×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Mothertrucker – Unterwegs auf der einsamsten Straße Amerikas«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Mothertrucker – Unterwegs auf der einsamsten Straße Amerikas« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Mothertrucker – Unterwegs auf der einsamsten Straße Amerikas

Als Buch hier erhältlich:

»Glücklichsein ist ein radikaler Akt« – die Geschichte einer Fahrt in ein mutigeres Leben


Nach außen führt Amy ein Bilderbuchleben: eine dreißigjährige Dozentin an einem kleinen College in Ohio, an dem sie Women’s Literature unterrichtet. Sie besitzt ein eigenes Haus mit Garten und führt eine liebevolle Beziehung. So scheint es. Doch Daves Wutausbrüche werden gewalttätiger – und Amys Leben verkehrt sich zum Spießrutenlauf. Bis sie eines Abends den Instagram-Account von Joy »Mothertrucker« Wiebe entdeckt – der einzigen Frau, die den Dalton Highway fährt. Für Amy verkörpert sie alles, was sie sich gerade wünscht: Unabhängigkeit, Freiheit, ein Leben ohne Angst.

Kurze Zeit später ist sie mit Joy auf dem Weg nach Alaska. Sechs Tage verbringen die beiden Frauen gemeinsam in der rauen Landschaft und reden. Zurück in ihrem Leben, trifft Amy endlich eine Entscheidung. Joy kommt vier Monate später ums Leben. Dies ist ihre Geschichte; gewidmet allen Frauen, denen jemals Gewalt angetan wurde – und wird.


Furchtlos und fesselnd – über häusliche Gewalt und die Freundschaft zweier Frauen, die sich aus ihr befreien


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001622

Leseprobe

Für alle Frauen,
und besonders für Joy

Im Frühling, in einem kleinen Haus
Da wollte ich, dass wir uns vertragen.
Oh, im Frühling, in einem kleinen Haus
Hörten die Nachbarn uns Köpfe einschlagen.

»DOGWOOD«, JENNY LEWIS

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Im April 2018 brach ich zu einer Reise nach Alaska auf – der ersten von vielen, wie ich hoffte –, um Joy »Mothertrucker« Wiebe zu treffen und mit ihr den nördlichsten Teil des Staates auf dem James W. Dalton Highway zu durchqueren. Wir verbrachten sechs Tage miteinander, und bei meiner Abreise plante ich, im August oder September zurückzukehren, um die Strecke noch einmal gemeinsam mit ihr zu fahren. Vier Monate später, und einige Wochen vor meiner geplanten Rückkehr, kam Joys Truck von der nicht befestigten Fahrbahn ab und überschlug sich auf ebenjenem Highway. Ich kehrte nach Alaska zurück – diesmal jedoch zu ihrer Beerdigung und zum Trucker-Konvoi, der zu ihren Ehren stattfand.

Ich habe schon häufig gehört, dass Frauen manchmal nichts als ihre Geschichte haben. Und dass, weil ihnen so oft die Macht, die Autonomie oder die Sicherheit genommen wird, ihre eigene zu erzählen, es an anderen Frauen liegt, dies zu tun. Dies ist die Geschichte, wie Joy sie mir erzählt hat.

Sie hat sie mir erzählt, weil sie wollte, dass die Welt von ihr erfährt.

Das Schwierigste ist, sie bis zum Ende zu erzählen. Ich kann mir vorstellen, dass einige Menschen etwas dagegen haben könnten, ein Buch noch einmal aufzuschlagen, Jahre nachdem man es zugeklappt hat. Doch ich fühle mich allein Joy verpflichtet, die mich angesehen und gesagt hat: »Ich glaube, Gott hat dich zu mir gebracht.« Und: »Ich denke, Gott will, dass du meine Geschichte erzählst.« Und: »Du wirst meine Geschichte erzählen.«

Ihre beste Freundin hofft, dieses Buch wird davon handeln, dass Joy den Menschen Gott nähergebracht hat. Ihre Söhne hoffen, dass es von ihrem Spirit und ihrer Art, das Leben zu leben, handeln wird. Was ihre Tochter oder ihr Ehemann hofft, weiß ich nicht. Doch für mich handelt ihre Geschichte von Frauen – davon, wie wir lieben und uns verbiegen und zuhören, wie wir verzeihen und verzeihen und verzeihen. Wie wir füreinander eintreten. Einander unterstützen, sogar über den Tod hinaus.

Mir war – vor allem anderen – wichtig, Joys Geschichte wahrheitsgemäß zu erzählen. Ich wollte ihre Geschichte erzählen, vom Anfang bis zum Ende.

»Wenn die Leute mich sehen, sehen sie nur Stärke«, sagte sie mir, »und die gibt es auch – Mann, sogar jede Menge davon –, aber da ist auch viel Schmerz. Das ist die Geschichte von Joy Wiebe. Und so geht es den meisten Frauen, vermute ich mal.«

Dieses Buch beruht auf Erfahrungen, intensiver Recherche, eigenen Aufzeichnungen und Interviews. Genauso wie auf Erinnerungen – auf gemeinsamen wie persönlichen. Auf solchen, die uns nachhaltig zeichnen, und solchen, die mit der Zeit verblassen. Einige Namen und Persönlichkeitsmerkmale von Personen, die im Buch vorkommen, wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.

PROLOG

Das Jahr, in dem ich Joy kennenlernte, war ein durch und durch gefährliches Jahr für Frauen in Amerika.

Wir wurden in Parks und auf Parkplätzen getötet, auf Gehwegen und in unseren Autos. Man tötete uns auch in Kellern und Schlafzimmern und auf der Terrasse, während das Baby schlief. Wir wurden gefesselt, festgebunden, versteckt. Wir wurden unter Drogen gesetzt und verschleppt und verprügelt, wir wurden angeschrien und in Angst und Schrecken versetzt. Männer zogen über uns auf wie Unwetter, wie etwas, das man ertragen muss. Wir litten am Arbeitsplatz und in unserem eigenen Schlafzimmer, und das meiste Leid fügten uns die Menschen zu, die uns – zumindest theoretisch – am meisten liebten.

Zu Hause in meiner Kleinstadt in Ohio fing ich an, über die Sicherheit von Frauen nachzudenken und über die vielen Orte, die Frauen meiden sollten: den Wald beispielsweise, wo in einer einzigen Augustwoche drei Joggerinnen in ihren amerikanischen Nachbarschaften ermordet wurden. Frauen sollten nicht alleine joggen gehen, doch sie sollten auch nicht alleine spazieren gehen, nicht wandern, campen, sie sollten nachts nicht allein den Parkplatz überqueren, tagsüber auch nicht oder am Morgen, mit zu vielen Taschen beladen oder nur mit einer Tasche oder ohne überhaupt eine Tasche bei sich zu haben.

In dem Jahr, in dem ich Joy kennenlernte, wurde eine Frau in Iowa erwürgt, als sie eines Abends eine Runde um die Maisfelder joggen wollte, die honiggelb schimmerten, der Himmel pastellfarben wie ein riesiges Bild von Grant Wood – Amerika und seine amerikanische Gewalt.

In Ohio wurde eine Frau getötet, als sie gerade eine Schüssel Makkaroni and Cheese umrührte.

In Colorado, als sie gerade die Kinder ins Bett brachte.

In Michigan, als sie bei Kohl’s einkaufen war, und in New York City im Schlaf, in Texas beim Videospielen und in Südkalifornien beim Schwimmen.

In Pennsylvania wurde eine Frau aus meiner Heimatstadt gewürgt und erschlagen, eine Woche nachdem sie am College angefangen hatte. Ihr Leichnam wurde mit einem Mietwagen über hundert Meilen weit an drei unterschiedliche Orte gebracht – erst in einem blauen Plastikcontainer, dann in einem Seesack, zusammengefaltet wie ein Kleidungsstück, als wäre ihr Körper ein T-Shirt von Gap oder eine Nike-Jogginghose –, bevor ihr Mörder ausfindig gemacht werden konnte: ein Neunundzwanzigjähriger, der, als die Polizei an seine Tür klopfte, gerade dabei war, die Blutflecken zu beseitigen.

Und in der Stadt in Ohio, in der ich mittlerweile lebe, wurde eine Frau – zwei Jahre jünger als ich – in einem nicht sehr tiefen Grab gefunden, gleich dort, wo sich die Berge erheben, in denen ich so gerne wandern gehe.

»Die Menschen haben keinen Respekt mehr vor dem Leben«, sagte ihre Großmutter den Journalisten. Es war ein strahlender Tag im Frühherbst. »Der Herr gibt es, und sie nehmen es einfach.«

Viele Frauen wurden niemals gefunden.

Viele Frauen konnte man nicht mehr identifizieren.

Und es gab zahlreiche Männer, die es aufgrund der Morde an »ihren« Frauen zu nationaler Berühmtheit brachten. Ein Ehemann aus Colorado beispielsweise schaffte es durch den Mord an seiner schwangeren Frau Shan’ann und an den gemeinsamen Töchtern Bella und Celeste bis in die Prime Time. Es war genau die Art mediale Aufmerksamkeit, die landesweit vermissten weißen Frauen und ihren finster verzweifelten weißen Ehemännern vorbehalten war.

»Ich will einfach nur, dass sie zurückkommen«, erzählte ein fassungsloser Christopher Watts den Fernsehteams. Er stand vor seinem Haus auf der Veranda. Trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Das ist wie ein Albtraum, aus dem ich einfach nicht aufwachen kann. Den Gedanken, dass ihnen vielleicht was passiert ist, den ertrage ich einfach nicht.«

Die Staatsanwaltschaft brauchte noch nicht einmal einen Monat, um herauszufinden, dass Watts seine Frau erwürgt und seine Töchter anschließend ebenfalls erwürgt und erschlagen hatte, und das, obwohl ihn seine vierjährige Tochter, wie die Medien nicht müde wurden zu betonen, angefleht hatte, damit aufzuhören. Dann fuhr er ihre leblosen Körper zu einer Baustelle, wo er die Leiche seiner Frau auf ein Stück Brache warf und die seiner beiden Töchter in einen Öltank, all das nur wenige Stunden nach einer Grillparty, auf der die Mädchen in quietschpinken Badeanzügen im Pool geplanscht hatten, sodass ihnen die dünnen Zöpfe nass am Kopf klebten.

Während sie schwammen, schrieb er Nachrichten an seine Geliebte, wie die Polizei später berichtete, entschied sich womöglich endgültig für den Ort, an dem er die Leichen verschwinden lassen wollte, für die Art, wie er sie umbringen wollte, während die Mädchen ins Wasser sprangen und noch einmal Sonnencreme auftrugen und unter Wasser eine Kaffeetafel aufgebaut hatten, winzige Tassen in winzigen Händen.

Überall lasen wir vom Fall der Familie Watts, doch was diesen Mädchen und ihrer Mutter passiert ist, widerfährt jährlich Tausenden Amerikanerinnen. Jedes Jahr werden wir gestalkt und abgeschlachtet, verprügelt, erstickt, abgestochen. Ich wusste all das, doch richtig bewusst wurde es mir erst in jenem Frühling, in dem ich Joy traf. Als sich der Mann, den ich mehr als jeden anderen liebte – ein Mann von sanftem Gemüt, der witzig war, gütig –, unten im Flur meiner Wohnung vor mir aufbaute und mich völlig außer sich anbrüllte. Bereits in den Monaten zuvor hatte Dave mich ins Badezimmer gedrängt und so lange angeschrien, bis ich am Boden lag; in einem Zelt in Colorado hatte er so heftig auf mich eingebrüllt, dass ich die ganze Nacht stocksteif dalag wie seine Beute und mich fragte, ob und wie er mich umbringen würde.

Ich dachte, wie schon einige Male zuvor, genau so passiert es.

Genau so sterben wir.

1.

Erst einige Wochen später, eingehüllt in den süßen Duft aus Auntie Anne’s Backshop und das künstliche Licht der Leuchtstoffröhren im Flughafen von Columbus, lasse ich den Gedanken zu, wie vollkommen verrückt das ist, was ich gerade tue: Ich fliege einmal quer durchs Land, um in Alaska eine Frau zu treffen, die ich auf Instagram entdeckt habe, eine Ice-Road-Truckerin, die sich »Mothertrucker« nennt. Obwohl ich ihr obsessiv folge, ist sie im Grunde noch eine Fremde für mich, nicht anders als all die Männer und Frauen, die hier im John Glenn Airport die Zeit totschlagen auf den begehrten Plätzen nahe den Steckdosen oder indem sie ihre zehntausend Schritte vollmachen oder sich beim Kundenservice lautstark über die Stand-by-Wartelisten beschweren, während die in Empathie geschulten Mitarbeiter eisern lächeln.

Auch ich übe mich in Empathie. Ich denke, eine gewisse Offenheit – ein gewisses Verständnis – wird mir helfen, wenn ich Joy treffe, wenn wir zu zweit im Kokon ihrer Fahrerkabine mindestens vierzehn Stunden miteinander verbringen werden, aus denen, wie sie sagt, auch leicht mal achtundvierzig Stunden werden können, abhängig von der Witterung oder den anderen Truckern oder dem Sagavanirktok River. Manchmal kommt es auch einfach auf die Straße an. Der James W. Dalton Highway ist die gefährlichste Straße Amerikas, vierhundertvierzehn Meilen Schotterpiste mit ein paar asphaltierten Abschnitten, die sich von Fairbanks aus hoch nach Norden bis zur Industriestadt Deadhorse und zu den Ölfeldern von Prudhoe Bay zieht. Jedes Jahr sterben mehr Fahrer auf dieser Strecke als irgendwo sonst in Amerika, hauptsächlich, da sich Mutter Natur auf den vielen Meilen von ihrer schlechtesten Seite zeigt. Sie führen durch einsame, entlegenste Wildnis, die Straße ist häufig verregnet oder spiegelglatt oder verschwindet im späten Frühling unter einer dichten Schneeschicht, sodass man nicht mehr sagen kann, wo der Boden aufhört und die Luft beginnt, was Straße ist und was Tundra, und wo alles verschwimmt, kann auch ein Menschenleben leicht verschwinden.

Die Wahrheit ist, dass ich nach einer Rettung gesucht habe, und Joy Mothertrucker erschien mir wie im Traum durch den perfeken Instagram-Filter, jedes Foto eine weitere Tür, die ich des Nachts öffnete, um zu entfliehen.

Joy ist auf Instagram eine Berühmtheit, auch wenn sie sich selbst nie so bezeichnen würde.

»Die Leute mögen einfach meine Fotos«, sagte sie bei unserem ersten Gespräch.

Ich stolperte an einem Winterabend über ihren Account, an dem ich nichts ahnend durch Fotos von perfekt angerichteten Tellern mit Pasta und hübschen Kindern mit schlafzerzausten Löckchen scrollte, von weißen Designer-Wohnzimmern und süßen Goldendoodles. Ich stieß auf eine frischgebackene Fünfzigjährige mit dem Gesicht von Kate McKinnon und einem Körper wie einem Ausrufezeichen – drahtig, kompakt, bereit für die Augen der Welt –, die einzige weibliche Ice-Road-Truckerin im ganzen Land, eine Frau, die sich ein Leben aufgebaut hatte, indem sie riesige Tanklaster den James W. Dalton Highway entlangfuhr und seine außergewöhnliche Schönheit dokumentierte: naturbelassen, schneebedeckt und eisblau.

Joy nennt diesen eiskalten Ort den Himmel.

Sie sagt, der Highway sei nahezu heilig.

Mir kommt sie gottesgleich vor.

Dass Joy derartigen Neid in mir auslöst, mag absurd klingen. Unterm Strich bin ich genau die Art Frau, mit der die amerikanische Gesellschaft gut zurechtkommt: eine dreißigjährige Dozentin an einem kleinen College in Ohio, die Bücher schreibt und Studienanfänger berät und Women’s Literature unterrichtet. Ich besitze ein eigenes Haus und pflege meinen Garten. Im Frühling leihe ich mir den Pick-up eines Freundes, um neue Erde heranzukarren. Ich setze mit der Ladefläche zurück bis an die hintere Ecke des Gartens und verteile den Kompost mit einer stabilen grünen Harke. Nachbarn, Freunde und Familie merken häufig an, wie unabhängig ich sei. Sie nennen mich mutig. Stark. Und dennoch habe ich die letzten drei Jahre hauptsächlich in Gegenwart eines Mannes verbracht, dessen Verhalten mir Angst macht, dessen Selbstwert und Machtgefühl daran gekoppelt zu sein scheinen, mich niederzumachen. Dave ist liebevoll, zumindest die meiste Zeit, doch in den Momenten, in denen er nicht liebevoll ist, lebe ich in Angst und verliere all die Stärke, die ich normalerweise aus den Bereichen ziehe – beruflich und privat –, die über ihn und unsere Beziehung hinausgehen. Mit der Zeit ist das Gefühl der Freiheit aus unserer Beziehung verschwunden, aus einer idyllischen Partnerschaft, die natürlich auch Kompromisse erfordert hat, ist ein Käfig geworden, in dem ich auf und ab tigere, und das trotz unserer minimalistischen Bilder von West Elm, der dreistufigen Bücherregale, die an unserer Wand lehnen, und der geschmackvoll gewählten Farbakzente, auf die wir uns geeinigt haben, damit sie das Licht reflektieren.

Häufig denke ich: Verlass ihn.

Doch ich tue es nicht. Es passiert einfach nicht.

Stattdessen sehe ich mir im tiefsten Winter vier Monate lang von meinem zerrütteten Zuhause im grauen Ohio aus – wo nicht nur das Wetter tobt, sondern auch der Mann, den ich liebe – Joys Welt an. In Joy Mothertruckers Foto-Feed – jenen zarten, fragilen Farbkacheln – wirkten das Klima und die Erde beherrschbar, die Männer gastfreundlich und gut. Hier war eine Frau, die ihr Zuhause an einem Ort unvorstellbarer Furcht und Gefahr errichtet hatte, in einer von Männern und Maschinen dominierten Landschaft, in einem Berufszweig und einem so entlegenen Gebiet, dass eine Google-Suche hauptsächlich Bilder von haushohen Schneewehen ausspuckt und von wie Papier zusammengeknüllten verunglückten Sattelschleppern, als hätte Gott sie in seiner Faust zerquetscht.

Es war nicht schwer, ihre Telefonnummer herauszufinden. Ich kritzelte die Ziffern mit einem Edding auf ein Post-it. Dann klebte ich es an den Kühlschrank.

Doch es dauerte eine Weile, bis ich sie wirklich anrief. Als Dave mich eines Abends so sehr angebrüllt hatte, dass ich auf dem Boden kauerte, dass mein Körper sich vor lauter Angst verselbstständigte – als mir zum ersten Mal klar wurde, was er tat, dass meine Schockstarre genau das war, was er wollte, als ich begriff, wie oft ich all die Monate über dieses Verhalten zugelassen hatte, das unsere Abende bestimmte und immer wieder eskalierte –, erst da dachte ich an Joy Mothertrucker. Ich dachte an das Wort Ausweg. Ich dachte an all die Frauen in Amerika, die meinen, Gewalt und Misshandlung würden ihnen niemals passieren, bis es so weit ist. Und ich sah das kleine Viereck an meinem Kühlschrank, als wäre es genau für diesen Moment dort platziert worden, in dem ich vom Boden aufsehen und das Potenzial all dessen erkennen würde, das für alle Augen sichtbar auf mich wartete, irgendwo jenseits dieser Todesangst.

Am nächsten Morgen, als Dave bei der Arbeit war, sah ich dem Uhrzeiger zu, bis eine akzeptable Zeit erreicht war, und griff zum Telefon.

In Alaska war es acht Uhr morgens und Joy saß am Schreibtisch, da sie sich verletzt hatte.

Ich fürchtete, die Worte würden mir in der Kehle stecken bleiben, doch stattdessen kamen sie ganz leicht heraus.

»Ich würde Sie«, sagte ich, »wirklich gerne kennenlernen.«

*

Meine Reise überbrückt vielleicht die Entfernung, die uns als Fremde trennt, und führt zwei unterschiedliche Welten zusammen, doch während sich das Terminal mit Menschen füllt, wird mir bewusst, dass mein Bild von Joy aus ein paar losen Fäden besteht, die ich zu einer Person verknüpft habe.

Ich weiß beispielsweise, dass sie schlank ist, lange braune Haare hat und wie jemand aussieht, der bestimmt einen leckeren, herzhaften Eintopf kochen kann – vielleicht mit Kartoffeln und roten Linsen, Grünkohl und halbmondförmigen Karottenscheiben.

Ich weiß, dass sie eine siebzehnjährige Tochter hat, Samantha, und bereits seit Jahrzehnten in zweiter Ehe lebt.

Ich weiß, dass ihre Familie etwas außerhalb von Fairbanks auf einem Stück Wildnis in einer Holzhütte lebt, die sie gemeinsam gebaut haben, nachdem die erste Hütte abgebrannt ist, mit einem Maultier und mindestens einem Pferd und mehr Hunden, als dass man den Überblick behalten könnte.

Joy hat mir erzählt, dass sie das Grundstück ausgewählt haben, weil es abgeschieden liegt und eine fantastische Aussicht bietet. Auf den Fotos, die sie mir in den vergangenen zwei Wochen geschickt hat – seit ich angerufen und mir einen Flug gebucht habe, schreiben wir uns gelegentlich –, steht ihr Maultier aufgezäumt vor einem Waldstück, das unter einer glitzernden Schneedecke liegt. Ein Samojedenwelpe tobt mit grasgrünen Pfoten über eine Wiese. In der Einfahrt parkt Joys glänzender Sattelzug, frisch gewaschen und poliert, in schickem Dunkelblau.

In diesem Truck vollzieht sich Joys Verwandlung von Joy Ruth Wiebe zu Mothertrucker – ein Spitzname, den ihr Sohn Daniel ursprünglich für ihren Instagram-Account vorgeschlagen hat, doch mittlerweile ist daraus eine eigene Persönlichkeit geworden, der über elftausend Menschen folgen.

Was Joy betrifft, lasse ich meiner Fantasie freien Lauf, doch bezüglich des Highways kenne ich die Fakten. Der James W. Dalton Highway ist die längste Straße ohne Verpflegungsmöglichkeit in Nordamerika und ein geografisches Wahrzeichen, das zum Glück ausführlich dokumentiert wurde, sowohl in Büchern und dem Internet als auch in Film und Fernsehen. Laut meinen Quellen – hauptsächlich Wikipedia, aber auch dem Bureau of Land Management, Alaska.org, der New York Times und der sexy Homepage DangerousRoads.org – wird er wahlweise als »gefährlichste Straße Amerikas«, »entlegenste Straße Amerikas« sowie, und dies hat mein besonderes Interesse geweckt, »einsamste Straße Amerikas« betitelt.

Doch für Joy ist es das Gelobte Land. Sein Land, wie sie es nennt.

»Weil man Ihn spürt, wenn man hier ist«, sagte sie mir, als wir uns zum ersten Mal unterhielten. »Hier bist du keinem anderen Mann verpflichtet.«

Die meisten Leute kennen den Dalton Highway aus der beliebten Serie Ice Road Truckers: Darin wurde zur besten Sendezeit in 138 Episoden über elf Staffeln das häufig hochdramatische Leben von zwei Dutzend Männern und drei Frauen dokumentiert.

Ich kenne die Sendung nicht, und Joy hat mir gesagt, ich solle sie mir besser nicht ansehen.

»Nicht dass du einen falschen Eindruck bekommst«, sagte sie. »Das ist einfach alles nur Show. Ich meine, ein paar von den Männern im Fernsehen hatten Ahnung. Aber die Frauen – ich will ja nicht respektlos wirken, aber die hat, glaube ich, Hollywood angeheuert. Vielleicht waren sie Truckerinnen in Kanada oder auf einfacheren Routen in Alaska. Aber die hatten halt ordentlich Oberweite. Und jetzt sieh mich an, ich bin fünfzig. Ich fahre diese Straße schon mein ganzes Leben lang. Aber ich bin eine Bohnenstange, seien wir mal ehrlich. Ich bin kein junger Hüpfer mehr.«

Sie mag kein junger Hüpfer mehr sein, doch auf dem Highway ist sie eine Veteranin und – wie mir später viele Männer berichten werden – »die einzige weibliche Fahrerin auf einer Fernroute« und »schlicht und einfach ein Streckenengel, basta«.

Seit dreizehn Jahren verdient Joy ihren Lebensunterhalt damit, zwei- bis dreimal die Woche diesen Highway hochzufahren. Sie hat Männer sterben sehen und Männern das Leben gerettet. Ihre Tochter hat sie sogar teilweise in der Fahrerkabine ihres Sattelzugs großgezogen, wo sie sich über das Leben unterhielten, über ihren Glauben und die Familie. Joy fragte ihre Rechtschreibung ab: »Wie buchstabiert man Brokkoli?« Nachts fuhren sie rechts ran, um am Fuß der Berge zu schlafen und das Nordlicht tanzen zu sehen, elektrisierend, über einer Pfanne, in der Rib-Eye-Steaks brutzelten, während die Folienkartoffeln in der Glut des Lagerfeuers garten.

Nun bietet sie mir an, dieses Leben zu teilen.

Du wirst bald sehen, wie ich das mit Gott meine, textet sie mir. Hier fühlst du dich Ihm auf jeden Fall näher.

Und wir werden auf Ihn vertrauen müssen, sagt sie, denn auf unserem Weg lauern zahlreiche Gefahren: Schneestürme und Unfälle und ein Untergrund, der die Reifen kaputt macht und aus Trucks Wracks macht oder noch Schlimmeres. Schlimmeres, erklärt Joy, weil es auf dem Dalton Highway weder Handyempfang noch WLAN gibt. Kein Datennetz, keine Notrufsäule und kein McDonald’s an einer Servicestation. Die Straße ist größtenteils unbefestigt. Markierte Fahrspuren gibt es nicht, dafür aber Schlaglöcher von der Größe eines Kleinwagens und Streckenabschnitte, auf denen die Sichtweite gleich null ist. Es gibt Pässe mit sechzehn Prozent Steigung, direkt am Abgrund entlang, oder es geht steil bergab, ohne eine Leitplanke, die dich hält, wenn du fünfundsechzig Meilen draufhast oder mehr, wenn die Bremsen versagen oder die Straße vereist ist.

Und während man in Amerika größtenteils vom Dalton Highway oder der Ice Road spricht, wie in der Fernsehsendung eben, wird die Route in Alaska nur als »ländliche Hauptverkehrsader« bezeichnet, denn sie ist zwar für die Industrie von zentraler Bedeutung – es ist die einzige Versorgungsverbindung zu den Arbeitern auf dem größten Ölfeld Nordamerikas –, doch die harschen klimatischen Bedingungen und die absolute Abgeschiedenheit machen es dem Verkehrsministerium unmöglich, die Route so instand zu halten, wie es für staatliche Straßen erforderlich ist.

Mit anderen Worten: Man fährt hier auf eigene Gefahr.

Trotz allem befahren etwa 3700 riesige Sattelschlepper jeden Monat diesen Highway, Hunderte Männer – und eine Joy Mothertrucker – sitzen hier am Steuer, um ihren Lebensunterhalt mit den Lieferungen nach Prudhoe Bay zu verdienen. Sie haben Baumaterial und Metallrohre geladen, Wandverkleidungen, Matratzen und eine bunte Mischung all der Dinge, die Amerikaner im entlegenen Hinterland für ihr Wohlergehen so brauchen: Chocolate-Chip-Cookies, riesige Tüten mit Doritos, Fruit Roll-Ups, Gushers, T-Bone-Steaks und Fertigsoßen.

»Du wirst da draußen sterben«, warnte mich ein Freund, als ich ihm zum ersten Mal von meinem Plan erzählte, Joy zu treffen.

Doch ich wollte den Dalton Highway fahren. Ich wollte Beifahrerin in Joys Truck sein. Ich wollte – denn in meiner Vorstellung wäre dies der dramatische Höhepunkt meines Alaska-Abenteuers – nur etwa acht Meilen vor dem Ende des Highways in den Arktischen Ozean springen. Da der Frühling gerade erst begonnen hatte, war es durchaus denkbar, dass wir das Nordlicht zu sehen bekämen. Ich stellte mir pinkfarbene Wirbel über rauchenden Schornsteinen vor, unter einer dicken weißen Schneeschicht ächzende Wälder und meinen Körper, der dort draußen in der Dunkelheit allein auf der Wasseroberfläche trieb, einsam und unabhängig, der Ozean eiskalt, aber atemberaubend, das Nordlicht über dem Meer, das aussah, als hätte Gott den Himmel höchstpersönlich mit einem Löffel aufgewirbelt.

Es ist nicht von dieser Welt, hatte Joy mir versprochen. Wenn man das Nordlicht sieht, dann weiß man: Gott ist da, und er sieht uns zu.

»Ganz im Ernst«, hatte mein Freund gesagt, »das ist eine totale Schnapsidee. Punkt.«

Er hatte das Nordlicht schon zahlreiche Male gesehen und schlug vor, nach Portland, Oregon, zu fliegen, wo er ein Apartment hatte, eine Flasche Whiskey und Buntstifte zu kaufen, und dann könnten wir uns das Nordlicht selbst malen, betrunken.

»Das ist«, sagte er, »so ziemlich dasselbe.«

Nur war es das natürlich nicht.

Was mein Freund sagen wollte, war, dass ich mich durch die Reise in Gefahr begab. Niemand – schon gar keine Frau – sollte allein nach Fairbanks, Alaska, fliegen, um neben einer Fremden auf trügerischen, zugeschneiten Straßen Canyons und Täler und Tundren zu durchqueren, bis das gelbe Licht der Fabriken sich im klaren Nachthimmel verliert.

»Mein Angebot steht«, sagte mein Freund. »Bei mir gibt es einen Pool, und für den Whiskey lasse ich ordentlich was springen. Du bekommst ein Dutzend Stifte in allen möglichen Grüntönen.«

Doch ich hatte die Schnauze voll von Männern – Männern, die ich kannte, und Männern, die ich nicht kannte. Die mir sagten, wo mein Körper sein durfte und wo nicht, was ich mit ihm machen oder nicht machen sollte, wo er in Sicherheit war und wo nicht.

Ich mache das seit dreizehn Jahren, hatte Joy mir einige Tage zuvor getextet. Also krieg jetzt keine kalten Füße! Ich hab hier schon alles gesehen und alles erlebt! Du fährst mit einer Legende!

Bei Joy Mothertrucker werde ich in Sicherheit sein.

Was ich von meinem eigenen Zuhause nicht mehr behaupten kann. Denn in der letzten Zeit habe ich eine Lektion gelernt, die eine von vier Amerikanerinnen im Laufe ihres Lebens lernen wird: was es bedeutet, fertiggemacht zu werden, zugrunde gerichtet. Was es bedeutet, in Angst zu leben. Wozu ein Mann fähig ist, wenn er deinen Körper im Schlafzimmer in die Ecke drängt oder neben der Toilette oder in einem Zelt oder neben einer Goldranke im Aztekentopf, einem Mitbringsel aus unserem Urlaub in New Mexico, wo ich die letzte Nacht im La Quinta Inn durchwacht hatte, in Tränen aufgelöst. Seit Monaten bewegt sich Dave in einem zunehmend düsteren und gefährlichen Teil des Spektrums von inszenierter Männlichkeit und hat immer weniger Skrupel – wird sogar immer besser darin –, meine Angst zu schüren, um seinen Willen durchzusetzen.

Mit dreißig Jahren habe ich mein Leben ganz auf den heißen und kalten Zorn eines Mannes ausgerichtet und eine besondere Art des Terrors entwickelte sich, der seinen Körper trotz all der Erniedrigungen und Herablassungen und abwertenden Kommentare über mich in den letzten Monaten zu mir hinzog, obwohl mein eigener Körper vor ihm zurückwich.

Ganz deutlich zeichnete sich ab, dass ich zwei Optionen habe: Ich kann mich für Glück und Sicherheit entscheiden oder für Dave.

Und sosehr ich auch glauben möchte, dass meine Anwesenheit in diesem Flughafen – am Gate von Alaskan Airlines, bereit für den ersten von insgesamt drei Flügen – ein Zeichen dafür ist, dass ich mich fürs Glücklichsein entschieden habe, dafür, mich in Sicherheit zu bringen, so lastet dennoch das Wissen auf mir, dass es sich hierbei nur um den ersten von vielen Schritten handelt, und ich kann nicht sagen, ob sie mir tatsächlich gelingen werden, ob ich das für echte Veränderungen notwendige Durchhaltevermögen besitze.

Ich beschließe, mich ein wenig abzulenken. Ich ziehe mein Handy aus der Jeanstasche und sehe mir noch einmal meinen Chatverlauf mit Joy an: Er ist optimistisch und hoffnungsvoll. Sie hat mir ein Foto von einem Elch geschickt, der bei der Überquerung des Dalton Highways westlich von Livengood den Kopf mit seinem aschgrauen, wettergegerbten Geweih hebt, die Muskeln straff und definiert.

Die Jagdsaison hat noch nicht angefangen, hatte sie geschrieben, also sitze ich einfach hier und bewundere seine Schönheit!

In Alaska ist es zwei Uhr morgens, trotzdem will sie unbedingt wissen, wie es mir geht, ob meine Flüge pünktlich sein werden, ob bisher alles glatt läuft, denn das wird es, schreibt sie scherzhaft, in den nächsten Tagen nur bei Glatteis. Sie möchte wissen, wie ich mich fühle, ob meine Stiefel wasserdicht sind. Sie erzählt mir, was sie für uns besorgt hat – Handwärmer, Grillanzünder und Kakaopulver.

Ich weiß nicht, woran das liegt, schreibt sie, aber heißer Kakao hoch oben in der Arktis schmeckt soo, soooo, sooooo gut! EIN STÜCK VOM HIMMEL IN DEINER TASSE!

Sie möchte wissen, ob ich ihr Angebot nicht doch annehmen will, bei ihr im Keller zu schlafen.

BIN IMMER NOCH DER MEINUNG, DU SOLLTEST BEI MIR SCHLAFEN. Ich klammere mich an meine zerknickte Bordkarte, falte sie auf und wieder zusammen. Joy schneidet das Thema schon zum vierten Mal an – dreimal habe ich freundlich abgelehnt –, denn es ist das eine, aus dem ruhigen Mittleren Westen nach Fairbanks, Alaska, zu fliegen, um eine Frau aus dem Internet zu treffen. Es ist etwas völlig anderes, im Keller einer Fremden zu übernachten, in einem Haus, das ich nicht kenne, in einer Stadt, in der ich noch nie war.

Klar, in diesem Moment kenne ich Joy so gut wie gar nicht. Doch während die Flugbegleiter über den Lautsprecher Boardinggruppe A, B und schließlich C aufrufen, ich über die Fluggastbrücke das Flugzeug betrete und meinen Fensterplatz einnehme, kommt mir dieser Gedanke: Lieber setze ich in Begleitung dieser Fremden mein Leben aufs Spiel als in dem, was zu meiner Realität geworden ist.

Sicher ist dein Flugzeug mittlerweile abflugbereit, schreibt Joy. Vater im Himmel, bitte schütze meine neue Freundin Amy. Wir danken dir für die fantastischen gemeinsamen Tage, die du uns ermöglichst. Wir wissen, dass du uns nicht grundlos zusammengeführt hast. Bitte lass sie wohlbehalten ankommen. O Herr, wir lieben dich, Amen!

Amen!, schreibe ich. Und dann: Kann den ersten Kakao kaum erwarten!

Die Wahrheit ist, dass ich es nicht erwarten kann, an ihrer Seite zu sein, mir den klebrigen Marshmallow-Schnurrbart von der Oberlippe zu wischen. Ich kann es kaum erwarten, an einem anderen Ort zu sein als in meinem Leben – wenn auch nur für kurze Zeit.

SOOOO LECKER, schreibt sie noch einmal, gefolgt von einem Kaffeetassen-Emoji, und plötzlich kommt es mir so vor, als würden wir beide ganz unbeirrt all unsere vagen Hoffnungen auf einen imaginären Kakao und eine Handvoll Minimarshmallows setzen, die wie kleine Bojen darin schwimmen und mich, so mein naiver Gedanke, vor meiner Welt retten.

Das Flugzeug hebt ab, und ich stelle mir vor, wie auch ich aus meinem alten Leben abhebe. Ich schiebe die dünne Plastikjalousie der Fensterabdeckung hoch und sehe zu, wie der Schatten unserer Maschine zwischen dem pfirsichfarbenen Morgenlicht und den Dächern alter Lagerhäuser schwebt, über Schulen und Banken und Kirchen, über Fußball- und Baseballfelder, die zu Frühlingsbeginn hellgrün schimmern. Es wird Zeit, sich zu verabschieden, und ich zähle alles auf, als wäre ich eine Figur in einem Kinderbuch: Tschüss, Häuser. Tschüss, Bäume. Tschüss, Freund, der mich ständig anbrüllt.

2.

Das erste Foto, das ich bei meiner Ankunft in Fairbanks um vier Uhr morgens schieße, zeigt einen ausgestopften Eisbären hinter einer Glasscheibe, dessen Fell viel eher an Vanillecreme erinnert als an das erwartete Schneeweiß, seine Zähne sind auch breiter und stehen dichter, spitze Fänge, so groß wie ein Daumen. Jemand hat den Schneehügel aus Gips mit zwei unterschiedlichen Glitzerfarben verziert: ein gewöhnliches Silber, um auf der sicheren Seite zu sein, und ein überraschender changierender Pastellton, der je nach Licht und Blickwinkel rosa, grün oder lila erscheint. Der zweite Bär – ein ausgestopfter Grizzly – verblasst daneben.

Es ist verwirrend genug, irgendwo um vier Uhr morgens anzukommen, aber meine Desorientiertheit wird durch das Paralleluniversum namens Fairbanks, Alaska, noch verstärkt, wo die Bordsteine noch immer von Schneewehen gesäumt sind und die Taxis weiß-rot blinken wie weihnachtliche Lichterketten. Farbenfrohe Hochglanzbroschüren entfalten sich in Touristenhänden und jede verspricht ein anderes kostspieliges Angebot arktischer Sensationen: ein Bad in den nahe gelegenen Chena Hot Springs, ein authentisches Schlittenhundeerlebnis oder einen typischen Apple Martini, serviert im Glas aus Eis. Ich schlendere am Gepäckausgabeband umher und warte auf meinen Koffer, in den ich alles aus meinem Leben in Ohio gepackt habe, das mir praktisch vorkam. Mein Körper ist voller Adrenalin.

Unser Plan sieht vor, dass ich mich erst einmal ausruhe. Das war meine Idee. Nach dreiundzwanzig Stunden in drei verschiedenen Flugzeugen schien mir das notwendig. Stattdessen surrt das Gepäckband, und die Menschen um mich herum nähern sich erwartungsvoll, während ich ungeduldig mein Handy betrachte und mir wünsche, Joy möge endlich wach werden.

»Wir sind ganz schön nervös«, hatten meine Eltern mir eine Woche vor meiner Abreise mitgeteilt. Obwohl sie nie von der vorsorglich verbietenden Sorte gewesen sind, haben sie darauf bestanden, dass ich eine Karte mit meinen geplanten Aufenthaltsorten zeichne, bevor ich nach Alaska aufbreche.

»Das ist alles arktische Wildnis«, sagte ich. »Da kann man nichts einzeichnen.«

Trotzdem gab ich mir alle Mühe, sie zu beruhigen, schickte ihnen einen Kartenausschnitt des Staates Alaska und malte feine Linien auf die Küstenebene.

Irgendwo hier wollen wir in ihrem Truck campen, schrieb ich quer über einen zweihundert Meilen breiten Streifen Nichts.

Ich zeichnete einen winzigen Polarfuchs. Dann zwei Strichmännchen, die sich umarmten.

Sie wussten meinen Humor nicht zu schätzen.

»Wie werden wir uns fühlen«, fragten sie, »wenn etwas Schlimmes passiert?«

Es passierte bereits etwas Schlimmes – und das immer häufiger –, aber nicht in der Arktis.

Dennoch wünsche ich mir jetzt, da ich endlich in Joys Bundesstaat bin, nichts sehnlicher, als in ihrem Gästezimmer im Keller zu schlafen.

Hier wäre es viel gemütlicher!, schrieb sie. Außerdem habe ich eine Menge Welpen – die sechs Neuzugänge der Familie Wiebe. Woody Wiebe, die Samojedenhündin, hat nämlich letzte Woche geworfen. Ich kann drei davon mit ins Bett nehmen – und du auch!

Ich schnappe mir meinen Koffer, rolle ihn nach draußen und komme mir blöd vor, weil ich mir ein Hotelzimmer mit Frühstück, Kochnische und kostenlosem Flughafenshuttle gebucht habe, in dem ich nun gen Osten rase.

Oben im SpringHill Suites mache ich es mir auf dem zweiten Bett bequem – dem »Snackbett«, wie eine gute Freundin es nennt –, scrolle in unserem Nachrichtenverlauf zurück und mache mir Sorgen, dass ich Joy unabsichtlich vor den Kopf gestoßen habe, indem ich ihre Einladung abgelehnt habe, Fremdenführerin und Gastgeberin zu spielen.

ICH BIN DA!!!, schreibe ich ihr. Ich hänge das Foto des ausgestopften Eisbären an, genau wie Tausende Touristen vor mir, und befürchte sofort, dass ich sie aufwecken könnte. Aber Augenblicke später vibriert es in meiner Hand.

Ich kann nicht schlafen!!!, schreibt sie. Sie habe sich so sehr herumgewälzt, berichtet sie, dass ihr Mann James sie aufs Sofa geschickt hat.

Aber mit den Kleinen!, schreibt sie.

Das dazugehörige Foto ist derart niedlich, dass es verboten sein müsste: ein Knäuel aus schwarzem Fell und Flausch, eine winzige rosa Zunge, ihr Schlafanzugoberteil aus dünnem grauem Stoff, auf dem ein halbes Dutzend Welpen döst, verschlafen guckt und träumt.

Draußen erwacht Fairbanks langsam. Katzen zucken im Schlaf mit dem Schwanz, müde Mütter füllen Kaffeepulver in Filter. Der Frühling ist hier kälter, dunkler und rosafarbener als in Ohio. Die Sonne schiebt sich über die flachen Gebäude und Dächer voll gefrorenem Schnee.

Hey, schreibt sie, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber wir wollen in ein paar Stunden in die Kirche. Es würde zwar etwas dauern, bis wir bei dir sind, aber wir können dich einsammeln, wenn du möchtest!

Kirche ist ein schwieriges Thema für mich. Trotzdem sage ich zu.

Du erkennst uns am echt schmutzigen roten Pick-up, teilt sie mir mit.

Ein paar Stunden später auf dem Parkplatz sind alle Trucks schmutzig, ordentlich vom Winter gezeichnet, und beinahe die Hälfte davon ist rot. Dennoch entdecke ich sie sofort. Sie wedelt in ihrem großen roten Ford F-150 wie wild mit den Händen und zeigt ihre strahlend weißen Zähne. Ihr Mann James sitzt am Steuer, und ihre alten Eltern winken mir vom Rücksitz aus zu. Sie haben sich für die Kirche zurechtgemacht: Ihr Vater trägt Krawatte und ihre Mutter einen neonpinken Parka überm grünen Kleid.

Joy reißt die Tür auf, bevor der Truck zum Stehen kommt, springt heraus und zieht mich an sich. Sie ist kleiner als erwartet und noch schlanker als auf den Fotos. In ihrem knielangen, halb offenen Parka mit Pelzfutter, dem dicken blauen Strickkleid, der schwarzen Strumpfhose und den hohen schwarzen Reitstiefeln sieht sie aus wie Alaskas Fashionqueen.

Sie ist wunderschön.

»Hey, na endlich!«, sagt sie zu mir – die ersten Worte, die wir leibhaftig miteinander sprechen. Sie schließt mich fest in die Arme, ihr Kinn stupst gegen meine Schulter.

»Hey, na endlich!«, erwidere ich.

Hey, na endlich. Was für eine Untertreibung.

*

Die Golden Heart Christian School ist ein roter Containerbau, der neben einer Kirche auf Zementblöcken steht. Der Kiesboden des Parkplatzes ist übersät mit reifentiefen Löchern. Im gläsernen Eingangsbereich riecht es nach warmen Füßen, Makkaroni und Klebstoff, genau wie in jeder anderen Grundschule, in der ich jemals war. Joy erzählt mir, die Schule beherberge drei getrennte Klassenzimmer und in jedem davon finde eine andere Bibelstunde statt: eine für Männer, eine für junge Paare und unsere, die, soweit ich das beurteilen kann, keine spezielle Bezeichnung hat, jedoch immer, wie Joy erzählt, von Martha geleitet wird.

Joy geht immer zu Martha.

»Sie weiß wirklich, was Sache ist«, erklärt sie.

Marthas Bibelkreis hat schon angefangen, als wir uns reinschleichen, also sind wir ganz leise und ziehen die Schultern hoch, als würde man uns so nicht sehen. Wir setzen uns auf Klappstühle, die im Kreis um Martha herum angeordnet sind, die ein luftiges Baumwollkleid trägt und uns bittet, Matthäus 21 aufzuschlagen. Wir sind zwanzig Leute – größtenteils Frauen und Männer mittleren Alters, einige auch älter, und alle halten Bibeln in der Hand, die wie altehrwürdige Familienerbstücke aussehen: die Einbände verknickt und verbogen, Seiten mit Eselsohren und Anstreichungen versehen. Ich öffne die Bibel-App auf meinem Handy, die ich vor Monaten auf Daves Drängen hin heruntergeladen, aber nur sporadisch benutzt habe.

Hier ist das Bibelstudium Gemeinschaftsarbeit: Wir lesen abwechselnd aus der Heiligen Schrift vor, wenn Martha uns freundlich darum bittet. Ein nachdenklicher Mann hebt hin und wieder die Hand und stellt höflich philosophische Fragen.

Wenn Jesus einer von uns wäre, wirft er in die Runde, würden wir ihn überhaupt erkennen?

Nein, sind wir uns allesamt einig. Wir wären viel zu beschäftigt damit, seine politische Einstellung abzuwägen, sein Vermögen zu schätzen und ihn nach den Aufklebern auf seinem Auto zu beurteilen.

Joy greift nach James’ Hand und drückt sie kurz. Sie flüstert mir zu, sie würde niemals einen christlichen Sticker an James’ Truck kleben, weil er zu schnell fährt.

»Unchristlich«, meint sie. »Er fährt wie ein richtiger Höllenhund.«

James verdreht die Augen, als wolle er sagen: Sie nun wieder. Er ist ein kleiner, stämmiger Mann mit kantigem Kinn, warmen Augen und einem bis obenhin zugeknöpften Hemd. Bisher kein Mann vieler Worte, aber als ich lächle, klopft sie ihm auf die Schulter und er drückt ihre Hand und erwidert das Lächeln.

»Und alles«, liest jemand, »was ihr bittet im Gebet: So ihr glaubt, werdet ihr’s empfangen.«

»Glauben wir daran?«, will Martha wissen. Sie lässt die Stille wirken. »Glauben wir, dass Gott unsere Gebete erhört?«

Auf die Frage geht niemand so recht ein. Für mich ist die Antwort offensichtlich. Was andere als Prüfung Gottes verstehen – eine Prüfung ihres Glaubens, ihres Willens oder ihrer Geduld –, habe ich immer als Beweis Seiner vollkommenen Abwesenheit angesehen.

Meine früheste Gotteserfahrung hatte nichts mit einem Licht zu tun, sondern mit einem wütenden Jungen, der kopfüber von einem Baum hing. Er war sieben Jahre alt, hing einfach da und verkündete mir mit einer für sein Alter beachtlichen Überzeugung, meine Brüder und ich würden in die Hölle kommen, weil unsere Familie nicht an Gott glaubte. Das hatte ihm seine Mutter gesagt.

Es war Sommer und sehr heiß.

Er durfte nur zu uns kommen, sagte er, weil wir einen Pool hatten.

Inzwischen weiß ich genug über Glauben, um zu verstehen, dass dieser Typ Junge nicht nur auf eine bestimmte religiöse Lehre zurückzuführen ist. Sein mangelndes Einfühlungsvermögen ist vererbt. Sein Allwissenheitsanspruch existiert überall auf dem Planeten. Der Glaube, die Regeln, die Schriften mögen sich unterscheiden, aber der Gedanke ist stets mehr oder weniger der gleiche: Schließ dich gefälligst diesem Glauben an, sonst …

In Ohio beharren religiöse Prediger tagtäglich darauf – auf Plakaten, in Postwurfsendungen und auf Flyern, die unter Scheibenwischern klemmen –, dass Gott in uns allen lebt: in Bergen und Flussbetten ebenso wie an heiligen Orten drinnen wie in Marthas Klassenzimmer in dem Containerbau auf Betonstelzen, das voller Fremder ist. Mir wurde schon oft gesagt, Gott miete sich in meinem Körper ein, dass Er sich in meinem Herzen eingerichtet habe, aber ich konnte Ihn dort noch nie finden und komme mir stattdessen meistens ziemlich albern vor, wenn ich stillsitze und Ihn zu spüren versuche.

Aber in der Golden Heart Christian School kneife ich die Augen zu und tue so, als ob, weniger um meinetwillen als wegen meiner Begleitung. Es ist mir wichtig, dass Joy und James sich wohlfühlen. Ich will ihnen nicht das Gefühl geben, einen Fehler gemacht zu haben. Ich will ihnen beweisen, dass ich unkompliziert bin, offen, eine Freundin. Martha spricht, und ich konzentriere mich auf das Innere des Raums. An der Pinnwand in der Ecke sind ein paar Heißluftballons aus pastellfarbenem Bastelpapier befestigt, die fächerförmig nach oben steigen. Auf jedem steht etwas, für das eines der Kinder besonders dankbar ist.

Gott.

Meine Mom.

Oreos.

Ich schaue rüber zu Joy. Ihr Haar fällt offen und weich, bewegt sich leicht in der Heizungsluft. Ich bin dankbar für sie und für James, sogar dankbar für diese Martha, die uns nun bittet, unsere Bibeln wegzulegen und uns zum Beten bereit zu machen.

Draußen sehe ich nichts als Bäume, deren Äste sich unter großen Mengen Schnee biegen.

»Herr, wir danken dir«, beginnt Martha, »dass du heute Morgen bei uns bist.«

Sie dankt Ihm für Seine Anwesenheit, für das Opfer Seines Sohnes und vor allem für Seine Liebe, die so unermesslich und grenzenlos ist. Sie erinnert uns daran, dass unser Gott ein guter Gott ist. Daran, dass Er selbst im Schmerz bei uns ist. Dann ermuntert sie uns nachzudenken, zu beten und um das zu bitten, was wir uns am meisten wünschen. Für mich eine einfache Aufgabe: Ich will nur Joy, ihren furchtlosen Geist, ihre Großzügigkeit und ihre Tapferkeit.

Die Illusion – wenn nicht die Tatsache – ihrer absoluten Stärke inmitten von Männern.

Ich bete dafür, offen zu sein für diesen Moment, offen zu sein für diese Erfahrung. Für immer die Ruhe ihres blauen Pullovers zu fühlen. Mir das Gefühl von Frieden zu bewahren, das mich überkommt, wenn ich sie ansehe.

»Gott, mach uns zu Deinen Werkzeugen«, sagt Martha, »und schärfe uns für unseren Einsatz.«

Schärfe mich für Joy, denke ich. Ich versuche, nicht an all das zu denken, was mich stumpf macht.

Dann sagen wir alle unisono: »Wir bitten dies in deinem Namen, Herr. Amen.«

*

Als wir unsere Stühle zusammenklappen und in fein säuberlichen Reihen aufstellen, erzählt mir Joy, dass der Sabbat am Samstag ihr Lieblingstag der Woche ist.

»Ich bin einfach gern hier«, sagt sie. »Meinen Sabbat verpasse ich nie.«

Dass Joy und ihre Familie den Siebenten-Tags-Adventisten angehören, ist an und für sich nichts Besonderes. Aber als ich klein war, machte meine Familie jedes Jahr Urlaub in Washington, New Hampshire, einem kleinen Ort in New England mit gut eintausend Einwohnern, ein paar schroffen grünen Bergen und dreißig abgelegenen und größtenteils menschenleeren Seen. Washington besitzt eine Kirche, einen kleinen Pavillon und einen Tante-Emma-Laden, in dem es Spiegelei-Käse-Sandwiches auf Papptellern und Angelköder in Styroporbechern zu kaufen gibt. Vor Jahren zog ich dorthin und lebte sechzehn Monate umgeben von so gut wie nichts, und nun haben sich meine Eltern dort zur Ruhe gesetzt. Sie lesen den ganzen Tag, beobachten wilde Tiere und sprechen tagelang mit keiner Menschenseele. In genau diesem Städtchen begründeten 1862 die ersten den Sabbat heiligenden Siebenten-Tags-Adventisten ihre Glaubensgemeinschaft. Ich weiß nichts über Joys Glauben, außer dass er wahrhaftig das Einzige ist, wofür Washington bekannt ist.

Ich ziehe Joy näher zu mir heran und sprudele aufgeregt heraus: »Dein Glaube ist in unserer Kleinstadt begründet worden.«

Joys ganzer Körper zuckt zusammen. Sie reißt die Hände in die Luft.

»Martha«, ruft sie, »Martha!«

Martha ist ebenfalls ganz aus dem Häuschen. Sie und Joy und ein paar andere umringen mich und spitzen die Ohren. Trotz meiner großen Skepsis muss selbst ich gestehen, dass das Ganze sich ein wenig wie Bestimmung anfühlt: wie unwahrscheinlich, dass ich in einem Klassenzimmer in Alaska sitze, Tausende Meilen von Washington entfernt, und zuhöre, wie die Frauen und Männer hier einen Glauben preisen, dessen Wurzeln so tief mit meinem Wesen verbunden sind. Vor zwei Jahren, erzählt mir Martha, hat ihr Bibelkreis sogar eine Reise nach Washington unternommen, um den Sabbath Trail abzulaufen, einen kurvenreichen Rundweg, von dessen Existenz ich keine Ahnung hatte. Martha zeigt mir Fotos auf ihrem Handy. Ich erkenne die Kirche im Vordergrund, dahinter die Straße.

Die Frauen und Männer um mich herum haben Fische aus den Seen gezogen, sind in den Bergen gewandert, in denen ich oft wandere, sind durch die schmalen Gänge des Gemischtwarenladens gegangen und haben Spiegelei-Sandwiches mit extra viel Käse bestellt.

»Erstaunlich«, sagt Joy.

»Erstaunlich«, wiederhole ich.

Nicht zum ersten Mal stelle ich mir Joy als Gott vor.

»Siehst du?«, fragt Joy mit lebhaft aufgeregter Miene und nickt ehrfürchtig.

Während der Heizkörper neben uns leise summt, stupst sie mich mit dem Ellbogen kräftig an und legt mir den Arm um den Nacken.

»Ich hab doch gesagt, das war Gott.«

*

Eine Stunde später lehnt sich James auf der Kirchenbank weit zu mir herüber.

»Das alles«, sagt er, »ist ganz schön verrückt.«

Soll heißen, dass ich von irgendwo oder nirgendwo hierhergeflogen bin, heute Morgen mit ihnen in die Kirche gekommen bin und dann mir nichts, dir nichts offenbart habe, dass ich einen großen Teil meines Lebens am Gründungsort ihres Glaubens verbracht habe.

»Um ehrlich zu sein«, sagt er und verpasst mir einen leichten Stupser, »hätte ich nicht gedacht, dass du was für den Glauben übrighast.«

Ostküste, jung, Hochschullehrerin – er will sagen, die Schublade öffnet sich quasi von selbst.

»Das ist ein bisschen kompliziert«, sage ich.

James denkt einen Augenblick nach. Er faltet die Hände über seinem Thermobecher.

»Ich war auch nicht so versessen darauf, bevor ich Joy kennengelernt habe«, sagt er. Er war einundvierzig, als sie sich begegneten, sie achtundzwanzig. »Damals«, fährt er gestikulierend fort, »war ich ziemlich kaputt. Aber sie hat mich wieder hingekriegt, wirklich wahr, und im Juni sind wir zwanzig Jahre verheiratet. Sie hat mich zur Vernunft gebracht.«

Von unserem Platz auf der Bank aus sehen wir zu, wie Joy sich gemeinsam mit dem Pastor und fünf anderen Männern zur Kanzel begibt. Heute hilft Joy zum ersten Mal bei der Kommunion, und obwohl sie sich freut, ihren Beitrag zu leisten, hat sie den Übungsdurchlauf letzte Woche verpasst, die »Kommunionskostümprobe«, wie James es nennt.

»Da saß sie auf dem Heimtrainer«, erklärt er. »Hat komplett die Zeit vergessen.«

Wir sehen zu, wie sie aufgeregt zwischen den Männern hin und her huscht und immer wieder die Hostien zurechtrückt.

»Wir vergessen die Botschaft der Liebe«, sagt James unvermittelt. »Ich denke, wir vergessen die Botschaft, einander zu lieben. Ich glaube daran, dass du willkommen bist, wer du auch bist. Darum geht es bei meinem Glauben.«

»Bei meinem auch«, sage ich rasch. Die Worte fühlen sich großmütig an. Die meisten Erfahrungen, die ich mit dem Glauben gemacht habe, waren getrübt vom Gegenteil: weniger liebende Güte als offene, ungeheuerliche und unverblümte Grausamkeit, Verurteilung, Abgrenzung.

Der Mann, den ich liebe, ist ebenfalls Christ. Er versucht immer wieder, mir seinen Glauben einzubrüllen.

»Ich glaube«, sage ich, »den Teil vergessen die Menschen leicht.«

Eine Weile betrachten wir schweigend die Projektionen vorn, die die großartige Arbeit zeigen, die Siebenten-Tags-Adventisten in Mexico-Stadt, Kuba und Haiti tun. Ein Mädchen lächelt aus dem neonpink leuchtenden Kreis eines Hula-Hoop-Reifens. Ein kleiner Junge am Schreibtisch hält einen Stift und zeigt grinsend seine Zahnlücken.

»Ich weiß nicht, ob du es weißt«, sagt James und nickt in Richtung Joy, die Becher mit dem Blut Christi in Reih und Glied aufstellt, »aber die Frau da ist eine Legende.«

Autor