr, nur kurze Geschichten zu erzählen.

Fini kam zurückgetrottet und fiepte immer noch, wobei sie mit einem erbarmungswürdigen Blick zu ihm hochschaute. Carsten kratzte sich am Ohr, wie immer, wenn er nicht so recht weiterwusste. Was bedeutete dieses Fiepen? War jetzt Gassi gehen angesagt? Er bekam die unterschiedlichen Reaktionen des Hundes noch immer nicht auf die Reihe, also entließ er das Wollknäuel in den Garten hinter dem Haus und hoffte, dass die Angelegenheit damit erledigt war.

Nach fünf Minuten, die auch ein ausgiebiges Löcherbuddeln am Gartenzaun beinhaltet hatten, kam Fini zurück auf die Terrasse und folgte Carsten ins Haus. »Jetzt gib endlich Ruhe«, brummte er, »ich muss arbeiten.« Die von der Erde dunkelbraunen Pfoten ignorierte er.

Das Wollknäuel schien zu begreifen und rollte sich zu seinen Füßen zusammen, als Carsten wieder Platz an seinem Schreibtisch nahm. Schon nach kurzer Zeit war er so in seine Arbeit vertieft, dass das Klingeln des Smartphones erst mit einiger Verzögerung zu ihm durchdrang. Nach einer längeren Suchaktion entdeckte er das Teil in der Küche, da hatte das Klingeln aber bereits aufgehört. Sekunden später begann es jedoch von Neuem.

Mensch, was war denn los, konnte man ihn nicht einmal in Ruhe arbeiten lassen? Erst der Hund und jetzt das Telefon. So würde er die Geschichte ja nie fertigkriegen, geschweige denn ein ganzes Buch.

»Carsten …?« Die Stimme seines Freundes Hinnerk Petersen klang irgendwie anders.

»Was ist los?«

Ein Augenblick angespannter Stille folgte, dann: »Hier liegt was in einem Sarg, das da nicht reingehört. Also … irgendwie gehört das natürlich schon da rein, aber … anders halt … nicht in der Form …«

Was war das denn für ein Gestotter? So hatte er Hinnerk ja noch nie erlebt.

»Was ist los?«, wiederholte Carsten seine Frage, wobei er zwischen Beunruhigung und genervt sein schwankte.

»Komm bitte her und guck es dir an.«

4

Nach einer halben Stunde war der Einstand von Hanna Berger schon wieder vorüber gewesen. Sie hatte belegte Brötchen und Getränke in die Büsumer Dienststelle mitgebracht, über die sich die noch unbekannten Kollegen mit Heißhunger hergemacht hatten, aber die geplante kurze Ansprache, mit der sie sich hatte vorstellen wollen, war aufgrund eines Einsatzes auf der Strecke geblieben.

Leichenfund im Hochhaus, das sich hinter dem Seedeich westlich des Ortskerns befand. Männliche und weibliche Leiche, hatte es aus der Leitstelle geheißen. Ein Nachbar hätte den Fund gemeldet. Auf dem Weg zum Fahrstuhl sei ihm die angelehnte Wohnungstür aufgefallen, also hatte er kurzerhand die Wohnung betreten und die beiden Toten gefunden.

Die Namen der Getöteten hatte der Nachbar ebenfalls parat gehabt. Henriette Jansen und Heiko Fedders. Als dann noch die Info folgte, dass der Mann quasi in letzter Minute durch eine Kollegin daran gehindert worden war, die Familien der Getöteten zu benachrichtigen, war Berger der Geduldsfaden gerissen und hatte die Panik, die sie bei dem Wort Hochhaus überkommen hatte, in den Hintergrund gedrängt.

»Ist es üblich, dass solche Dinge hier von Außenstehenden erledigt werden?«, raunzte sie jetzt Sönke Gellert an, dem sie das Steuer des Dienstwagens überlassen hatte, da sie sich in Büsum noch nicht auskannte. Berger war normalerweise ein ausgeglichener Mensch, angesichts ihrer familiären Probleme und der vermaledeiten Versetzung in dieses Kaff an der Nordsee war ihre Zündschnur in letzter Zeit allerdings recht kurz. Dass hier jetzt auch noch eine Privatperson offensichtlich Sheriff zu spielen versuchte, brachte das Fass zum Überlaufen.

»Nein, natürlich ist das nicht üblich«, gab Gellert zur Antwort. »Aber Otto Kuhnert, also der Nachbar, wollte immer zur Polizei. Er hat vor zwanzig Jahren mehrere Anläufe unternommen, ist aber regelmäßig an den sportlichen Anforderungen gescheitert. Deshalb betätigt er sich gerne als Hilfssheriff, wenn er Gelegenheit dazu bekommt. Das kennen wir schon. Er steigt aber auch schnell wieder aus, wenn es zu kompliziert wird.« Gellert machte eine begütigende Armbewegung in Bergers Richtung, wobei Teile eines Tattoos unter dem kurzen Ärmel seines Diensthemdes hervorblitzten. Berger schätzte den Kollegen auf um die vierzig. Er war ein leicht verwegen aussehender Typ mit Bürstenschnitt und interessiert dreinblickenden grünen Augen.

»Lena ist schon vor Ort und hat ihm die Meinung gegeigt und ihn von weiteren Aktionen abgehalten.«

»Lena …?« Berger ahnte, von wem die Rede war.

»Lena Matthiessen.«

Ihre Stellvertreterin war also bereits tätig geworden. Berger wusste noch nicht so ganz, was sie von dieser Tatsache halten sollte. »Wieso war Frau Matthiessen vor uns vor Ort?«

»Weil Otto Lena direkt angerufen hat. Sie hat die Meldung an die Leitstelle rausgegeben.«

Das wurde ja immer besser, aber Berger verkniff sich eine weitere Erwiderung. Sie hatte sich schon gewundert, dass sich die Kollegin bis zu ihrer Abfahrt noch nicht in der Dienststelle hatte blicken lassen. Lena sei für die Spätschicht eingeteilt, hatte sie bei der kurzen Zusammenkunft mit ihrem neuen Team als Antwort auf ihre Frage nach dem Verbleib der Kollegin erhalten. Dabei hatte Berger ihr am Vortag eine Mail geschickt, dass sie um acht Uhr in der Dienststelle eintreffen würde, und war natürlich davon ausgegangen, dass Lena Matthiessen das als Aufforderung verstehen würde, anwesend zu sein. Wie der Rest des Teams, das war nämlich vollzählig erschienen. Eine Antwort auf ihre Mail war allerdings ausgeblieben, genau wie heute früh das Erscheinen der Kollegin.

Jetzt wusste sie ja, warum. Berger kannte Lena Matthiessen ebenso wenig wie ihre neuen Kollegen, da sie erst am Vorabend aus Lübeck angereist war. Sie wusste nur, dass die Frau jetzt ihre Stellvertreterin sein würde. Oder auch nicht, denn nach dieser Eskapade würde Berger noch einmal ernsthaft darüber nachdenken, ob das eine gute Idee war. Es hatte den Anschein, dass die Matthiessen zu der Sorte zickige Kollegin gehörte, von denen Berger in Lübeck einige zu viel gehabt hatte. Aber vielleicht war die Frau auch scharf auf ihren Posten gewesen und hatte gehofft, ihren Vorgänger zu beerben. Was angesichts der Tatsache, dass es sich bei diesem um Matthiessens Vater handelte, ein klarer Fall von Vetternwirtschaft gewesen wäre. Allein schon die jahrelange Zusammenarbeit der beiden auf derselben Dienststelle war in Bergers Augen als grenzwertig zu betrachten.

Bei diesen Gedanken hätte sie fast ein bitteres Lachen ausgestoßen.

Glaubte sie wirklich, dass es ihr zustand, hier die Moralkeule zu schwingen? Ausgerechnet ihr?

Sie konzentrierte sich wieder auf Gellerts Ausführungen, der sie mit den Eckdaten des Gebäudes vertraut machte.

Erbaut im Jahr 1972, umfasste das Gebäude auf einer Höhe von 85 Metern 22 Etagen mit 196 Wohnungen sowie drei Fahrstühlen. Im Volksmund wurde es der Büsum-Finger genannt.

»Es gibt ab der zweiten bis zur zwanzigsten Etage auf jedem Flur neun Wohnungen unterschiedlicher Größen, also Zwei- und Dreizimmerwohnungen. Das Gebäude verfügt über drei Aufzüge, von denen die beiden linken auf die geraden Etagen führen und der rechte auf die ungeraden. Was auch noch besonders ist«, fuhr Gellert fort und parkte den Streifenwagen vor dem Eingang des Hochhauses, »die Aufzüge sind nur mit dem Schlüssel zu bedienen, mit dem man ins Haus kommt. Das ist also recht gut gesichert.« Er stieß ein kurzes Schnauben aus. »Oder besser gesagt, das war alles gut gesichert. Im Moment lässt sich die Eingangstür nämlich nicht mehr richtig schließen, und die Aufzüge kann man aufgrund eines Technikfehlers auch ohne Schlüssel, mit einem einfachen Knopfdruck holen. Mit anderen Worten, hier kann gerade jeder ein und aus gehen, wie es ihm beliebt.«

Berger stieg aus und legte den Kopf in den Nacken, um an der Außenfassade des Gebäudes emporzublicken. Ein Entschluss, den sie augenblicklich bereute und sofort wieder rückgängig machte.

Gellert hatte in der Zwischenzeit eine weitere Streifenwagenbesatzung angewiesen, die erforderlichen Absperrungen vorzunehmen und niemanden aus dem Gebäude heraus- oder hineinzulassen. Die restlichen Kollegen würden mit nach oben kommen, ein Kollege war in der Dienststelle verblieben.

Sönke Gellert trat zu Berger, als sie gerade die Stufen zum Eingang emporsteigen wollte. »Wir müssen in den zehnten Stock.«

Berger verharrte im Schritt.

Zehnter Stock …

Zwei lächerliche Worte, und ihr Körper wurde mit Überschallgeschwindigkeit in den Alarmmodus katapultiert. Sie hatte gehofft, ihr Trauma endlich überwunden zu haben, schließlich war sie mehr als ein Jahr in Therapie gewesen. Aber seit deren Ende vor einem halben Jahr hatte sie auch noch kein Hochhaus betreten müssen.

Berger registrierte Gellerts fragenden Blick, der bereits mit weiteren Kollegen vor der offenen Eingangstür stand und auf sie wartete. Los, feuerte ihre innere Stimme sie an, du schaffst das! Mach dich nicht gleich in den ersten Stunden vor deinen neuen Kollegen lächerlich.

Sie schaffte es tatsächlich, verließ den Fahrstuhl im zehnten Stock aber mit sehr wackligen Knien. Im Flur war keine Menschenseele zu sehen, was sie verwunderte, da sich Leichenfunde immer in Windeseile herumsprachen, erst recht, wenn sie in Wohnhäusern vorkamen und wie in diesem Fall auch noch von einem Nachbarn entdeckt worden waren, der damit unter Umständen schon hausieren gegangen war. Aber vielleicht hing der Umstand, dass es sich hier anders verhielt, mit der Besitzerin der energischen Stimme zusammen, die aus der letzten Wohnung auf der rechten Seite zu vernehmen war. Gut möglich, dass die Frau, bei der es sich vermutlich um Lena Matthiesen handelte, bei jedem, der sich hatte blicken lassen, dieselbe Ansage gemacht hatte wie in diesem Moment.

»Nein, Otto, du bleibst in deiner Wohnung, verdammt noch mal! Wie oft soll ich das denn noch sagen!«

Die in mauligem Tonfall vorgebrachte Antwort verstand Berger nicht, weil sie des Plattdeutschen nicht mächtig war.

»Also ehrlich, jetzt reicht’s mir! Du tust, was ich sage, sonst kriegst du mal so richtig Ärger!« Als die Frau auf den Flur hinaustrat und kurz in ihre Richtung blickte, hatte Berger zu der Stimme auch ein Gesicht. Attraktiv. Sehr sogar. Sie verfolgte, wie die Kollegin die Kapuze ihres Schutzanzugs überstreifte und die Wohnungstür mit einem energischen Ruck hinter sich zuzog, bevor sie einen Schlüssel ins Schloss steckte und ihn herumdrehte. Aus dem Inneren der Wohnung war wütender Protest zu vernehmen.

Die Frau kam auf sie zu.

»Otto mal wieder.« Gellert stieß einen tiefen Seufzer aus. »Immer dasselbe mit ihm.«

»Kennst ihn ja«, lautete die lakonische Antwort.

»Allerdings.« Gellert deutete auf die Kollegen, die mit hochgekommen waren. »Sollen wir schon mal mit der Nachbarschaftsbefragung anfangen?«

»Macht das.« Die Frau wandte sich an Berger und nickte kurz. »Lena Matthiessen. Sie müssen unsere neue Dienststellenleiterin sein.«

Berger verzichtete ebenfalls auf einen Händedruck. »Das bin ich in der Tat.« Der spitze Unterton in ihrer eigenen Stimme entging ihr nicht. Warum war sie so angefasst, dass nicht sie, sondern ihre Stellvertreterin als Erste vor Ort gewesen war? Das war doch sonst nicht ihre Art. Aber im Moment war ja sowieso nichts mehr wie sonst. Berger beschloss, sich zu mäßigen, und deutete zu der Wohnung, aus der Lena Matthiessen gekommen war. »Wie ich hörte, gibt es hier einen übereifrigen Hilfssheriff, der die Toten aufgefunden hat und sie sogar kennt.«

Ihre Stellvertreterin zuckte mit den Schultern. »Ja, es ist manchmal ein Kreuz mit ihm. Ich kenne die beiden allerdings auch. So viele Einwohner hat Büsum ja nicht.«

»Klären Sie mich auf.«

»Henriette Jansen ist die Ehefrau von Thies Jansen. Thies war Oberstaatsanwalt in Itzehoe und ist seit einem knappen Jahr im Ruhestand. Keine Kinder.«

»Sie kennen den Mann näher?«

»Er ist ein Freund meines Vaters.«

Berger nickte. Hier kannte anscheinend wirklich jeder jeden.

»Bei dem männlichen Toten handelt es sich um Heiko Fedders, einen unserer Krabbenfischer. Ihm gehört die Wohnung, sie wird normalerweise als Ferienwohnung vermietet.«

»Ist der Mann ebenfalls verheiratet?«

»Ja.«

»Kinder?«

»Eine dreiundzwanzigjährige Tochter.« Lena Matthiessen deutete auf die angelehnte Tür der Tatwohnung. »Die Tür wurde nicht aufgebrochen. Also dürften der oder die Täter einen Schlüssel gehabt haben oder sie wurden freiwillig eingelassen. Sie wissen, wie das hier im Haus funktioniert? Die Aufzüge können nur mit dem passenden Schlüssel bedient werden. Wenn das System nicht, wie im Moment, ausfällt.«

»Das hat mir gerade der Kollege Gellert erklärt«, bestätigte Berger.

»Wollen wir reingehen?«

Berger nickte und streifte ebenfalls einen Schutzanzug und Latexhandschuhe über, die sie aus dem Streifenwagen mit nach oben genommen hatte. Das Gespräch hatte sie abgelenkt, aber als sie jetzt die Wohnung betraten, von deren Flur man einen Blick ins Wohnzimmer und auf den angrenzenden Balkon werfen konnte, griff wieder die Angst nach ihr. Sie bemühte sich, ihren Atem mit den erlernten Methoden unter Kontrolle zu bekommen.

Der Mann lag auf dem Boden des Wohnzimmers. Er trug Boxershorts, auf seiner nackten Brust waren drei Einschusslöcher zu sehen.

Lena Matthiessen kniete sich hin und betrachtete den Toten mit kritischem Blick. »Der Tod kann noch nicht allzu lange zurückliegen. Ich vermute, dass Heiko Fedders in den frühen Morgenstunden getötet wurde. Das dürfte dann wohl auch bei Henriette Jansen der Fall gewesen sein.«

»Hat der Nachbar die Schüsse gehört?«

»Nein. Das lässt auf den Einsatz eines Schalldämpfers schließen.«

Die Frau hatte auf dem Balkon den Tod gefunden. Berger war sich darüber im Klaren, dass sie sich auch deren Leichnam ansehen musste, aber alles in ihr sträubte sich dagegen, ihrer Kollegin zu folgen, die bereits hinausgetreten war. Ein verwunderter Blick streifte sie, als sie in der Balkontür stehen blieb und sich am Rahmen festkrallte.

Die Tote war mit einem knappen Seidentop bekleidet, das zwei Einschusslöcher aufwies, ebenfalls im Brustbereich. Die Auffindesituation deutete darauf hin, dass sie vor ihrem Mörder in Richtung Balkon geflohen war. Ein vollkommen irrationales Verhalten angesichts einer Wohnung im zehnten Stock, aber wer handelte in einer solchen Situation schon mit klarem Verstand.

Lena Matthiessen deutete auf die Frau. »Sie scheint etwas in der Hand zu haben. Sieht aus wie eine Armbanduhr.«

*

Was ist denn nur mit der Berger los?, wunderte sich Lena. Laut ihren Infos war ihre neue Vorgesetzte seit zwanzig Jahren bei der Polizei und dürfte in dieser Zeit einige Tote gesehen haben. Das war natürlich immer ein erschreckender Anblick, aber die meisten von ihnen gewöhnten sich daran und schafften es, so etwas nicht nah an sich herankommen zu lassen. Bei Berger hatte sie allerdings schon beim Betreten der Wohnung den Eindruck gehabt, dass sie am liebsten das Weite gesucht hätte.

Sie beobachtete, wie Berger zögernd auf den Balkon hinaustrat und sich zu dem Leichnam von Henriette Jansen hinunterbeugte. Was die Tote in der Hand hielt, sah tatsächlich nach einer Armbanduhr aus, da war sich Lena mittlerweile immer sicherer.

Nach wenigen Sekunden richtete Berger sich wieder auf, aber sie ging nicht ins Wohnzimmer zurück, sondern krallte ihre Hände um die Balkonbrüstung. Ihr Blick ging ins Leere, ihre Atmung war flach, das Gesicht unter den langen, roten Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, leichenblass. Und plötzlich wurde Lena klar, mit was sie es zu tun hatte. Wieso war sie nicht gleich darauf gekommen?

Ihre neue Vorgesetzte hatte Höhenangst.

Sie trat neben Berger, sprach beruhigende Worte und löste dabei vorsichtig ihre Hände von der Brüstung. Hanna Berger schien sie nicht wahrzunehmen und ließ sich widerstandslos ins Wohnzimmer zurückführen, wo Lena sie nötigte, auf einem Sessel Platz zu nehmen, und ihr ein Glas Wasser einschenkte. Sie mussten alles vermeiden, was diese Wohnung kontaminieren könnte, aber zum einen trugen sie Schutzanzüge, und zum anderen war dies ein Notfall.

Nach kurzer Zeit kam wieder Farbe in Bergers Gesicht. Sie wirkte noch immer ein wenig desorientiert, aber ihr Blick war jetzt wieder klar.

»Danke!« Berger schien nach einer Erklärung zu suchen, aber Lena kam ihr zuvor.

»Ein Freund von mir hat auch Höhenangst. Der wäre nicht mal hier hochgekommen.«

Berger stieß ein trockenes Lachen aus und strich mit beiden Händen über ihr Gesicht. »Ich dachte, dass ich es überwunden hätte. Aber da habe ich mich wohl geirrt.«

Lena musterte sie und entschied, das Gespräch auf die berufliche Ebene zurückzubringen. Sicher war Berger der Vorfall peinlich, da musste man jetzt nicht weiter darauf herumreiten.

»Ich habe die Mordkommission in Itzehoe und die zuständige Staatsanwaltschaft bereits verständigt.« Sie lächelte. »Außerdem habe ich unseren Hilfssheriff befragt.«

Berger erhob sich. Mit wackeligen Knien, wie es schien, aber einem entschlossenen Blick.

»Den würde ich auch gerne sprechen. Aber vorher möchte ich mir diese Wohnung ansehen.«

Das Appartement verfügte neben dem Wohnzimmer mit integrierter Kochnische über ein kleines Schlafzimmer und ein Mini-Duschbad. Um die vierzig Quadratmeter, schätzte Lena. Von den Wohnungen im Hochhaus wurden viele als Ferienwohnungen vermietet. Über die Tatsache, dass der Bau das Erscheinungsbild des Ortes verschandelte, waren sich die meisten Einwohner und Touristen einig. Aber das taten Hochhäuser immer, und von den Bewohnern des Büsum-Fingers hörte man häufig das Argument, dass sie sich daran nicht stören würden, weil der Blick selbst aus den unteren Stockwerken einmalig sei. Nun, wer in diesem Schandfleck saß, musste ihn sich zumindest nicht von außen ansehen.

Die Einrichtung des Appartements ähnelte der anderer Ferienwohnungen, die Lena kannte. Damit die Touristen auch merkten, dass sie sich an der Küste befanden, wurde Wert auf einen maritimen Stil gelegt. Dieser umfasste häufig nicht nur das maritime Gedöns, wie Lena es bei sich nannte, das man an Wänden und auf Ablageflächen fand, sondern auch Möbel, Teppiche und Gardinen in Weiß und Blau. Hier gab es alle Variationen von einfach bis luxuriös.

Das Appartement, in dem sie sich befanden, gehörte zur ersten Kategorie. Der Boden war mit billigem Laminat in Holzoptik ausgelegt, die Möbel konnte man nicht mal mit gutem Willen als optische Highlights bezeichnen, und das bewusste maritime Gedöns war für Lenas Geschmack eindeutig zu viel. Möwen und Seehunde in den offenen Fächern eines Schranks, blaue Schälchen mit Sand und Muscheln auf weiteren Ablageflächen, ein überdimensionales und nicht besonders gelungenes Aquarell des Büsumer Hafens an der Wand hinter dem Sofa. Bei diesem blau-weiß gestreiften Möbelstück schien es sich um ein Schlafsofa zu handeln, auch der Sessel daneben sah aus, als könnte man ihn zu einem Bett umfunktionieren. Darüber hinaus gab es noch einen hölzernen Couchtisch und ein weißes Sideboard an der gegenüberliegenden Wand, auf dem ein LED-Fernseher mittlerer Größe stand.

Sideboard und Schrank enthielten eine Reihe von Büchern, die Schränke in der Kochnische waren mit Geschirr, Gläsern und Kochtöpfen, die Schubladen mit Besteck und anderem Küchengerät bestückt.

Lena folgte Berger, die im Schlafzimmer verschwunden war. Der Raum wurde von einem Doppelbett dominiert, dessen zerwühlte Kissen und Decken darauf hindeuteten, dass es hier so richtig zur Sache gegangen war. Der Kleiderschrank, den Berger bei ihrem Eintreten geöffnet hatte, war leer. Berger drehte sich um und deutete auf das Bett.

»Das sieht so aus, als wenn die beiden hier ihr Liebesnest hatten.«

Ja, dachte Lena bedrückt. Wie soll ich das alles nur Thies beibringen? Sie hatte natürlich Erfahrung im Überbringen von Todesnachrichten, aber in einer solchen Situation brauchte der Empfänger die Unterstützung ihm nahestehender Personen. Und Familie hatte Thies Jansen nicht. Also beschloss Lena nach kurzem Überlegen, ihren Vater mitzunehmen, damit er seinem Freund beistehen konnte.

5

Natürlich wusste Carsten, dass es so etwas gab, er war ja nicht von gestern. Live und in Farbe hatte er ein solches Teil allerdings noch nicht gesehen und zum Glück bisher auch nicht nötig gehabt.

»Ich hab im ersten Moment gedacht, das wär ’ne echte Tote.« Hinnerk Petersen konnte so leicht nichts erschüttern, im Augenblick war er allerdings noch immer ziemlich blass um die Nase, wie er da zusammengesunken auf dem Nachbarsarg hockte und sich immer wieder über den kahlen Schädel strich. Was ein untrügliches Indiz für seinen aufgewühlten Gemütszustand war.

»Hast du Freya schon Bescheid gegeben?«, wollte Carsten wissen. Er blickte in Richtung des Büros. »Wo ist sie überhaupt?« Freya Gerdes leitete das Bestattungsinstitut Gerdes seit dem Tod ihrer Eltern.

»Freya ist seit gestern bei einer Freundin und kommt erst heute Abend zurück. Deshalb weiß sie auch noch nichts. Ich hab bei euch …«, er stockte und setzte dann neu an, »… also bei deinen ehemaligen Kollegen angerufen. Bei denen scheint allerdings ein größerer Einsatz zu laufen, da hatte im Moment niemand Zeit, sich das hier mal anzusehen.«

»Was für ein Einsatz?« Im nächsten Moment machte es klick. Der Anruf, den Lena vorhin bekommen hatte, hatte bestimmt etwas damit zu tun gehabt. Oh, Mann, dachte Carsten wehmütig, da wäre er jetzt auch gerne dabei. Stattdessen musste er als Hundesitter herhalten. Hoffentlich zerlegte Fini im Moment nicht das Innere seines Wagens, denn sie schätzte es so gar nicht, wenn man sie irgendwo allein zurückließ. Wenigstens war heute kein heißer Tag, sodass ihr ein kurzer Aufenthalt im Wagen mit halb geöffneten Fenstern nicht schaden würde.

»Weet ik nich.« Hinnerk schien ungehalten über die Unterbrechung und sprach hastig weiter. »Als sie hörten, worum es ging, musste ich mir sogar noch den Spruch anhören, dass sie für alte weiße Männer mit abwegigen Neigungen im Moment nun wirklich keine Zeit hätten.«

Das war natürlich nicht korrekt, aber Carsten musste trotzdem ein Lachen unterdrücken.

»Wenn das die Runde macht, ist das Institut doch die Lachnummer in Büsum«, jammerte Hinnerk. »Aber was sollte ich denn machen? Ich musste denen doch sagen, was ich im Sarg gefunden habe. Da ist immerhin Blut dran. Vielleicht ist das ja von einem Menschen.«

»Hast du auch erwähnt, dass du hier übernachtet hast?«

»Bist du verrückt?« Hinnerk tippte sich an die Stirn. »Nie im Leben werde ich das zugeben.«

»Wenn die Ex-Kollegen den Vorfall aufnehmen, musst du das aber.«

»Da kann ich mir ja gleich ’nen Strick nehmen. Dann bin ich hier im Ort doch unten durch.«

Carsten überlegte und klopfte seinem Freund begütigend auf die Schulter. »Jetzt mach dich nicht verrückt. Das wird alles nicht so heiß gegessen …«

»Mann, jetzt komm mir nicht mit diesen Kalendersprüchen!«, unterbrach ihn Hinnerk erregt. »Wenn deine ehemaligen Kollegen davon erfahren, werden es einige mit Sicherheit rumerzählen. Allein schon, weil die Sache ja so wahnsinnig komisch ist. Den größten Spaß hat man doch immer, wenn er auf Kosten anderer geht.«

»Nun mach mal halblang! Das ist mein altes Team. Die nehmen jeden Fall ernst.« Dass Hinnerk allerdings nicht ganz ungeschoren davonkommen würde, wenn bekannt wurde, dass er im Institut geschlafen und nichts von der nächtlichen Aktion mitbekommen hatte, war auch Carstens Befürchtung. Ein wenig Spott würde sein Freund wohl einstecken müssen, und Carsten hatte nicht den leisesten Schimmer, wie das verhindert werden konnte. Zumal es noch ein weiteres Problem gab. »Aber Freya musst du es sagen.«

»Ja«, brummte Hinnerk in seinen nicht vorhandenen Bart, »bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig.«

»Weiß sie, dass du öfter mal hier schläfst?«

»Angesprochen hat sie es nicht, aber ich denke schon, dass sie was mitbekommen hat.« Hinnerk erhob sich und begann eine Wanderung durch die Halle, bevor er neben Carsten und dem offenen Sarg stehen blieb. »Wenn ich ihr jetzt allerdings beichten muss, dass hier jemand nachts eine blutbeschmierte Sexpuppe in einem unserer Särge abgelegt hat und ich nichts davon mitbekommen habe, dürfte sie mir die Hölle heiß machen.«

»Hattest du einen intus, weil du nichts gehört hast?«

»Nee, hatte ich nicht!«, empörte sich Hinnerk. »Jetzt komm mir bloß nicht so!«

»Nun sag doch nicht gleich krummer Hund zu mir. Hätte ja sein können.« So abwegig war der Gedanke nämlich nicht, da Hinnerk gerne mal einen über den Durst trank.

»Ich …«, jetzt sah Hinnerk ihn etwas bedröppelt an. »Also …«

»Spuck’s aus, Hinnerk. Irgendwas ist doch noch.«

Hinnerk seufzte schwer. »Da war irgendwann ein Geräusch. Ich muss grade eingeschlafen sein und bin plötzlich hochgeschreckt. Als ich dann in die Dunkelheit gelauscht habe, war aber nichts mehr zu hören, und darum hab ich gedacht, dass ich das wohl nur geträumt hab. Oder dass das Geräusch von draußen kam.«

»Also hast du nicht nachgesehen?«

Hinnerk schüttelte den Kopf. »Nee, ich war müde und wollte weiterpennen.«

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