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Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat

Als Buch hier erhältlich:

Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt?

Willi Sitte – Künstler, überzeugter Kommunist, Funktionär, Machtmensch. Er gilt als einer der einflussreichsten und umstrittensten Maler der DDR. Aron Boks ist sein Urgroßneffe und hat sich bisher kaum für seinen berühmten Verwandten interessiert. Bis bei einem Familientreffen plötzlich ein Gemälde auftaucht: Die Heilige Familie. Aron beginnt, Fragen zu stellen: Wer war Willi Sitte wirklich, was trieb ihn an?

Das Gemälde wird zum Ausgangspunkt seiner biografischen Recherche, die ihn mit Geschehnissen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders mit den Jahren vor und nach der »Wende« konfrontiert. Irgendwann wird ihm klar, dass die Beschäftigung mit seiner Familie und der DDR auch zu einer Beschäftigung mit sich selbst wird. Aron sammelt, fragt nach und fügt Ereignisse zusammen, die Willi Sitte auf seinem Lebensweg prägten. Zu den Zeitzeugen, mit denen er spricht, gehören neben Ingrid Sitte auch Wolf Biermann, Gerhard Wolf und Volker Braun.

Für Aron, der die DDR selbst nicht mehr erlebt hat, zeigt sich der Maler Willi Sitte als Mensch in all seiner Zerrissenheit. Zwischen Ideologie und Idealismus, Ruhm, Macht, Kunst und Anerkennung. Eine Suche, die uns zu den wichtigsten Fragen der jüngsten Vergangenheit Deutschlands führt.


»Eine Spurensuche, bei der Aron Erinnerungen von Zeitzeugen und aktuelle Ereignisse dokumentarisch miteinander verwebt. Dabei herausgekommen ist seine ganz eigene Geschichte. Eine großartige Annäherung an ein Land, das es nicht mehr gibt, aber unsere Gegenwart weiterhin prägt.«

Alexander Kluge

»Es gibt viele Bücher Nachgeborener über die DDR, viele Bücher über die Suche nach diesem untergegangenen Land und der Frage danach, was das mit der eigenen Biografie zu tun hat. Aron Boks gelingt, was viele nur vortäuschen: Er hat ernsthaftes Interesse. Empathisch, kritisch, feinfühlig legt er die Ambivalenzen offen, die sich ergeben, wenn man sich mit ›der DDR‹ beschäftigt. Chapeau!«

Lukas Rietzschel, Autor des Bestsellers Raumfahrer


  • Erscheinungstag: 21.02.2023
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003107

Leseprobe

FÜR MEINE GROSSMUTTER, BARBARA MARIA

VORBEMERKUNGEN

ERSTENS: Auf meiner Spurensuche nach Willi Sitte, der Reise quer durch die Geschichte meiner Familie und der DDR, ist mir vieles passiert, was ich – wie könnte es auch anders sein – nicht erwartet hätte. Und zwar das volle Programm: Seltsames, Schönes, Trauriges und Verrücktes. Ich möchte ohne große Vorrede davon erzählen. Nur wäre mir das gar nicht möglich ohne ein paar Werke, die mich dabei intensiv begleitet haben.

Ich danke den Autorinnen und Autoren, mit denen ich größtenteils persönlichen Kontakt pflegte, sehr für ihre Wissensvermittlung. Sofern ich aus diesen Werken nicht wörtlich zitiere, verzichte ich im Erzähltext auf eine Kennzeichnung und nenne die Publikationen, auf denen der Großteil des historischen Kontexts meiner Recherche aufbaut, an dieser Stelle:

  • Gisela Schirmer, Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie. Mit Skizzen und Zeichnungen des Künstlers, Leipzig 2003

  • Thomas Bauer-Friedrich/Paul Kaiser, Willi Sitte – Künstler und Funktionär: eine biografische Recherche, Dresden/Halle 2021

  • Christian Philipsen/Thomas Bauer-Friedrich/Paul Kaiser (Hrsg.), Sittes Welt: Willi Sitte: Die Retrospektive, Leipzig 2021

  • Marina Farschid, Auf weißem Grund. Der Maler Willi Sitte im Porträt, Hörfunkfeature, MDR 2001

  • Klaus Schroeder, Die DDR. Geschichte und Strukturen, Ditzingen 2011

  • Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 1989, Frankfurt a. M. 1992

  • Gunnar Decker, 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015

  • Karsten Krampitz, 1976. Die DDR in der Krise, Berlin 2016

Weitere Literaturangaben befinden sich in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis.

ZWEITENS: Willi Sittes ältester Bruder, mein Urgroßvater Franz, spielt eine zentrale Rolle in dieser Geschichte. Ich war sechs, als er starb. Durch Gespräche mit Familienangehörigen und vor allem durch seine handgeschriebenen Erinnerungen, Lebensläufe, persönlichen Notizen und Dienstakten war es mir möglich, sein Leben und das seiner Frau Marta, meiner Urgroßmutter, zu rekonstruieren. Wörtliche Zitate sind seinen nicht veröffentlichten Memoiren entnommen, sofern sie nicht anders gekennzeichnet sind. Dasselbe gilt für die unveröffentlichten Memoiren und Tagebücher anderer Familienmitglieder. Dialoge zwischen meinen Familienmitgliedern, die sich nicht aus einem im Text erwähnten Gespräch mit mir ergaben, entstammen der Überlieferung lebender involvierter Personen und beruhen vor allem auf ihren Erinnerungen.

Überhaupt darf man sich nicht nur bewegen lassen. Man muss sich bewegen lassen, um sich dadurch selbst bewegen zu können.

PETER UNFRIED

PROLOG

Meine Hand knallt gegen die Scheibe. Gleich geht’s los.

Im Schaufenster eines Souvenirladens meiner Heimatstadt ist deren Miniaturdarstellung der Altstadt zu sehen. Das Highlight bildet eine Minidampflock, die auf Knopfdruck an der Glasscheibe losfährt. Zumindest funktionierte das so, als ich ein Kind war und begeistert vor dieser Scheibe stand. Wieso bewegt sich jetzt nichts? Noch einmal knalle ich gegen den Knopf und noch einmal.

Ich verziehe das Gesicht. So war das alles nicht geplant. Seit Wochen kehre ich meiner Wohnung in Berlin den Rücken und verkrieche mich zwischen Fachwerk und Harzer Wald. Die Straßen hier sind menschenleer. In der von Laternenlicht beleuchteten Scheibe sehe ich mein Spiegelbild. Ich trage die weiße Tennismütze, die ich mir vor einiger Zeit gekauft habe, um wie ein echter Reporter auszusehen. Schließlich wollte ich eine Geschichte schreiben. Eine über Willi Sitte, den wohl »umstrittensten Maler der DDR« – Sozialist, Funktionär, Künstler und – mein Urgroßonkel.

Da ich aber weder ihn noch die DDR kennengelernt habe, schien ich genau der richtige Mann zu sein, um unvoreingenommen über ihn zu schreiben. Er war zwar mit mir verwandt, aber in meinem engeren Familienkreis wurde bisher so gut wie gar nicht über ihn gesprochen, und dafür hatte ich auch eine überzeugende Erklärung: Genauso wenig wie er wirklich mit mir und meiner Familie zu tun hatte, war dieses Ostdeutschland und DDR-Ding zwar irgendwie Teil meiner Familie, aber eben: kein Thema.

Nicht für uns. Die vierzig Jahre DDR waren eine glücklicherweise überwundene Zeit, und was passiert ist, ist Stoff für die Geschichtsbücher. Wir sind glückliche Einheitsdeutsche. Das hatte ich zumindest immer gedacht und anlässlich des hundertsten Geburtstags Willi Sittes, meines »unbekannten Verwandten«, unbekümmert angefangen, über diese fremde Berühmtheit zu lesen und selbst einen Artikel zu schreiben. »Er ist mir lange ein Rätsel geblieben«, hatte ich eine Journalistin ganz am Anfang meiner Recherchen wissen lassen, die mich über meine »Beschäftigung« mit Willi Sitte befragte. Ich hatte das gesagt, weil es eben gut und passend klang, und doch bestand dieses Rätsel für mich aus nur wenigen Fragen und, ehrlich gesagt, keinen Unklarheiten. Damals. Ich bezog mein Wissen aus den bisher erzählten Geschichten seines Lebens, aus Feuilletonartikeln mit meist sehr ähnlichem Tonfall – »Großer Künstler, schwierige Person«. Einer, der erst für die Freiheit der Kunst kämpfte und später zum Staatsmaler einer Diktatur wurde. Zwei Leben in einem Satz ohne Fragezeichen.

Ich sehe auf die historische Dampflock im Fenster und das Schloss im Bergwald. Die Aushängeschilder dieser Stadt. Auf einem Foto, das sich inzwischen auf meinem Arbeitsplatz befindet, steht Willi Sitte neben anderen Familienmitgliedern. Es hatte nicht lang gedauert, bis ich beim Verfolgen seines Lebensweges tief in die Geschichte meiner Familie eingetaucht war. Das war’s dann mit der »Draufsicht«.

Und nicht nur das. Je tiefer ich eintauchte, desto weniger Antworten, aber umso mehr Fragen fand ich. Wie auf einem unausgeschilderten Weg, bei dem man sich auf Ortskundige verlässt. Schließlich habe ich unzählige von ihnen interviewt. Menschen, die in der DDR gelebt und gewirkt haben. Aber immer, wenn ich geglaubt hatte, näher am Ziel zu sein, eröffnete jemand eine neue Abzweigung, und so ging das immer weiter. Ich fragte Künstler und Historiker nach der Richtung – ebenso Freunde Willi Sittes, stieß dann auf Feinde, die mich wieder in eine ganz andere Richtung führten, und landete in einer verrauchten Spelunke in Rom, an einem Strand an der Côte d’Azur und dann wieder in einem biederen Café in Halle an der Saale oder einem kerkerähnlichen Atelier im tiefsten Thüringen. Aber was für ein Ziel war das denn, das ich da anstrebte? Was für ein Rätsel hatte ich überhaupt versucht zu lösen – das eines Lebens?

Ich drücke noch einmal etwas sanfter den Knopf in der Scheibe. Es funktioniert nicht. Harter Reality-Check. Immer wenn ich früher hier vorbeispazierte, drückte ich wieder und wieder gegen diesen Knopf, und die Bahn fuhr jedes Mal in verlässlicher Langsamkeit ihre Runden. Über Google Reviews erfahre ich später, dass ich nicht der Einzige bin, der sich darüber wundert: »Ein Stern Abzug, weil die Modelleisenbahn nicht fuhr.«

Seit Wochen habe ich mich im Keller meiner Eltern einquartiert. Die Akten, Dokumente und ausgedruckten Zeitungsartikel mit Fotos und dazugehörigen roten Verbindungsfäden an der Wand erwecken entweder den Eindruck, ich würde ein kompliziertes Verbrechen lösen oder eine Ostalgie-Kneipe im Oberharz ausstatten wollen. Überall hängen Wimpel und Abzeichen mit Hammer und Zirkel mit schwarz-rot-goldenen Farben und das Händedruck-Logo der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Es ist der Nachlass meiner Familie. Dazu gesellen sich Mappen und Kladden aus den Kellern und Dachböden von Angehörigen der Familie, mit denen ich bis vor Kurzem noch nie gesprochen hatte. Plötzlich stand ich in ihren Wohnstuben, bekam Kaffee und fühlte mich manchmal wie ein Eindringling, wenn ich später im Stillen die Tagebücher und Dokumente ihrer Vorfahren las. Aber wieso? Es waren doch auch meine und vor allem: Willi Sittes Vorfahren.

Ich lernte dadurch meinen Urgroßvater und seine Geschwister kennen und wie eng ihr Leben mit dem Willi Sittes verknüpft war. Etwas, das mir vorher nicht bewusst war. Dadurch erfuhr ich von ihrer kommunistischen Prägung und ihrer späteren grundlegenden Überzeugung, aus dem antifaschistischen Gedanken heraus ein neues, gutes Land aufzubauen. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Die Memoiren meines Urgroßvaters sind dermaßen heroisch und ohne jegliche Selbstzweifel geschrieben, dass ich seinen Stolz, Teil einer ehemals dissidentischen, antifaschistischen Aufbaugeneration zu sein, nicht etwa erst hineininterpretieren musste. Alle Brüder von Willi Sitte gingen mit einer selbstverliebten Sturköpfigkeit voran, mit der sie dann auch in ihrer Partei aneckten, innerhalb derer sie diese wahnsinnige und manchmal komisch zu lesende Überzeugung vertraten, allein die richtige Lösung für eine glorreiche nationale Zukunft zu haben. Nachdem der eine von der Wehrmacht desertiert war, begab sich der andere in den Widerstand, und alle bekannten sich zur Partei bei der Staatsgründung der DDR. Sie wollten »sich einbringen«, nahmen Parteiaufträge wahr, kassierten Strafen, Demütigungen, kämpften jahrelang gegen Windmühlen und besaßen doch diese tiefe Treue gegenüber einer »gemeinsamen Sache«, für die sie irgendwann mit Macht, Einfluss und Erfolg belohnt wurden – bis zum Ende der DDR.

Willi Sitte ist da keine Ausnahme. Einige seiner Bilder wurden in dieser Zeit verboten, andere in DDR-Schulbüchern gezeigt oder zu Motiven für Briefmarken, weil sie dafür genug parteiliches Potenzial hatten. Und irgendwann malte er durchgehend Bilder, die mich gleichzeitig befremden und beeindrucken – genau wie die Menschen, die ihre Entstehung mitverfolgt und erlebt haben, während er es bis an die Spitze der DDR-Kulturpolitik schaffte.

Und an allen Ecken der Geschichte dieses Landes taucht immer wieder sein Name auf. Wenn auch in ganz unterschiedlicher Lesart. Einmal wird er dargestellt als einer, der gegen die Enge von Walter Ulbrichts Kulturpolitik protestiert und mit Margot Honecker tanzt. Einer, der ständig Westkontakte unterhält, aber mit dem Mann, der der Mauer mitsamt dem Todesstreifen den Namen »antifaschistischer Schutzwall« verpasste, beim Halleschen FC 1 auf der Tribüne sitzt. Dann ist er einer, der jahrelang die Hölle durchmacht, um seinen künstlerischen Stil durchzusetzen – während seine Kollegen reihenweise in den Westen gehen –, um später selbst Regeln einer parteikonformen Kunstrichtung zu bestimmen und damit Karrieren zu beenden. An anderer Stelle wieder ist Willi Sitte jemand, der wegen staatsfeindlicher Tendenzen überwacht wird und später öffentlich Wolf Biermanns Ausbürgerung gutheißt. Hier einer, der mit aller Kraft versucht, den Sozialismus anzutreiben und sich in seinen Bildern immer verbissener in eine Utopie hineinmalt. Und dort einer, der mit dem Einsturz dieses Staates und wegen all dieser Tatsachen als »ambivalente Persönlichkeit« von der Bühne verschwindet.

Und pünktlich zu seinem Geburtstag hielt ich es für eine gute Idee, diese Bühne zu betreten, um Einblicke hinter die Kulissen zu bekommen. Natürlich habe ich mich dann gewundert, wie gespalten sich die Protagonisten gegenüberstanden, sich meiner aber annahmen. Schließlich war ich der Neue. Sie erzählten mir von dem alten Rebellen Willi Sitte, von dem kritischen Künstler, dem gutmütigen Lehrer, der die Kunst voranbringen wollte. Diese Personen vermeiden gern das Wort Politiker – dabei hatte Willi Sitte mit Leidenschaft alles dafür getan, um als solcher dazustehen.

Doch kaum hatten die Lobessänger auserzählt, nahm mich jemand an die Brust und sprach über die Ungerechtigkeit und, nicht zu vergessen, die Diktatur, an der Willi Sitte Zeit seines Lebens mitgewirkt hatte – oder etwa nicht?

Sie redeten und redeten, heiser von lang geführten Debatten, und irgendwann ging es darum, dass eben doch oder »nicht alles schlecht« war, und meist ging es schon nicht mehr um Willi Sitte, sondern um diese kurze Geschichte eines Landes, dessen Ende nun schon über drei Jahrzehnte zurückliegt und mit jedem weiteren Jahr neu erzählt wird. Ich bin immer weitergelaufen – geleitet von diesen Gesprächen, bis ich irgendwann einen eigenen Weg fand. Und nun sitze ich seit Wochen in dieser Kleinstadt im Harz.

Ich rücke meine Mütze zurecht. Mützen haben mir noch nie wirklich gestanden. Noch einmal drücke ich erfolglos gegen die Scheibe, bevor ich mich umdrehe und wieder in Richtung meines Arbeitskellers nach Hause gehe.

Darf ich das? Wie eines dieser Warnschilder auf einem Waldweg, das »Betreten auf eigene Gefahr!« sagt, vor dem man stehen bleibt und nachdenkt, wie wahrscheinlich es sein kann, beim Wandern tatsächlich von einem herunterstürzenden Ast erschlagen zu werden, drängt sich diese nervige Frage in meinen Text, wann immer ich beim Schreiben ins Stocken gerate oder innehalte. Nie war die Geschichte der DDR ein großes Thema für die jüngeren Familienmitglieder, die diese noch miterlebt haben. Und auf einmal begebe ich mich in diese Zeit und will so etwas wie Fußnoten zu meinem Leben erkennen. Darf ich das? Ich schüttele mich. Ich denke an mein Arbeitszimmer und die rot gespannten Fäden zwischen meinen Notizen, an die Anmerkungen, die Kritzeleien, zwischen den transkribierten Gesprächen, an alles, was mich während dieser Suche in eine Richtung führen sollte. Dabei ist es längst nicht allein die Neugier, die mich leitet. Vielleicht auch Faszination. Meist spreche ich das nicht laut aus. Doch klar geht Anziehungskraft von jemandem aus, der für ein Ideal lebte. Natürlich. Aber der Sozialismus als Ideal? Jene Staatsform, die ich in meiner Schulzeit und Jugend vor allem als Diktatur kennengelernt hatte? Und überhaupt – bisher hatte ich meine engere Familie kaum mit Sozialismus und der Arbeiterklasse in Verbindung gebracht. Mein Vater ist zwar in der SPD, »aber kein Genosse, Aron! Dieses Wort existiert für mich nicht!« Meine Mutter und er waren Abijahrgang 1990, und in unserer Familie wurde jede Form positiver DDR-Erinnerung schon allein dadurch unterbunden, weil wir einfach nie über »damals« sprachen. Ich denke an den eigenartigen Blick meiner Mutter, als ich sie dann auf einmal fragte, wie sehr die Geschichte der DDR mit ihrem Leben zu tun hat. Sie sah verwundert aus. Wie so viele Zeitzeugen, denen ich Fragen über ihre erlebte DDR und die Zeit danach stellte. Ich habe schließlich nur eine der beiden Epochen erlebt. Und genauso wurde ich angesehen. Als wäre ich in diesem Moment ein unerwarteter Besucher aus einer längst vorangeschrittenen Zeit. Und immer, wenn ich dann in die Gegenwart zurückkehrte, hatte diese sich irgendwie verändert. So als wäre man auf einer Zeitreise gewesen. Vielleicht läuft das so ab, wenn man seiner Familiengeschichte nachgeht. Man muss dort in der Vergangenheit nur den kleinsten Stein versetzen, und schon verändert sich das, was man persönlich so gut zu kennen meinte, auch in dieser ständigen Gegenwart.

I. DIE HEILIGE FAMILIE

Fremde Verwandte

Alles fängt damit an, dass meine Großmutter dieses in Zeitungspapier verpackte Gemälde auf den Tisch legt:

Fünf altmeisterlich gemalte Figuren stehen dort auf einer Waldlichtung. Mutter, Vater, Großeltern und Kind mit Vieh, in naturalistisch nachmittäglichen Farben. Meine Großmutter blickt stolz in die Runde. Wir schauen gebannt zurück.

»Wo hast du das denn her?«, frage ich.

»Das ist von meinem Onkel.«

»Wem?«

»Na wem wohl? Willi!«

Und plötzlich gibt es »Willi«, einen Mann, der in meiner Familie bis zu diesem Tag nicht wie ein Verwandter, sondern wie ein Begriff aus einem kunsthistorischen Lexikon erwähnt wurde. »Willi Sitte« – DDR-Maler, Bruder meines Urgroßvaters, Onkel meiner Großmutter und bisher der rätselhafte Verwandte, der diese riesigen, fast immer nackten und vor Fleisch kraftvoll strotzenden Menschen malte und auf dem Bild seines Wikipedia-Eintrags Erich Honecker die Hand schüttelt.

Ich besuche meine Großmutter gemeinsam mit meinen Eltern und meinem Bruder an diesem Wintertag im Januar, und eigentlich sind wir schon wieder auf dem Sprung nach Hause. Und jetzt liegt da dieses Werk, das meine Großmutter bisher auf dem Dachboden aufbewahrt hatte. Willi Sitte war der Bruder ihres Vaters. In meiner Großmutter scheint in diesem Moment etwas aufzubrechen. Zum ersten Mal erzählt sie von ihrem Lieblingsonkel, der Übersiedlung ihrer Familie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland und dass dieses Gemälde irgendwie in den Besitz ihrer Eltern gekommen war.

Meine Großmutter, meine Eltern, mein Bruder, ich – wir alle starren einfach nur auf das Gemälde, das immer noch auf dem Tisch liegt, wie ein regungsloses Tier auf der Straße, umringt von einer Gruppe Kinder, die es immer mal wieder mit spitzen Fingern betasten.

»Opa wollte das bis zu seinem Tod aufbewahren, um den Wert zu steigern. Was weiß ich«, sagt meine Großmutter, »ich habe das jetzt nach Ewigkeiten wiedergefunden …« Sie wird von meiner Mutter unterbrochen, die verwundert auf den rechten Rand der Leinwand tippt: »Da ist keine Unterschrift.« Mein Bruder und mein Vater nicken mit verschränkten Armen, als wüssten sie, dass Willi Sitte natürlich, wenn überhaupt, nur dort seine Unterschrift hätte setzen können.

»Ich weiß, warum!«, sagt meine Großmutter aufgeregt.

Mein Urgroßvater, Willi Sittes Bruder, setzte es in einen wirklich sehr schön anzusehenden bronzefarbenen Rahmen, der aber wohl etwas zu klein gewesen war – weswegen meine Urgroßmutter kurzerhand den »nicht brauchbaren« Teil des Gemäldes mit einer Schere abschnitt, der einen Teil der Schrift, die Signatur, leider verschwinden ließ und den Wert des Werkes mal eben um mindestens die Hälfte reduzierte. Willi Sitte war zu diesem Zeitpunkt erst neunzehn und hatte kaum Berührungspunkte mit dem Kunstmarkt. So schien diese »Größenkorrektur« eines seiner Bilder vermutlich vorteilhafter, als extra einen neuen Rahmen dafür kaufen zu müssen. Es war ja nur ein Bild vom Willi – den berühmten Künstler Willi Sitte gab es damals noch nicht.

All das sprudelt aus meiner Großmutter heraus, und ich bin erstaunt, dass ich zuvor noch nie etwas von dieser Geschichte gehört habe.

Nach einer Weile des Schweigens sage ich: »Vielleicht müssen wir die Unterschrift ganz einfach finden.«

Ein paar Tage später treffe ich meine Großmutter.

Ich habe inzwischen Willi Sittes Autobiografie gekauft und sämtliche Artikel über ihn mit einer regelrechten Wissensgier durchstudiert, sodass ich das seltsame Gefühl habe, ich könnte ihr inzwischen mehr über ihren Onkel erzählen als umgekehrt.

Aber irgendwie muss ich das Gespräch ja beginnen, denke ich.

»Wie geht es dir, seitdem du das Bild wiedergefunden hast?«, frage ich sie.

»Wie meinst du das?«

»Na, was genau hat dieses Gemälde in dir ausgelöst?«

»Aron, das hat gar nichts in mir ausgelöst.«

Das erwartet man natürlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn man glaubt, seine Großmutter bei einer echten Erinnerungszeitreise beobachtet zu haben.

»Weil ich dieses Gemälde von Kind auf kannte«, sagt sie. »Das Gemälde war ganz wichtig für mich.«

»Aber du hast es nie aufgehängt«, sage ich.

»Na, würdest du dir das hinhängen?«

Guter Punkt. Ich denke wieder an diese gelangweilten Gesichter der Figuren. Nachmittägliche Ödnis. Die Familienmitglieder neben dem Vieh auf der Lichtung, die so barock-apathisch dreinschauen, als müssten sie dem Betrachter den ganzen Ärger der Vergänglichkeit entgegenstarren. Nichts gegen die Farbfeuerwerke von Bildern voller Erotik und Klassenkampf, für die Willi Sitte bekannt geworden war.

»Du hast nie so viel über ihn erzählt …«, beginne ich.

»Für mich war er einfach: mein Onkel.«

Ich schweige kurz.

»Liegt es daran, dass er so überzeugt von der SED war?«, frage ich forsch.

»Nein.«

»Oder weil er im Zentralkomitee der Partei saß?« 2

»Ach was … das hat mich doch nicht interessiert«, sagt sie. »Wir hatten früher einmal ganz viel miteinander zu tun. Nur hat er sich nach der ›Wende‹ zurückgezogen.«

»Und jetzt gilt er als umstrittener Künstler …«

»Ja, das ist ärgerlich«, sagt sie schnell. »Das ist eine ziemlich komplexe Sache und schwer zu erklären. Wobei …«, sie schüttelt den Kopf.

»Es ist schwer?«

»Aron, ich glaube, in dieser damaligen politischen Situation hat er seine Kunst gebraucht. Und auch seine Position – um etwas auszusagen.«

»Mit seiner Kunst, als Maler?«

Sie nickt.

»Dafür musste er so weit aufsteigen als Politiker, in der DDR?«

»Keiner spricht hier von müssen. Das würde der Sache nicht gerecht. Und doch …«, sie verschränkt die Arme. »Es ist schwer zu erklären. Ich kann darüber reden. Aber ich kann nichts erklären. Es gibt bestimmt Künstler, bei denen es einfacher ist«, sagt sie, »aber um Willi kennenzulernen, musst du … nun ja … da musst du diesen Weg verstehen.«

Meine Großmutter sagt das weder zögerlich noch mysteriös, sondern als Selbstverständlichkeit: »Da musst du diesen Weg verstehen.«

Hatte sie seinen Weg vielleicht selbst nicht verstanden? Es muss doch einen Grund dafür geben, wieso meine Großmutter, die noch jeden so alltäglichen Einkaufsbesuch mit der Spannung eines Romans erzählen kann, nie wirklich über ihren Lieblingsonkel gesprochen hatte.

Dabei hat sie ihn aber auch nie verschwiegen, das muss ich einsehen. Ich denke an die Bilder an ihren Wänden. Willi Sittes Grafiken, die dort ohne Titel all die Jahre hingen. Sie waren alles andere als unauffällig, sondern Zeugnisse der Werke, die Willi Sittes Markenzeichen werden sollten.

Muskulöse korpulente, nackte Körper, die eng umschlungen ineinander verschmelzen. Mit verzogenen Fratzen. Voller Lust, Freude und Schmerz. »Was soll das bedeuten?«, hatte ich sie einmal vor Jahren schüchtern gefragt.

»Ich weiß es nicht«, hatte meine Großmutter gesagt und gelächelt. »Diese Kunst war ihrer Zeit voraus.«

Was ich jedenfalls zu Beginn meiner Recherchen, nachdem ich all diese Artikel und die Autobiografie gelesen hatte, schon weiß: Willi Sitte war einer, der »weiter nach oben« wollte. Genau wie es meine Großmutter sagt. Aber in dieser Partei, deren Macht und ihr Erhalt auf Verbrechen fußte? Und das alles, um Kunst zu schaffen? Zwischen dem altertümlichen Gemälde und den Bildern an der Wand meiner Großmutter liegen Jahrzehnte Geschichte. Eine Zeit, über die ich eigentlich nichts weiß. Außer, dass es gut ist, dass sie vorbei ist. Das war bisher eine Klarheit, mit der ich gut leben konnte. Und das soll die Zeit der Visionen und die der größten Schaffenskraft meines Urgroßonkels gewesen sein?

Kurz vor der großen Ausstellung anlässlich Willi Sittes einhundertstem Geburtstag hat meine Großmutter sich wieder an das alte Bild auf dem Dachboden erinnert. Unwahrscheinlich, dass das alles Zufall ist. Ich hatte gelesen, dass alle seine Bilder in Depots verbannt gewesen waren, nach der »Wende«. Mit Verweis auf den Staatsmaler und umstrittenen Künstler ist man sich in der Öffentlichkeit nun dennoch einig, dass diese Bilder »neu entdeckt werden« müssten.

Deswegen scheint es irgendwie so, als müsste ich mich beeilen, so schnell wie möglich loszugehen – als würde zwischen dieser alten und neuen Geschichte noch etwas anderes warten. Dieses Gemälde, der Weg dieser Familie und der Willi Sittes. Eine gemeinsame Geschichte.

Die Memoiren

Das Bild heißt Die Heilige Familie, und ich weiß inzwischen, wie es in den Besitz meiner Großmutter gekommen ist: Willi Sitte hatte es meinen Urgroßeltern, seinem Bruder Franz und dessen Frau Marta, zur Hochzeit geschenkt. Überhaupt wird mir erst jetzt wirklich klar, dass die Herkunft meiner Familie ihren Ursprung nicht in Wernigerode im Harz, nicht einmal in Deutschland, hat und dass mein Urgroßvater und all seine Geschwister noch zweisprachig aufgewachsen sind.

Meine Urgroßeltern haben 1940 geheiratet und lebten damals in mehreren Orten in Nordböhmen wie zum Beispiel in Gablonz an der Neiße und Lindenau. Immer nur wenige Kilometer von Franz und Willi Sittes Geburtsort entfernt, wo die beiden mit ihrer Schwester und drei weiteren Brüdern auch aufgewachsen sind. Damals hieß der Ort noch Kratzau. Die Tschechen, die dort nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Mehrzahl leben, nennen ihn Chrastava, und Gablonz und Lindenau heißen heute Jablonec und Lindava. All das erzählt mir meine Großtante Ulli, eine Schwester meiner Großmutter, am Telefon. Ich weiß nicht, wie viele Jahre wir nicht miteinander gesprochen haben. Spontane Anrufe wie diese bekomme ich in letzter Zeit häufiger von Familienmitgliedern, und meist beginnen sie mit dem Satz: »Deine Oma hat mir ja deine Nummer gegeben und …«

Ich erfahre, dass das Gemälde zusammen mit meiner Familie nach Deutschland gekommen und in Wernigerode gelandet ist. Ein Ort, der meiner Familie so wichtig wurde, dass fast alle Mitglieder im örtlichen Rathaus heirateten und die letzten Wochen vor der Geburt ihrer Kinder dort verbringen mussten, damit in der Geburts- und Trauurkunde der Eheleute und Nachkommen kein anderer Ort als Wernigerode stand. Das war auch der Grund, weswegen meine Eltern sechs Wochen vor meiner Geburt ihre gemeinsame Wohnung in Hannover verließen und sich im Haus meiner Großeltern einquartierten – »um sicherzugehen«.

Die letzten drei der ehemals vier Sitte-Schwestern, ihre älteste Schwester Burgi (geboren 1940) starb bereits vor vielen Jahren, sind die Einzigen, die mir vermutlich noch irgendetwas über die Geschichte hinter dem Gemälde und – viel wichtiger – dessen Reise von Nordböhmen in den Harz erzählen können. Nur wurde meine Großmutter Bärbel erst 1952 geboren und hat diese Umsiedlung nie erlebt. Hanne, 1941 geboren, könne sich an gar nichts mehr erinnern. Und Ulli, Jahrgang 1944, zwar auch nicht, aber sie hätte »Material«. Also treffen wir uns in ihrem Bungalow, in einem Vorort von Oranienburg bei Berlin.

In der DDR war das Wort »Vertreibung« für die Abschiebung von den bis zu drei Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei, tabu. 3 Man sprach verharmlosend von »Umsiedlung«. Aber im Endeffekt bleibt die Szenerie vor meinem inneren Auge dieselbe: Menschen, die mit nichts außer ein paar Lumpen, einem Beutel und im besten Fall einem Viehwagen auf Landstraßen einen beschwerlichen, bitterkalten Weg in das verwüstete Deutschland gehen.

»Wir mussten nicht gehen«, sagt Ulli, »schon gar nicht zu Fuß.«

»Ihr durftet bleiben, weil eure Großmutter Tschechin war, das hat Oma zumindest vermutet.«

Sie seufzt. »Herrje. Wir waren Kommunisten, Aron.«

Sie erzählt mir die Geschichte auf ihrer Terrasse:

Ulli ist fast noch ein Säugling, gerade zwei Monate alt, als ihre Mutter das erste Mal auf russische Soldaten trifft und sie von ihnen Brot in den Kinderwagen gelegt bekommen. Meine Urgroßmutter Marta hatte sich während der Hausdurchsuchungen versteckt und damit die Weisung der SS ignoriert, die ihr befahl, sich, wie alle deutschen Frauen in Kratzau, dem Flüchtlingstrack anzuschließen und die Stadt zu verlassen. Zwar ist ihre Schwägerin, die Mutter meines Urgroßvaters und Willi Sittes, die einzige Tschechin in der Familie, Antifaschisten sind sie aber alle. Sie hätten nicht all die Jahre durchgehalten, um jetzt doch mit den anderen Deutschen einfach so ihre Heimat zu verlassen. Nein, sie hatten keine Angst. Ihnen hätten die Russen nichts getan.

Später wären sie dann in einem Auffanglager gelandet, im Osten. Daran könne sie sich bereits erinnern, erzählt Ulli. Und natürlich auch an das Gemälde.

»Nein, dass Bärbel nicht einmal den Namen des Bildes wusste …«, sagt sie nach einer Weile. »Na ja, na ja. Sie weiß zu wenig. So ist das. Bei mir ist es nur so, dass ich …«

»Dass du selbst noch viel zu jung warst?«, unterbreche ich sie.

Ullis Augen springen von einem Punkt in ihrem kleinen Garten zum nächsten, als würde sie hier nicht schon seit fünfzehn Jahren leben. Und obwohl es Jahre her ist, dass ich sie das letzte Mal besucht habe, sieht alles noch so aus wie früher. Selbst ihr neuer Hund. Wieder ein schwarzer Labrador, eine treue Seele. Wenig später verschwindet sie im Haus und kommt mit zwei Koffern zurück. Historische Schatztruhen: voller Fotos, Kalender, Schnellhefter mit Briefen und Einladungskarten und einer Ledermappe mit brüchigem Pergamentpapier, auf dem in Schreibschrift Franz Sitte, meine Memoiren geschrieben steht. Das Archiv meiner Familie lag also die ganze Zeit in diesem kleinen Bungalow, in dem Ulli lebt. »Ich habe selbst überlegt, unsere Familiengeschichte aufzuschreiben, aber irgendwie konnte ich es nicht«, sagt sie.

II. KOMMUNISTEN IN NAZISCHULEN

Malen für die Reichskanzlei

Willi Sitte wird 1921 im damaligen Kratzau geboren und ist dort auch aufgewachsen. Wie mein Urgroßvater, sein ältester Bruder Franz, der neun Jahre vor ihm geboren wurde.

Während Franz erst im Erwachsenenalter seine Berufung in der Glasindustrie findet, ist Willi Sitte bereits mit sechs Jahren klar, was er werden will: Maler. Doch im Lebenskonzept seiner Eltern ist er damals vor allem eins: eine fest eingeplante Arbeitskraft auf dem heimischen Bauernhof. Also muss er sich sein künstlerisches Handwerk selbst beibringen. In jeder freien Minute, zwischen Schule und Feldarbeit – aber dazu später mehr.

Ich fahre nach Kronenburg, eine Kleinstadt in der Eifel. Das Gemälde ist sehr wahrscheinlich hier entstanden.

In Kronenburg besuchte Willi Sitte 1940 eine Meisterschule für Malerei. Ein paar Jahre zuvor hatte sein ältester Bruder Franz Kontakt zu einem Teppichfabrikanten aus der näheren Umgebung aufgenommen, der Willi Sitte als Musterzeichner einstellen sollte. Der Fabrikant finanzierte die dafür notwendige Ausbildung auf einer Privatschule, ohne ihn am Ende jedoch bei sich einzustellen. Er wollte ihn anderweitig fördern. Ein künstlerisches Talent wie er gehöre nicht in eine Fabrik, sondern auf eine Kunsthochschule. Seinem Vater Josef Sitte versicherte er, dass er sich um die Karriere seines Sohnes kümmern wird. Keiner aus der kommunistischen Familie Sitte hegt Bedenken. Auch nicht beim Namen der Kunsthochschule: der »Hermann Göring Meisterschule für Malerei« in Kronenburg.

Ein riesiges weißes Fachwerkgebäude mit kirchenartigen Bogenfenstern. Drum herum erstreckt sich das Dorf mit weiteren Fachwerkhäusern, die dicht aneinandergedrängt auf glänzendem Kopfsteinpflaster stehen.

Die ehemalige Schule, die Hermann Göring 4 gestiftet hatte, wird heute als »Haus für Lehrerfortbildung Kronenburg« des Landes Nordrhein-Westfalen genutzt. Früher hat hier Werner Peiner 5 , einer der höchstdekorierten Maler und »Gottbegnadeten« 6 im Nationalsozialismus, Meisterschüler unterrichtet. Unter ihnen: Willi Sitte.

Ich bin mit Martin Schöddert, dem Einrichtungsleiter des Hauses, verabredet. Dass heute daran erinnert wird, dass dieses »Haus für Lehrerfortbildung« in diesem so friedlich pittoresk aussehenden Ort einmal ein beliebtes Ausflugsziel für Nazigrößen wie Heinrich Himmler und Joseph Goebbels war, ist ihm zu verdanken. So wurden unter seiner Leitung 2015 Infotafeln am und im Haus angebracht. Sie enthalten Informationen, mit denen Schödderts Vorgänger sich im Haus für Lehrerfortbildung nicht befassen wollten. »Auch die Einwohner hätten das als störend empfunden«, sagt er, »aber was willste machen, ich mache hier meine Arbeit.«

Um die Mittagszeit wandere ich durch das hohe Gras rund um die Schule, bis ich auf eine Lichtung komme, die der des Gemäldes ähnlichsieht.

Ich blicke auf die Weite des Tals. Alles ist so still in diesem Ort, der noch heute ziemlich abgeschottet vom Weltgeschehen wirkt. Der Besuch der Meisterschule in Kronenburg bewahrt Willi Sitte vor der Einberufung in die Wehrmacht. Der Krieg umgibt ihn, doch erst als er 1940 mit seiner Klasse in das von den Deutschen eingenommene Frankreich reist, um zeichnerische Studien zu unternehmen, hat er ihn vermutlich direkt vor Augen. Seine linke Gesinnung muss er während seiner Zeit an der Meisterschule verbergen.

In dieser Zeit ist Die Heilige Familie entstanden. 1940. Fern von der Heimat – aus Sehnsucht heraus gemalt? Wieder im Gebäude, erzähle ich Martin Schöddert von Willi Sittes Zeit in Kronenburg und zeige ihm das Gemälde.

»Dazu kann ich Ihnen auch nicht mehr erzählen … Aber kommen Sie mal mit«, sagt er und führt mich in den heutigen Speisesaal. Eine Art Kapelle mit über sechs Meter hohen Wänden.

»Hier haben sie alle gemalt«, sagt Schöddert. »Das war das große Atelier … Aber das wissen Sie sicher … gelernt hat hier keiner was.«

Ich nicke. Der damalige Direktor, Werner Peiner, hatte nicht wirklich vor, seine Schüler zu unterrichten. Er brauchte »seine Meisterschüler« als billige Arbeitskräfte für die Umsetzung seiner eigenen Auftragsarbeiten, zu denen er lediglich Skizzen vorlegt. Werke, ganz nach den Wünschen seines Auftraggebers, Freundes und Namenspatrons der Schule: Hermann Göring. Und der forderte das Großformat, vermutlich sind die Decken der Schule deswegen auch so hoch.

»Schauen Sie … Ist das nicht irre?«, sagt Schöddert.

»Wohl eher riesig«, antworte ich.

»Das auch.«

Er deutet auf eine Abbildung an einer Infotafel, die einen riesigen Wandteppich zeigt, auf dem in altmeisterlich heroischer Weise eine Kriegsszene dargestellt ist: Die Schlacht im Teutoburger Wald.

Sieben Schicksalsschlachten des Deutschen Reiches sollen dargestellt werden. Natürlich monumental, als Wandteppiche. Mit der Zeit hegt Willi Sitte wohl eine Vermutung, wieso der Teppichfabrikant ihn so gönnerhaft ausgerechnet an diese Schule geschickt hat.

Doch viel Zeit zum Grübeln bleibt ihm nicht. Sieben Schicksalsschlachten für das Deutsche Reich. Jeden Tag im Großformat.

Träume aus Glas

Mein Urgroßvater Franz wird wie sein Bruder Willi Sitte im damaligen Kratzau geboren. 1912. Sein Vater Josef Sitte zieht bald als Soldat in den Ersten Weltkrieg. Als er wiederkommt, wird mein Urgroßvater gerade eingeschult und versteht sich schon bald als Kommunist. So wurde er erzogen. 7 Sein Vater ist ein sudetendeutscher Gemüsebauer und seine tschechische Mutter, Elisabeth Sitte, ein gelerntes Dienstmädchen. Franz Sittes Leben, ebenso wie das seiner älteren Schwester und das seiner drei jüngeren Brüder, beginnt in einer echten Bauernfamilie. Ihr Lebensmittelpunkt ist der heimische Hof und ihre Wohnstube ein Ort, in dem ständig benachbarte Kommunisten ein und aus gehen. Sein Vater hatte eine Ortsgruppe der KP ˇC in Kratzau gegründet – der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei.

Franz Sitte hat aber vor allem zwei große Leidenschaften, die sein Leben und das meiner Familie bestimmen sollen: Glas und Wintersport.

Im Spätsommer des Jahres 1938, kurz vor seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, ist er bereits Außenhandelsvertreter der in seiner Heimat boomenden Glasindustrie. Um die Interessen dieser Branche zu vertreten, spricht er Tschechisch, Deutsch, Englisch und auch Spanisch, und er korrespondiert mit Geschäftspartnern in der ganzen Welt, die er selbst so gern bereisen will. Nur bleibt bei der Arbeitsgeschwindigkeit seines Betriebs, die er von seinem Schreibtisch aus auf allen Flecken der Erde steuert, immer weniger Zeit für den Skisport, den er liebt. So scheint ein Inserat der Zeitung seines Vereins, dem Deutschen Alpenverein, wie für ihn gemacht: »Sektion Chile sucht deutschen Skilehrer für einen Deutschen Skiklub in Santiago de Chile.«

Er wäre schon einmal fast von zu Hause fortgegangen.

1936, zwei Jahre vor dieser Annonce, war der Spanische Bürgerkrieg 8 ausgebrochen. Ein dreijähriger Kampf, dem sich wiederum Kommunisten aus den verschiedensten Ländern Europas anschlossen, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Franz Sitte hatte vor einer Entscheidung gestanden: Sollte er bleiben oder aus Überzeugung zusammen mit seinem besten Freund Fritz, ebenfalls ein Kommunist, nach Spanien gehen, um dadurch, wie er schreibt, seiner Mutter »das Herz zu brechen«? Er blieb in Kratzau. Eigentlich war er auch froh darüber. Um ehrlich zu sein, hatte er nur wenig Lust, sein junges Leben aufs Spiel zu setzen. Aber das hätte er seinem Freund Fritz niemals so sagen können. Nicht als Sohn von Josef Sitte, dem überzeugtesten Kommunisten der Gegend. Aber allmählich wird es Zeit für ihn, aus Kratzau herauszukommen, und dieses Angebot in Südamerika scheint ihm die perfekte Gelegenheit. Er bewirbt sich, und seine Bewerbung wird angenommen. Das Tschechische Konsulat in Prag hat ihm bereits ein Visum ausgestellt, seine Familie ist angesichts der baldigen Trennung bekümmert, doch tröstet sie sich damit, dass wenigstens dort, wo er hingehen wird, Frieden herrscht. Doch auch dieses Mal kommt es anders:

»Als ich zurückkam, lag auf dem Tisch meines Zimmers die Einberufung auf Grund der Mobilmachung. Die Welt brach über mir zusammen. Anstelle dieser Reise reiste ich […] zum Empfang der Waffen. Ohne einen Schuss abzugeben, liessen die Tschechen die deutschen Truppen ins Sudetenland einmarschieren. 9 Damit waren alle Zukunftspläne illusorisch. Wir gehörten nun zum Grossdeutschen Reich und gleich darauf kam ich mit vielen meiner Sportsfreunde zum RAD (Reichsarbeitsdienst), ohne an das zu glauben, was damals die ›Rote Fahne‹, unsere Parteizeitung, voraussagte. ›Hitler bedeutet Krieg!‹ Durch diese grossen politischen Veränderungen ging auch mein Leben in ganz andere Richtung.«

Während Willi Sitte Malerei studiert, ohne wirklich etwas zu lernen, erhält mein Urgroßvater, wie alle in der Familie Sitte ein »stadtbekannter Roter«, im Reichsarbeitsdienst eine »gewisse Ausbildung«.

Das bedeutet Arbeitslager mit »nationalsozialistischer Erziehungsarbeit.« 10 Eine Arbeit, die ihn vorbereiten soll für seine neue Stelle als Obertruppenführer eines Arbeitsdienstlagers in Wartenberg, gut fünfundzwanzig Kilometer von Kratzau entfernt. Franz Sitte ist auf dem besten Weg, ein Kommunist zu werden, der seiner Heimat bei der Verbreitung des Nationalsozialismus helfen soll. Will man dieser Begebenheit zumindest irgendeine positive Sache abgewinnen, dann wohl diese: »Lernte dort ein junges, blondes und hübsches Mädchen kennen, in das ich mich über beide Ohren verliebte. Sie hiess Martl Neumann und war aus Wartenberg. Auch ich blieb ihr nicht einerlei und so kam es, dass wir am 27.4.40 heirate[te]n.« – Meine spätere Urgroßmutter.

An diesem Tag feiert die gesamte Familie in der Heimat. Auch Willi Sitte ist dabei, und als Geschenk überreicht er seinem Bruder und Marta, Martl – das Gemälde.

Worüber werden sie sich unterhalten haben?

Dass Franz seine Mitbürger zu Nationalsozialisten ausbilden soll und Willi eigentlich den ganzen Tag dabei ist, die Neue Reichskanzlei zu verschönern? Es hätte sicher noch schlimmer kommen können, das schon. Unweit seiner Kunsthochschule, an der Kunstakademie Düsseldorf, wird inzwischen das Fach »Rassenkunde« unterrichtet. Germanische Schlachten zu malen, war da vielleicht noch das kleinere Übel. Aber lang wird es Willi Sitte in Kronenburg nicht mehr aushalten, nicht unter diesen Umständen. Er will endlich als Künstler weiterkommen und beschließt zu protestieren. Zusammen mit seinen Kommilitonen und der Unterstützung einer Sekretärin der Meisterschule schreibt er einen Beschwerdebrief an den Direktor Werner Peiner. Ein Schreiben mit Konsequenzen. Willi Sitte wird vor die Wahl gestellt: Entweder er überdenkt sein Verhalten, zieht den Brief zurück oder wird an die Front geschickt.

Kurz nachdem Willi Sitte nach der Heirat des Bruders Kratzau verlässt, macht das Gemälde seine erste Station. In Lindenau, wo meine Urgroßeltern ihre erste Wohnung beziehen. Franz bricht sich beim Sport das Becken und soll in der Zeit, während Hitler das Unternehmen Barbarossa 11 beginnt, in einer Kaserne seiner neuen Heimat das Wachkommando 12 übernehmen. Das trifft sich gut, schließlich ist er gerade Vater geworden. Die Geburt hatte nur seine Schwester Liesl miterleben können. Ihr Mann wurde ebenfalls eingezogen. Genau wie Franz’ Brüder Ernst, Rudolf, Gustav und schließlich auch Willi Sitte.

»Inzwischen hatte sich einiges geändert. Willi wurde auch an die Front gesteckt, da sie bei ihm in der Zeit, in der er noch an der Kunsthochschule studierte, eine Serie Karikaturen von allen Nazigrößen gefunden hatten.«

III. ROTE STRASSEN

Kratzau

Mit dem Zug erreiche ich Willi Sittes Geburtsort Kratzau – Chrastava – in Tschechien, nahe der Oder-Neiße-Grenze.

Ich habe mich einem Team um den Filmemacher Reinhold Jaretzky angeschlossen, das mir helfen kann, ein Stück der Entwicklung des Lebens von Willi Sitte vor seiner Zeit in Kronenburg zu rekonstruieren. Reinhold Jaretzky und sein Team sind im Auftrag von ARTE unterwegs. Anlässlich Willi Sittes hundertsten Geburtstages untersuchen sie den Einfluss der europäischen Malerei auf sein Werk. Sie beginnen hier in Tschechien und sind bereit, mich mitzunehmen, sofern ich sie bei den Recherchen unterstütze. Ich hätte schließlich einen »biografischen Bezug«. Vermutlich habe ich im Vorgespräch ein paarmal zu oft betont, dass ich mit Willi Sitte verwandt sei. Ich war ziemlich aufgeregt.

In der Stadt soll ich Pawel treffen, der Teil des Filmteams ist. Reinhold selbst wartet bereits in Italien, einer weiteren wichtigen Station für Willi Sittes künstlerischen Werdegang.

Da ich trotz »biografischem Bezug« Chrastava zum allerersten Mal besuche und kein Wort Tschechisch spreche, treffe ich zuallererst Karin Cinibulková – die »Dolmetscherin der Stadt«. So hat sie sich mir vorgestellt.

Wir treffen uns an der Touristeninformation und warten auf Pawel.

»Kommen eigentlich viele Menschen seinetwegen hierher«, frage ich und deute auf eine Messingtafel, auf der »Willi Sitte (geboren in Chrastava)« steht.

»Nicht wirklich, nein.«

Wenig später hebt jemand hinter der Touristeninformation die Hand: »Hello!«

Ein kräftiger Typ mit Brille trägt eine gelbe Basecap über den schulterlangen dünnen braunen Haaren, einen Sechs- oder Zehntagebart und sieht mit der Kamera in der Hand ein bisschen aus wie Michael Moore: Pawel. Er deutet auf die Sitte-Messingtafel. »That’s our man, right?«, sagt er und zündet sich eine Camel an. Das wird alles richtig gut, denke ich.

»Wollen wir dann?«, fragt Cinibulková.

Sie führt uns aber nicht etwa in ein Sitte-Haus, sondern in das des wahren Superstars der Stadt Chrastava: dem des Malers Joseph Ritter von Führich (1800 – 1876) – Willi Sittes erster großer Inspiration und einem Vertreter der nazarenischen Kunst, einer kirchlich, stark am Katholizismus orientierten akademischen Malweise. Das erklärt diese sakralen Figuren auf dem Gemälde Die Heilige Familie. Über Willi Sitte weiß sie gar nicht so viel zu sagen, gibt Karin Cinibulková zu, aber sie hat mir und Pawel zwei Infobroschüren ausgedruckt – über Joseph von Führich.

Sie fragt uns, ob wir jetzt in die Stadtkirche gehen wollen, dort würde Führichs berühmtes Altarbild hängen.

»Aber wir sind doch wegen Willi Sitte hier«, sage ich.

»Ja, richtig.«

Auf einem kleinen Holztisch im Führich-Haus liegt neben einem ausgefransten Sessel ein Ausstellungskatalog mit dem Gemälde eines zerstörten Dorfes, gesichtslosen Wehrmachtssoldaten und weißen Leichenbergen auf dem Cover. Willi Sitte 1945 1982 steht dort. Als Jugendlicher verbrachte Willi Sitte fast seine gesamte Freizeit in diesem Haus seines selbst gewählten Vorbilds, dessen ausgestellte Werke er hier studierte. Heute steht sein eigener Name neben ein paar anderen Künstlerpersönlichkeiten aus Chrastava auf einer Infotafel im obersten Stock. Gleich am Anfang der Tafel das Wort »Antifaschist«. Karin Cinibulková schenkt mir den Katalog, macht eine abwinkende Handbewegung, noch bevor ich etwas sagen kann, und sieht ungeduldig in Richtung Ausgang.

»Wir sind hier gleich fertig«, sage ich, während ich durch den Katalog blättere. Unweit des Führich-Hauses, in dem wir uns befinden, steht das ehemalige Wohngebäude der Familie Sitte. Ein mittlerweile verputztes, weiß gestrichenes Haus mit Tierfiguren aus Keramik um einen Springbrunnen im penibel gemähten Vorgarten. Lediglich das reparierte Scheunendach und ein paar freilaufende Hühner erinnern heute daran, dass es sich hier einmal um ein echtes Bauernhaus gehandelt hat. Dieses Haus war durch die Rolle von Willi Sittes Vater als Ortsgruppenführer der KP ˇC immer ein Ort für den kommunistischen Gedankenaustausch der Stadt und der Dachboden das erste Atelier des jungen Willi Sitte, in dem er aus Papiermangel auf den Einkaufstüten seiner Mutter im Geiste seines Meisters Führich und bald schon in dem eines neuen großen Idols malte: Albrecht Dürer.

Im Katalog ist eine Kohlezeichnung abgebildet. Willi Sittes Großvater auf dem Totenbett. Er hieß wie mein Urgroßvater auch Franz Sitte. Die dürren Hände, das dünne weiße Haar: ein Werk so detailgetreu akkurat gezeichnet, dass die Lehrjahre bei Dürer unverkennbar sind. Jedes von Willi Sittes frühen Werken wirkt wie ein Andachtsbild, genauso wie das Heilige Familie-Gemälde meiner Großmutter. Bilder, vor denen man immer das Gefühl hat, sich verbeugen zu müssen, bevor man sie betrachtet. Eigenartigerweise hatte Die Heilige Familie wohl jahrelang im Schlafzimmer meiner Urgroßeltern gehangen, direkt über ihrem Ehebett.

Meine Großmutter erzählte mir, dass die Sitte-Brüder gegen das Münchner Abkommen 1 demonstrierten und ihren Eltern Josef und Elisabeth gleichermaßen Stolz und Ärger bereiteten, als sie auf einem der höchsten Schornsteine der Stadt die Flagge »Es lebe Thälmann« platzierten und danach die Schornsteinleiterstufen mit Bohnerwachs einrieben, damit keiner im Ort sie so leicht einholen konnte.

Verlassene Wege

Seltsam, jetzt durch die Städte zu fahren, in denen fast alle meine Familienmitglieder vor gut fünfundsiebzig Jahren noch verstreut gelebt und gewirkt haben, und dabei so stumm neben Pawel zu sitzen.

Vor meiner Reise hatte meine Großmutter mir noch erzählt, dass sie zu DDR-Zeiten gern in die Tschechoslowakei gefahren sei. Zusammen mit meinem Großvater. Aber nicht in diese Gegend. Nicht dorthin. Lieber dorthin, wo man Ski fahren konnte. Oder nach Prag. Sie erzählte von Ferienerlebnissen, riesigen Wurst- und Käseplatten und Zeitschriften. Und von den Adrenalinschüben, die sie vor der Grenze ereilten, wenn sie an die vielen Schmuggelwaren dachte, die sie und mein Großvater im Auto und unter der Kleidung ihrer beiden Töchter versteckt hatten. Sie erzählt von Hütten im Riesen- oder Erzgebirge. Aber nicht von Kratzau, Gablonz, Liberec oder Lindenau – der Heimat ihrer Familie.

»Was sollte ich da? Das spielte für mich doch überhaupt keine Rolle!«

Nach der »Wende« sei sie dann lieber nach Österreich gefahren – das Lieblingsland meines Großvaters. Aber genau hier in diesem Gebiet hatte Willi Sittes Heilige Familie seine erste Station genommen, bevor es an Orte wanderte, die für meinen Urgroßvater zwar ein Zuhause bedeuten würden, aber nie wieder eine Heimat. Genauso wenig, wie Willi Sitte jemals Halle an der Saale als solche bezeichnen wird, obwohl er dort fast siebzig Jahre lebte.

Fahnenflucht

Dass Willi Sitte bei einem Einsatz an der Ostfront verwundet worden war, erfährt mein Urgroßvater per Feldpost. Ähnliche Meldungen hatte er aus Afrika oder anderen Teilen Europas erhalten – von seinen anderen Brüdern. Als Vater von zwei Kindern und durch seine Aufgabe als Skilehrer deutscher Soldaten hatte er sich bisher ganz gut von der Front fernhalten können. Doch angesichts des immer aussichtsloseren Kriegsgeschehens wird auch er eingezogen und 1943 in das besetzte Holland und wenig später nach Wien geschickt. 2

Als ihm der Fronturlaub trotz der anstehenden Geburt seiner dritten Tochter Ulli verwehrt wird, beschließt er, von seiner Einheit zu flüchten, um pünktlich im Dezember 1944 bei seiner Familie zu sein:

»Ich empfand es als unmenschlich, dass man mir diese Tage nicht gewährte, man wollte mir was auswischen, da verschiedene Stellen wussten, dass es sich bei mir um einen ›Roten‹ handelte. Ich setzte mich trotz des Marschbefehls darüber hinweg und verlies wohl meine Einheit […] fuhr nach Kratzau und blieb die Tage dort bis ich Gewissheit hatte, dass Ulli gesund geboren wurde und Martl wohlauf war.«

Danach gelingt es ihm, sich seiner Truppe wieder anzuschließen. Wie das alles funktioniert hat und wieso er dabei ungeschoren davonkommt, schreibt er nicht. Als seine Einheit den Befehl bekommt, 1944 von Wien nach Berlin zu marschieren, um die Rote Armee aufzuhalten, fälscht er seinen Marschbefehl und flieht ein zweites Mal. Nach Tagen der Flucht klopft er an die Tür des Hauses seiner Familie und flüstert schließlich: »Ich bin’s!« Erst dann erkennt seine Frau Marta den inzwischen völlig verwahrlosten und abgemagerten Mann als den ihren und zerrt ihn ins Haus. Ob er denn völlig verrückt sei, fragt sie ihn. Auf »Entfernung von der Truppe« stehe das Todesurteil. Und in der Stadt hätte man Plakate angebracht, die drohen, dass Deserteure auf dem Marktplatz standrechtlich erschossen würden. Franz erklärt ihr, doch nur noch einmal Ulli und seine anderen Töchter sehen zu wollen und zu schauen, ob es allen gut gehe. Um dem Todesurteil noch einmal zu entgehen, meldet er sich bei einer Truppe als »Versprengter« zurück und kommt damit durch. Er wird in das nordböhmische Becken, ins Erzgebirge geschickt und ist fortan damit beschäftigt, des Nachts eine Endkampfbatterie mit Flakgeschützen zu bewachen.

»Ich meldete mich in der Stellung und wir waren in einer Schule untergebracht, gemeinsam mit ungarischen Kollaboranten, also auch Nazis. Immer wenn ich Nachtwache hatte, habe ich mit meinem Dietrich, den ich die ganzen Kriegsjahre bei mir trug, die Kanzlei aufgemacht und heimlich den engl. Sender BBS 3 abgehört und informierte mich über den Stand der herannahenden russischen und amerik. Truppen. Der Geschützdonner kam täglich näher. Ich erzähle das an dieser Stelle deswegen so ausführlich, da es für mich ganz entscheidende Wochen meines Denkens und Handelns zum Überleben ›5 Min. vor 12‹ waren. Ich war zu allem bereit. So kam es auch, dass ich von einem Kumpel, der mit mir abends Wache schob, und auch i. d. Gesprächen erfuhr, daß er ebenfalls solche Wünsche hatte. Unsere ›Entfernung v. d. Truppe‹ so hiess es bei der Todesstrafe, wurde vorbereitet. Ich holte mir eines Tags mein Fahrrad aus dem Ort und versteckte es im Gelände. Mein Kumpel, wollte ein Dienstfahrrad nehmen. Eines Nachts als wir wieder Wache hatten, öffneten wir mit meinem Dietrich das Magazin und rüsteten uns aus mit Schuhen, Wäsche und Verpflegung, packten es auf unsere Fahrräder und fuhren Richtung Eger davon, da wir durch den BBS Sender erfuhren, dass die Amis dort im Vormarsch sind und wir uns ihnen ergeben wollten. Doch je näher wir an Eger kamen und immer näher die Kampfhandlungen verspürten, desto problematischer wurde unser Vorhaben. Wir konnten uns nur in der Nacht fortbewegen, tagsüber lagen wir in Verstecken und beobachteten die Bewegungen und mussten zum Entsetzen feststellen, dass wir uns in SS-Verbänden befanden, so dass an ein Durchkommen nicht zu denken war. Zum Glück lag kein Schnee, obwohl es Winter war, die Kälte spürten wir vor Aufregung und angespannten Nerven nicht.«

Winterende

Ich war sieben, als meine Urgroßmutter ein Jahr nach meinem Urgroßvater verstarb. In meinen Erinnerungen sind sie alte gutmütige Gestalten, die müde in der Ecke eines jeden Familientreffens sitzen. Aber an wirkliche Gespräche mit ihnen kann ich mich nicht erinnern. Über das, was sie im Krieg erlebt hatten, sprachen sie nicht. Auch nicht untereinander. Meine Mutter erinnert sich noch gut an das erstaunte Gesicht ihrer Großmutter, als deren Mann, mit dem sie damals bereits über vierzig Jahre verheiratet war, anfing, über seine Zeit als Soldat im Winter 1944 zu sprechen, die er auch in seinen Memoiren beschreibt:

»Eines Nachts, wir lagen im freien Gelände in einer Kuhle, hörten Panzer und Fahrzeuge etc. rasseln, unaufhörlich und stellten morgens fest, dass wir unweit einer Hauptverkehrsstraße liegen mussten und es sich um russische Truppen handelte, die in Richtung Prag im Vormarsch waren. Von dem Schrecken kaum erholt, sahen wir aus unserer Kuhle, weit und breit war ja zum Verstecken kein Gelände, einen Panjewagen 4 mit Pferden übers Feld auf uns zu kommen und beim Näherkommen sahen wir, dass es sich um einen Rotarmisten mit Schlitzaugen handelte, die Pistole auf uns gerichtet und uns in Russisch anschrie, vielleicht hatte er auch Angst und wollte uns gleich erledigen, denn wir sahen in unseren Klamotten, tagelang nicht gewaschen und rasiert, nicht sehr Vertrauen erweckend aus. In dem Bruchteil von Sekunden verstand ich die Worte ›Germania‹ und ich schrie ›Tschech‹, zeigte, dass wir keine Waffen haben und wir Arbeiter sind. Ich glaube, dieser Umstand und meine tschechisch geschrienen Worte haben ihn überzeugt und er hatte von einem »Abknallen« Abstand genommen und damit uns am Leben gelassen. Den ganzen Tag haben wir uns aus der Kuhle nicht raus getraut. In der Nacht gelang es mir, die Straße zu überqueren und uns bei einem Gehöft in der Nähe eines Waldstückes zu verstecken.«

Ausgehungert treffen er und sein Weggefährte einen Tschechen, der sie verpflegt und vor einem weiteren Marsch warnt. In den Wäldern des Protektorats würden versprengte SS-Männer auf eigene Faust Krieg führen.

Meine Urgroßmutter versorgt meinen Urgroßvater drei Wochen lang heimlich mit Nahrung und Wasser, während er sich weiter im Wald aufhält. So lange, bis sein Vater Josef Sitte ihn wieder nach Kratzau holt. Dort sei es nun möglich, sich der Roten Armee zu ergeben. Ein paar Monate später, im Oktober 1945, erreicht sie ein Brief von Willi Sitte:

»Meine über Alles geliebten Eltern und Geschwister, Wie ein Traum lässt meine Hand die Feder über das Papier gleiten. Mit jener Anrede, die mir nun mehr als ein halbes Jahr versagt blieb. […] Ende April vollzog sich die blutige Liberazione, wo sich besonders die deutsche SS durch beschämende Taten ausgezeichnet haben, daß mir bald zum Verhängnis geworden wäre. Aber nun ist es vorbei und der Nationalsozialistische Militärstiefel hat ausmarschiert. Und nun habe ich mich restlos und mit ganzer Kraft der Kunst selbst wiedergegeben. Ich arbeite und habe mein Studium wieder aufgenommen. Ein hartes Stück Weg liegt vor mir, das sein Opfer abverlangt, doch dieses Tal der Dunkelheit muß durchschritten werden, was mir auch gelingt. Voraussichtlich im Dezember steigt eine Personalausstellung des tschechoslowakischen Kunstmalers. Ich habe mit meinen Arbeiten schon guten Anklang gefunden, und Kunstkritiker sind der Meinung, daß diese Ausstellung großes Aufsehen erregen wird, da es den Plan der üblichen impressionistischen Ausstellungen durchbricht. Die Ausstellung wird in der »Galeria italiana d’Arte« 5 gezeigt werden. Bis dorthin muß ich ein zähes Stück Arbeit leisten, um etwa mit mindestens 20 Gemälden und ebenso viel Zeichnungen mich der Öffentlichkeit und der italienischen Kunstwelt vorstellen zu können. 6 Gemälde sind bereits vollendet und zum größten Teil verkauft, die aber erst nach der Ausstellung ausgehändigt werden. […] Wie gerne würde ich dann nach Hause kommen zu Euch, um Euch wiederzusehen. Aber es ist mit Schwierigkeiten verbunden. Ich gedenke vorerst in Italien zu bleiben – doch möchte ich auf einen längeren Besuch heimkommen!!«

So viel wird für die Wahrheit erklärt

Obwohl Willi Sitte in Italien über Nacht berühmt werden soll, erreicht er dieses Land alles andere als freiwillig – wenngleich er es später als seine zweite Heimat bezeichnen wird. Als sein Bruder Franz Sitte 1944 in Nordböhmen desertiert, befindet er sich nach einem Einsatz an der Ostfront in einem Marschbataillon in Montecchio Maggiore in Norditalien, gut zwanzig Kilometer von Verona entfernt. Willi Sitte wird in dieser Gegend zum Ende des Krieges desertieren und in den Widerstand gehen. Kunsthistoriker führen zurzeit Debatten darüber, wie genau das ausgesehen haben könnte und inwieweit seine lebenslange Erzählung einer Partisanenvergangenheit tatsächlich der Wahrheit entspricht. In jedem Fall wird Willi Sitte die letzten Wochen des Krieges in Montecchio Maggiore und in weiteren Regionen Italiens verbringen. Vor allem aber wird er zeichnen.

Pawel und ich treffen in Italien den Filmemacher Reinhold Jaretzky, der die ARTE-Dokumentation über Willi Sitte dreht. Reinhold Jaretzky, ein Mann mit lang gelocktem grauem Haar, Sonnenbrille und hohen Augenbrauen, die ständig zwischen Nervosität und Freude tanzen, erwartet uns auf einer Burgruine über der Stadt. Von hier aus kann man auf einzelne Häuser in den Hügeln des kleinen Bergortes sehen sowie auf das strahlend helle Stadtzentrum. »Da seid ihr ja!«, ruft Reinhold und klatscht in die Hände. »Eine herrliche Aussicht. Nicht wahr? Aber um Sitte zu finden, müssen wir in die Stadt!«, sagt er. Wenig später bietet er mir bereits das Du an. Wir seien schließlich »auf ähnlicher Mission«.

In Montecchio selbst gibt es nicht viele Hinweise auf Willi Sittes Wirken, außer einem ziemlich offensichtlichen: wieder einmal eine Plakette mit seinem Namen. Diesmal im Rathaus der Stadt. Saletta Willi Sitte – der Willi-Sitte-Raum. Dort hängen drei gerahmte Werke, die er hier mit Anfang zwanzig gemalt hat. Sie zeigen Paare und junge Frauenfiguren – Kohlezeichnungen auf braunem Grund.

Vielleicht erklären die Briefe Willi Sittes an eine Margit aus seiner Heimatstadt Kratzau aus dem Jahr 1942 diese Werke, die ich in seinem Nachlass gefunden habe. Die Hälfte von Willi Sittes an sie adressierten Briefe besteht aus Kinoeinladungen während seiner Fronturlaubstage: »Jedenfalls bestell ich eine Karte für Dich mit, deswegen mußt Du aber nicht wegen der Karte kommen, sondern frei, ganz nach Deinem inneren Gutdünken.« 6

In weiteren Briefen zieht er manchmal ein glückliches Fazit, sofern es tatsächlich zu einem Treffen kam: es war für mich ein wunderbares Erlebnis, daß dieser Tag mit einem so verständigen Menschen wie Du es bist, zusammen gewesen zu sein, mir noch vergönnt gewesen ist.« 7 Und ansonsten versucht er sich seine Sehnsucht mit Zeilen wie »Ich bin nicht böse bzw. mache mir nicht solche Gedanken über Dich bezgl. des Nichtschreibens und dergleichen« 8 von der Seele zu schreiben, was ihm angesichts der Tatsache, dass er ihr Ähnliches in vier weiteren Briefen noch einmal versichert, nicht wirklich zu gelingen scheint.

Passenderweise heißen die Zeichnungen hier im Saletta Willi Sitte: Liebe, Allegorie und Verzicht.

Außer den Werken im Rathaus gibt es noch ein weiteres Dokument aus dieser Zeit, welches Willi Sitte mit Montecchio Maggiore verbindet. Es wurde vom Comitato di Liberazione Nazionale, dem Nationalen Befreiungskomitee von Italien 9 , ausgestellt:

»18. Mai 1945

Wir erklären, dass Vilem Sitte […] geboren in Chrastaya u Liberec (Tschechoslowakei) am 28.2.1921, seit September 1944 als Soldat der Wehrmacht in Montecchio Maggiore ist […]

Im Februar dieses Jahres wurde der oben erwähnte Vilem Sitte an die Front geschickt, vielleicht weil man ihn antinazistischer Gefühle verdächtigte.

Von der Wehrmacht desertierte er dann und kehrte am 2. April nach Montecchio Maggiore zurück, wo er im Haus des Unterzeichners unterkam. Auf der Rückreise von der Front nahm ihm die deutsche Militärpolizei seine persönlichen Papiere ab und befahl ihm, mit der Eskorte eines Unteroffiziers die Stadt Brescia zu erreichen, aus der er floh, um stattdessen nach Montecchio zu kommen, wie oben erwähnt.

Seit Oktober letzten Jahres hielt Herr Vilem Sitte den Kontakt zu diesem Komitee aufrecht und arbeitete mit ihm für die Befreiung Italiens von den Nazifaschisten zusammen, indem er Waffen und militärische Nachrichten lieferte und lokalen Partisanenelementen half, die von der deutschen SS gefangen genommen wurden.

So viel wird für die Wahrheit erklärt.

Der Präsident

Muraro Giuseppe

Gesehen:

Der Bürgermeister

G. Giuliari« 10

»So viel wird für die Wahrheit erklärt«, denke ich. Genau über diese Wahrheit herrscht gegenwärtig Uneinigkeit in der Kunstgeschichte. Obwohl in diesem Dokument, wenn auch ziemlich uneindeutig, zeitversetzt und auf wenige Sätze heruntergerafft, das steht, was ich bereits in Willi Sittes Memoiren gelesen hatte. Willi Sitte beschreibt sich in seiner Autobiografie zunächst als »Helfer« der Partisanen, die er mit Waffen und Plänen der Wehrmacht versorgt. Bis er auffliegt und aus dem ruhigen Montecchio an die Front geschickt wird – und flieht. Seine aktive Zeit im Widerstand skizziert er 1945, ein paar Monate nach Ende des Krieges, in einem Brief an seine Eltern:

»In Kürze will ich meinen Werdegang bis zum heutigen Tage Euch ausbreiten. Ihr werdet vielleicht noch eine Nachricht aus Bologna erhalten haben. Kurz darauf bin ich vom Wehrdienst desertiert und habe mich nach vielen Strapazen u. Gefahren vor allen Dingen von Seiten der deutschen Wehrmachtsgendarmerie bis in die Campagna von Vicenza durchgeschlagen, wo ich mich dort den italienischen Partisanen zur Verfügung stellte. Alles Freunde, die meine politische Einstellung kannten und mich als freiheitsliebenden Patrioten in ihre Mitte aufnahmen. Meine Aufgabe war es, ihnen Waffen zuzuführen und evtl. Antinazis ebenfalls zur Desertation vom deutschen Heer zu bewegen. So trat ich einmal als Zivilist auf und ein andermal als Soldat – kurz, wie es von Nöten war.« 11

In seiner Autobiografie von 2003 findet sich zu diesen Informationen ein kurzes Resümee: »Zu meinen Aufgaben bei den Partisanen vor meiner Flucht hatte gehört, Antinazis zum Desertieren zu bewegen. Das ist mir nicht gelungen« 12 , doch lässt sich nichts davon belegen.

Laut einigen Wissenschaftlern sei selbst der genaue Zeitpunkt seines Desertierens fragwürdig. Willi Sitte sei nicht sechs Monate lang Deserteur gewesen, obwohl er das später in der DDR behaupten wird, sondern nur etwas mehr als zwei Wochen 13 und in seiner Bescheinigung vom Nationalen Befreiungskomitee Italiens wieder ein anderer, wenn auch früherer Zeitpunkt vermerkt ist und dort ab Oktober 1944 von einer Zusammenarbeit gesprochen wird. Den Status eines Antifaschisten, der ihn sowohl in der Tschechoslowakei von den anderen Deutschen abgrenzte als auch in der DDR in ein ganz anderes Licht stellte, hätte er durch eine Desertation knapp zwei Wochen vor Ende des Krieges sicher nicht bekommen. Dazu hatte mir ein Schüler Willi Sittes bei einem Gespräch erzählt, dass er ihn selbst einmal gefragt hatte, ob er denn auch bei den Partisanen gekämpft habe.

»Ach was«, soll Willi Sitte gesagt haben. »Ich habe dort einfach nur das Essen gekocht.«

Dass eine weitere Geschichte über Willi Sittes Zeit in Montecchio ihren Weg in die Öffentlichkeit fand, ist Professor Luciano Chilese zu verdanken. Ein Historiker und Partisanenexperte, der diese Geschichte 2005 an einen Journalisten weitergegeben hatte. Drei Jahre später wurde Willi Sitte Ehrenbürger dieser Stadt.

Chilese, ein drahtiger Mann mit wachen Augen und grauem Schnurrbart, hat sich nach einem vierzigtägigen Krankenhausaufenthalt extra frühzeitig selbst entlassen, um mit uns zu sprechen. Und, um in seinen Gemüsegarten zu kommen. Die Auberginen seien fast überreif.

»Ihr Urgroßonkel war ein Held«, sagt Luciano Chilese und deutet mit einem Finger auf mich.

»Stopp, stopp!«, sagt Reinhold und stellt sich neben Pawel, der wie versteinert auf seine Kamera starrt.

Chilese räuspert sich: »Also: Willi Sitte half den Partisanen und vor allem ganz Montecchio!« Chilese hält für einen Moment inne, sieht auf Reinhold, um nicht in die Kamera zu sehen, und erzählt eine Geschichte aus Montecchio des Novembers 1944: Als eines Nachts eine Truppe Partisanen einen Kameraden zurückholen will, der im zivilen Krankenhaus von Montecchio Maggiore versorgt wird, entdecken sie eine Zweimann-Patrouille deutscher Soldaten, die sich immer weiter anzunähern droht. Die Deutschen werden aufgefordert stehen zu bleiben, einer hebt seine Hände, der andere greift zur Waffe und wird erschossen. Der andere Soldat gerät in Gefangenschaft.

Schnell ist sowohl den Partisanen, aber vor allem der Bevölkerung von Montecchio klar, was das Ganze zu bedeuten hat. Ein deutscher Soldat wurde getötet, was Vergeltung heißt. Die Bürger von Montecchio erinnern sich noch mit Schaudern, wie vor wenigen Monaten im nahegelegenen Recoaro Terme wegen eines von Partisanen erschossenen Soldaten siebzehn unschuldige italienische Männer sterben mussten. Überall im Land reagierte die Wehrmacht mit Vergeltungsmassakern auf den harten Widerstand der Partisanen und der Zivilbevölkerung. Und auch in Montecchio wurden bereits Zivilisten bestimmt, die erschossen werden sollten. 14

»Und hier kommt Willi Sitte ins Spiel!«, sagt Chilese. »Er stand damals schon mit der italienischen Bevölkerung in Kontakt und kannte auch die Mentalität der Deutschen seiner Kompanie. Die wollten eigentlich keine Partisanen erschießen, brauchten aber Gründe, um von den Wehrmachtsbefehlen abzuweichen. Also hat sich Willi Sitte blitzschnell eine Geschichte ausgedacht: Der Deutsche wurde jetzt nicht mehr von einem Partisanen umgebracht. Nein, er hätte es auf eine Krankenschwester abgesehen und starb durch ihren eifersüchtigen Verlobten. Eine Liebestat! Die Geschichte musste schnell verbreitet werden, da ja die Vergeltungsaktion bevorstand.«

Kurz habe ich geglaubt, etwas Klarheit in Willi Sittes Partisanenerzählung zu finden. Aber Fehlanzeige. Denn seltsamerweise ist diese Eifersuchtsstory genau die Geschichte, die Willi Sitte in seinen Memoiren 15 erzählt, ohne dabei zu erwähnen, dass sie offenbar von ihm selbst erfunden wurde. Professor Chilese arbeitet jedoch gegenwärtig an einem Buch, das die Jahre 1943 bis 1945 in Montecchio Maggiore beschreibt. Ich habe keine Ahnung, warum Willi Sitte die Geschichte anders erzählt, schließlich ist die recherchierte Version viel spannender: Dort wird anhand mehrerer Zeitzeugeninterviews erklärt, wie es wirklich gewesen sein soll und was Willi Sitte damit zu tun hatte, der damals in Montecchio schon längst als antifaschistischer Deutscher galt und bereits Italienisch sprach.

»Willi Sitte erklärte sich zudem bereit, mit dem Leiter der Kommandantur in Vicenza zu sprechen. Er hatte ja schon ständig Informationen der Deutschen an die Partisanen und die Bevölkerung weitergegeben. Und er wusste auch, wer für die bevorstehende Vergeltungsaktion verantwortlich sein würde«, fährt Chilese fort. »Zusammen mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister der Stadt ging er bis zur Kommandantur nach Vicenza, um dort mit dem verantwortlichen Leutnant zu sprechen. Er hat versucht, ihn von der Geschichte zu überzeugen, und das trotz des Risikos, dafür als Kollaborateur bestraft zu werden! Ob es tatsächlich an seiner erzählten Geschichte oder der bewiesenen Tatsache lag, dass die Partisanen den Gefangenen freiließen und die Waffen zurückgaben 16 , ist unklar – aber: Die Deutschen entschieden sich gegen die Vergeltung … Das Massaker wurde verhindert!«

In der Begründung zu Willi Sittes Ehrenbürgerschaft von Montecchio Maggiore heißt es: Willi Sitte hätte mitgewirkt, »dass Montecchio Maggiore den Krieg ohne die schrecklichen Spuren von Tod und Rache überstand; aber gleichzeitig hörte er nicht auf, sich durch seine ausgezeichnete Kunst auszudrücken, indem er in unserem Rathaus drei Werke hinterließ, die die tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden darstellen.« 17 Die vereitelte Vergeltungsaktion gilt als belegt, und die Bilder im Rathaus habe ich mit eigenen Augen gesehen.

Später zeigt Chilese auf ein Foto, das Willi Sitte mit Baron Walter zu Putlitz, seinem Zimmerkollegen, zeigt.

»Viele Deutsche waren verstreut in Wohnhäusern in Montecchio untergebracht. So auch Willi Sitte. Er hat dort seinen ersten antifaschistischen Zyklus Totentanz des Dritten Reiches und auch ein Porträt der Frau seines Gastgebers fertiggestellt. Sie hängen jetzt in dem Raum, in dem Willi Sitte sich um die Papier- und Telegrafenkorrespondenz kümmerte, wo er lebensgroße Zeichnungen hinterließ.«

Die Zeichnungen im Rathaus, im Saletta Willi Sitte!

»Willi Sitte ist jetzt Teil von Montecchio!«, sagt Chilese und lächelt zufrieden. Was für eine Geschichte, denke ich. Nur gibt es ein Problem: Außer dem Schreiben des Komitees gibt es kaum greifbare Anhaltspunkte für Willi Sittes Widerstandsgeschichte, und Chilese selbst hat den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt. Ein Zeitzeuge ist er also nicht.

»Lucia Muraro, eine Tochter des Präsidenten vom Komitee, ist noch am Leben. Sie hat Willi Sitte noch erlebt«, sagt Chilese schnell.

Nach dem Interview verabschiede ich mich von Pawel und Reinhold am Bahnhof von Montecchio. Pawel fährt mit dem Auto zurück nach Breslau, Reinhold mit dem Zug nach Rom. Für mich geht es nach Mailand, Willi Sittes letzter Station in Italien.

»Wie wirst du das eigentlich machen?«, fragt Reinhold, als wir Pawels Auto hinterhersehen. »Also, wie willst du dich deinem Urgroßonkel nähern?«

»Ich glaube, ich muss einfach erzählen, was ich erlebe.«

Er setzt sich neben mich auf eine der Sitzbänke vor dem Gebäude.

»Da ähnelst du vielleicht deinem Urgroßonkel! Sitte war ja keiner, der nach Modell gearbeitet hat. Der hat alles betrachtet. Sein Umfeld. Der musste immer dabei sein.

Und du willst das alles eben auch aus deiner Wirklichkeit heraus beschreiben.«

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