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New Hope - Das Schimmern des Glücks

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Sei mutig und öffne dein Herz …

Braxton Campbell führt erfolgreich eine Schreinerei und hat sich mit seinen Holzmöbeln einen Namen auch außerhalb von New Hope gemacht. Aber das Wichtigste in seinem Leben ist seine Tochter Ruby. Seit dem Tod seiner großen Liebe tut er alles, damit Ruby den Verlust ihrer Mutter verarbeiten kann. Dabei kann er immer auf seine Familie zählen. Nur sein Herz will Braxton nie wieder verschenken. Zu tief sitzt der Schmerz. Als plötzlich Payton in die Kleinstadt zieht, stellt sie alles auf den Kopf. Nicht nur, dass sie ihm beruflich den Kampf ansagt, kein Blatt vor den Mund nimmt und Ruby ihr am liebsten nicht mehr von der Seite weichen möchte – gegen seinen Willen fühlt sich Braxton zu Payton hingezogen …


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: New Hope
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703115
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Einen Hinweis dazu findet ihr hier.
Achtung: Dieser Hinweis enthält einen Spoiler für die Handlung.

Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wirf eine Münze. Egal, wie sie landet, du wirst merken, worauf du hoffst.

Unbekannt

Kapitel 1

Braxton

Noch bevor ich einen Fuß auf den asphaltierten Weg setzen konnte, der in Schlangenform durch einen Vorgarten auf das zweistöckige Haus führte, kam mir nicht nur eine ganze Armada an chinesischen Schimpfwörtern entgegen, sondern auch ein weiteres Möbelstück flog auf den getrimmten Rasen. Autsch. Meine Schreinerseele jaulte innerlich auf, als der antike Holzhocker sich krachend dem Aufprall ergab. Neben bunten Stoffen lagen Stifte und Schnickschnack wie Tischuntersetzer mit einem furchtbar hässlichen Muster aus Ocker und einem undefinierbaren Grün-Gelb-Orange. Das Gras war übersät von aussortierten Dingen, und nicht nur ich wusste, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis Mrs. Wang einen ihrer berühmten Straßenflohmärkte veranstaltete. Bloß damit sie den ganzen Plunder ihres Mannes, den er aus allen Winkeln New Hopes auftrieb, auf ein Neues loswerden konnte.

Mr. und Mrs. Wang hatten ein Restaurant nicht weit entfernt meiner Schreinerei Woodworker, und es war das Stammlokal meiner Angestellten und mir. Nicht nur in den Mittagspausen holten wir uns dort Essen, sondern mindestens einmal im Monat trafen wir uns im Restaurant, um ein ziemlich lässiges Meeting abzuhalten. Aber ich war schließlich auch ein ziemlich lässiger Chef, dachte ich grinsend. Mrs. Wangs helle Stimme wurde lauter und erhob sich über die sonst ruhige Wohngegend wie eine Welle, die irgendwann an dem Punkt angelangt war, an dem sie brach. Ich krempelte meine Ärmel über meine tätowierten Unterarme nach oben, umfasste meine Werkzeugtasche fester, holte tief Luft und sammelte meine Entschlossenheit, dem armen Mr. Wang aus seiner misslichen Lage zu helfen. Jetzt konnte ich mir zumindest vorstellen, wieso ich gerufen worden war. Reparaturarbeiten oder ein paar neue Möbel gefällig? Kein Problem!

Mutig und immer noch auf der Hut lief ich auf die offene Haustür zu, bloß um kurz darauf innezuhalten und erleichtert aufzuatmen, denn ein Katzenwecker sauste dicht an mir vorbei und verfehlte mich glücklicherweise. Verdammt. Mrs. Wang hatte aber auch Temperament. Deshalb konnten ich und viele andere Bewohner unserer Kleinstadt New Hope auch nicht verstehen, weshalb Mr. Wang einfach nichts aus seiner Situation lernte und ständig neuen Kram anschleppte. Doch vielleicht war das auch ihr ganz persönliches Ding, sich auf Touren zu bringen. Okay. Stopp. Darüber sollte ich ganz und gar nicht nachdenken, wenn ich jemals wieder unsere Meetings im Restaurant Wang abhalten wollte, ohne dabei zu kichern wie ein Schuljunge.

»Hallo?«, rief ich vorsichtig in das Haus hinein, sowie ich die Tür erreicht hatte. »Hier ist Braxton Campbell. Wir haben einen Termin.« Langsam steckte ich den Kopf ins Innere und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Türrahmen, dessen weiß lackiertes Holz mal wieder einen neuen Anstrich vertragen konnte.

Ich zuckte zusammen, als Mrs. Wang wie von Geisterhand im Flur auftauchte. »Großer Gott«, murmelte ich. Auch wenn sie mir mit ihren gerade mal ein Meter fünfzig nur bis knapp unter meine Brustmuskeln reichte, konnte ich verstehen, weshalb sich Mr. Wang ergab. In seiner Haut, wenn er irgendwas ausgefressen hatte, wollte ich nicht stecken. Das Singleleben hatte in dieser Hinsicht definitiv etwas Gutes.

»Mr. Campbell, kommen Sie mit, kommen Sie mit!«, ordnete sie an, ohne Zeit zu verlieren. Bei den meisten Jobs in New Hope dauerte der eigentliche Auftrag nur ein Bruchteil des Termins. Mehrmals in der Woche konnte ich Selbstgebackenes abstauben, wurde zu einem Mittagessen eingeladen oder erhielt den neusten Stadttratsch auf dem Silbertablett serviert. Meine zwei Geschwister und ich waren hier geboren – dank unserer alternativen Eltern sogar direkt in unserem Farmhaus. Wir kannten so gut wie alle Bewohner in jedem Winkel unserer Kleinstadt am Rande des Yosemite-Nationalparks in der kalifornischen Sierra Nevada. Meine Kunden waren nicht einfach bloß Kunden, sie waren Freunde, Bekannte meiner Eltern oder kauften auf ihrer Farm regelmäßig selbst angebautes Obst, Gemüse und Kräutertinkturen meiner Mom ein. Sie gingen zu den Kursen meiner kleinen Schwester Lake in ihrem Yogastudio oder brachten ihre Kinder zu der Pfadfindergruppe der Flinken Wiesel meines älteren Bruders Graham. Man kannte sich in New Hope, was sowohl sein Gutes wie sein Schlechtes haben konnte, aber für mich definitiv eher Ersteres. Vor allem, wenn ich an meine in wenigen Tagen elf werdende Tochter Ruby dachte, die in dieser Idylle genau wie ich in Ruhe aufwachsen konnte. Von dem schwärzesten Kapitel unseres Lebens abgesehen.

»Kommen Sie mit!«, ermahnte mich Mrs. Wang wieder.

Ich beschleunigte meine Schritte und folgte ihr durch den Flur. Unauffällig schaute ich in alle Ecken, in denen sich Mr. Wang versteckt haben könnte und leise um Hilfe rief, allerdings entdeckte ich ihn nirgendwo. Seltsam, doch ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Mrs. Wang ihrem Mann wirklich mehr antun würde, als ihn zu beschimpfen. Meine Fantasie als großer Halloween- und Horrorfilmfan war in dieser Hinsicht wahrscheinlich hundertmal spannender als die Realität.

»Das hier muss weg!« Wir blieben im Wohnzimmer vor einer gigantischen Schrankwand aus dunklem Nussbaumholz stehen, dessen lackierte, glänzende Oberfläche aussah, als würde Mrs. Wang sie jeden Tag mit Öl einreiben oder wachsen. Die Ecken waren mit Messingbeschlägen eingefasst, die ganz und gar nicht zu der Holzfarbe passten. Ich hätte gern behauptet, dass der Schrank antik war, aber wow: Das Ding war einfach nur hässlich.

»Alles klar, das lässt sich erledigen. Was soll stattdessen an den Platz?« In meinem Kopf ergaben sich zig Möglichkeiten, die ich allerdings noch für mich behielt. Zuerst musste ich wissen, was meine Kunden wollten, um ihnen dann etwas zu bauen, das um ein Vielfaches besser war. Die Zufriedenheitsquote der Schreinerei Woodworker war bei hundert Prozent, und das nicht nur, weil mir nichts so sehr lag, wie mit Holz zu arbeiten. Meine beiden Angestellten Haddie und Jacob waren zwei der Besten ihres Fachs, und ich war froh, dass sie mich mittlerweile seit einigen Jahren unterstützten.

Mrs. Wang holte Luft, und zusammenhanglose Wörter prasselten auf mich ein wie Platzregen. Rot, groß, geräumig, Gold und noch einige andere Dinge, die ich mir notierte. Ich liebte Herausforderungen, und Mrs. Wang ein zufriedenes Lächeln zu entlocken würde eine Megachallenge werden.

»Verstanden. Ich messe die Stelle aus und mache dann einen Entwurf in der Schreinerei fertig.«

»Einverstanden.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und ihre schwarzen, kinnlangen Haare wippten vor und zurück, während sie nickte.

»Dann melde ich mich in ein paar Tagen.«

»Nein.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Nein?«

»Das Ding muss weg.« Sie deutete auf den Schrank.

»Das habe ich verstanden, aber ich dachte …«

»Ich habe Sie nicht gerufen, damit Sie zeichnen. Der Schrank muss weg.«

Erneut schaute ich die über drei Meter hohe Schrankwand an und unterdrückte ein Stöhnen. In den meisten Fällen kümmerten sich die Kunden selbst darum, ihre alten Möbel loszuwerden, doch Mrs. Wangs Charme konnte ich einfach nichts abschlagen.

»Okay«, erwiderte ich langgezogen. Mit den Fingern fuhr ich über meinen Werkzeuggürtel. Immerhin musste ich nicht zurück in die Schreinerei und noch etwas holen. »Ich kümmere mich darum.« Auf mein freundlichstes Lächeln hin nickte sie bloß und verschwand durch die Tür zum Flur. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Schreinerei.

»Woodworker, Haddie am Apparat, wie kann ich helfen?«

»Haddie, ich bin es, Brax.« Ich senkte die Stimme. Mrs. Wang war zwar nicht mehr im Raum, aber wer wusste, von wo aus sie mich noch hören konnte. »Ich brauche hier noch ein wenig länger.«

»Jacob, du schuldest mir ’nen Fünfer!«, rief Haddie, woraufhin ich im Hintergrund ein Seufzen hören konnte.

»Hey, habt ihr gewettet?«

Förmlich sah ich Haddies Grinsen vor mir und wie sie unschuldig mit den Schultern zuckte, die Schutzbrille in die blonden Haare geschoben.

»Was musst du diesmal tun? Den Dachspeicher aufräumen oder den Keller ausmisten?«, ertönte Jacobs Stimme.

»Was soll das denn heißen?«, fragte ich und schnappte nach Luft.

Haddie lachte. »Nichts, Boss. Nur, dass du einfach zu weich für Außenaufträge bist.«

»Das bin ich garantiert nicht!«, erwiderte ich empört und klang wie ein trotziges Kind. »Ich kann nichts dafür, dass die Menschen mich eben mögen und Zeit mit mir verbringen wollen.«

»Ja, während du die Arbeit erledigst, auf die sie keine Lust haben.«

»Hadley Ericson, du weißt immer noch, dass ich dein Chef bin, oder?«

»Selbstverständlich«, erwiderte sie, und ich hörte definitiv ihr breites Grinsen aus ihrer Stimme. Doch genau das machte unser perfektes Arbeitsklima aus. Wir zogen uns gegenseitig auf und konnten uns jederzeit aufeinander verlassen. »Trotzdem kannst du nicht Nein sagen. Dafür kann ich nichts!«

Ich gab ein Knurren von mir. »Wartet ab, bis ich zurück bin! Und keine Wetten mehr!«

»Aye, aye, Boss!«, sagte sie frech. Ich konnte den beiden gar nicht böse sein. Doch als ich auflegte und mein Blick über den Schrank wandern ließ, wurde mir klar, dass ich wirklich daran arbeiten musste, mich nicht immer für solche Sachen einspannen zu lassen. Auch wenn ich niemals vor anderen zugeben würde, dass es tatsächlich so war und ich den Menschen hier nichts abschlagen konnte. New Hope war eben mein Zuhause, und ich liebte es, hier zu leben.

Kapitel 2

Payton

Das Gitarrensolo von Greta Van Fleets Highway Tune dröhnte aus den Boxen durch die Halle. Mein Arbeitskollege Hugo drehte sich im Kreis und hielt den Schraubenzieher vor sich, als wäre er eine Elektrogitarre, während seine dunklen Locken sich im Takt seines wippenden Kopfes bewegten. Meine anderen Kollegen stimmten mit ein, doch ein wenig verhaltender. Mit einem Satz war ich bei Hugo und sang mit ihm in mein provisorisches Mikrofon, das aus einem rechteckigen Holzstück bestand.

Ich riss die dicke Schutzbrille von meinem Kopf und schwang sie in die Höhe, als würde vor uns eine Menge kreischender Fans stehen und nur darauf warten, dass ich sie hineinschmiss. Mein Herz raste, und ich bekam kaum noch Luft aufgrund unserer Tanzeinlage und dem Lachen, das mich erfüllte. Als das Finale abebbte, verbeugten wir uns vor den anderen, die sich das Grinsen nicht verkneifen konnten.

Hugo schlang seinen Arm um meine Schultern, zog mich an sich und drückte mir lächelnd einen Kuss auf die Schläfe.

»Es war mir eine Ehre, mit Ihnen aufzutreten.«

»Ganz meinerseits!« Mit seinen schwarzen dichten Locken und den langen Wimpern über den dunklen Augen musste selbst ich zugeben, dass er ein echter Hingucker war. Doch wir würden ganz und gar nicht zusammenpassen und hatten außer freundschaftlichen Gefühlen noch nie etwas anderes füreinander empfunden. Er war mein Fels in der Brandung, in einem Job, den ich liebte, an einem Arbeitsplatz, den ich hasste. Denn ihm ging es ganz genauso. Nicht nur dass unsere restlichen vier Arbeitskollegen in der Schreinerei Havering’s Carpentry ziemliche Langweiler waren, obendrein war unser Chef ein noch größerer Chauvinist als mein Vater, und das hieß schon etwas. Ich war mir sicher, dass Mr. Havering mich nur eingestellt hatte, um eine gewisse Frauenquote erfüllen zu können und so besser vor unseren Geschäftspartnern, Kundinnen und Kunden dazustehen. Dass ich härter und länger als die meisten meiner Kollegen arbeitete, spielte für ihn keine Rolle.

Doch wenigstens teilten wir einen gemeinsamen Grundsatz: Ließ er mich in Ruhe, machte ich ihm keinen Ärger. Zumindest so gut, wie ich das konnte. Spaß während der Arbeit zu haben fiel für mich nicht in die Kategorie Ärger, doch anscheinend hatte ich da die Rechnung ohne Havering gemacht.

Ein Räuspern erklang hinter mir, und ich schloss seufzend die Augen. Shit.

Langsam nahm Hugo seinen Arm weg, und wir drehten uns um. Mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen stand unser Chef vor uns. Sein Fuß wippte rhythmisch im Takt, allerdings nicht aufgrund der Musik, denn diese war plötzlich verstummt. Alle unsere Kollegen widmeten sich wieder hastig ihrer Arbeit, als würden sie das Gewitter nicht mitbekommen, das sich gerade über unseren Köpfen zusammenbraute.

»Mrs. Stokes, Mr. Pérez, Sie sind sich schon bewusst, dass Sie hier an Ihrem Arbeitsplatz sind und nicht in einer billigen Kaschemme im SoMa District.«

»Mr. Havering, wir …«

Er hob die Hand, und diese Geste erinnerte mich an meinen Dad, wenn er mir eine seiner Standpauken darüber hielt, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte. Wenn es nach ihm ging, vor allem keinen Spaß in ihrem Leben haben.

»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten.«

Ich senkte den Kopf, doch die Wut darüber, dass kein einziges meiner Worte eine Bedeutung für ihn zu haben schien und das auch noch nie hatte, wurde immer größer. Aber bei ihm drehte es sich nicht nur darum, dass ich eine Frau war. Auch Hugo hatte mehr als einmal einen Witz über seine mexikanischen Wurzeln über sich ergehen lassen müssen.

»Kommt nicht wieder vor«, sagte dieser nun schnell, allerdings ballten sich meine Hände zu Fäusten. Ich hatte genug davon, mir mit achtundzwanzig Jahren etwas von einem Mann sagen zu lassen, der sich selbst als den König bezeichnete.

»Es war nur ein Song, Mr. Havering.«

Die dichten Brauen über seinen kalten Augen senkten sich immer tiefer hinab, und hätte er Superkräfte, wäre ich nun zu Eis erstarrt. »Auch wenn Musik in Ihrem Leben anscheinend keine Rolle spielt. Oder gute Laune«, nuschelte ich und erkannte genau den Moment, in dem sich ein Schalter in Mr. Haverings Kopf umlegte.

»Was haben Sie gesagt, Mrs. Stokes?«

»Nichts! Sie hat nichts gesagt!« Hugo fasste mich an der Schulter und wollte mich aus der Schusslinie schieben. »Komm, Pareja … Wir gehen sofort wieder an die Arbeit!«

»Nein!«, schoss es plötzlich aus meinem Mund, und dieses Wort traf meinen Chef wie ein spitzer Pfeil. »Ab sofort werde ich aussprechen, wie idiotisch ich es finde, dass wir noch nicht mal Musik während der Arbeitszeit hören dürfen! Wir sind ein verdammt fähiger Haufen Leute hier, und wenn nicht alle so viel Angst vor Ihnen und sogar ein wenig Spaß bei der Arbeit hätten, wären unsere Ergebnisse noch besser!«

»Das hat sie nicht so gemeint«, wisperte Hugo, doch Mr. Havering würdigte ihn nicht eines Blickes, sondern starrte mich aus seinen wütend funkelnden Augen an.

»Sie wollen also sagen, dass Sie nicht alles bei der Arbeit geben, Mrs. Stokes?«

»Nein …« Jetzt geriet ich doch ins Stocken. »Das habe ich nicht damit gemeint. Ich …«

Ein kühles, überlegenes Lächeln wie das eines Superbösewichts breitete sich auf Mr. Haverings Gesicht aus. Auch wenn er ein Arsch war, mit dem maßgeschneiderten Anzug, den perfekt gestylten grauen Haaren und seiner Körpergröße machte er Eindruck. Bis man hinter seine glänzende Fassade sah, und genau das ließ mich meinen Mut noch nicht ganz verlieren.

»Ich wollte damit sagen, dass …«

»Denken Sie wirklich, dass ich, der dieses Unternehmen von Beginn an aufgebaut hat und es allein geschafft hat, dass Havering’s Carpentry der erste Ansprechpartner in ganz San Francisco zum Thema Schreinerarbeiten und Innenausbau geworden ist, auf jemand wie Sie hören muss? Eine …« Selbst er wurde für einen Moment unsicher.

»Sie meinen, eine Frau?«, stieß ich hervor und imitierte seine Geste, indem ich ebenfalls die Arme vor der Brust verschränkte.

»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Payton.« Er nannte mich nie beim Vornamen; wenn ich das richtig deutete, war das kein gutes Zeichen. »Ich hatte angenommen, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, als Sie sich hier vorgestellt hatten. Aber ich lag tatsächlich falsch. Ich kann Fehler eingestehen. Denn nur, weil Ihr Vater einer der bekanntesten Architekten des Landes ist, wird aus Ihnen keine großartige Schreinerin, die einen besonderen Platz in meinem Unternehmen verdient hat. Sie sind höchstens mittelmäßig und werden nie mehr zustande bringen, als mittelmäßige Möbelstücke mit einem mittelmäßigen Stil zu entwerfen.«

Mr. Havering hatte den Pfeil umgedreht und genau auf die Wunde gerichtet, die bereits mein gesamtes Leben heiß und heftig in mir pulsierte. Mich nie vergessen ließ, dass ich nur die Tochter von jemanden war und in dieser Stadt niemals etwas Eigenes aufbauen könnte.

»Bei allem Respekt, Sie haben keine Ahnung. Payton ist verdammt großartig, und wenn Sie richtig hinschauen würden, würden Sie das genauso erkennen wie ich!« Hugo stellte sich vor mich und nahm meine Hand. Ich dankte ihm, indem ich seine Finger drückte. Doch wieder kam es mir so vor, als könnte ich Dinge nicht allein regeln.

»Wie nett«, kommentierte Mr. Havering.

Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich kündige.«

Es war nicht so, als hätte ich vermutet, dass Mr. Havering mich aufhalten würde, aber auch nicht, dass er nur mit den Schultern zuckte und mir das Gefühl gab, die letzten sechs Jahre meines Lebens verschwendet zu haben. Doch das hatte ich. Wenn Mr. Havering mir eines zeigte, dann, dass es endlich an der Zeit war, diesem Hamsterrad zu entfliehen.

Ich spürte Hugos überraschten Blick.

»Und Sie, Mr. Pérez? Was sagen Sie dazu?«, fragte mein nun Ex-Chef, und ich hielt die Luft an. Hugo sollte nicht meinetwegen diesen sicheren Job wegschmeißen. Als ich ihn anschaute und er meinen Blick erwiderte, schüttelte ich leicht den Kopf. Auch wenn Mr. Havering ein Arschloch war, die Stelle war sicher, wir hatten geregelte Arbeitszeiten und eine Krankenversicherung.

Hugo schaute zu Boden. »Nichts, Mr. Havering«, erwiderte er leise, und ich sah ihm an, dass er sich fühlte, als hätte er mich im Stich gelassen. Doch das war absolut nicht der Fall. Egal, was meine Zukunft bringen würde, wir blieben für immer Freunde.

»Ich gebe Ihnen zehn Minuten, um sich von Ihren Kollegen zu verabschieden und Ihre Sachen zu packen.« Mit diesem Befehl drehte sich Mr. Havering um und verließ die Werkstatt. Man konnte förmlich hören, wie alle aufatmeten, allerdings sagte keiner der anderen auch nur ein einziges Wort zu uns.

Sofort schlang ich die Arme um Hugo und zog ihn an mich. »Du hast richtig entschieden!«

»Ich lasse dich im Stich, ich bin ein schlechter Freund.«

»Das bist du überhaupt nicht!« Ich schob ihn von mir und schaute ihm in die Augen. Er war kaum größer als ich, denn ich war als Frau recht groß, weshalb ich in der Schule oft gehänselt worden war und mir auch ein ziemlich dickes Fell hatte wachsen lassen. Außerdem hatte ich mir angewöhnt, alles mit einem flapsigen Spruch zu überspielen. »Du musst hierbleiben! Ich finde schon was; du weißt doch, dass ich mich nicht unterkriegen lasse! Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt.«

Traurig nickte er. »Was soll ich nur ohne dich hier machen?«

Ich zwinkerte ihm zu und lächelte ihn an. »Definitiv weniger Rocksongs performen.«

Als ich meine Sachen gepackt und auch den anderen in einer etwas kühleren Verabschiedung Bye gesagt hatte, betrat ich die belebte Straße draußen mit einem schweren und leichten Herzen zugleich. Nun gab es kein Zurück mehr! Ich musste sofort meine beste Freundin Liz anrufen und ihr erzählen, dass ich mich selbstständig machen wollte. Denn genau das hatte ich vor.

Niemals mehr würde ich für so einem Typen wie Mr. Havering arbeiten!

Mein Blick fiel auf den Pizza-to-go-Stand auf der anderen Seite, und mein Magen gab ein Grummeln von sich. Bevor mein neues Leben begann, würde ich mir ein riesiges Stück Artischockenpizza mit Oliven holen und meinen Sieg mit mir selbst feiern.

Ich schulterte meine Tasche und wollte eben einen Fuß auf die Straße setzen, da hörte ich, wie die Tür von Havering’s Carpentry mit einem lauten Knall zufiel.

»Warte!«

Breit grinsend wandte ich mich um und schüttelte den Kopf, da Hugo mit seinem Rucksack in einer Hand auf mich zurannte und mich dann stürmisch in die Arme schloss. Lachend und jubelnd drehte er mich im Kreis, und ich konnte nicht anders, als mit einzustimmen.

»Komm, lass mich runter, du zerquetschst mich!«, erwiderte ich frech, und Hugo setzte mich auf dem Bürgersteig ab. »Was hat das zu bedeuten?«

»Dass ich verrückt bin!«

»Das wusste ich auch schon vorher.« Ich wurde ernster. »Aber willst du wirklich für mich den sicheren Job aufgeben?«

»Du und ich, wir hatten einen Deal, hast du den vergessen?«

»Nein, aber das war doch nur eine Spinnerei!«

Hugo schob den Rucksack nach vorn und kramte darin herum. Er gab mir ein ziemlich zerfleddertes Stück Papier. Kaum dass ich es in die Hand nahm und auseinanderfaltete, stockte mir der Atem. Ich zeigte nicht oft Emotionen, die nichts mit meiner Rolle als immer gut gelaunte Payton Stokes zu tun hatte. Doch in diesem Moment musste ich schlucken.

»Das, Pareja, das ist die Zukunft«, erklärte Hugo.

Ich fuhr mit dem Zeigefinger über die gemalten Linien, die unsere Traumschreinerei darstellen sollten. Na gut, die Eismaschine und der Entspannungsbereich mit Videospielen und Snacks waren vielleicht wirklich Spinnerei, aber alles andere fühlte sich gut an. Richtig.

Langsam schaute ich auf und erkannte enorme Begeisterung und völlige Überzeugung in Hugos Augen, sodass er mich damit ansteckte. Vorsichtig faltete ich den Zettel und hielt ihn ihm hin. »Okay, Amigo. Lass es uns durchziehen.«

Kapitel 3

Braxton

»Daaaaad«, nörgelte Ruby, und mein Grinsen wurde breiter.

»Gleich. Geduld ist nicht gerade deine Stärke, Tochter, das solltest du unbedingt lernen.« Mit ausgestreckten Armen ging sie über die Terrasse hinter unserem Haus, während ich ihr folgte und ihre Augen weiterhin mit meinen Händen zuhielt. In dem vierhundert Quadratmeter großen Garten, der ohne einen Zaun direkt an die Kiefer- und Tannenwälder grenzte, herrschte absolute Ruhe. Was fast einem Wunder glich, wenn man bedachte, dass neben verschiedenen Spielstationen, Zelten, einem Barbecue-Bereich und zwei Suffolk-Schafen alle unsere Freunde und Familie anwesend waren.

Ich blieb mit Ruby am Rand der Terrasse stehen, und sie zappelte nervös hin und her. Ich liebte Feiern aller Art, aber am meisten liebte ich die Geburtstage meiner nun elfjährigen Tochter. Sie wurde unglaublich schnell groß.

Ich nickte in die Richtung der Menschen, die es ebenfalls kaum noch abwarten konnten, und riss ruckartig meine Hände von Rubys Gesicht.

»Happy Birthday, Ruby!«, erklang es durch den Garten, gefolgt von einem unheimlich schiefen Ständchen, das schöner nicht hätte sein können.

Ich schlang meine Arme um Rubys Schultern und zog sie an mich. »Alles Gute zum Geburtstag, meine über alles geliebte Tochter!«

»Dad«, ermahnte sie mich leise, denn seit ihrem Junior-High-Beginn hatte ich es in die Kategorie »peinlicher Vater« geschafft. Doch trotzdem vernahm ich auch ihre Rührung in dem Ausruf, und das reichte mir aus, sie noch fester an mich zu drücken und mich mit ihr ein paarmal im Kreis zu drehen. Sie begann zu glucksen, und langsam ließ ich sie runter.

»Ich hoffe, es gefällt dir. Leider hab ich keine Ponys in der Gegend bekommen, die du dir gewünscht hast, aber vielleicht gehen Schafe auch. Sind sie nicht süß?«, fragte ich quietschend, und Ruby verdrehte grinsend die Augen. Mit ihrer wilden Art erinnerte sich mich an mich selbst, aber mit ihren dunkelbraunen welligen Haaren und den grünen Augen sah sie jeden Tag mehr wie Annie aus. Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden, und deutete mit den Daumen auf mein neues Shirt.

Dad des Jahres. »Wenn ich den Titel jetzt nicht erreicht habe, dann fällt mir leider nichts mehr ein.«

Ruby schlang ihre Arme ganz plötzlich um meinen Bauch, und ich erwiderte ihre Geste. »Den Titel hattest du auch schon früher«, flüsterte sie, und ich zeigte allen Idioten da draußen, dass auch große, tätowierte Männer weinen durften, indem ich mir mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel strich. »Oh Gott, heulst du etwa? Ich nehme alles zurück!«, kreischte Ruby geschockt.

Erneut musste ich den Frosch in meinem Hals wegräuspern. »Nein, nein, natürlich doch nicht vor deinen ganzen Freunden! Das T-Shirt gebe ich nicht wieder ab!«

Ich war froh, dass genau diese in dem Moment auf Ruby zustürmten und sie mit in den Garten nahmen, während ich ihr wehmütig hinterhersah. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich gehofft hatte, dass Ruby bald groß und selbstständig sein würde und kein hilfloses Kleinkind mehr in meiner überforderten Obhut. Allerdings erschien mir das schnelle Erwachsenwerden in diesem Augenblick gar nicht mehr so toll zu sein.

Ruby begrüßte auf dem Weg unsere Familie, meine Eltern Alice und Harry, meinen großen Bruder Graham mit seiner Freundin Liz und unsere kleine Schwester Lake, die neben ihrem Freund Wyatt stand. Sie übergaben Ruby das gemeinsame Geschenk: ein neues Fahrrad für supererwachsene Teenager, das sie sich schon ewig gewünscht hatte. So musste sie nicht mehr mit ihrem rosafarbenen Kinderbike mit der Quietscheentenklingel durch New Hope radeln.

Als ich in die glücklichen Gesichter der Menschen sah, die neben den beiden Zugezogenen Liz und Wyatt schon fast mein gesamtes Leben an Rubys und meiner Seite waren, konnte ich nicht beschreiben, wie zufrieden ich in diesem Moment sein konnte. Verdammt. Wieso war ich heute so sentimental? Vielleicht weil ein ganz bestimmtes Geburtstagspaket aus Florida von Rubys anderen Großeltern mich jedes Jahr zurück an einen Punkt warf, an dem ich nicht sein wollte. Ich zog meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge, schöne Dinge. Denn in den letzten Monaten war schon mehr passiert als in vielen davor, wobei es in unserer Bilderbuch-Kleinstadt niemals langweilig wurde. Dafür gab es zu viele Feste, witzige Stadtversammlungen und das neuste Gerücht, dass Billy, der Tankstellenbesitzer, angeblich mit Mildred aus dem Big Mountain Inn gesehen worden war. Was von allen Gerüchten hier das absurdeste war.

Ich nahm drei Treppenstufen auf einmal und schnappte mir vier Flaschen Bier in dem aufgebauten Barbecue-Bereich. Zum Glück würde mein bester Kumpel Josh heute den Grillmeister geben. Ich war ein ganz passabler Koch, aber Grills, egal welcher Art, hatten sich gegen mich verschworen.

»Hey, Leute, hat ja gut geklappt.« Ich gab meinem Dad, Graham und Wyatt jeweils eine Flasche und behielt eine.

»Ruby hat sich so gefreut!«, erwiderte meine Mom und tätschelte mir den Arm. »Das hast du gut gemacht.«

»Danke«, sagte ich lächelnd. Unsere Mutter war der gutmütigste Mensch, den ich jemals kennengelernt hatte. Was nicht bedeutete, dass sie nicht schimpfen konnte, und wie sie das konnte! Vor allem in meiner eigenen Teenagerzeit, als Graham und ich uns wie halbstarke Arschlöcher aufgeführt hatten. Aber im Grunde war Dad für die Situationen, in denen eine strenge Hand angebracht war, zuständig gewesen, und Mom war einfach Mom. Lake hatte viel von ihr, leitete seit dem Frühling nun ihr eigenes Yogastudio im Ort und war kitschig glücklich mit dem Indi-Rockstar Wyatt Lanter, der seinem wilden Leben den Rücken gekehrt und sich für meine Schwester entschieden hatte. Zusammen hatten sie ein tolles Haus am Stadtrand von New Hope gefunden, in dem Wyatt sich im Keller ein Tonstudio eingerichtet hatte und dort seine Songs schrieb.

»Sie wollte gleich eine Runde mit dem Rad drehen«, sagte Lake nun und zwinkerte mir zu, denn ich musste zugeben, sie war nicht unbeteiligt beim Organisieren dieser gesamten Party gewesen. Die Lorbeeren gehörten auch ihr und Liz, die mit ihren Freundinnen Midge und Emilia vor allem den Deko- und Kuchenbackpart übernommen hatten, während ich hier draußen mit den Männern alles aufgebaut hatte.

Liz drückte sich eng an Grahams Seite, der seinen breiten Arm um sie geschlungen hatte und sie festhielt. So glücklich wie jetzt hatte ich meinen sonst eher wortkargen, grummeligen großen Bruder seit Ewigkeiten nicht erlebt. Seitdem Liz vor gut einem Monat bei ihm eingezogen war und sie alle Hindernisse hatten aus dem Weg schaffen können, hatte er öfter gelächelt als in den einunddreißig Jahren zuvor.

Ich war froh, dass meine Geschwister die perfekten Seelenverwandten für sich gefunden hatten, und war mir sicher, dass die Anträge oder Schwangerschaften nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Doch ich war ein anderer Typ. Ich war der Dad der besten Tochter der Welt und absolut zufrieden mit meinem grandiosen Leben. Meine Schreinerei konnte sich vor Aufträgen kaum noch retten, alle waren gesund und glücklich. Bingo. Gab es etwas Besseres? Mir fehlte nichts, es reichte mir, wenn wir alle in Momenten wie diesen zusammenkamen und es für immer genau so blieb. Denn ich hatte andere Zeiten erlebt. Zeiten, die ich so tief wie möglich in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses geschoben hatte und nie wieder durchstehen wollte. Mein Leben jetzt war nicht nur fantastisch, sondern auch sicher.

Ich ließ den Blick schweifen, während die anderen sich unterhielten. Haddie und Jacob standen vor der Hüpfburg und zogen sich eben die Schuhe aus. Als sie mich sahen, winkten sie aufgeregt zu mir, und ich musste grinsen. Sie waren genau solche Kindsköpfe wie ich, und deshalb war unsere Arbeitszeit fast jeden Tag eher wie eine riesengroße Party.

Josh und seine Freundin Midge, die einen hochschwangeren Babybauch vor sich trug sowie ihren kleinen Sohn Easton an der Hand hielt, kamen auf uns zu, und wir begrüßten uns mit einer Umarmung.

»Ich hab gehört, der Grill wartet auf dich«, sagte ich an ihn gewandt, während Midge und Easton sich zu Lake und den anderen stellten.

»Und ich hab gehört, dass du auch so ein gekühltes Bier für mich hast.« Er deutete mit dem Kopf auf die Flasche.

»Das hast du richtig gehört, komm, zufälligerweise steht der Kühlschrank direkt neben dem Grill.«

»Sehr geschickt eingefädelt.«

Ich schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter, und wir liefen in Richtung meines Hauses. Eine alte Scheune, die ich mit meinen eigenen Händen mit Anfang zwanzig umgebaut hatte. Es hatte ewig gedauert, sie so hinzukriegen, dass sie zum einen bewohnbar gewesen war und zum anderen so aussah, wie ich mir das in meinen Dickschädel gesetzt hatte. Neben Ruby war diese Scheune das Projekt meines Lebens, und ich wachte jeden Morgen mit einem Grinsen und dem Blick auf die restaurierten, freigelegten Balken auf. Die hohen Industriefenster spendeten viel Licht, und ich hatte es mir nicht nehmen lassen, im Wohnzimmer und in meinem Schlafzimmer jeweils einen mit hellgrauen Steinen gemauerten Kamin zu bauen.

Ich lebte definitiv in dem feuchten Traum eines jeden Schreiners auf der gesamten Welt. Und ich liebte mein Leben. Hatte ich das schon erwähnt?

Kapitel 4

Payton

Nach meiner Kündigung oder, eher gesagt, meinem Rausschmiss fand ich es eine ziemlich gute Idee, für ein paar Tage wegzufahren, denn auch Hugo musste nach seiner Kündigung ein paar Dinge mit seiner Familie regeln. Meine beste Freundin Liz, die vor einigen Monaten von San Francisco in eine schläfrige Kleinstadt und mittlerweile dort zu ihrem neuen Freund gezogen war, hatte ich mich schon oft gefragt, ob ich nicht ein paar Tage bei ihr am See ausspannen wollte. Bisher war das durch meinen durchgetakteten Arbeitsplan und die wenigen Urlaubstage im Jahr kaum möglich gewesen. Na gut. Ich hatte selbst beschlossen zu arbeiten wie eine Besessene – und wofür? Damit ich einem chauvinistischen Idioten, dessen Bild in einem Lexikon als Paradebeispiel bei dem Begriff Patriarchat abgedruckt werden könnte, beweisen konnte, dass ich genauso gut war wie ein Mann. Lächerlich, überhaupt versuchen zu wollen, diesen Neandertaler vom Gegenteil zu überzeugen. Ich wusste selbst, dass ich es draufhatte, wieso also sollte mir die Bestätigung eines solchen Menschen irgendetwas bedeuten. Den Job zu verlieren war wohl das Beste, das mir passiert war, weil ich dadurch gezwungen wurde, endlich etwas zu ändern. Und obwohl mir all diese Dinge klar waren, flüsterte eine leise Stimme in mein Ohr, ich hätte versagt. Ich war gescheitert. Dieses Gefühl war eines der schlimmsten, die ich mir vorstellen konnte.

Also musste ich diese Gedanken abstellen und hatte überlegt, ein paar Tage auf der Hühnerfarm meiner Grandma in Oregon zu verbringen oder endlich einmal Liz’ Angebot anzunehmen und mir dieses New Hope anzuschauen. Als sie mir am Handy erzählt hatte, dass es eine nette Bar im Ort, ein fantastisches Yogastudio sowie das beste Café der Welt gab, fiel es mir nicht schwer, zwischen andauerndem Hühnergegacker und dem Ort in der kalifornischen Wildnis zu entscheiden. Liz hatte eine ziemlich harte Zeit hinter sich, und New Hope sowie ihr Freund Graham hatten ihr geholfen, ins Leben zurückzufinden. Allein deshalb musste ich der Kleinstadt schon eine Chance geben. Außerdem wohnte meine beste Freundin nun fast eine fünfstündige Autofahrt von mir entfernt, und wir konnten uns nicht mehr wie früher täglich sehen. Also hievte ich ein paar Tage später meinen Koffer aus dem Kofferraum meines heiß geliebten Ford Mustangs und atmete tief die frische, klare Luft ein, während ich die einzige Pension im ganzen Ort anstarrte. Ein uraltes Gebäude aus verwittertem Holz, das einmal in einem roten Farbton gestrichen worden war, mit schmalen Fenstern, weiß abgeblättertem Lack an den Rahmen und winzigen Balkonen vor einer Handvoll Zimmern im ersten Stock. Das Rauschen eines Wasserfalls im Hintergrund sowie die Kiefern und Tannen, die trotz des beginnenden Herbstes grün leuchteten, rundeten das Bild ab. Ein kühler werdender Spätsommerwind blies sanft über mein Gesicht, auf das sich ein Lächeln legte. Ein Ort mitten im Nichts. Und ich liebte ihn bereits jetzt.

Auch wenn meine Familie durch den Erfolg meines Dads nie von Geldsorgen geplagt wurde, war ich niemand, der viel Wert auf Luxus legte. Durch meinen Job konnte ich anpacken und brauchte kein Vier-Sterne-Hotel wie meine Mom, um glücklich zu sein. Hauptsache, ich konnte in dieser Abgeschiedenheit zur Ruhe kommen und meine Gedanken ordnen, damit ich herausfand, was ich als Nächstes tun wollte. Sollte ich den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und eine eigene Schreinerei in San Francisco mit Hugo eröffnen, so wie wir es uns schon immer erträumt hatten?

»Willst du da draußen Wurzeln schlagen, oder gibt es einen anderen Grund, weshalb du immer noch da rumstehst?«

Eine raue Frauenstimme riss mich aus meinem Tagtraum, und mein Blick wanderte zu der Eingangstür, in der eine Frau Ende sechzig stand und mich stirnrunzelnd beobachtete. Ihre fuchsroten Haare hatte sie zu einem Dutt hochgebunden, aus dem jedoch wirre, einzelne Strähnen hervorlugten. »Ich würde vorschlagen, du schiebst deinen jungen Hintern hier rein. Die Hirsche haben Brunftzeit und können hier draußen ziemlich unangenehm werden.«

»Das kann ich auch.« Ich grinste die Frau an, deren Lippen für einen Moment zuckten, als würde sie meinen Spruch mit einem überraschten Lachen erwidern wollen. Doch sie schnaubte nur, drehte sich um und verschwand im Innern, während die Tür mit einem lauten Knall hinter ihr zufiel. Okay, dann wollen wir mal, sagte ich zu mir selbst.

Ich warf meinem Auto auf dem Parkplatz direkt unter einer schattigen Tanne einen besorgten Blick zu. Hoffentlich fiel kein Zapfen auf das schöne schwarz lackierte Dach. Ich hatte jahrelang für den Wagen gespart, bis ich ihn mir vor zwölf Monaten hatte leisten können, und ich hatte nicht vor, ihn irgendwann in meinem Leben noch mal einzutauschen. Gegen eine Familienkutsche ganz bestimmt nicht und auch nicht gegen ein Monster von Geländewagen, die es hier an jeder Ecke zu geben schien.

Die Rollen meines Koffers waren auf dem unebenen Waldboden eher nutzlos, während ich mein Gepäck hinter mir herzog und auf die Pension zusteuerte. Wenn ich mich nicht anhand des Telefonats irrte, war das wohl Mildred gewesen, die Besitzerin. Wohnte sie ganz allein hier draußen? Allerdings machte sie nicht den Eindruck, als wäre das ein Problem für sie. Sie war taff, und genau das mochte ich. Ein wenig erinnerte sie mich an meine Grandma, die nach dem Tod meines Großvaters die Hühnerfarm schmiss und sich ganz sicher niemals irgendetwas von einem der Anzugträger sagen ließ, der ihr mehr als einmal das Zuhause abkaufen wollte. Definitiv war sie mein Vorbild für alle Bereiche meines Lebens. Bestimmt hätte Nonie nun ihren selbst gemachten Eierlikör ausgepackt und mit dieser Frau Schwesternschaft getrunken, bis sie beste Freundinnen gewesen wären.

Ein muffiger Geruch nach alten Teppichen schlug mir entgegen, als ich die Eingangstür öffnete. Es war ziemlich düster hier drinnen und das nicht nur wegen der schmalen Fenster. Die Möbel waren allesamt aus einem anderen Jahrhundert. Zwei Sessel in einer Ecke vor einer Treppe waren mit dunklen Flanellstoffen bezogen. Ein rustikaler runder Tisch stand daneben, darauf eine Leselampe, die die Schlacht gegen die schlechten Lichtverhältnisse hier drinnen verloren hatte. Als ich nach vorn sah, erkannte ich eine schmale Rezeption und ein altmodisches Schlüsselbrett an der Wand, an dem noch alle Schlüssel zu hängen schienen. Vielleicht war das nicht gerade ein Ort, an dem es viele Touristen gab? Auf der Fahrt hierher über die Waldstraße waren mir zumindest kaum andere Autos begegnet, doch ich wusste, dass es in der Nähe vom Nationalpark moderne Campingplätze gab. Vielleicht war die Frau deshalb so grimmig, weil viele Gäste lieber dort übernachteten? Eine Tür auf der rechten Seite öffnete sich, und die Frau trat heraus. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wütend, als hätte sie wegen irgendetwas schlechte Laune, und ich musste zweimal hinschauen … war das … Tatsächlich. Ein giftgrüner Leguan ruhte mit geschlossenen Augen auf ihrer Schulter. Sein langer, dünner Schwanz war um ihren Hals geschlungen und erinnerte an eine feingliedrige Kette. Das Tier war mir bei unserer ersten Begegnung gar nicht aufgefallen, oder hatte sie ihn eben erst geholt?

»Was glotzt du so? Noch nie eine alte Frau mit einem Leguan gesehen?« Sie verschwand hinter dem Rezeptionstresen und stellte sich vor mich.

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich ehrlich bin, nein. In San Francisco gibt es viele verrückte Sachen, aber das habe ich tatsächlich noch nicht gesehen.«

»Du willst also sagen, ich bin verrückt?« Wieder kniff sie die Augen zusammen und fixierte mich.

»Das können Sie nicht wirklich abstreiten.«

Diesmal grinste sie definitiv ein wenig, und ich atmete auf. Nicht jeder kam mit meiner direkten Art klar, aber ich hielt es für besser, meinem Gegenüber immer offen und ehrlich entgegenzutreten. Aufrichtigkeit und Loyalität waren für mich auch das Wichtigste bei anderen Menschen. Wenn diese beiden Punkte nicht passten, gab es nicht sehr viele Dinge, die die fehlenden wiedergutmachen konnten. Leider hatte meine Erfahrung gezeigt, dass die meisten Männer genau das nicht beherzigten. Mein Dad war da sicherlich mit dem miesesten Beispiel vorangegangen. Wahrscheinlich hielt ich es deshalb für besser, mich nicht fest zu binden, und bis jetzt fuhr ich ganz gut damit.

Die Frau drehte sich zum Brett um und zog einen Schlüssel daran ab, den sie mir hinschob. Zimmer Nummer drei, immerhin meine Glückszahl.

»Auf der Suche nach einem Abenteuer, Großstadtmädchen, oder auf Verwandtenbesuch?«

»Der Besuch. Allerdings meine beste Freundin, die hierhergezogen ist.«

»Und du hast deinen Job verloren und brauchst eine Pause«, stellte sie fest, als würde sie mich kennen. Ich presste kurz die Lippen aufeinander, um abzuwägen, ob sie eine waschechte Hexe war, die meine Gedanken lesen konnte, und wenn ich an etwas glaubte, dann definitiv an Magie. Doch ich verwarf diese Gedanken wieder. Die Frau war ruppig, aber in Ordnung, weshalb ich keine Angst vor ihr zu haben brauchte, das spürte ich sofort.

»Hundert Punkte. Außerdem wollte ich hier schon immer mal Urlaub machen, ich hab schon so viel von Ihrer wunderschönen Pension im Grünen gehört«, zog ich sie auf.

Erneut zuckten ihre Lippen, allerdings nur kurz. »Zimmer Nummer drei, es gibt weder Frühstück noch Mittagessen. Abendessen kriegst du in der Stadt oder in Yuma’s Steakhouse, ein paar Meilen hier die Hauptstraße runter«, meinte sie, ohne auf meinen Scherz einzugehen.

»Wie heißt der Kleine denn?«, fragte ich und deutete auf den Leguan, der, als hätte er meine Worte verstanden, die Augen aufriss und mich anstarrte. Oh wow. Was fraßen Reptilien eigentlich?

»Eugene«, antwortete sie.

Irritiert blinzelte ich ein paarmal, weil ich nicht wusste, ob sie sich über mich lustig machte oder nicht.

»Wie mein Ex-Mann«, fuhr sie glucksend fort. »Wobei ich das ein wenig bereue, denn Eugene hat nicht den Namen eines solchen Widerlings verdient.« Ihre Stimme wurde ganz weich. Während sie den Leguan mit dem Zeigefinger unter dem Kinn kraulte, schloss der erneut die Augen und genoss die Streicheleinheit. Es war ein verrücktes Schauspiel. Man konnte nicht wegschauen und wusste gleichzeitig, es wäre besser, wenn man es täte.

»Also, Zimmer Nummer drei«, murmelte ich und nahm den Schlüssel. »Dann bis später beim Abendessen.« Ich zwinkerte ihr belustigt zu, doch die Frau starrte mich an, als hätte sie vergessen, dass ich überhaupt da war. »Ich bin übrigens Payton. Wir haben uns noch nicht richtig vorgestellt.«

»Mildred.« Damit wandte sie sich ab und verschwand wieder in der Tür, aus der sie gekommen war. Ein Lächeln lag auf meinen Lippen, denn irgendwie mochte ich sie. Auch wenn sie und Eugene ein wenig schräg waren. Doch mit schräg konnte ich besser umgehen als mit von sich überzeugten Idioten.

Nachdem ich das Zimmer betreten hatte, in das kaum das Doppelbett und der schmale Kleiderschrank passten, riss ich die dunklen Vorhänge zur Seite, und mein Herz pochte vor Freude wild gegen meinen Brustkorb. Der Wasserfall, den ich bei meiner Ankunft gehört hatte, stürzte direkt vor meinen Augen in die Tiefe. Wahrscheinlich hatte mir Mildred das schönste Zimmer gegeben, weil sie mich doch irgendwie mochte. Zumindest wollte ich mir das einreden. Ich öffnete das Fenster und atmete die feuchte Luft ein, die sofort in meine Lungen drang. Das Geräusch der Wassermassen, die von den in der Sonne funkelnden Felsen schnellten und sich in einen kleinen See ergossen, war beeindruckend. Er entwickelte sich an einem Ende zu einem ausgewachsenen Fluss und strömte durch die Tannen und Kiefern davon. Das Rauschen erinnerte mich an das stetige Flüstern von San Francisco, einer Stadt, die niemals stillstand, und ich konnte kaum erwarten, dass ich mit dieser Geräuschkulisse heute Abend entspannt einschlafen konnte.

Aber zuerst wollte ich endlich New Hope erkunden und vor allem meine beste Freundin Liz treffen, die mir schon in zahlreichen Nachrichten heute Vormittag geschrieben hatte, wie sehr sie sich auf mich freute.

Als ich die Tür des Books & Cakes aufmachte, strömte mir ein himmlischer Duft von frisch gebrühtem Kaffee und köstlichem Kuchen entgegen. Der erste umwerfende Eindruck, den die deckenhohen massiven Bücherregale, gefüllt mit allen möglichen Schätzen, auf mich hatte, wurde durch das leise Pling des Glöckchens an der Tür begleitet.

Leider schaffte ich es zu Hause nie, ein Buch zu Ende zu lesen, weil meine Gedanken ständig um alle möglichen Dinge kreisten. Doch in meinen Urlauben versuchte ich es immer wieder. Vielleicht war diesmal die richtige Zeit.

Noch bevor ich mich wirklich richtig umschauen konnte, entdeckte ich Liz, die mit ihren neuen Freundinnen Lake und Midge an einem Tisch saß. Ich hatte die beiden während eines Videoanrufs kurz kennengelernt. Umso mehr war ich auf dieses Treffen gespannt. Wenn Liz sie mochte, konnten sie nur toll sein.

Sowie Liz mich entdeckte, sprang sie auf, und wir fielen uns mitten in dem belebten Café in die Arme. Die anderen Gäste, die aufgrund unseres Freudequietschens neugierig aufsahen, beachteten wir nicht weiter.

»Wow, du siehst großartig aus!«, sagte ich und schob meine beste Freundin ein Stück zurück, um sie besser betrachten zu können. Ihre blonden Haare waren wellig und seidig, ihre Haut vom Sommer an dem See gebräunt und mit Sommersprossen übersät. Im Gegenzug zu meiner blassen Haut, die kaum mehr als die Leuchtstoffröhren an der Decke der Schreinerei und Stroboskoplichter in Clubs erblickt hatte.

»Und du siehst so toll wie immer aus!«, erwiderte sie dermaßen strahlend, dass sie den ganzen Raum erhellte. Ein ganzes Jahr hatte sie kein einziges Wort sprechen können, und unsere letzte Begegnung war deutlich zu lange her gewesen. Ich hatte sie so vermisst, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitet hatte. Sie war immer ein eher stilles, trauriges Mädchen gewesen, auch schon zu unserer gemeinsamen Highschoolzeit, doch nun war sie ein völlig anderer Mensch. Sie sprühte vor Leben!

»Diese Stadt tut dir unglaublich gut! Oder ist es der heiße Riese?«, senkte ich die Stimme zweideutig.

Liz wurde rot. »Ja, das tun sie beide.« Sie nickte grinsend. »Umso schöner, dass du jetzt auch hier bist! Du hast mir so gefehlt!«

Wieder schloss ich sie fest in die Arme, ehe wir uns losließen und ich auch Midge und Lake mit einer Umarmung begrüßte. Ich war froh, dass Liz solche Freundinnen hier gefunden hatte. Lake war sportlich schlank und hatte eine unglaubliche Leichtigkeit an sich, und das lag nicht nur an dem chutneyfarbenen, locker fallenden Kleid, das fast bis zum Boden reichte und das sie mit derben Boots kombiniert hatte, die ihren Look noch untermalten. Auch ihr Lächeln war offen, herzlich und glich einem Strahlen. Midge umarmte ich vorsichtiger.

Lachend tätschelte diese ihren Babybauch, den sie unter einer weiß gepunkteten Schürze, passend zu dem Band in ihren schwarzen Haaren, versteckte. »Sorry, Umarmungen sind nicht so einfach wie früher. Als Wal ist das Leben definitiv schwerer.«

»Ach Quatsch, du siehst toll aus! Wann ist es denn so weit?«, fragte ich.

»Erst ungefähr im März.« Sie seufzte einmal tief durch, aber auch wenn sie genervt tat, merkte man ihr deutlich an, wie glücklich sie war. »Und ich bin jetzt schon eine Tonne.«

»Aber eine wunderschöne Tonne«, erwiderte Lake und zwinkerte ihr zu. »Solange du den herabschauenden Hund besser hinbekommst als Mrs. Appleworm, ist doch alles gut.«

»Das ist auch nicht schwer«, antwortete Midge grinsend. Wir gingen gemeinsam zurück zu dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, doch auf dem Weg dorthin rief ein anderer Gast nach Midge, und sie entschuldigte sich kurz.

»Wer ist Mrs. Appleworm?«, fragte ich, während wir uns setzten.

»Der größte Gossipfan des Ortes. Abgesehen von Lakes Bruder Brax.« Liz lachte, und Lake stimmte mit ein.

»Du wirst sie sicherlich bald kennenlernen«, sagte Lake.

»Wen genau? Mrs. Appleworm oder Brax?« Ein wenig spürte ich, wie sich Aufregung in das aufgeputschte Gefühl, das ich bereits den gesamten Morgen hatte, mischte. Brax hatte ich tatsächlich einmal kurz bei dem Videoanruf von Liz auf Lakes Einweihungsparty gesehen. Es war nur ein flüchtiger Blick auf einen großen, tätowierten Mann mit dunkelblonden, verwuschelten Haaren und einer rauen Stimme, bei der den Frauen hier wahrscheinlich reihenweise die Klamotten wegflogen. In jedem Ort der Welt gab es mindestens einen Aufreißer, und ich musste nicht viel von New Hope gesehen haben, um sicher zu sein, wer hier diese Rolle einnahm. Ich war eine Frau, die wusste, was sie wollte und es sich auch nahm, wenn es sich gut anfühlte. Spätestens in ein paar Wochen war ich weg; was sprach also gegen ein bisschen Spaß mit einem Typen, der allem Anschein nach ohnehin keine Beziehung wollte. Was gab es Besseres, um abzuschalten? In meiner momentanen Situation nicht viel. Vorausgesetzt, ich würde damit niemanden verletzen.

»Wenn du Glück hast, beide«, beantwortete Lake grinsend meine Frage. »Aber vorrangig Mrs. Appleworm.«

»Hey, komm doch morgen früh zu einer von Lakes Yogastunden! Dort triffst du sie bestimmt!«

»Ziemlich gute Idee. Ich brauche sowieso ein wenig Entspannung. Dafür bin ich hier.«

»Übrigens, das mit deinem Job tut mir leid«, sagte Liz nun, und ihre Freude war ein wenig gedämpfter.

»Ist schon okay. Irgendwie bin ich auch freiwillig gegangen, mein Ex-Chef hat mir einen riesigen Gefallen getan.«

»Jetzt bleibst du erst einmal ein paar Tage hier, und du wirst sehen, viele Dinge lösen sich hier einfach in der klaren Luft auf.«

Ich erwiderte Liz’ Lächeln und drückte ihre Finger. »Davon gehe ich aus. Vor allem, wenn ich an die Besitzerin der Pension denke, in der ich untergekommen bin. Mildred hat einen Leguan. Wusstet ihr das?«

»Nein, ich nicht«, erwiderte Liz überrascht und sah Lake an, die nur belustigt mit den Schultern zuckte.

»Mildred ist schon eine Nummer für sich. Sie ist ein wenig ruppig, aber hat ein gutes Herz. Brax war während seiner Schulzeit ziemlich dicke mit ihrem Neffen Jackson befreundet, der mit fünfzehn zu ihr gezogen ist. Er hatte es nicht leicht, doch Mildred hat alles gegeben, damit er sich hier wohlfühlt, trotz ihrer nicht so einfachen Art.«

»Und dann? Das klingt, als gäbe es kein Happy End«, stellte ich fest.

Lakes Gesichtsausdruck wurde ernster. »Es gab da einen Vorfall mit Cassidy Williams, die in der Nähe der Zeitungsredaktion mittlerweile das Maklerbüro Dream House betreibt. Daraufhin ist Jackson, als er achtzehn war, nach Chicago auf irgendeine Universität verschwunden und hat sich nie wieder hier blicken lassen. Mildred ist seitdem …« Lake suchte nach dem richtigen Wort. »… noch menschenscheuer als ohnehin schon. Meine Mom bringt ihr zweimal in der Woche Essen, sie ist wohl die Einzige hier, mit der sie noch so richtig Kontakt hat.«

»Wie schade für Jackson und Mildred«, sagte Liz, und auch ich konnte mir vorstellen, dass Mildred sich mit ihrer rauen Art nur schützen wollte. Ich beschloss, ihr auf jeden Fall ein Stück von Midges köstlichen Kuchen mitzubringen, vielleicht munterte sie das etwas auf.

Lake seufzte. »Aber das ist jetzt schon elf Jahre her, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Jackson noch mal zurückkommt. Ich hoffe nur, dass Mildred irgendwann damit abschließen kann.«

»Das hoffe ich auch für sie«, meinte ich.

»Aber ich wollte dich mit dieser Geschichte jetzt nicht gleich von Anfang an vergraulen. Ansonsten ist New Hope ein Ort voller Sonne, selbst wenn diese nicht scheint!«

»Davon gehe ich aus. Auf dem Weg hierher habe ich eine Eisdiele entdeckt, und wo ist diese angeblich superheiße Bar?«

Lakes Strahlen kam zurück, und sie berichtete mir gemeinsam mit Liz, die ihre Begeisterung definitiv teilte, über alle Plätze, die sie mir zeigen müsste. Antoine’s Ice, Ginger’s Bar & Billard, das China-Restaurant Wang, das Pfadfindercamp, in dem Liz arbeitete, und noch viele weitere Orte. Ich konnte es kaum erwarten.

Midge brachte uns eine riesige Platte, auf der alle möglichen Sorten von Kuchen, Torten und anderes Gebäck zu finden war. Wir machten uns in der nächsten Stunde darüber her, während Lake und Liz mich in die Geheimnisse der Stadt einweihten und über ein gigantisches Halloweenfest berichteten, das in einem Monat, Ende Oktober, stattfinden sollte.

»Da komme ich euch definitiv besuchen!«, nuschelte ich mit vollem Mund, während ich meine Gabel erneut in das beste Stück Schokoladentorte tauchte, die ich je gegessen hatte. Midge hatte gehackte Pistazien auf die Schokoglasur gestreut, und ich fühlte mich, als wäre ich im Himmel.

»Wer weiß, vielleicht bist du bis dahin noch hier«, erwiderte Liz hoffnungsvoll.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, wer weiß. Bisher ist noch kein neuer Job in Aussicht, doch bestimmt fängt mein Dad spätestens in einer Woche damit an, mich deswegen zu nerven. Er war außer sich, als ich meinen Eltern von meiner Kündigung erzählt habe.«

»Will er immer noch, dass du in sein Architekturbüro einsteigst?«

»Ich bin nicht der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, aber ich glaube, er will das Familienansehen wahren und den anderen zeigen, dass er mich im Griff hat. Eine Stokes, die nur Schreinerin ist, passt nicht zu seiner Vorstellung, die er für meine Zukunft hat.«

»Die beste Schreinerin der Welt, hast du vergessen! Du bist großartig in deinem Job!«, versuchte mich Liz aufzuheitern.

»Hey, was wäre, wenn du Brax um Arbeit bittest?«, schob Lake aufgeregt ein. »Ihm gehört die Schreinerei Woodworker hier im Ort, und so wie ich es bei unseren Familienessen mitbekomme, kann er sich nach einem Superauftrag in San Francisco gar nicht mehr vor neuen Anfragen retten! Er sucht sicherlich noch eine begnadete Schreinerin!«

»Das klingt toll, aber …« Ich seufzte. »Nach meinem letzten Chef und den ganzen anderen Männern, die ich in der Branche kennengelernt habe, will ich etwas Eigenes. Ich will nicht schon wieder nur eine Handlangerin sein, während jemand anderes meine Lorbeeren einsammelt, weißt du.«

»Ja, das kann ich gut nachvollziehen!«, erwiderte Lake. »Als ich das Studio aufgemacht habe, musste ich zuerst gegen hundert Meinungen ankämpfen, die mir sagten, dass ich es nicht schaffen kann.« Sie lächelte mich an. »Und das wirst auch du! Du wirst eine großartige Schreinerei eröffnen!«

Ich wollte daran glauben, wirklich. Allerdings war da nicht nur die Sache, dass ich meinen Dad um einen Kredit bitten musste, weil ich mit meinen Rücklagen und ohne einen festen Kundenstamm niemals etwas von einer Bank bekommen hätte, sondern da waren auch meine eigenen Zweifel. Konnte ich das wirklich? Eine Schreinerei leiten und es besser machen als alle anderen, bei denen ich gearbeitet hatte? Ich hoffte es sehr. Also setzte ich erneut mein Lächeln auf und probierte auch noch einen Karotten-Cupcake mit Vanille-Frosting.

»Oh mein Gott«, stöhnte ich und schloss genussvoll die Augen. »Midge, wie machst du das?«, rief ich durch das Café, und sie zuckte hinter der Theke nur grinsend mit den Schultern.

»Sie ist die Beste, oder?«, sagte Liz in ihrem eigenen Zuckerdelirium.

Und wie sie das war! Während die anderen wieder in eine angeregte Unterhaltung verfielen, schaute ich kauend durch die Scheiben nach draußen auf die belebte Straße der Innenstadt. Hier war es gar nicht mal so verschlafen, wie ich vermutet hatte. Zwei ältere Männer saßen gegenüber auf einer Bank und sprachen jeden an, der vorbeilief. Eine Frau rannte mit einem breit grinsenden Kind an der Hand auf den Eisladen zu, und ein blonder Typ stellte eine Kreidetafel mit Angeboten vor einen Blumenladen.

In dem Moment fuhr ein dunkelgrüner VW-Pick-up mit weißer Aufschrift Woodworker am Laden vorbei, und ich schaute ihm nach. Die Ladefläche war voll mit Holz, und ich brauchte nicht zweimal hinzusehen, um zu wissen, wer hinter dem Lenkrad saß. Nur leider konnte ich im Innenraum nicht viel erkennen, weil die dunklen Scheiben das Licht der Sonne reflektierten. Plötzlich wurde ich unruhig, und mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. War es, weil Brax und ich die gleiche Leidenschaft teilten oder weil der erste verschwommene Blick auf ihn durch das Display meines Handys ausgereicht hatte, dass ich mehr über ihn wissen wollte? Vielleicht würde ich schon bald die Gelegenheit bekommen, das zu ergründen.

Kapitel 5

Braxton

»Warum sollte man nie Cola und Bier zusammen trinken?«

»Oh Mann, Dad, hör auf damit!« Ruby stöhnte genervt, aber Haddie und Jacob sahen mich gespannt an.

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