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Mühle mit Meerblick

Als Buch hier erhältlich:

Ein altes Foto ist das Einzige, was Line von ihrer Mutter hat. Im Hintergrund zu sehen ist eine Mühle am Strand. Durch Zufall findet Line heraus, dass es sich um eine Aufnahme von der Ostseeinsel Strynø handelt. Kurz entschlossen reist sie dorthin, um ihre Wurzeln zu finden. Tatsächlich trifft sie auf eine Verwandte und wird mit offenen Armen empfangen. Zum ersten Mal erfährt Line so etwas wie Geborgenheit. Wie eine wärmende Decke umhüllt sie der Zauber des Eilands. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Adam, der zurückgezogen in der Mühle am Strand lebt …


  • Erscheinungstag: 01.03.2019
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768669
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Endlich da! Line warf den schweren Rucksack von sich, der mit einem dumpfen Plopp auf den Asphalt fiel. Nur wenige Schritte entfernt plätscherten leise Wellen an den schmalen sandigen Strand und raschelten im trockenen Seegras.

Line ließ den Blick schweifen. Eine gefühlte Ewigkeit hatte sie gebraucht, um von Kopenhagen hierherzukommen. Erst mit dem Zug, dann mit dem Überlandbus und zum Schluss noch mal einige Kilometer zu Fuß. Ihre Schultern schmerzten von den Riemen des Rucksacks, ihr Rücken war vom langen Sitzen ganz steif. Doch dieser Ausblick entschädigte für vieles.

Es war genau wie auf den Bildern im Fernsehen, wie in der Reportage, die Line zufällig gesehen und die sie hierhergetrieben hatte. Wie hatte der Moderator der Sendung die Gegend genannt? Die Dänische Südsee. Line erinnerte sich, dass sie darüber gegrinst hatte. Bei dem Wort Südsee dachte man unwillkürlich an knappe Bikinis, Waschbrettbäuche, Cocktailschirmchen und Palmen. Alles nicht gerade das Erste, was einem in den Sinn kam, wenn man die Wörter dänische Küste hörte.

Und jetzt?

Da waren die kleinen Pfützen aus Silber, die auf den Wellen tanzten. Die unversperrte Aussicht auf diese ganz eigene Welt aus flachen, teilweise winzig kleinen Inseln, die auf dem Silberpfützenmeer schwammen. Das Blau des Himmels war ein paar Nuancen heller als das Blau des Wassers, und die paar zerteilten Wattebäuschchen, die reglos am Himmel ruhten, gingen kaum als Wolken durch. Segelboote ließen sich vom Wind auf dem Meer zwischen der Inselwelt treiben, und hier und da schaukelte ein kleines Fischerboot auf dem Wasser.

Eine dieser Inseln war Strynø. Strynø, ein Ort, von dem sie bis vor einigen Tagen noch nie etwas gehört hatte, der jetzt aber für so viel stand. Ihr Herz machte einen Satz. Plötzlich schien nicht einmal mehr die Sonne unerträglich stechend, sondern angenehm warm. Langsam wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Sie hätte Sonnencreme einpacken müssen, aber wer dachte daran, wenn er Mitte Mai in Skandinavien unterwegs war?

»Ganz schön heiß heute, nicht wahr?« Line war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, wie sich eine Spaziergängerin zu ihr gesellt hatte. In der Hand der Frau baumelte eine kurze braune Lederleine. Etwas abseits, in der Nähe der sichtlich in die Jahre gekommenen Hafengebäude, schnüffelte ein kniehoher Fellball im Seetang.

»Ja.« Line lächelte. »Ich war noch nie hier in der Gegend, doch ich hätte nicht geglaubt, dass es so anders ist als Kopenhagen. Dort haben wir immerhin auch reichlich Meer. Aber das hier? Die Farben. Das Licht, alles wirkt viel geheimnisvoller.«

Der Blick der Frau fiel auf den Rucksack zu Lines Füßen. »Dann machst du Urlaub hier? Hast du Verwandte in der Gegend?«

Bei dem Wort Verwandte zog sich alles in Line zusammen. »Ich …« Sie schüttelte den Kopf und zögerte. Es auszusprechen, würde bedeuten, Hoffnung zuzulassen. Sich einzugestehen, dass sie wieder einmal wagte zu träumen. »Ich habe im Fernsehen eine Reportage über Strynø gesehen, da gab es auch Bilder von der Mühle, und da musste ich einfach hierher.« Das war zumindest nicht gelogen, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Dass sie ein paar Details ausließ, konnte ihr schließlich niemand vorwerfen. Sie kannte die Frau nicht mal, wieso hätte sie ihr ihr ganzes Herz ausschütten sollen? Obwohl die Fremde durchaus nett wirkte mit ihrem Hund und den verwaschenen Espadrilles. Doch Line fürchtete, dass die Frau sie für durchgeknallt halten würde, sobald sie erfuhr, dass Line innerhalb weniger Tage ihr komplettes Leben umgekrempelt hatte, nur um einer vagen Hoffnung nachzuspüren. So etwas taten schließlich nur Verrückte. Oder Träumer, die nicht mehr viel zu verlieren hatten. Line wischte ihre Bedenken beiseite. Sie hatte es so weit geschafft, jetzt würde sie es auch durchziehen.

Irgendwo, zwischen hier und der Insel, näherte sich ein silberner Punkt auf dem Wasser und wurde immer größer. Das musste die Fähre sein. Bei ihrem Eintreffen im Hafen hatte Line laut dem Fahrplan, den sie aus dem Internet heruntergeladen hatte, noch gut zwanzig Minuten bis zur nächsten Abfahrt gehabt.

»Ja, die Mühle.« Die Frau lachte. »Kein Strynø-Besuch ist komplett ohne mindestens ein Foto von dem alten Ding. Dabei drehen sich die Flügelblätter nicht einmal mehr. Es ist schon Ewigkeiten her, dass da Mehl drinnen gemahlen wurde. Mittlerweile ist der alte Klotz seit Jahren in Privatbesitz.«

»In Privatbesitz?« Erneut machte Lines Herz einen Satz. Diesmal noch heftiger als vorhin beim Anblick der Insel. Konnte es womöglich so einfach sein? »Weißt du, wer da jetzt drinnen wohnt? Ich suche nämlich jemanden auf der Insel. Eine Frau. Sie müsste jetzt ungefähr …«

Hinter ihr wurde es lauter. Eltern riefen ihre Kinder zu sich, Wagentüren wurden geschlossen, Motoren sprangen an. Die Fähre näherte sich viel schneller, als Line es einem so behäbig wirkenden Schiff zugetraut hätte, und plötzlich musste sie sich sputen.

Die Gassigängerin schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich hab keine Ahnung. Ich wohne hier in Rudkøbing, und obwohl das nur ein Katzensprung von Strynø liegt, ist es dort wie in einer anderen Welt. Warte nur ab, bis du da bist, dann wirst du das verstehen. Auf Strynø ticken die Uhren einfach anders.«

Um darüber nachzudenken, was die Fremde mit dieser kryptischen Bemerkung meinte, fehlte Line die Zeit. »Ich muss dann los«, meinte sie zu der Frau und wuchtete sich ihren Rucksack auf den Rücken. Als hätte sie zu ihm gesprochen, hob der Hund den Kopf. Seine Ohren standen frech in zwei verschiedene Richtungen ab. Viel Glück, schien er ihr zu sagen, und Himmel, Glück war wirklich das, was Line brauchte. Kluges Tier.

Auch die Besitzerin des Mischlings verabschiedete sich von Line. Sie wünschte ihr einen schönen Aufenthalt auf der Insel und viel Erfolg bei der Suche, dann gab sie ihrem Hund ein Kommando, dass es weiterging. Seite an Seite stapften die beiden den schmalen Sandstreifen entlang, um ein paar wahllos verstreute Steine herum und auf einen uralt anmutenden Holzsteg zu, ehe sie zwischen zwei der halb verfallenen Hafenkontore verschwanden. Seufzend rückte Line die Riemen ihres Rucksacks zurecht. Um ein Haar wäre sie unter dem Ding zusammengebrochen. Aber jetzt war es ja nicht mehr weit. Endspurt!

Mit leisem Poltern und Rumpeln legte die Fähre am Kai an. Quietschend senkte sich die Laderampe. Ein paar Autos rollten von der Fähre herunter und schienen es sehr eilig zu haben, den Hafenbereich zu verlassen. Während sie auf die Fähre zusteuerte, beobachtete Line die anderen Passagiere, die genauso zügig nun auf dem Kahn verschwanden. Manch einer wechselte noch das eine oder andere Wort mit dem Mann in der dunkelblauen Sicherheitshose mit den Reflexstreifen, der am Geländer stand und alle zwei Sekunden auf seine Uhr starrte. Keiner schien was zu bezahlen.

Vorsichtig näherte sie sich dem Mann. »Hej.«

Aus seinen dunklen Augen schaute er sie an, als würde ihr eine zweite Nase aus der Stirn wachsen. Vielleicht war es aber auch der kurz geschnittene weiße Vollbart, der seiner Miene etwas Brummiges verlieh. Er trug ein dunkelblaues Sweatshirt mit dem Logo der Kommunalverwaltung von Langeland über seiner Hose, die an der Hüfte deutlich zu eng saß. Die Kapitänsmütze, unter der seine Ohren zur Seite wegknickten, war ganz sicher kein Teil seiner Uniform. »Auf die Insel?«, erkundigte er sich nuschelnd.

»Kommt drauf an, wo dieses Schiff hinfährt«, antwortete sie. Was für eine seltsame Frage.

»Nicht nach nirgendwo«, erwiderte er. Auf einmal war da ein Blitzen in seinen Augen. So als amüsiere er sich tatsächlich über ihre Nachfrage.

»Ich hab kein Ticket«, meinte sie. Da sie nicht gewusst hatte, wann genau sie am Hafen sein würde, hatte sie keins im Internet gebucht. Ihre Annahme, dass es leichter sein würde, dann direkt am Hafen eins zu kaufen, erwies sich als Trugschluss.

»Was du nicht sagst.«

Sie wartete, dass er weitersprach, doch er nickte einem aufs Schiff auffahrenden schwarzen Kombi zu und schaute wieder einmal auf seine Uhr.

»Soll das heißen, es macht nichts, wenn ich keinen Fahrschein habe?« Sie verstand gar nichts mehr. Warum spielte es eine Rolle, wohin sie wollte mit einer Fähre, die nur ein Ziel hatte, aber keine, dass sie keine Möglichkeit gefunden hatte, die Überfahrt zu bezahlen?

»Egal.« Er winkte ab. »Also willst du nun auf die Insel oder nicht?«

»Ja, natürlich, was sollte ich sonst hier? Ich hab nur keinen Automaten oder Schalter gefunden, wo ich ein Ticket lösen kann.«

»Kasper kommt nachher rum, wenn wir unterwegs sind.«

»Mit einem Klingelbeutel?«

»Bar, Dankort oder MobilePay. Uns ist das ziemlich egal, doch ich warne dich. Der Bengel weiß, wer auf der Insel wohnt und wer nicht.«

»Und das macht einen Unterschied, weil …«, entgegnete sie.

Er allerdings winkte erneut und rief in ein heruntergelassenes Autofenster: »Nächstes Mal sagst du vorher Bescheid, wenn du den Anhänger dran hast, Jakob. Hast Glück, dass wir nicht ausgebucht sind.«

Der Mann namens Jakob tat diese Bemerkung grinsend ab und parkte seinen Kleinwagen mit vollgepacktem Anhänger in einer der beiden Autoreihen. Der Brummbär unter der Kapitänsmütze wandte sich wieder Line zu. »Weil die Einheimischen als Fußpassagiere nicht zu zahlen brauchen. Staatliche Förderung.«

»Die Glücklichen«, murmelte sie und folgte den anderen Passagieren nach hinten zu einer schmalen weiß gestrichenen Metallstiege, die aufs Sonnendeck führte. Sie hatte es noch nicht einmal bis auf die Insel geschafft, allerdings ahnte sie jetzt schon, was die Frau mit dem Hund damit gemeint hatte, dass die Uhren auf Strynø ein wenig anders tickten. Unter dem Rucksack rann ein Tropfen Schweiß ihr Rückgrat entlang. Sie setzte einen Fuß auf die unterste Stufe der Metalltreppe.

Das Bescheuerte an Rucksäcken, die den kompletten Hausstand enthielten, war, dass sie breiter sein konnten, als man sich erinnerte. Irgendwo steckte sie fest. Sie zog, um endlich diese Stiege hinaufzugelangen. Da sie immer noch nicht vorwärtskam, riss sie stärker und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Schulterträger. Halb hinter, halb unter ihr erklang ein ominöses Knacken und Splittern. Lines Herz setzte für einen Schlag aus. Ihr Körper erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie wagte kaum, sich umzusehen und den Schaden zu begutachten, den sie angerichtet hatte.

Schwer schluckte sie, blinzelte zweimal, dann richtete sie ihren Blick auf das Malheur.

Mist, der schwarze 2005er VW Passat B5 GP war dank ihr und ihrem dämlichen Rucksack nun um einen Seitenspiegel schmaler. Das Teil hing traurig an ein paar Kabeln hinunter. Und Line wusste, dass Ersatzteile für dieses Modell schwerer zu kriegen waren als gemeinhin für VWs üblich. Opa Ole aus einer ihrer Pflegefamilien drehte sich mit Sicherheit gerade im Grab um. Ihm hatte es immer beinah körperliche Schmerzen bereitet, wenn einem Auto Schaden zugefügt wurde. Insbesondere wenn es sich um einen Wagen handelte, der nicht mehr der jüngste war und der dennoch tapfer seinen Dienst verrichtete. Der Passat, den sie beschädigt hatte, hatte bestimmt schon einiges erlebt. Und trotzdem sah das Gefährt aus, als würde es jemandem gehören, der Wert auf ordentliche Pflege legte.

Der Typ, der vor Line lief, sah erst sie über die Schulter an und richtete danach den Blick auf das Auto. Schließlich zuckte er bloß die Achseln und ging weiter.

Sie schaute sich um. Mit etwas Glück hatte der Fahrer so wie alle anderen den Wagen verlassen und sie könnte behaupten, nicht für das Missgeschick mit seinem Seitenspiegel verantwortlich zu sein.

Aber sie hatte kein Glück. Nicht mal ein bisschen.

Der Mann saß hinter dem Lenkrad seines Autos und sah sie an. Das Fenster war geschlossen, und er machte nicht den Eindruck, als ob er es herunterlassen wollte, um sie für den Schaden zur Rechenschaft zu ziehen. Entweder zerfloss der da unter der Tonne schwarzen Metalls, oder er hatte eine Mörder-Klimaanlage, die dann aber nachgerüstet sein dürfte. Auf jeden Fall rührte er sich keinen Deut.

Line wartete darauf, dass er ausstieg, dass er anfing herumzubrüllen, dass er irgendwas tat. Doch er hockte einfach nur da und starrte sie an. Hinter der Glasscheibe erkannte sie ein schmales Gesicht, eingerahmt von einem kurzen dunklen Bart und dunklen Haaren. Er trug ein hellgraues Hemd. Schlanke Hände lagen auf dem Lenkrad, mit zwei Fingern trommelte er darauf herum. Das war die einzige Regung, die er zeigte. Noch immer schlug ihr das Herz bis zum Hals, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Irgendetwas an dem Mann hypnotisierte sie, während sie dastand. Wahrscheinlich die Angst vor seiner Reaktion, vielleicht verwirrte sie aber auch die Art, wie er einfach nur in seinem Auto saß. So als wäre sein Wagen eine ganz eigene Welt. Eine, in die er niemanden hineinließ.

»Gehst du jetzt weiter?« Eine fremde Männerstimme ließ sie zusammenzucken. Ein kräftig gebauter junger Typ war hinter sie getreten. Um den Hals hing ihm ein Kartenzahlgerät und ein tragbarer Fahrkartendrucker. An seiner Hose blitzte eine silberne Kette, an der ein Portemonnaie hing. Er trug den gleichen Pullover wie der Kapitän. Das musste dann wohl der Ticketverkäufer sein.

»Ich hab den Spiegel …«

Der Junge unterbrach sie. »Der meldet sich, wenn der Schadenersatz haben will, keine Angst. Lauf einfach weiter.«

Bei wem meldet der sich? wollte sie fragen. Wie denn? Und wo? Und Fotos vom Schaden macht er auch keine? Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter. Wenn sie nicht achtgab, würde sie gleich umkippen.

»Du hast noch kein Ticket, ja?«, wollte der Matrose – hieß das überhaupt so? – wissen. »Sagt mein Vater.«

Sie hatte gerade einen Schaden über mehrere Hundert Kronen angerichtet, und noch kein Ticket zu haben, war momentan die größte Sorge? War das Ticket teurer als der Außenspiegel? Wie viel Geld habe ich überhaupt noch in der Tasche?

Weil sie nicht ewig wie versteinert den Weg blockieren konnte, gab sie sich einen Ruck. Sie schüttelte den Kopf, hoffend, sie könnte damit auch ihre Benommenheit abschütteln. Während sie in ihrem Rucksack nach der Geldbörse kramte, knurrte laut vernehmlich ihr Magen. Missmutig blickte sie in die hellgrünen Augen des Ticketverkäufers. »Snacks oder so was verkauft ihr nicht auf der Fähre, oder?«

»Nee, das lohnt sich nicht. Es ist ja nur eine halbe Stunde bis auf die Insel. Aber der Kaufmannsladen hat bis um sieben auf, da bekommst du sicher noch was.«

»Ah gut, fährt da ein Bus bis dorthin? Zu dem Laden, meine ich?«

Er zog eine Braue hoch, zu der sich nur sehr langsam die andere gesellte, und seine Augen blitzten dabei, als würde er sich ein bisschen über sie lustig machen. »Bus?« Er betonte es auf eine Weise, als hätte sie Spaceshuttle gesagt. »Du warst noch nie auf der Insel, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Da geht man zu Fuß«, erklärte er und zwinkerte ihr zu. »Zwanzig Minuten, höchstens, und schon bist du mitten im Dorf, dort, wo das Leben tobt.«

Klar, er amüsierte sich auf ihre Kosten. Eine halbstündige Überfahrt, zwanzig Minuten bis zum Kaufmannsladen, und wenn sie sich an die Bilder von dem Eiland erinnerte, konnte sie sich ausmalen, wie das mit dem tobenden Leben gemeint war. Ihr Magen meldete sich erneut.

Es war ein verdammt langer Tag gewesen bisher.

Der Junge verdrehte die Augen. »Am besten lässt du deinen Rucksack hier unten stehen. Nicht, dass noch etwas passiert.«

»Kann man den hier irgendwo einschließen?«

Wieder machte er diesen Stunt mit seinen Augenbrauen, erst eine, dann die andere. »Und wer soll den klauen?«

»Vielleicht holt sich der Mann mit dem Außenspiegel ja Schadenersatz«, erwiderte sie schnell. Dass in ihrem Rucksack kaum etwas war, womit sie das angerichtete Unglück bezahlen könnte, mussten weder der Ticketverkäufer noch der Kombimann wissen. Mist! Das alles lief nicht wie geplant. Sie kramte ein paar Münzen aus ihrer Geldbörse und reichte sie dem Jungen. »Genug?«

»Das wird reichen.« Seelenruhig ließ er sein Maschinchen einen Fahrschein ausdrucken und überreichte ihr den, als seien es die britischen Kronjuwelen.

»Willkommen auf Strynø«, meinte er noch, dann griff er in die kleine Ledertasche, die neben dem Portemonnaie an seinem Gürtel hing, und legte einen Schokoriegel neben den Fahrschein in ihre geöffnete Hand. »Ein Willkommensgeschenk. Mit vollem Magen hast du sicher auch gleich wieder bessere Laune. Ich bin übrigens Kasper.«

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Kannte er sie?

Adam beobachtete, wie der Sohn des Fährkapitäns der jungen Fremden einen Schokoriegel schenkte.

Weiterhin verfolgte er, wie die zierliche Frau sich an die Fersen von Kasper hängte. Kaum dass Kasper in den Maschinenraum kletterte, kroch sie ihm durch die schmale Tür hinterher, und nachdem beide wieder herauskamen, entspann sich eine angeregte Diskussion zwischen ihnen. Wie es aussah, vergaß die Fremde darüber sogar ihre Besorgnis wegen seines Seitenspiegels.

Kannte Kasper die junge Frau? Adam hatte keine Ahnung, warum, aber irgendetwas an der Vorstellung irritierte ihn. Diese Frau gehörte nicht auf dieses Schiff. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, höchstens. Sie trug ihre Haare in einem kinnlangen Bob, dessen pechschwarze Farbe unmöglich ihre Naturhaarfarbe sein konnte, von der vorwitzigen pinkfarbenen Strähne ganz zu schweigen. Ihr kleiner, drahtiger Körper steckte in Kleidung, die so durcheinandergewürfelt wirkte, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie die Sachen auf Flohmärkten zusammengekauft oder sogar selbst genäht hätte. So wie sie ihre Sachen trug, wirkten jedoch weder die bunten Flicken auf dem Top noch der ausgefranste Saum der Jeans-Shorts zerschlissen, sondern wie etwas, für das die Töchter gut betuchter Eltern in den Vintage-Boutiquen in Kopenhagen viel Geld ausgegeben hätten. Andererseits war da dieser Rucksack! Die halb zerfledderte Monstrosität, der sein Seitenspiegel zum Opfer gefallen war, sah aus, als würde jemand darin seinen ganzen Hausstand transportieren, und das wiederum passte ganz und gar nicht zu seiner Theorie mit der Tochter aus gutem Hause.

Kasper schwankte ein wenig, während er auf seinem Kartenlesegerät herumtippte. Adam trommelte statt mit den üblichen zwei nun mit vier Fingern auf dem Lenkrad herum, während er sich den seltsamen Gedanken um einen Schokoriegel hingab. Er hätte aussteigen und fragen können. Er hätte, sobald die Frau die Stiege hinauf verschwand und Kasper die Nummernschilder der Autos kontrollierte, beim Bezahlen einfach den Jungen darauf ansprechen können.

»Hej«, hätte er sagen können, »kennst du sie? Was macht sie auf der Insel? Besuch oder Touristin?«

Aber manche Schatten waren zu lang, um einfach so darüberzuspringen.

Natürlich wurmte ihn der Seitenspiegel. Mehr, als er sich eingestehen wollte und vor irgendjemandem zugegeben hätte. Mehr noch allerdings interessierte ihn die Frage, wer die Frau war und warum Kasper ihr den Maschinenraum zeigte …

Himmel, es ging ihn nichts an. Er hob die Finger vom Lenkrad, streckte sie aus und betrachtete seine kurz geschnittenen Fingernägel. Unter ihm röhrte der Dieselmotor, das Schiff erreichte die Fahrrinne und beschleunigte.

Wenn Adam Steinbach nach Strynø fuhr, hatte er noch nie oben auf dem Sonnendeck die Nähe der anderen Passagiere gesucht und sich den Wind um die Nase wehen lassen.

Er blieb in seinem Kombi sitzen, wo er allein war, abgeschottet vor zu viel Gesellschaft oder gar Vertrautheit. Jedes verdammte Mal.

Er nahm die Hände ganz vom Lenkrad, beobachtete noch, wie Kasper nach oben kletterte, schließlich lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Vielleicht eines Tages …

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Um die eineinhalb Kilometer trennten sie noch von Strynø, als die Insel plötzlich verschwand. Von jetzt auf gleich zogen finstere Wolken auf und tauchten den azurblauen Himmel in schwärzeste Nacht. Ein Blitz durchzuckte die Dunkelheit, irgendwo weit hinter Strynø, dann folgte ein Donner, zum Glück noch immer weit entfernt.

»Das wird ein ordentlicher Regenguss.« Kasper hatte sich so unauffällig an Line herangeschlichen, dass sie zusammenzuckte, sowie sie seine Stimme hörte. »Ich liebe das ja, wenn die Luft sich vor einem Gewitter so auflädt. Man kann den Regen schon richtig riechen.« Er hob die Schultern. »Aber wenn du Angst hast: Sicher ankommen werden wir dennoch. Mein Vater ist der beste Kapitän der Welt.«

»Und deshalb sitzt er hier auf einer Fähre, die nur zwischen Rudkøbing und Strynø hin und her fährt? Klingt ja nach einem echt abenteuerlichen Job. So für den besten Kapitän der Welt, meine ich.« Obwohl der fast schon kindliche Stolz von Kasper auf seinen Vater süß war, konnte Line nicht widerstehen, ihn ein klein wenig damit zu necken.

Doch statt sich auf den Schlips getreten zu fühlen, lachte ihr Gegenüber aus vollstem Herzen, was ihn gleich noch hundertmal sympathischer machte. Vielleicht, dachte Line, könnte sie sich sogar mit ihm anfreunden. Sie schob den Gedanken beiseite. Niemand konnte ihr versprechen, dass sie auf Strynø fand, was sie suchte, und womöglich wäre sie gar nicht lang genug hier, um Freundschaften zu schließen.

Mit der Schulter stieß Kasper sie an. »Was ist? Hast du Lust, noch mal mit runter in den Maschinenraum zu kommen? Ich muss die Stabilisatoren bereitmachen, für den Fall der Fälle.« Als sie ihm vorhin einfach gefolgt war, hatte es ihn zuerst irritiert, dann allerdings hatte er ihr doch einiges unten gezeigt.

»Ihr habt hier auf einer Fähre in der Dänischen Südsee Stabilisatoren?«, fragte sie ehrlich interessiert. Motoren hatten sie schon immer begeistert. Was würde sie nicht dafür geben, wie Kasper tagtäglich mit ihnen zu tun zu haben. »Ich dachte, die gibt es nur auf den großen Kanalfähren zwischen Frankreich und England?« Sie konnte praktisch spüren, wie ihre Augen aufleuchteten bei der Aussicht, sich tatsächlich noch mal da unten umschauen zu können. Und wenn sie ehrlich war, lenkte es sie auch von dem nervösen Gefühl in ihrem Bauch ab.

»Na los«, forderte Kasper sie auf.

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Die ersten Tropfen schlugen ihr ins Gesicht, kaum dass die Fähre anlegte. Der Inselhafen ähnelte stark seinem Gegenstück auf der anderen Seite, nur minus das gelbe Hafengebäude und die Querstraße mit den halb verrotteten Industriebrachen. Der schmale Streifen Sandstrand und die Stadt im Hintergrund fehlten auch. So betrachtet, blieben eigentlich nur die wenigen wartenden Autos, die Passagiere und der Anleger selbst, dann hörte die Gemeinsamkeit schon wieder auf. Es gab noch ein paar niedrige, in gedecktem Schwedenrot gestrichene Holzschuppen, ein paar im Hafen liegende Jachten und Fischerkähne und eine einzige schmale Straße, die ins Inselinnere führte. Das war dann wohl der Weg, den sie im Regen nehmen musste. Sie seufzte, schulterte ihren Rucksack und lief über die wacklige Laderampe an Land.

Eine alte dänische Telefonzelle fiel ihr auf, etwas abseits vom asphaltierten Warteplatz vor dem Anleger. Hätte jemand Line gefragt, wie Telefonzellen in Dänemark einmal ausgesehen hatten, als Leute noch auf sie angewiesen gewesen waren, sie hätte nicht antworten können. Das war so lange her, dass sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Doch hier, auf dieser weltvergessenen Insel, stand ein perfekt gepflegtes Exemplar. Ein bisschen wie die alten Londoner Telefonzellen, aber statt des dortigen Rots war sie in Rennfahrergrün gestrichen und die Butzenscheiben leicht blind. Kein Fleckchen Rost zeigte sich zwischen dem Metall und dem Glas. Beeindruckend. Wer kümmerte sich um das Ding, dass es trotz der salzigen Seeluft so gut in Schuss blieb?

Kurz überlegte sie, sich dort unterzustellen, doch was sollte das bringen? Es war mittlerweile schon nach fünf Uhr am Nachmittag, und sie hatte sich noch nicht um eine Unterkunft für die Nacht gekümmert. Besser also, sie beeilte sich, ins Dorf zu kommen.

Ich bin ja nicht aus Zucker und zerfließe im Regen, redete sie sich selbst gut zu. Mit ein wenig Glück würde sie sich bald schon irgendwo aufwärmen können.

Zwei Minuten später bereute sie ihren Entschluss, einfach losmarschiert zu sein, zutiefst. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und für das, was er auf Line niedergehen ließ, war das Wort Regen eine totale Untertreibung. Drei Schritte, und sie war durchnässt bis auf die Knochen. Ihr Rucksack wog Tonnen, und ob die Welt rechts und links der schmalen Straße noch existierte, ließ sich nicht erkennen. Denn der Tropfenvorhang fiel so dicht, dass er die Umgebung komplett verschluckte.

Ein oder zwei Mal überholten sie Autos, die nach ihr von der Fähre heruntergekommen oder im Hafen gewartet haben dürften, um jemanden abzuholen. Obwohl die abbremsten, hatte sich in kürzester Zeit so viel Wasser auf der Fahrbahn gesammelt, dass Line jedes Mal nass gespritzt wurde. Beim dritten Mal unterdrückte sie ihr Fluchen nicht mehr. Es hörte ja niemand.

Sie war so versunken in ihre miese Stimmung, dass ihr zuerst nicht auffiel, wie das nächste Auto nicht an ihr vorbei-, sondern im Schritttempo neben ihr herfuhr.

»Hej!« Durch den Regen hindurch klang der Ruf von so weit weg, dass sie eine Weile brauchte, um zu bemerken, dass er ihr galt. »Willst du ins Dorf?«

Nein, zum Schwimmen! Im letzten Augenblick erinnerte sie sich glücklicherweise daran, dass sie sich in ihrer blöden und nassen Lage Zickigkeit nicht leisten konnte. Sie schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam, und erkannte nicht nur den schwarzen Passat, der seit Kurzem einen Seitenspiegel weniger besaß, sondern auch, dass der Mann das Beifahrerfenster heruntergelassen hatte. Ausgerechnet jetzt fiel ihr wieder der Fernsehbericht über die Insel ein, in dem eine monotone Stimme aus dem Off über einen hier passierten Mordfall berichtet hatte. Vor ein paar Jahren war ein Mann von der Insel mit Leuten, die sein Boot hatten kaufen wollen, zu einer Testfahrt aufgebrochen und nie mehr zurückgekehrt. Damals hatte sie das Gerede über die Tat nicht weiter interessiert. Es war die Mühle im Hintergrund der Aufnahmen gewesen, die ihren Blick gefesselt hatte, doch nun erinnerte Line sich daran, dass unerwünschte Leute auf Strynø offensichtlich gerne mal ertränkt wurden. Sollte sie wirklich in diesen Wagen steigen? Immerhin könnte dies so was wie Dänemarks gefährlichste Insel sein. Andererseits hatte sie zuletzt in der Kopenhagener Lundtoftegade gelebt und entgegen dem Ruf dieser Straße sogar sehr gut. Die meisten Menschen machten einen Bogen um die Gegend. Line jedoch hatte sich wohlgefühlt und das eine oder andere dabei gelernt. Zur Not könnte sie den möglichen Inselmörder mit ihrem durchnässten Rucksack erschlagen. Oder aber sie redete ihn einfach zu Tode. Erika, die Mitbewohnerin ihrer letzten WG in Kopenhagen, sagte immer, dafür hätte sie ein unglaubliches Talent.

Sie nickte. »Ja. Kasper meinte, das ganze Leben spielt sich am Kaufmannsladen ab. Darf ich mitfahren?«

Statt zu antworten, ließ der Fahrer das Fenster wieder hoch. Nicht im Ernst, oder? Line konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer wäre: Ein Insel-Ripper oder ein Scherzkeks, der extra neben ihr anhielt, um ihr Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit zu machen, nur um dann Gas zu geben und sie in der nächsten Wolke Brackwasser zurückzulassen. Will er sich rächen für den kaputten Außenspiegel? schoss es ihr durch den Kopf.

Zum Glück stellte sich heraus, dass Mr. Schwarzer-Kombi keines von beidem war. Die Beifahrertür öffnete sich.

»Steig ein«, sagte er, und weil Line zuerst den Rucksack runternehmen musste, ehe sie auf den Beifahrersitz klettern konnte, hatte er genügend Zeit, sein Gesicht wieder teilnahmslos nach vorn zu richten.

»Oh, Mann, danke, das ist echt total nett! Ich triefe schon. Und … äh … wegen des Spiegels … das tut mir echt leid.« Mit einem übertriebenen Schaudern klemmte sie sich das Gepäck zwischen die Knie und zog die Tür zu, was mit einem blechernen Scheppern geschah. Das Auto war schon etwas älter. Diese Eigenschaft teilte es mit seinem Besitzer, wie es aussah.

»Hm«, gab der Fahrer von sich und beschleunigte. Wobei das relativ war, denn bei der schlechten Sicht konnte er nur vorwärtskriechen.

Von der Seite her betrachtete Line ihn. Vorhin, durch die Windschutzscheibe, hätte sie ihn auf vielleicht Mitte dreißig geschätzt. Aus der Nähe wirkte er älter. Seine Haare waren über den Schläfen von einigen grauen Strähnen durchzogen und machten nicht den Eindruck, dass sie regelmäßig geschnitten wurden. Er schien nicht oft zu lächeln. Das graue Hemd sah aus, als hätte der Wind daran gezerrt.

Stürmisch, genau, das war der richtige Ausdruck. Alles an diesem Mann wirkte, als wäre er in einen Sturm geraten, der ihn überallhin verfolgte. Das sollte nicht heißen, dass er selbst ungepflegt wirkte. Hätte jemand sie gefragt, würde sie sein Aussehen am ehesten wohl piratenhaft nennen.

Aber sie fragte sowieso niemand.

Obwohl es nicht weit war bis zum Dorf, dessen Dächer sie schon hinter den im Gewittersturm schwankenden Bäumen erkennen konnte, reichte die Zeit aus, damit Line das Schweigen unangenehm wurde. »Also«, meinte sie, »du wohnst auf Strynø, ja? Sicher ein tolles Fleckchen.« Im selben Moment fuhr ein Blitz nieder, und der sofort darauf folgende Donner verschluckte eine Antwort – so es denn eine gegeben hatte. »Und so gemütlich.« Mittlerweile musste Line schreien, um über das Regentrommeln auf dem Autodach noch gehört zu werden. »Ich bin zum ersten Mal hier, übrigens. Weißt du vielleicht, wo ich ein trockenes Plätzchen finde? Nur bis der Regen aufgehört hat.«

»Der dauert noch bis morgen früh um zwei.«

Ehrlich jetzt? Die ganze Fahrt über versuchte sie ein Gespräch anzufangen, und das war das Erste, was er zu ihr sagte? War der Typ ein Wetterforscher oder so? Wie üblich fiel ihr die korrekte Bezeichnung nicht ein. Langsam, aber sicher war von ihrem Geduldsfaden nicht viel mehr übrig als ein dünner Zwirn. »Ah. Bist du ein Metronom oder wie das heißt? Ich meine, weil du das mit dem Regen so genau weißt.«

Der Wagen hielt an. »Siehst du das gelbe Haus da? Das ist der Kaufmannsladen. Viel Spaß auf der Insel.«

Für die Dauer eines Herzschlags war Line zu perplex, um reagieren zu können. Warf dieser Kerl sie wirklich einfach raus? Ja gut, sie hatte den Laden erwähnt, aber es schüttete wie aus Eimern. Ein rücksichtsvoller Mensch hätte sich wenigstens vergewissert, dass sie einen richtigen Unterschlupf hatte.

Sie griff nach ihrem Rucksack, öffnete die Beifahrertür und stieg rasch aus dem Auto.

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Der kleine Laden sah nicht anders aus als Hunderte anderer Dorfläden in Dänemark. In den Jahren, in denen Line als Teenager wie eine Besessene nach ihrer Mutter gesucht hatte, war sie an einigen vorbeigekommen. Bei dem Versuch, dem davonbrausenden Passat nicht hinterherzustarren, ließ sie ihren Blick schweifen. Da war ein gläserner Schaukasten neben der Eingangstür, ein vom Sturm umgewehtes Reklameschild für Eiswaffeln, einer dieser Picknicktische, wo auf jeder Längsseite eine Bank angeschraubt war. Oben am Maibaum rissen Wind und Regen an den Kränzen. Und dann waren da noch die drei Gestalten, die sich unter das Vordach des Geschäfts kauerten und anscheinend ihre gesamte Willenskraft aufbringen mussten, um Line nicht mit unverhohlener Neugier zu mustern. Alle drei scheiterten kläglich. Wie kleine Nadeln spürte Line ihre Blicke auf ihrer regenkalten Haut.

Darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös ihre Zuschauer sie machten, stieg sie die beiden Holzstufen zur Eingangstür hinauf. Jetzt erkannte sie auch, dass es drei alte Männer waren, die dort standen. Nein, nicht ältere, sondern alte. Sie könnten als Brüder durchgehen, wie sie da schön gleichzeitig an ihren im Mundwinkel hängenden Pfeifen saugten. Sogar ihre Klamotten waren identisch, abgewetzte Cordhosen und verblichene Arbeitshemden unter mehrfach geflickten einstmals dunkelblauen Arbeitsjacken. Aber einer war lang und dürr, ein anderer kurz und rund, und der dritte im Bunde war irgendwas dazwischen.

Line hatte das Gefühl, in eine Comedyshow geraten zu sein. Jeden Moment würde jemand mit einer versteckten Kamera aus dem Gebüsch gegenüber stürzen und sich über Line Henriksens dämliches Gesicht halb tot lachen.

Das also war das tobende Leben, von dem Kasper gesprochen hatte? Gut, sie musste Abstriche machen wegen des Wetters, aber selbst bei Sonnenschein würde hier vermutlich kaum der Bär steppen.

Der kleine Runde stand halb vor dem Schaukasten mit den Anschlägen und versperrte ihr den Weg. »Darf ich mal?«, fragte Line mit einer für sie selbst ungewohnten Schüchternheit. Vermutlich hatte das Verhalten des Kombi-Fahrers die letzten Tröpfchen Schlagfertigkeit aus ihr herausgesogen.

Der Mann trat ein wenig zur Seite. Interessanterweise konnte sie keinen Pfeifenrauch riechen, nicht mal kalten Tabak. Nuckelten die drei an leeren Pfeifen? Was war das? Kaugummi-Ersatz?

»Was suchst du denn, Mädchen?«, fragte der lange Dürre.

»So was wie ein Zimmer oder so«, murmelte sie und fügte, noch leiser, hinzu: »Bezahlbar.«

»Die Mejeri hat noch zu«, erklärte der Runde. Da er Lines verständnislosen Blick sah, ergänzte er: »Das war früher ’ne Molkerei, jetzt ist da eine Pension drin. Und Arne renoviert gerade die beiden Gästezimmer in der Kneipe.« Er sprach das Wort renoviert aus, als sei es das exotischste Fremdwort, das er je von sich gegeben hatte. Line konnte das nur zu gut nachvollziehen. Sie kniff die Augen zusammen, um die Aushänge im Schaukasten besser entziffern zu können.

»Da findest du so was auch nicht«, nuschelte der Dürre und folgte ihrem Blick mit der Pfeife.

»Maria Jansen ist doch im Laden«, sagte der in der Mitte. »Soll sie die mal fragen. Die hat doch gerade keine Feriengäste.«

»Warum sprichst du über mich, Lauge?« Eine breit gebaute Frau stand plötzlich in der Tür des Ladens und starrte die drei Männer mit einem Blick an, aus dem selbst Line herauslas, dass die schlechte Laune gespielt war. Ihre Haare sahen aus, als sei in ihnen eine alte Dauerwelle wild weitergewachsen und als würden sie eher selten Bekanntschaft mit einer Bürste machen. »Was treibt ihr drei eigentlich hier unterm Dach?«, fragte sie, wobei sie die Einkaufstüte in ihren Händen zurechtrückte.

»Es regnet«, erläuterte der Runde, dabei konnte jeder beobachten, wie vom Vordach das Wasser wie eine Flutwelle herunterstürzte.

Die Dauerwelle verschränkte die Arme vor dem voluminösen Busen. »Und ihr seid aus Zucker? Sonst vertreibt euch doch auch nichts und niemand von eurem Platz.« Augenzwinkernd wies sie auf den Picknicktisch. Erst dann schien sie Line zu bemerken. »Wie bist du denn zwischen unseren Dorffunk gekommen?«

Line versuchte ein schmales Lächeln. »Ich suche nach einem Zimmer für ein paar Nächte.«

Langsam zog die Frau eine Augenbraue hoch. »Wie lange? Mein Standardpreis sind fünfhundert Kronen die Nacht.«

Line schluckte schwer. Einen solchen Preis hatte sie sich nicht mal in ihren schwärzesten Träumen ausgemalt.

»Jetzt mach aber mal halblang, Maria«, murmelte der Dürre und zeigte auf Line. »Das sehe sogar ich, dass das Mädel nicht so viel bezahlen kann wie diese Yuppies aus Kopenhagen, die hier bei uns ihren Urlaub verbringen und sich für ganz wichtig halten, während sie nichts anderes tun, als sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen.«

Es lag Line auf der Zunge zu fragen, welche Sonne der Mann meinte. Doch sie verbiss sich den Kommentar in der Hoffnung, es würde ihm tatsächlich gelingen, den Preis zu drücken.

»Sehe ich aus wie ein Wohlfahrtsunternehmen?«, fragte Maria empört.

Das alles hier wäre so viel einfacher gewesen, wenn Line gewusst hätte, wann Maria Spaß machte und wann es ihr ernst war. Das Zwinkern zumindest gehörte der Vergangenheit an. »Gleicher Preis für alle.« Maria blickte auf die Uhr. »Na gut. Es ist noch Nebensaison, und das war schon die vorletzte Fähre. Vierhundertfünfzig, und morgen verhandeln wir neu. Wenn du mindestens fünf Nächte bleibst, gehe ich runter auf vierhundert, aber es gibt nicht jeden Tag ein frisches Handtuch.« Jetzt zwinkerte sie doch wieder.

Line war so erleichtert, dass sie schon drauf und dran war zuzusagen, als sie einen leichten Stoß in den Rippen verspürte.

»Handeln, Mädel«, raunte der Runde so laut, dass man es vermutlich noch unter dem üppigen Reetdach des Hauses auf der anderen Straßenseite hören konnte.

»Vierhundert wegen der Nebensaison und der Uhrzeit«, sagte Line piepsig, während ihr trotz Sintflut der Schweiß ausbrach. »Und dreihundertfünfzig pro Nacht, falls ich länger bleibe.« Viel mehr als vierhundert könnte sie sich ohnehin nicht leisten, und wenn sie länger bleiben wollte, brauchte sie dringend einen Job. Doch sie ahnte bereits, dass es mit Jobs hier alles andere als rosig aussah.

Maria presste die Lippen zusammen, die Augen wurden noch schmaler. »Du erinnerst mich an mich selbst, als ich so alt war wie du, Mädchen«, meinte sie amüsiert. »Und dann hab ich Peder kennengelernt. Also nimm dich in Acht, Männer können das Leben von uns Frauen manchmal ganz schön durcheinanderbringen. Aber ich weiß noch ganz gut, wie das damals war, also komm mal mit. Ich will mal nicht so sein.« Sie wies mit ihrer Einkaufstüte auf die Straße, durch die Line im Kombi gekommen war. »Ist nicht weit.«

Innerhalb weniger Schritte klebten die wilden Locken glatt wie Schnittlauch am Kopf ihrer Trägerin, die es allerdings nicht im Geringsten zu stören schien. Ergeben trottete Line hinterher, froh, dass die Frau tatsächlich gleich in die schmale Einfahrt des dritten Hauses einbog und ihre Besucherin die kurze Steintreppe hinaufscheuchte.

Im Korridor des Hauses stand ein Bär von einem Mann und starrte Line an, als wäre sie das siebte Weltwunder. »Bist du von der Fähre heraufgelaufen?«, wollte er wissen, ohne sich vorzustellen. »Maria, nimm doch dem Kind mal den Rucksack ab, die bricht ja gleich zusammen.«

Kind?

Maria drückte dem Mann ihren Einkauf in die Hand. »Kühlschrank«, wies sie ihn an, ehe sie resolut zugriff und Line eigenhändig vom Rucksack befreite.

»Danke«, meinte Line erleichtert, auch wenn sie immer noch nicht sicher war, was sie von den beiden halten sollte. Nachdem der Mann aus der Küche zurückgekehrt war, drückte Maria ihm das schwere Gepäckstück in die Hände, als wöge es nicht mehr als eine Feder. »Sie kriegt das Zimmer nach hinten raus.«

»Ich bin …« Line schüttelte sich. Wie hatte ich so blöd sein können, meine Jacke im Gepäck zu verstauen? Seit wann war dänischer Sonnenschein im Mai jemals von Dauer gewesen? »… mit einem Mann mitgefahren von der Fähre bis hierher«, beantwortete sie mit etwas Verspätung dann die Frage ihres Gastgebers.

»Welcher Mann?« Unverhohlene Neugier klang aus den Worten heraus, und dass die Frage gleichzeitig von Maria und ihrem Mann ertönte, machte es nicht besser.

»Keine Ahnung, wie der heißt, ich kenne ja niemanden hier. War ein schwarzer Kombi.« Mit neuerdings einem verdammten halb abgeschlagenen Spiegel.

Der Mann warf seiner Frau einen undeutbaren Blick zu. »Steinbach«, sagte diese und legte missbilligend den Kopf zur Seite. »Besser, du hältst dich von dem fern.«

Line seufzte schaudernd. Hatte sie mit ihrer Vermutung hinsichtlich des Insel-Rippers doch nicht so danebengelegen? Momentan wollte sie es lieber nicht so genau wissen. Ihre Schultern schmerzten, ihre Füße taten weh, und sie fror erbärmlich. Wenn sie nicht bald die nassen Klamotten auszog, würde sie sich noch eine Erkältung holen. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich im Bad ein wenig frisch mache und mir die Haare föhne?«

Warm und freundlich tätschelte Maria, deren Haarspitzen sich zu kringeln begannen, Lines Arm. »Natürlich kannst du das, Herzchen. Willst du was essen?«

Selten in ihrem Leben hatte sich ein einfacher Satz in Lines Ohren so sehr zu Musik gewandelt.

2. Kapitel

In dieser Nacht schlief Line wie ein Stein. Vielleicht lag es an der Meeresluft, vielleicht auch an der Ruhe, die nur unterbrochen wurde vom gleichmäßigen Prasseln des Regens auf dem Fensterglas des winzigen Zimmers unter dem Dach in der Pension von Maria Jansen. Jedenfalls schlief sie ein, kaum dass ihr Kopf die Matratze berührte. Einmal wachte sie auf. Noch immer war es stockduster draußen. Aber der Regen hatte aufgehört, und die Stille war …

Irritiert tastete sie nach ihrem Handy, das sie zum Aufladen auf den Nachttisch gelegt hatte, und deaktivierte die Bildschirmsperre. Auf dem Display stand 02:07 Uhr. Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte der Inselripper nicht vorausgesagt, dass der Regen um Punkt zwei aufhören würde? Immer noch irritiert von so viel Besserwisserei schlief Line wieder ein.

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Zum Frühstück am nächsten Morgen stellte Maria Line eine Schale Vanille-Skyr mit Brot auf den Tisch. Mitten in der Bewegung stockte die Pensionswirtin. Ihre Pupillen weiteten sich, während ihr Blick Lines Aufzug erfasste. »Na, wenn du dich so in Schale geschmissen hast, musst du ja Großes vorhaben. Greif also besser zu. Zur Stärkung.« Marias rechtes Augenlid zuckte. War das ein Zwinkern?

Kurz überlegte Line, ob sie nach dem Preis für das Essen fragen sollte, entschied sich dann allerdings dagegen. Was in ihrem Bauch war, konnte ihr nicht mehr weggenommen werden, und wenn Maria darauf bestand, dass sie im Nachhinein das Frühstück abarbeitete, indem sie Rasen mähte oder Geschirr spülte, wäre das immer noch ein guter Deal.

Auch Maria schien das Thema nicht zu interessieren, denn alles, was sie meinte, war: »Wenn du aus dem Haus gehst, zieh einfach die Türe hinter dir zu. Hier gibt es keine Einbrecher. Niemand sperrt ab.«

Einbrecher nicht, nur Bootmörder, aber das verkniff Line sich. Leider sagte sie auch sonst nichts, wie zum Beispiel, dass sie nach Strynø gekommen war, um ihre Mutter zu finden. Doch das fiel ihr erst auf, als Maria für eine erleuchtende Erkenntnis nicht länger zur Verfügung stand. Sich die Hände an der Hose reibend, war die Pensionswirtin bereits aus der Küche verschwunden.

Eine Viertelstunde später, ausgeschlafen und gestärkt von dem leckeren Frühstück, machte Line sich auf den Weg zur Mühle. Bereits während ihrer Anreise hatte sie beschlossen, dass sie dort mit ihrer Suche beginnen müsste. Immerhin war die Mühle ihr einziger Anhaltspunkt und darüber hinaus leicht zu finden. Und wer wusste schon, vielleicht hatte sie einmal in ihrem Leben Glück. Alles, was ihre leibliche Mutter ihr hinterlassen hatte, nachdem sie sie in einem Kopenhagener Krankenhaus anonym zur Welt gebracht hatte, war ein Foto. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, vor dem Hintergrund dieser Mühle direkt am Strand. Seit Line halbwegs auf eigenen Beinen stehen konnte, war sie auf der Suche nach dieser jungen Frau. Jetzt, da sie wusste, wo sich diese Mühle befand, hatte sie das Gefühl, ihrer Mutter so nah zu sein wie nie zuvor.

Vom Hauptplatz aus ging es immer geradeaus. Nach dem Regen der letzten Nacht atmete Line wunderbar klare und reine Luft ein, während sie die bunte Ansammlung winziger Häuschen passierte, die das Dorf bildete. Weiß getünchte Fachwerkhäuser mit dunklen Balken und Reetdächern wechselten sich mit Gebäuden in dem für Dänemark typischen Ockerfarbton ab, deren rote Dachziegel in der Sonne leuchteten. Immer mal wieder kam sie an kleinen Teichen vorbei. Fast alle waren über und über bewachsen mit Seerosen. Der Flieder schlug gerade aus, prall blühende Blaukissen wuchsen über niedrige, aus Sandstein gestapelte Gartenmäuerchen hinweg. Von Zeit zu Zeit traf Line eine süße und üppige Wolke aus Blumenduft. An einem etwas größeren Teich in einer Straßenbiegung hörte sie ein lautes Quaken und hielt nach der Ente Ausschau. Aber außer den Wildgänsen, die laut schnatternd über die Insel flogen, entdeckte sie weit und breit keinen Vogel.

Neugierig trat sie näher. Sie bildete sich dieses Quaken doch nicht ein! Sie machte noch einen Schritt zur Wasserkante hin. Plötzlich verstummte das Quaken und wurde von mehreren dicht aufeinanderfolgenden Platschgeräuschen abgelöst.

Line lachte. Das waren keine Enten gewesen, die diesen Radau veranstalteten, sondern Frösche. Mutanten-Frösche, dem Lärm nach zu urteilen. Strynø gefiel ihr immer besser.

Vom Froschteich aus konnte sie die Mühle schon erblicken, vielleicht einen Kilometer die schnurgerade Straße hinab. Sie zögerte nur kurz. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die lange zauderten. Wenn sie sich etwas vornahm, zog sie es durch.

Als sie das Dorf hinter sich ließ, frischte der Wind auf. Obwohl es nicht mehr so stechend heiß wie gestern vor dem Gewitter war, empfand sie die Meeresbrise als angenehm warm. Rechts des Weges standen dieselben braun-weißen Kühe, wie sie sie in der Fernsehreportage gesehen hatte, die sie auch auf die Mühle aufmerksam gemacht hatte. Eines der Kälbchen hatte einen lustigen Fleck auf der ansonsten ganz weißen Nase und trank gerade bei seiner Mutter. Links des Weges blökten Schafe, und über ihren Köpfen, in einer kunstvollen Formation, flogen die Krach machenden weißbraunen Gänse. Line hatte sich immer für ein Stadtkind gehalten. Himmel, die Aktion mit den Mutanten-Fröschen hatte bewiesen, wie wenig sie in die Natur passte. Aber irgendwas an dieser Umgebung rührte sie. Es war, als würde sich etwas in ihrem Herzen öffnen. Nicht weit, nur einen kleinen Spalt, mehr wie ein Versprechen auf etwas, das noch kommen würde. Ob sich so Heimat anfühlte? Zu Hause?

Sie schüttelte den Kopf und lief weiter. Eins nach dem anderen. Noch konnte ihr niemand sagen, ob es ihr überhaupt gelingen würde, die Frau auf dem Foto zu finden.

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Adam stand, das Fernglas in der Hand, am dem Meer zugewandten Fenster im kreisrunden Raum im Bauch der Mühle. Es gab nur dieses eine Zimmer. In die Wände der Mühle hatte er im Laufe der Zeit Bücherregale hineingebaut. Dazu zierten den Raum ein paar bequeme Sitzmöbel, jedes davon mit einer Stehlampe ausgerüstet, und ein niedriger Tisch, auf dem sich weitere Bücher stapelten. Auf der Galerie über ihm, die zum Teil auf hölzernen Säulen ruhte, befand sich das Schlafzimmer. Direkt unter dieser Galerie hatte er seinen Schreibtisch hingestellt, auf dem der Laptop aufgeklappt und arbeitsbereit auf ihn wartete. Dahinter summte unternehmungslustig der Drucker. Zwei dicke Stöße Ausdrucke lagen rechts und links des Computers, der Stifteköcher war voll. Die paar Sachen, die er sein Eigen nannte, abgesehen von den Büchern und seiner Arbeit, befanden sich in Truhen, verborgen in Ecken, die das Licht aus den winzigen Halogenstrahlern in der Zimmerdecke nicht erreichte. Küche und Bad hatte er sich in dem kleinen ehemaligen Schuppen eingerichtet, einem niedrig gemauerten weiß gestrichenen Bau an der Rückseite der Mühle, den ein kurzer Flur mit dem Hauptgebäude verband. Er wollte weder einen Brand in seiner Mühle riskieren noch einen Wasserschaden.

Langsam nahm er das Fernglas hoch und schaute hinaus. Wie üblich nach einem Regenguss stachen von Marstal auf der gegenüberliegenden Insel Ærø die Hobbysegler schon früh am Morgen in See. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, wie lange sein eigenes kleines Boot schon ungenutzt im Garten hinter der Mühle auf hölzernen Böcken stand und Wasser höchstens von oben in Form von Regen gesehen hatte. Das Segel lag ordentlich gefaltet im Regal unter der Spüle in der Waschküche, und den Motor hatte er nicht ersetzt, seit der alte nur wenige Monate nach seiner Ankunft hier den Geist aufgegeben hatte.

Kaum etwas auf dieser Welt war schöner als ein vom Regen frischer Morgen auf diesem Teil der Ostsee. Das Morgenlicht spiegelte sich auf dem Wasser. Unter ihm am Bootsanleger hantierte einer der Fischer aus dem Dorf mit Reusen und seinem kleinen Motorboot. Irgendwo rief eine Kuh nach ihrem Kalb.

Dass jemand an die Tür der Mühle klopfte, wurde ihm erst bewusst, als das Geräusch zum dritten Mal erklang. Es war einfach zu ungewohnt, und auch jetzt irritierte es ihn. Niemand aus dem Dorf würde ihn besuchen. Er hatte einen Ruf: der Einsiedler und Menschenfeind. Der Deutsche, der sich für zu gut hielt, um mit den Einheimischen Kontakt zu pflegen, und von dem niemand einen Schimmer hatte, was er wirklich machte oder warum er überhaupt hier war. Für dreiste Touristen, die an den deutlich sichtbaren, wenn auch etwas verwitterten Privat-Schildern an den beiden Zugängen vorbeikletterten, war es noch viel zu früh. Diese pflegten mit der zweiten oder dritten Fähre des Tages einzutreffen und brauchten eine Weile auf den am Hafen geliehenen Fahrrädern, bis sie hierher vordrangen.

Erneut klopft es. Da war jemand sehr penetrant. Er stellte das Fernglas aufs Fensterbrett und ging von der hölzernen Empore die sechs Stufen hinunter zur Eingangstür.

Auf der anderen Seite stand die junge Frau, die am vergangenen Abend wie eine nasse Katze in seinem Auto gesessen hatte. Die Seitenspiegelkillerin. Völlig schockiert starrte sie ihn an.

»Du verfolgst mich!«, stieß sie schließlich hervor. Mit der bunten Strähne in ihren schwarzen Haaren, mit den grell lackierten Fingernägeln und den ausgefallenen Klamotten war sie auch heute wieder eine Erscheinung. Wäre sie direkt aus einem seiner Bücher geklettert, hätte ihn das nicht gewundert. Vielleicht aus der modernen Adaption eines Edgar-Allen-Poe-Klassikers. Das schwarze Spitzentop, das sie trug, und der kurze schwarze Rock mit den vielen Volants erinnerten vage an Kleidung aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auch die Schnürstiefel passten irgendwie dazu. Unter dem dicken schwarzen Eyeliner wirkten ihre fliederblauen Augen riesengroß. Adam musste schlucken, dann fing er sich.

»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du bist diejenige, die ständig mir über den Weg läuft.«

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War ja klar. Wahrscheinlich hätte ich die ganze Zeit damit rechnen müssen.

Schließlich kam ein Unglück niemals allein, und dieses ganz spezielle Unglück hatte sie immerhin schon zweimal eingeholt. Oder sie das Unglück, je nachdem, wie man es betrachtete. Im Grunde war es auch egal, wer nun wen verfolgte, doch das galt offenbar nicht für den schweigsamen Inselripper. Natürlich musste der die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und sie in Verlegenheit bringen. Ein Blick aus seinen sturmgrauen Augen und die zu langen, verwuschelten Piratenhaare, und jeder vernünftige Gedanke war wie weggeblasen.

»Entschuldigung«, stammelte sie und stürmte dann davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.

Was hatte dieser Mann an sich, dass er sie derart nervös machte? Der Insel-Ripper-Sturm war auf sie niedergegangen, und prompt hatte sie vergessen, ihm das Foto zu zeigen. Großartig!

Auf dem Weg zurück hatte Line kein Auge für die Natur. Sie war frustriert, und außerdem bekam sie eine Blase am rechten kleinen Zeh. Kein Wunder, dass sie die Suche nach ihrer Mutter bereits vor Jahren aufgegeben hatte. Für derlei Abenteuer war sie einfach nicht geschaffen.

Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, steuerte sie wieder den Dorfladen an. Als hätten Statler und Waldorf aus der Muppet Show auf ihre alten Tage noch einen Bruder bekommen, saßen die drei Alten auf der Bank vor dem Laden, auf die Maria sie am Tag zuvor hatte verbannen wollen. Heute stieg sogar Rauch aus ihren Pfeifen auf.

Na gut. Wenn schon, denn schon. Da die drei sie ohnehin beobachteten, konnte sie sich genauso gut ein Herz fassen. Immerhin war sie aus einem ganz bestimmten Grund auf Strynø.

Während sie auf die drei zutrat und die alte Fotografie aus ihrer Rocktasche zog, zitterten ihre Finger.

»Ähm«, begann sie, weil das immer ein guter Anfang zu sein schien.

»Und, Mädel?« Da hieß es, alte Menschen hätten viel Geduld. Der lange Dünne fiel ihr bereits ins Wort, noch ehe sie sich überhaupt entschieden hatte, was sie sagen wollte. »Hast du gut geschlafen bei Maria?« Den Kopf schräg gelegt, erinnerte er sie ein wenig an einen Falken auf der Jagd. »Irgendwie wirkst du mir immer noch ein wenig mitgenommen. Hat sie dir nichts zu essen gegeben?«

»Mensch, Anton, muss doch nicht jeder so aussehen wie du und ich«, mischte sich Klein-und-Rund ein. Lachend klopfte er sich auf den Fassbauch. »Eine Figur wie diese hier muss man sich über Jahre hinweg erarbeiten. Und außerdem, das Mädel ist doch richtig schick. Selten genug, dass wir hier mal eine sehen, die sich ein bisschen für uns herausputzt.«

»Ähm«, probierte es Line noch einmal. Diesmal war es der in der Mitte, der sie unterbrach.

»Jaja«, sinnierte er und klang dabei, als würde die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern liegen. »Das waren noch Zeiten, als man so viel essen und trinken konnte, wie man wollte, ohne dass einem am nächsten Tag schlecht davon wurde. Könnt ihr euch erinnern? Die Dorffeste damals. Wenn danach dein Liebchen gesagt hat: Komm, Schatz, lass uns nach oben gehen und Liebe machen, und du musstest noch nicht antworten: ›Tut mir leid, Liebes, aber ich schaff nur eines von beiden.‹«

»Also, ich hätte da eine Frage.« Wenn sie jemals die Gelegenheit haben wollte, ihr Anliegen vorzutragen, musste Line ihre Taktik ändern. Der einzige Weg, Aufmerksamkeit zu erringen, schien der zu sein, wie sie einfach dazwischenzureden.

Die drei Alten hielten von ihrer geänderten Taktik genauso wenig wie vom ersten Versuch. Sie sprachen einfach weiter. Über alte Zeiten, Arthritis, den Zug der Wildgänse und ob es sich lohnen würde, Cannabis anzubauen, um daraus eine Salbe herzustellen, die gegen Rückenschmerzen half.

Irgendwann hatte Line genug. Sie entfaltete das Foto und knallte es dem großen Dürren förmlich vor die Nase. »Hier!« Fast schrie sie jetzt. »Kennt ihr die Frau auf dem Bild? Ich muss sie finden.«

Abrupt verstummte das Geplapper der drei Alten. Sechs Augen richteten sich auf Line wie Laserstrahlen.

Sie schluckte. »Es wäre wirklich sehr wichtig für mich«, fügte sie dann hinzu, diesmal deutlich leiser.

»Hm«, machte der kleine Dicke und kratzte sich mit der Pfeife am Kinn.

In den Blick, mit dem der Mittlere der drei sie bedachte, trat ein kritischer Ausdruck. »Ich nehme an, irgendwann musste es ja so kommen.«

»Das heißt, ihr kennt sie?« Ihr Herz raste. Alles Blut stürzte ihr aus dem Kopf, und für einen Moment fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Sollte das wirklich wahr sein? Kaum ein Tag auf der Insel, und eine zwanzig Jahre währende Suche fand ein Ende? Wäre das nicht viel zu einfach gewesen?

»Du solltest zu Louise gehen.« Der Mittlere hörte gar nicht mehr auf, den Kopf zu schütteln. »Dort runter.« Mit der Pfeife wies er auf eine kleine Straße, die links vom Dorfplatz abging. »Den Kirkevej hinunter. Kurz vor dem Kærlighedsstien steht Akvarellen. Das ist das Haus von Louise. Sie malt, aber um diese Zeit und bei diesem Wetter ist sie vielleicht im Garten. Sie wird dir helfen können.«

»Okay. Danke.« Lines Finger fühlten sich noch immer ganz taub an, während sie das Foto in der Mitte knickte. Eigentlich hatte sie vor, es zurück in ihre Hosentasche zu stecken, doch aus irgendeinem Grund brachte sie das nicht fertig. Sie musste es in der Hand halten, sich daran klammern. Auf eine seltsame, fremde Art verlieh das Bild ihr auf einmal Mut, statt sie wie sonst üblich an etwas zu erinnern, das sie verloren hatte, ehe sie sich überhaupt daran hätte erinnern können. »Ich mach mich dann mal auf den Weg.«

So praktisch es war, dass die Insel wirklich klein und die Entfernungen überschaubar waren, plötzlich ging Line alles zu schnell. Bei jedem Schritt hämmerte ihr Herz wie wild, in ihren Ohren rauschte der Puls lauter als der Wind im Laub der weit ausladenden Linde mit dem Gedenkstein für die im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 gefallenen jungen Männer von Strynø darunter. Was, wenn die drei Alten sich täuschten? Was, wenn sie nicht willkommen wäre? Was, wenn sie weggeschoben werden würde, so wie sie immer weggeschoben worden war, sobald die Pflegefamilien merkten, was für eine herbe Enttäuschung sie war? Ein Teil von ihr verlangte, sich umzudrehen und so schnell wie nur möglich von dieser Insel zu fliehen. Ein anderer Teil schalt sie, dass das die dümmste Idee ihres Lebens sein würde, und das wollte etwas heißen. Denn immerhin hatte Line Henriksen schon allerhand wirklich dumme Ideen gehabt. Der Rest von ihr war vollkommen damit beschäftigt, immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dabei eine Panikattacke zu kriegen.

Links, rechts. Links, rechts. Und schon war sie da.

Das Haus Akvarellen stellte sich als niedliches ockergelbes Gebäude heraus, dass Line an einen Schuhkarton erinnerte. Ein winziges schmiedeeisernes Treppengeländer führte drei Natursteinstufen hinauf zu einem ebenso winzigen schmiedeeisernen Tor. Rechts und links der Haustür standen zwei Hocker aus Holzblöcken, deren natürlich gewachsene pilzähnliche Form jemand betont hatte, indem er sie in Rot mit weißen Punkten bemalt hatte. Um die Pilze herum öffnete ein Meer gelber, roter und weißer Tulpen im Vorgarten einladend die Kelche. Ein aus Keramik gearbeitetes Schild mit der Aufschrift des Hausnamens hing direkt unter dem putzigen Giebel, und alle Fenster waren weiß abgesetzt. Wenn im nächsten Augenblick sieben Zwerge aus dem Garten marschieren und Line auf dem Weg zur Arbeit zuwinken würden, hätte sie sich nicht darüber gewundert. Bedeutete das, dass die Frau namens Louise Schneewittchen war? Nun, es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Tief Luft holend öffnete Line das Tor, erklomm die drei Stufen dahinter und betätigte den altmodischen Klingelknopf rechts der Eingangstür. Durch das geschlossene Türblatt hörte sie das Schrillen im Haus. Danach nichts, nur das Klopfen ihres eigenen Herzens.

Im Stillen zählte sie bis zwanzig, dann probierte sie es erneut. Diesmal ertönten Schritte im Inneren des Hauses.

»Moment! Ich komme schon. Himmel, ihr wisst doch, dass ich um diese Zeit immer im At…« Die Tür flog auf, und die Frau, die im Rahmen erschien, erstarrte innerhalb eines Sekundenbruchteils zur Salzsäule.

Eindrücke prasselten auf Line nieder. Zu viele, um sie zu verarbeiten. Louise hatte weiße Haare, die wahrscheinlich einmal blond gewesen waren, und trug einen kaum befleckten Malerkittel. Die Falten nahmen dem herzförmigen Gesicht nicht die Schönheit, sondern verliehen den Zügen Charakter. Ihre Augen hatten dieselbe fliederblaue Farbe wie die von Line. Doch sie sprach kein Wort. Nur ihre Hände ballten sich zu Fäusten. So heftig, dass ihre Fingerknöchel selbst unter den Farbklecksen, die die Haut besprenkelten, noch weiß hervortraten.

»Sind Sie Louise?« Line traute ihrer Stimme nicht. Alles an ihr zitterte. Oh Gott, dachte sie. Oh Gott! Fahrig entfaltete sie die Fotografie in ihrer Hand und hielt sie Louise hin. »Die drei Alten von dem Krämerladen meinten, Sie könnten mir vielleicht sagen, wer das ist. Die Frau auf dem Foto, meine ich. Wissen Sie, ich glaube nämlich, also, das heißt eigentlich, ich bin mir ziemlich sicher. Ich glaube, ich bin ihre Tochter.«

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