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Nordwesttod & Nordwestzorn

Zwei packende St. Peter-Ording Krimis in einem Band!

Nordwesttod
Aus der Landeshauptstadt Bayerns ins ferne Kiel: Kommissarin Anna Wagner braucht nach ihrer Scheidung einen Tapetenwechsel. Sie zieht in den Norden, um im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein eine Stelle aufzubauen, die auf Vermisstenfälle spezialisiert ist. Gleich ihr erster Fall führt sie nach St. Peter-Ording an die Nordseeküste: Nina Brechtmann, eine junge Umweltaktivistin aus einer einflussreichen Hoteliersfamilie, wird vermisst. Hat ihr Verschwinden etwas mit den aggressiven Expansionsplänen ihrer Familie zu tun, wurde sie vielleicht entführt? Oder hütete die junge Frau ein Geheimnis? Anna Wagner und der örtliche Dienststellenleiter Hendrik Norberg ermitteln unter Hochdruck, denn niemand weiß, wann genau Nina Brechtmann verschwunden ist … und jede Minute zählt.

Nordwestzorn
Der neue Fall von Kommissarin Anna Wagner entspringt dem Albtraum aller Eltern: Vor mehr als 15 Jahren verschwand ein Junge aus einem Sommercamp bei St. Peter-Ording, eine Leiche wurde nie gefunden. Im Fokus der Ermittlungen standen damals drei Männer, von denen allerdings nur der Leiter des Camps angeklagt und nach einem öffentlichkeitswirksamen Indizienprozess freigesprochen wurde. Den Verdacht, sich an dem Jungen vergangen zu haben, konnte jedoch keiner der Männer je wieder vollständig abstreifen. Als der damalige Camp-Leiter nach vielen Jahren im Ausland nach St. Peter-Ording zurückkehrt und nach kurzer Zeit spurlos verschwindet, ist der Soko schnell klar: Nur wenn sie den alten Fall lösen, haben sie vielleicht eine Chance, den Mann lebend zu bergen …


  • Erscheinungstag: 11.03.2022
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 1 + 2
  • Seitenanzahl: 605
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905195
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Svea Jensen

Nordwesttod & Nordwestzorn

HarperCollins®

Copyright © 2021 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung: Jörg Farys, Francesca Petrony / Getty Images,
ZaZa Studio, Resul Muslu / Shutterstock
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950041

www.harpercollins.de

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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

PROLOG

Die beiden Schutzpolizisten hatten schon so manches in ihrem Leben gesehen, aber der Anblick, der sich ihnen in dieser regennassen Nacht kurz vor ein Uhr auf der Koogstraße bot, würde sie noch lange Zeit bis in ihre Träume hinein verfolgen.

Die nächtliche Routinefahrt, die sie auf unterschiedlichen Wegen über Teile der Halbinsel Eiderstedt geführt hatte und die gegen zwei Uhr am Morgen in St. Peter-Ording enden würde, war bis zu diesem Zeitpunkt ereignislos verlaufen. Vor einer halben Stunde hatte ein feiner Sprühregen eingesetzt, der den Staub der Straße in einen gefährlichen Schmierfilm verwandelt hatte.

Sören Rohde und Lars Klüver fuhren jetzt seit zehn Jahren gemeinsam Streife. Die beiden Oberkommissare waren ein eingespieltes Team und auch privat miteinander befreundet. Ihre Zusammenarbeit wurde von keinerlei Konkurrenzkampf beeinträchtigt; sie wussten, dass sie sich blind aufeinander verlassen konnten. Nur an einem Punkt kamen sie in der letzten Zeit so gar nicht zusammen.

»Der Neue wird frischen Wind reinbringen«, davon war Rohde überzeugt. »Claas ist doch ziemlich behäbig geworden in letzter Zeit und hat sich nur noch mit seinem bevorstehenden Ruhestand beschäftigt. Außerdem hat er den Biss verloren und schiebt wichtige Entscheidungen ewig vor sich her.«

»Aber bei Claas wusste man immer, woran man ist und was man bekommt«, erwiderte Klüver und regulierte das Intervall der Scheibenwischer, als der Regen an Stärke zunahm. Ein schabendes Geräusch bei jedem zweiten Schlag ließ ihn seine Entscheidung wieder korrigieren. »Wer weiß, was da mit dem Neuen auf uns zukommt! Ein Mordermittler aus Itzehoe, der sich zur Schutzpolizei versetzen lässt, wann hat es so was schon mal gegeben? Der wird doch den ganzen Laden umkrempeln.«

»Mensch, Lars, du kennst doch die Hintergründe für diese Versetzung. Der Mann hat nun wirklich einiges durchgemacht. Ich habe jedenfalls Respekt vor seiner Entscheidung, denn die dürfte ihm mit Sicherheit nicht leichtgefallen sein.«

Klüver schnaubte und setzte zu einer Antwort an, als die Scheinwerfer ein Objekt erfassten, das vor ihnen auf der Straße lag. Er bremste abrupt, die Reifen blockierten, aber der Wagen kam rechtzeitig zum Stehen.

Der Mann war noch jung, sein Körper lag merkwürdig verdreht auf der Fahrbahn. Der rechte Arm war angewinkelt, der linke ausgestreckt, die Beine übereinandergeschlagen. Auf seiner Stirn klaffte eine große Wunde, das Gesicht und das ehemals weiße T-Shirt waren blutverschmiert. Ohne zu zögern, stürzten die Polizisten aus dem Wagen. Atemlos überprüfte Rohde die Vitalfunktionen des Mannes, auch wenn ihm die weit aufgerissenen Augen verrieten, dass hier jede Hilfe zu spät kam.

»Scheiße!« Er blickte auf die Gegenfahrbahn, wo im Licht der Autoscheinwerfer in knapp drei Metern Entfernung ein weiterer menschlicher Körper lag, neben dem sein Kollege gerade niedersank.

»Das ist ein Kind!«, rief Klüver, und Rohde hörte die Erschütterung in dessen Stimme.

»Lebt es noch?« Rohde sprang auf und lief zu seinem Kollegen hinüber.

Klüver hatte sich zu dem Körper hinuntergebeugt, jetzt richtete er sich wieder auf und begann mit einer Herzdruckmassage. Der Junge war vielleicht zehn Jahre alt, mit blonden Locken, Jeans und einem Batman-Shirt. Auf den ersten Blick konnte Rohde keine äußeren Verletzungen entdecken.

»Ruf einen RTW, er lebt noch!«, rief Klüver ihm zu.

Rohde rannte zum Streifenwagen zurück und machte Meldung bei der Leitstelle, bevor er mit der Absicherung der Unfallstelle begann und das zerbeulte Mofa am Straßenrand sicherstellte. Im Licht seiner Taschenlampe begann er die Straße abzusuchen, die Grasstreifen und die dahinterliegenden mit Schilf bewachsenen schmalen Wasserläufe zu beiden Seiten. Vorwärtsgetrieben von der verzweifelten Hoffnung, irgendwelche Gegenstände zu finden, die ihnen etwas über den Unfallverursacher verraten würden. Doch das Licht durchdrang die Dunkelheit nur unvollständig, und der Regen, der sich mittlerweile zu einem Wolkenbruch entwickelt hatte, tat ein Übriges, um die Sicht zu erschweren. Rohde fluchte. Allein würden sie es nicht schaffen. Da mussten die Scheinwerfer der Spurensicherung ran. Denn irgendetwas fand sich immer nach einem Autounfall mit Personenschaden. Teile eines kaputten Scheinwerfers oder Blinkers, Absplitterungen einer Stoßstange, wichtig waren auch Reifen- oder Bremsspuren. Allerdings hatte er aufgrund des Regens wenig Hoffnung, was Letzteres betraf.

Während er zu seinem Kollegen zurücklief, überkam Rohde eine heiße Wut auf den Menschen, der das hier verursacht hatte, und er schwor sich, alles daranzusetzen, um dieses elende Schwein zu finden.

Klüver saß jetzt auf dem nassen Asphalt, der Kopf des Jungen lag in seinem Schoß. Unaufhörlich strich er über das feingliedrige Gesicht und die Haare, die sich vor Nässe kräuselten.

»Ist er …?« Rohde brachte die Frage nicht über die Lippen.

Klüver nickte, und als er aufblickte, sah Rohde Tränen in seinen Augen schimmern.

Eine Woche später

Sonnabend, 27. Juni

Mit dem Setzen des Grabsteins würde es wohl noch ein bisschen länger dauern als ursprünglich erwartet, hatte der Steinmetz gerade am Telefon gesagt. Er hätte sich das Grab gestern angeschaut und dabei festgestellt, dass die Erde noch längst nicht so verdichtet sei, wie er gehofft habe. Und man wolle ja nicht, dass der Stein in eine Schieflage geriete oder womöglich sogar umfiele. Dann lieber noch ein, zwei weitere Monate warten.

Hendrik Norberg hatte sich diese Aussage zunächst kommentarlos angehört, dann brach es aus ihm heraus.

»Die Beerdigung meiner Frau liegt jetzt drei Monate zurück, und Sie hatten mir seinerzeit versichert, dass bei einem Sandboden innerhalb von sechs Monaten der Stein gesetzt werden kann. Und jetzt gilt das auf einmal nicht mehr?« Seine Stimme war laut geworden, die linke Hand zur Faust geballt.

»Ja, nun«, erwiderte der Steinmetz, »davon war ich auch ausgegangen, aber man steckt halt nicht drin.«

Norberg sparte sich eine Antwort, denn was hätte sie gebracht? Er beendete das Gespräch und feuerte das Smartphone in die Sofaecke.

Er musste hier raus. Noch eine Sekunde länger in dem Haus, das ihm so viele Jahre Geborgenheit gegeben hatte, und er würde durchdrehen. Zum Deich war es nicht weit, dann runter durch die Salzwiesen an den Strand, wo selbst jetzt in der Hochsaison nie so viel los war wie an den Stränden in Bad oder Ording.

Das Joggen strengte ihn an. Er war aus der Übung und wechselte in einen schnellen Schritt. Trotzdem war er vollkommen erschöpft, als er den Südstrand erreichte und die Stufen zum Pfahlbaurestaurant Strandhütte erklomm. Er hatte Glück und ergatterte einen Platz im Außenbereich, wo sich gerade ein Pärchen von einem Zweiertisch erhob. Hoffentlich würde der Stuhl neben ihm frei bleiben, ihm stand nämlich nicht der Sinn nach Gesprächen, die einem Touris, erst recht solche, die allein unterwegs waren, häufig aufzudrängen versuchten.

Das erste Glas Wasser leerte er in einem Zug, vorsichtshalber hatte er eine Flasche bestellt, um den Flüssigkeitsverlust wieder auszugleichen. Er lehnte sich im Stuhl zurück und streckte die Beine aus.

Die Angelegenheit mit dem Grabstein setzte ihm zu, und der Anpfiff, den er dem Steinmetz verpasst hatte, zeigte deutlich, dass seine Nerven noch immer blank lagen. Der Mann konnte ja nichts für die Umstände, aber, verdammt noch mal, Norberg wollte, dass Kathrins Grab endlich in Ordnung kam und mit den Blumen bepflanzt werden konnte, die sie geliebt hatte. Er sehnte sich verzweifelt nach einem Ort, an dem er trauern konnte. War das denn zu viel verlangt?

»Hendrik!«

Norberg war so in seine Gedanken vertieft, dass er zusammenschrak, als er die Stimme neben sich vernahm. Sobald er aufblickte und sah, wer dort stand und ihn mit leichter Verunsicherung anschaute, überfiel ihn das schlechte Gewissen mit Macht.

»Philipp.« Norberg erhob sich, zögerte einen Augenblick und drückte den langjährigen Freund dann etwas ungelenk. Er deutete auf den freien Stuhl, obwohl ihm auch nicht nach einem Gespräch mit Philipp war. Aber er konnte ihn nicht länger abwimmeln. »Setz dich doch.«

Philipp Hartwigsen kam der Aufforderung nach. »Wie geht es dir?«, fragte er, als sich das Schweigen dehnte und unangenehm zu werden drohte.

»Geht so.«

»Ich hab gehört, dass du ab nächster Woche in unserer Polizeistation arbeitest.«

Falsches Thema. »Hat sich das schon rumgesprochen?« Als Norberg sich des verständnislosen Ausdrucks in Hartwigsens Gesicht gewahr wurde, hob er die Hand in einer entschuldigenden Geste. »Sorry, Philipp, ich wollte dich nicht anraunzen … Es ist nur …« Er brach ab, weil sich wieder dieser elende Kloß in seiner Kehle formte, der seit Kathrins Tod nahezu jedes Gespräch im Keim erstickte.

»Ich weiß nicht mehr weiter, Hendrik«, sagte Hartwigsen, nachdem ein Kellner ihm einen Kaffee gebracht hatte. In seinen dunklen Augen stand die pure Hilflosigkeit. »Seit Kathrins Tod schottest du dich ab und gibst keinem deiner Freunde eine Möglichkeit, dir beizustehen. Das kann doch nicht ewig so weitergehen.«

»Es tut mir leid«, stieß Norberg hervor, und er meinte es auch so. Aber es gelang ihm einfach nicht, über seinen Schatten zu springen. »Woher weißt du es?«, brachte er schließlich heraus.

»Finn hat es Daniel erzählt. Dein Sohn scheint vor Stolz zu platzen, dass du bald in Uniform rumläufst und er mit dir angeben kann.« Hartwigsen schmunzelte. »Ein Polizist in Zivil scheint für ihn kein echter Bulle zu sein.«

Norberg bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, aber der Versuch misslang kläglich. Vom erfolgreichen Mordermittler zum Schupo, was für ein Abstieg! Er hielt nach wie vor die größten Stücke auf die Kollegen der Schutzpolizei und hatte sie nie als Zuarbeiter der Kripo gesehen, wie andere es taten. Schließlich hatte er vor seinem Wechsel zur Kripo ja auch einmal zu ihnen gehört. Trotzdem machte es ihn fertig, dass er ab Montag wieder in Uniform herumlaufen würde. »Dann gefällt es ja wenigstens einem in der Familie.«

»Du hast es wegen der Jungs gemacht, oder?«

Norberg starrte auf das Wattenmeer, das glitzernde Wasser der Nordsee in der Ferne. Es war Ebbe, da musste man ein ganzes Stück laufen, bis man das Wasser erreichte. »Ich wollte den beiden keinen Ortswechsel zumuten. Kathrins Tod setzt ihnen schwer zu, da sollen sie wenigstens in ihrer vertrauten Umgebung bleiben.« Ihm wurde bewusst, dass er bisher mit keinem seiner wenigen Freunde über den beruflichen Wechsel gesprochen hatte. Wie bei so vielem hatte er auch diese Angelegenheit wieder mit sich allein ausgemacht. Eine Angewohnheit, mit der Kathrin häufig nicht glücklich gewesen war.

»Es ist die richtige Entscheidung, Hendrik. Solange Kathrin noch lebte, war es nicht so schlimm, wenn du unter der Woche aufgrund der Arbeit mal nicht nach Hause kommen konntest. Aber jetzt brauchen die Jungs dich mehr denn je. Das können Kathrins Eltern nicht auffangen.«

Norberg nickte. Das alles war ihm vollkommen klar, aber trotzdem würde er noch lange mit dieser Entscheidung hadern. In einem Monat hätte er zum Leiter der Itzehoer Mordkommission ernannt werden sollen, ein Posten, auf den er lange hingearbeitet hatte. Alles für die Katz, stattdessen würde er jetzt die Polizeidienststelle in St. Peter-Ording leiten, wo ihn fünf Kollegen erwarteten, die er während der Übergabe in den vergangenen Wochen bereits kennengelernt hatte.

»Willst du nicht mal wieder zu uns kommen?«, fragte Hartwigsen nach einer Weile des erneuten Schweigens.

»Ich weiß nicht …« Norberg zögerte, seinem Freund eine Abfuhr zu erteilen, aber er fühlte sich einfach noch nicht gewappnet für ein Treffen, bei dem sie unweigerlich auf Kathrins Tod zu sprechen kämen. Auf die endlosen Monate, die diesem vorangegangen waren, in denen er sich bemüht hatte, seinen Beitrag zu ihrer Pflege zu leisten und gemeinsam mit ihr der Diagnose ALS die Stirn zu bieten, und doch Tag für Tag aufs Neue das Gefühl gehabt hatte, kläglich zu versagen. »Gib mir noch ein bisschen Zeit, okay?« Er erhob sich, auch wenn er wusste, dass Hartwigsen nicht weiter in ihn dringen würde, aber plötzlich wurde ihm wieder alles zu viel. »Ich muss nach Hause und mich um das Mittagessen kümmern. Finn hat heute noch ein Abschlusstreffen mit seiner Klasse, aber zum Essen steht er immer pünktlich auf der Matte.« Mit Lasse sah das anders aus, aber Norberg hoffte trotzdem, dass sie heute mal wieder alle zusammen essen würden.

»Wir sind die ersten beiden Ferienwochen noch hier, weil Beate noch arbeiten muss. Ich wollte mit Daniel einige Tagesausflüge unternehmen. Ist es okay, wenn wir Finn mitnehmen?«

Norberg fiel ein Stein vom Herzen, denn er hatte schon überlegt, was er mit seinem Jüngsten in den am Montag beginnenden Sommerferien machen sollte. Lasse war in der Hinsicht kein Problem, der beschäftigte sich am liebsten mit sich selbst, aber Finn wollte ständig etwas unternehmen. »Das wäre eine große Erleichterung für mich. Corinna wird sich zwar tagsüber erst einmal weiter um die Jungs kümmern, aber ich möchte ihr jetzt nicht auch noch die tägliche Bespaßung von Finn zumuten. Du weißt ja selber, wie anstrengend er manchmal sein kann.«

»Prima, dann ist das abgemacht.«

»Danke, Philipp!« Norberg legte seinem Freund kurz die Hand auf die Schulter.

»Ich bleib noch einen Augenblick. Das Wetter ist so schön, das muss man ausnutzen.« Hartwigsen deutete auf die Wasserflasche. »Ich übernehm das.«

Norberg nickte ihm dankbar zu und machte sich auf den Heimweg.

Auf der gekiesten Einfahrt stand der rote Polo seiner Schwiegermutter, Heckklappe und Türen weit geöffnet. Der Kofferraum war vollgepackt mit Einkaufstüten, als erwarte Corinna Heckler demnächst eine Belagerung des weiß verputzten Einfamilienhauses in der Deichstraße, in dem jetzt nur noch Norberg und seine beiden Söhne lebten. Er hatte von Anfang an ein gutes Verhältnis zu seinen Schwiegereltern gehabt, vor allen Dingen zu Corinna, und hätte die letzten Monate ohne deren Unterstützung wohl nicht überstanden. Beide trauerten unendlich um ihre Tochter, hatten sich in seiner Gegenwart aber nie zu Gefühlsausbrüchen hinreißen lassen, wofür er ihnen sehr dankbar war, weil er diesen nichts hätte entgegensetzen können.

»Ja, sag mal, wo warst du denn?« Corinna kam ihm aus der offen stehenden Haustür entgegen. Sie war eine attraktive Frau, die im letzten Jahr ihren fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Blond, blauäugig und von schlanker Statur war Kathrin ihr Ebenbild gewesen. »Wir wollten doch zusammen zum Einkaufen fahren.«

Norberg starrte sie einen Augenblick sprachlos an, dann fiel es ihm wieder ein. Sie hatten sich am Vortag verabredet, aber nach dem Gespräch mit dem Steinmetz war er so von seiner Wut beherrscht gewesen, dass er Corinna und den Einkauf total vergessen hatte. »Oh Mann, ich … Tut mir leid.«

Seine Schwiegermutter strich leicht über seinen Arm. »Ist schon okay, ich hab’s ja auch allein geschafft.« Sie ging zum Wagen. »Hilf mir mal. Ich hab einiges an Tiefkühlsachen gekauft, die Truhe war ja fast leer. Dann ist erst mal wieder ein bisschen Vorrat im Haus.«

Nach einer Viertelstunde waren Kühlschrank und Tiefkühltruhe wieder aufgefüllt. Nach Kathrins Tod hatte Corinna vorgeschlagen, sich fürs Erste nach der Schule um Finn und Lasse zu kümmern. Sie und sein Schwiegervater wohnten im Ortsteil Böhl, nur wenige Minuten entfernt. Die beiden Jungen kamen zu unterschiedlichen Zeiten aus der Schule, da Finn mit seinen sieben Jahren zur Utholm-Schule ging, der dreizehnjährige Lasse aber auf den Gymnasialteil der Nordseeschule. Norberg hatte sich aber trotzdem vorgenommen, mittags wenigstens mit einem seiner Jungen eine Mahlzeit einzunehmen, vorausgesetzt sein Dienst ließ dies zu. Falls am Abend Not am Mann sein sollte, wollte Corinna ebenfalls einspringen, aber er würde alles daransetzen, dass er pünktlich in den Feierabend gehen konnte. In der Saison wurden die Badeorte an Nord- und Ostsee durch Bäderdienst-Beamte verstärkt, ihre Dienststelle hatte drei zugewiesen bekommen, also standen die Chancen gut.

Während Corinna Kaffee aufsetzte, suchte Norberg die Zutaten für Spaghetti bolognese heraus. Zum Glück konnte er kochen und achtete darauf, dass sich Finn und Lasse gesund ernährten, aber unter den jetzigen Umständen drückte er beide Augen zu, wenn sie nach ihren Lieblingsgerichten verlangten. Norberg setzte das Nudelwasser auf und hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Nur Sekunden später polterte sein Jüngster in die Küche.

»Wann gibt’s Mittagessen?«

»Dauert nicht mehr lange.« Norbergs Herz weitete sich, als er den erwartungsvollen Ausdruck in Finns Augen sah. Der Stöpsel, wie er ihn bei sich nannte, hatte immer Hunger, blieb aber dank seiner sportlichen Aktivitäten ein Strich in der Landschaft. Fußball, Schwimmen, Tennis: Finns Interessen waren vielseitig. Norberg war dankbar dafür, erst recht nach Kathrins Tod, da sie Finn auf andere Gedanken brachten. Aber nachts hörte er seinen Sohn häufig weinen, einige Male war Finn sogar zu ihm ins Bett gekrochen und hatte sich schluchzend an ihn geklammert.

Lasse hingegen machte seine Trauer mit sich allein aus. Er ließ nicht einmal sein engstes Umfeld an sich heran, hielt jeden, der ihm zu nahe kam, mit schroffen Worten auf Distanz. Genauso wie auch Norberg es allen gegenüber tat – mit Ausnahme seiner Schwiegereltern. Es schmerzte ihn, seinen Sohn so zu erleben, aber er fand einfach keinen Zugang mehr zu ihm. Wenn dieses Verhalten anhielt, müssten sie sich Gedanken über psychologische Unterstützung machen, zumal Lasses schulische Leistungen nach Kathrins Tod extrem nachgelassen hatten.

Während des Mittagessens plapperte Finn munter vor sich hin und gab einige Geschichten aus dem morgendlichen Treffen zum Besten. Seine Leistungen waren zum Glück stabil, hier hatte Norberg eine Sorge weniger. Nicht zum ersten Mal dachte er, wie sehr sich seine beiden Söhne voneinander unterschieden. Finn war ein Sonnenschein, ging, ebenso wie Kathrin es getan hatte, offen und freundschaftlich auf Menschen zu. Lasse hingegen geriet ganz nach ihm, worüber Norberg nicht immer glücklich war. Verschlossen, distanziert, zwei Menschen, die nicht so leicht mit anderen warm wurden.

»Sag mal, Papaaa …« Wenn Finn dieses Wort so dehnte, plante er normalerweise etwas. Norberg schob den leeren Teller zur Seite. Er bemerkte das Lächeln in Corinnas Gesicht, sie kannte ihren Enkel gut.

»Jaaa …?«

»Du arbeitest doch ab Montag in unserer Polizeistation …«

Norberg ahnte, was jetzt kommen würde.

»Da kannst du mich doch bestimmt mal mit dem Streifenwagen zur Schule bringen, oder …?«

Kathrin und er hatten sich nie als Elterntaxis betätigt, da die Jungen selbstständig erzogen wurden und die Entfernungen in St. Peter-Ording nicht weit waren. Aber die Verlockung, vor den Augen seiner Mitschüler aus einem Streifenwagen zu steigen, war natürlich sehr groß für Finn, der jetzt schon allen verkündete, dass er auch einmal zur Polizei gehen würde.

Norberg konnte nicht anders, er musste lachen, als er in das erwartungsvolle Gesicht seines Sohnes schaute. »Darüber reden wir dann noch mal.«

»Och, Papa, das wäre so cool! Wie die mich beneiden würden!«

Davon war Norberg nicht ganz so überzeugt, da sich die Vorbehalte gegen die Polizei mittlerweile durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen zogen. Aber es würde schwierig werden, dies einem siebenjährigen Kind zu erklären. Zu Norbergs Erleichterung klingelte es an der Haustür, was ihn einer Antwort enthob.

»Das ist Daniel!« Finn sprang auf und sauste auf den Flur. Kurze Zeit später steckten zwei Blondschöpfe ihre Köpfe zur Küche herein, und Norberg begrüßte Philipp Hartwigsens Sohn. Finn und Daniel waren seit frühester Kindheit dicke Freunde, und beim Anblick der Tennistasche über Daniels Schulter fiel Norberg ein, dass heute Training auf dem Programm stand. Er sah, wie Daniel Finn in die Seite stupste und ihm etwas zuflüsterte.

»Daniel möchte übrigens auch mitfahren«, verkündete Finn lautstark.

Norberg mimte den Ungehaltenen und deutete mit dem Finger Richtung Haustür. »Abmarsch, ihr beiden!«

»Och, Papaaa …«

»Wir werden darüber sprechen, Finn, aber nicht jetzt!«

Sein Jüngster zog einen Flunsch, Daniel guckte bedripst. Nach einigen Sekunden, in denen Finn sichtlich mit sich rang, das Thema erneut anzusprechen, zogen die beiden dann doch wortlos von dannen.

»Mach ihm doch die Freude«, sagte Corinna und begann, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

»Ich kann ihn ja verstehen«, sagte Norberg, »aber ich weiß nicht, ob ich ihm damit einen Gefallen tue. Du weißt selber, dass viele Menschen der Polizei gegenüber eher negativ eingestellt sind, und ich möchte vermeiden, dass Finn dadurch Stress mit seinen Mitschülern bekommt.«

Corinna hielt inne und blickte ihn nachdenklich an. »Da ist was dran, das habe ich nicht bedacht. Aber es wird schwer sein, ihm das zu erklären.«

»Das fürchte ich auch«, seufzte Norberg.

»Gehst du heute Abend eigentlich zur Verabschiedung deines Vorgängers?«, wollte Corinna wissen, nachdem sie den Geschirrspüler angestellt hatte.

»Muss ich wohl.«

Claas Hoyer hatte seine Kollegen in die Arche Noah, das traditionsreiche Pfahlbaurestaurant am Strand vom Ortsteil Bad, eingeladen. Norberg hatte noch immer nicht zugesagt, obwohl ihn Hoyer bereits zweimal dezent darauf hingewiesen hatte, dass es eine gute Gelegenheit wäre, die Kollegen einmal ganz zwanglos kennenzulernen. Norberg kannte Hoyer seit etlichen Jahren, nicht allzu gut, so wie man den Dienststellenleiter seines Wohnorts eben kennt, wenn man für denselben Verein arbeitete. Die anderen Kollegen waren ihm bis dato unbekannt gewesen.

Seine Schwiegermutter versetzte ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Geh hin, Hendrik! Du musst ja nicht lange bleiben, aber damit zeigst du den neuen Kollegen deinen guten Willen. Außerdem wird dich die Feier auf andere Gedanken bringen, und das hast du wirklich dringend nötig. Seit Kathrins Tod wirst du nämlich immer mehr zum Eigenbrötler.«

»Corinna, ich …«, Norberg schluckte und spürte voller Entsetzen, wie Tränen in seine Augen stiegen.

Seine Schwiegermutter nahm wieder ihm gegenüber Platz und musterte ihn mit ernstem Blick. »Kathrin würde nicht wollen, dass du dich so einigelst. Du musst wieder am Leben teilnehmen, Hendrik.«

Da auch bei ihrem heutigen Besuch niemand auf das Klingeln an der Gartenpforte reagierte, machte sich Kriminaloberkommissarin Anna Wagner wie bereits am Vortag daran, die Vorderseite des Grundstücks in Augenschein zu nehmen. Vielleicht deutete ja heute irgendetwas auf die Anwesenheit der Besitzerin hin. Gartengeräte zum Beispiel, die darauf schließen ließen, dass hier jemand am Werkeln war, auch wenn die Größe des Grundstücks eher dafür sprach, dass für die Pflege der Gartenanlage eine Firma zum Einsatz kam. Oder liegen gelassenes Spielzeug, das zum Beispiel auf den Besuch von Enkeln hindeutete, wenn es denn welche gab, was Anna noch nicht wusste. Zum Glück ermöglichte es ihr der schwarz mattierte Edelstahlzaun, der das inmitten eines gepflegten Gartens gelegene Friesenhaus umgab, das Haus von außen gut zu sehen. Die Aussicht auf die rückwärtige Seite des Grundstücks blieb ihr allerdings verwehrt, da dieses an ein Feld grenzte, auf dem sich eine Herde Galloways tummelte, von denen einige äußerst imposante Hörner aufwiesen. In deren Revier wollte sie besser nicht eindringen, man wusste ja nie.

Das Haus, in dem Constanze Brechtmann wohnte, lag in einer schmalen Einbahnstraße im Ortsteil Ording, dem Surf-Hotspot in St. Peter-Ording. Es war ein imposantes Domizil im Friesenstil mit einer weißen Außenfassade und dunklem Fachwerk. Der Farbe des Reetdachs nach zu urteilen, war es älteren Datums. Während sie es auch heute voller Bewunderung betrachtete, rief Anna sich in Erinnerung, was sie in den letzten beiden Tagen über die Familie Brechtmann herausgefunden hatte.

Eine bekannte Hoteliersfamilie, seit 1960 in St. Peter-Ording ansässig. Bescheidene Anfänge mit einer Pension, später der Neubau eines kleinen Hotels im Ortsteil Ording sowie die Übernahme eines größeren Hauses in St. Peter-Bad.

Ab 2010 dann die Expansion über St. Peter-Ording hinaus, mit Hotels in Büsum, Wyk auf Föhr sowie in Grömitz und Timmendorfer Strand an der Ostsee. Anna erinnerte sich an einen Artikel, in dem die Rede davon gewesen war, dass die Hoteliers an Nord- und Ostsee nach der Wiedervereinigung eine Reihe von Jahren tatenlos zugesehen hatten, wie ihnen Mecklenburg-Vorpommern den Rang ablief und die dortigen Übernachtungszahlen beständig stiegen. Dann waren sie aufgewacht und hatten sich darangemacht, den Mief der Siebzigerjahre, der noch in vielen ihrer Häuser hing, zu beseitigen, die Gebäude zu renovieren oder abzureißen und neue zu bauen. Mittlerweile nahmen die Gästezahlen von Jahr zu Jahr zu, und St. Peter-Ording war neben Sylt zu dem Hotspot an der Nordsee geworden.

Was die Brechtmanns offensichtlich für sich zu nutzen versuchten, bei denen nach dem Tod von Constanze Brechtmanns Mann im Jahr 2012 jetzt die Mutter und die jüngere Tochter Sophie das Sagen hatten. Anna hatte einige Artikel im Netz gefunden, in denen von einem Hotelneubau mit einhundertzehn Zimmern im Ortsteil Böhl die Rede gewesen war, der in der Nähe eines Naturschutzgebiets von einem dänischen Architekturbüro errichtet werden sollte. Die Baugenehmigung hatte die einschlägigen Instanzen trotz zahlreicher Einwände von Ortsansässigen und auch Touristen passiert, die der rasanten Entwicklung von St. Peter-Ording ebenso ablehnend gegenüberstanden wie eine Gruppe von Umweltschützern, die bereits eine Reihe von Protestaktionen durchgeführt hatte. Alles ohne Erfolg, im Herbst würden die Bauarbeiten beginnen. Auch in Eckernförde an der Ostseeküste war ein weiterer Neubau geplant.

Da Annas Bemühungen, Constanze Brechtmann ausfindig zu machen, auch heute kein Ergebnis brachten, beschloss sie der Aussage Glauben zu schenken, die sie vom Manager der beiden in St. Peter-Ording befindlichen Hotels erhalten hatte. Constanze und Sophie Brechtmann befänden sich auf einer viertägigen Geschäftsreise und würden erst am kommenden Tag zurückerwartet. Ab fünfzehn Uhr dürften sie entweder zu Hause oder im Seaview, dem Haupthaus in Bad, anzutreffen sein. Und nein, die Handynummern gebe man grundsätzlich nicht heraus, nicht einmal der Polizei – sie müsse sich gedulden, bis die Damen wieder vor Ort seien.

Anna konnte nicht sagen, warum sie die Worte dieses gelackten Typen mit dem eingefrorenen Lächeln angezweifelt und den Eindruck gewonnen hatte, dass die beiden Frauen sich verleugnen ließen. Es musste wohl das über bald zwanzig Dienstjahre gewachsene Misstrauen sein, dass sie Aussagen erst einmal infrage stellte und zu überprüfen versuchte. Was in diesem Fall besonders wichtig war.

Nina, die 32-jährige ältere Tochter der Brechtmanns, war vor zwei Tagen vermisst gemeldet worden. Allerdings nicht von ihrer Familie, sondern von einer Kollegin in der Seehundstation in Friedrichskoog, in der Nina seit zehn Jahren arbeitete. Da die junge Frau äußerst zuverlässig war, hatten sich die Arbeitskollegen große Sorgen gemacht, als sie nicht aus ihrem Urlaub zurückkehrte. Weil Anna von den Kolleginnen die Information bekommen hatte, dass sich Nina im Urlaub mit ihrer Familie treffen wollte, war Constanze Brechtmann ihre wichtigste Anlaufstelle.

Dieser Vermisstenfall war der Grund, warum man Anna nach ihrer Ankunft im LKA Kiel vor zwei Tagen sofort nach St. Peter-Ording geschickt hatte, um den Fall vor Ort zu bearbeiten. Claas Hoyer, der Leiter der dortigen Polizeistation, hatte durch einen Bekannten im LKA von ihrer Ankunft erfahren und um Unterstützung gebeten, da bei ersten Befragungen in Nina Brechtmanns beruflichem Umfeld keine Gründe für ein freiwilliges Untertauchen zutage getreten waren. Was das Treffen mit ihrer Familie betraf, war auch Hoyer nicht weitergekommen, da der Hotelmanager ihn mit der gleichen Antwort abgespeist hatte wie später auch sie.

Anna hatte die Entscheidung der Kieler LKA-Kollegen mit einiger Verwunderung, aber ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen, einfach nur froh darüber, dass sie München und die vergangenen Monate, in denen in ihrem Leben kein Stein auf dem anderen geblieben war, endlich hinter sich lassen konnte. Außerdem war ein Küstenort, in dem sie als Kind einige Urlaube mit ihren Eltern verbracht hatte, ein hundertmal attraktiverer Arbeitsplatz als die nicht besonders schöne Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein. Auch wenn sie nur für diesen einen Fall in St. Peter-Ording eingesetzt werden würde.

Allerdings hatte sie ihre Kindheitserinnerungen bisher noch nicht auffrischen können, da sie die Arbeit von der ersten Minute an in Anspruch genommen hatte und sie nach zwei sehr späten Feierabenden erst einmal versucht hatte, sich in der Ferienwohnung einzurichten, die von Claas Hoyer für sie angemietet worden war. Anna hatte aus München zwar nur eine Reihe von Kleidungsstücken mitgenommen und alles andere erst einmal eingelagert, aber die Wohnung hier in St. Peter war viel zu klein, der Platz reichte hinten und vorne nicht. In München hatte sie bis vor der Scheidung in ihrem geräumigen Elternhaus gewohnt, sie war ein Mensch, der einfach Platz um sich herum brauchte, selbst wenn sie sich, wie im Moment, nur mit wenigen Dingen belastete. Hier musste also dringend Abhilfe geschaffen werden, denn schließlich bestand die Möglichkeit, dass der Fall sie länger vor Ort halten würde. Und selbst wenn nicht: In dieser winzigen Wohnung würde sie keine Sekunde länger als nötig verbringen. Es war allerdings die Frage, ob sie jetzt in der Hauptsaison auf die Schnelle eine andere Unterkunft finden würde.

Als sie in die Polizeistation zurückkehrte, stellte sie fest, dass bis auf Claas Hoyer alle ausgeflogen waren. Er hatte heute seinen letzten Arbeitstag, für den Abend war seine Abschiedsfeier in einem der Pfahlbaurestaurants geplant. Am Montag würde sein Nachfolger den Dienst antreten, den sie noch nicht kennengelernt hatte. Sie bedauerte, dass Hoyer in den Ruhestand ging, denn er war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Gerne hätte sie ihn weiter an ihrer Seite gehabt, auch weil ihr der norddeutsche Menschenschlag doch noch so manches Rätsel aufgab. Allein dieses Moin, mit dem man hier nicht nur am Morgen, sondern rund um die Uhr grüßte. Wohingegen Moin, Moin schon wieder als Gesabbel – noch so ein Wort – galt und Guten Moin den Touristen auswies, wie Hoyer ihr schmunzelnd beigebracht hatte. Wer weiß, wie zugänglich der Neue sein wird, hatte sie gedacht, als Hoyer ihr von dessen Hintergrund erzählt hatte. Ein ehemaliger Mordermittler aus Itzehoe, der sich nach dem Tod seiner Frau an den Wohnort der Familie nach St. Peter-Ording hatte versetzen lassen, damit seine beiden Söhne in ihrer gewohnten Umgebung bleiben konnten. Das sprach ja für ihn; Anna konnte sich allerdings schwer vorstellen, dass er mit dieser Entscheidung glücklich war. Von der Schutzpolizei zur Kripo war bei den meisten der ersehnte Weg, umgekehrt eher nicht.

»Und? Bist du weitergekommen?«, fragte Hoyer, als sie sein Büro betrat, in dem bereits ein Umzugskarton mit persönlichen Dingen auf den Abtransport in sein Haus wartete. An der hellgrau gestrichenen Wand zeugten zwei hellere Rechtecke von den Bildern, die dort gehangen hatten und jetzt auf dem Karton lagen. Gletscher und Eisberge, zwei atemberaubende Aufnahmen. In der kommenden Woche sollten die Wände neu gestrichen werden, hatte Hoyer Anna erzählt und dabei schelmisch gegrinst. »Damit mein Nachfolger dann seine Spuren hinterlassen kann.«

Er sieht aus wie ein Seebär, dachte Anna jedes Mal bei Hoyers Anblick. Kurz getrimmtes eisgraues Haar, ein gepflegter Vollbart im wettergegerbten Gesicht, dessen zahlreiche Augenfältchen von einem Menschen zeugten, der viel und gerne lachte. Ein Mann, der sich unbändig auf den Ruhestand freute und auf die Reisen, die er mit seiner Frau unternehmen wollte. Grönland war ihr vorrangigstes Ziel – »Bevor die Eisberge dort wegschmelzen, Anna!« – und dann Touren mit dem neu erstandenen Wohnmobil durch Skandinavien.

Anna ließ sich auf den Stuhl vor Hoyers Schreibtisch fallen. »Nein, auch heute war niemand zu Hause.«

»Dann musst du die Aussage dieses Managers jetzt wohl glauben, mir blieb ja auch nichts anderes übrig«, sagte er. »Warum so misstrauisch, junge Frau?«

Junge Frau, nein, die war sie mit ihren 37 Jahren ganz bestimmt nicht mehr, worauf sie ihr Spiegelbild jeden Tag aufs Neue gnadenlos hinwies. Eine Reihe zusätzlicher Falten, die ersten grauen Haare, die letzten Monate hatten sie ausgelaugt. »Jobbedingt«, sagte sie und fühlte auf einmal wieder diese allumfassende Müdigkeit, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie an die zurückliegende Zeit dachte. »Kennst du doch sicher auch, oder?« Sie hatte Hoyer nicht erzählt, wie es zu ihrer Versetzung von Bayern nach Schleswig-Holstein gekommen war, dazu kannten sie sich noch nicht gut genug. Vielleicht, wenn er geblieben wäre, aber so hatte keine Veranlassung dazu bestanden.

»Klar«, meinte Hoyer, »man sollte aber aufpassen, dass man sich davon nicht zu sehr vereinnahmen lässt.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und Anna dachte wieder einmal, wie tiefenentspannt dieser Mann wirkte. Sicher hatte es in seinem Leben eine Reihe von Momenten gegeben, in denen das Gegenteil der Fall gewesen sein mochte, aber trotzdem schien diese Gelöstheit ein Wesenszug von ihm zu sein. Sie beneidete ihn glühend darum, war sie doch selber das genaue Gegenteil.

»Wie willst du denn jetzt weitermachen?«, wollte Hoyer wissen.

Das hatte sie auf dem Rückweg auch überlegt. »Ich werde noch mal nach Friedrichskoog fahren und mir die Wohnung von Nina Brechtmann vornehmen. Vielleicht finde ich ja doch irgendwas, was ich gestern übersehen habe.«

Die Kollegen von Nina hatten ihre Wohnung aufgesucht, nachdem sie nicht zum Dienst erschienen war. Nina hatte einer von ihnen einen Schlüssel für den Notfall gegeben, und da hatten sie natürlich erst einmal dort nachgeschaut, bevor sie die Polizei alarmiert hatten. Es war ihnen allerdings nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Anna hatte den Schlüssel am Vortag erhalten und eine ansprechende Zweizimmerwohnung mit einem kleinen Balkon vorgefunden, in der nichts darauf hindeutete, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Trotzdem hatte sie die Wohnung wie einen Tatort behandelt und sie in entsprechender Schutzkleidung betreten. Was ihr aufgefallen war, war das Fehlen jeglicher Fotos, auf denen Familienmitglieder oder Freunde zu sehen waren. Ob es einen Mann in Ninas Leben gab, hatten ihre Kollegen nicht gewusst. Was ihr Privatleben anbelangte, sei sie immer sehr zurückhaltend gewesen, hatten sie Anna erzählt, wie sie überhaupt eine eher stille Person gewesen sei, die sich aber durch große Zuverlässigkeit auszeichnete. Selbst die Kollegin, der Nina seinerzeit den Schlüssel anvertraut hatte, hatte nichts zur Aufklärung beitragen können. Das Einzige, was Anna erfahren hatte, war der Umstand, dass sich Nina stark für den Umweltschutz engagierte.

»Ich muss unbedingt Freunde von Nina Brechtmann auftreiben«, sagte Anna. »Da konnte mir bisher nämlich noch niemand weiterhelfen.« Sie blickte Hoyer an. »Ihre Kollegen hatten mir ja erzählt, dass Nina im Umweltschutz aktiv ist, allerdings wussten sie nicht, ob sie sich einer Gruppe angeschlossen hat. Gibt es hier überhaupt solche Gruppen?«

Hoyer legte seine Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich hab da kürzlich was von einer Bewegung gehört, die sich gegen Hotelneubauten an unserer Nordseeküste engagiert. Ob das nun aber so ein loser Zusammenschluss oder eine richtig organisierte Gruppe ist, weiß ich nicht.«

»Wo hast du das gehört?«

Hoyer grinste. »Das hat mir der Bäcker meines Vertrauens erzählt.« Er griff zum Telefonhörer. »Ich frag ihn mal eben, vielleicht kann er sich noch erinnern.«

Das Gespräch war kurz und brachte ein Ergebnis.

»Die heißen KüstenFreunde SH und existieren seit zwei Jahren.« Er reichte ihr den Klebezettel, auf dem er während des Telefonats etwas notiert hatte. »Das ist ihre Website. Da findest du bestimmt Ansprechpartner.«

Anna griff nach dem Zettel. »Danke, das hilft mir doch schon weiter.«

»Hast du auch mal über einen Suizid nachgedacht?«

»Natürlich. Ninas Kollegen war aufgefallen, dass sie in der letzten Zeit häufig bedrückt wirkte. Sie haben da was in Richtung Liebeskummer vermutet. Einen Suizid konnte sich trotzdem niemand vorstellen, weil Nina wohl normalerweise ein sehr lebensfroher Mensch ist.«

»Ich hab ja vor deiner Ankunft überprüft, wie es in Bezug auf einen Unfall aussieht. Also Autounfall oder so«, sagte Hoyer. »Da war aber nichts in unserem Bundesland und auch nicht in Hamburg gemeldet. Willst du dir noch die anderen Bundesländer und Dänemark vornehmen?«

»Hab ich schon«, sagte Anna, »dabei ist aber auch nichts rausgekommen. Das Wichtigste sind deshalb jetzt die Gespräche mit ihrer Mutter und Schwester. Wenn Nina sie in ihrem Urlaub besuchen wollte, sind sie unter Umständen die Letzten, die sie gesprochen haben. Außerdem hoffe ich, dass sie mir etwas über Ninas private Kontakte sagen können. Es ist ja auch nicht auszuschließen, dass sie vor jemandem geflohen ist.«

»Oder dass jemand sie umgebracht hat«, vollendete Hoyer Annas Gedanken. »Da kommt noch ’ne Menge Arbeit auf dich zu. Aber du bist ja zum Glück die Expertin auf diesem Gebiet.«

Anna seufzte. Ja, das war sie, aber dieser Fall war kompliziert, weil das soziale Umfeld so schwer zu ermitteln war. Selbst die Gespräche mit Ninas Nachbarn waren nicht allzu ergiebig gewesen, obwohl gerade Hausgenossen in vielen Fällen geradezu sprudelnde Informationsquellen waren. Zwei Nachbarn hatten etwas von Herrenbesuchen erwähnt, der jeweiligen Beschreibung nach musste es sich allerdings um zwei unterschiedliche Männer gehandelt haben. Einige Male wären laute Stimmen aus Ninas Wohnung zu hören gewesen, hatte die direkte Nachbarin noch erwähnt, das hätte immer nach einem heftigen Streit geklungen. Hier musste sie einen Ansatz finden.

»Vergiss aber bitte meine Feier heute Abend nicht«, unterbrach Hoyer ihre Gedanken. »Ich zähle auf dich!«

Sie lächelte ihn an und erhob sich. »Ganz bestimmt nicht. Ich freue mich darauf, endlich wieder frischen Fisch aus dem Meer essen zu können. In Bayern kommen Fischfreunde ja eher zu kurz.«

»Bayerische Fischfreunde?«, wunderte sich Hoyer. »Das gibt es?«

»Ja, was glaubst du denn?«, gab sie zurück. »Dass wir nur Weißwurscht und Brez’n essen? Ich bin der absolute Fischfreak.«

Sein ungläubiges Lachen folgte ihr, als sie die Dienststelle verließ. Draußen fuhr gerade ein Streifenwagen vor, dem die Kollegen Nils Scheffler und Michael Paulsen entstiegen. Nils schien der Sonnenschein der Truppe zu sein, ging mit seinen achtundzwanzig Jahren locker für zehn Jahre jünger durch und war ein begeisterter Surfer. Er hatte sie bei ihrer Ankunft in Empfang genommen, und sie waren sofort miteinander warm geworden; bei den restlichen Kollegen, ausschließlich Männer, hatte sich bisher noch keine Möglichkeit für ein näheres Kennenlernen ergeben. Alle hatten aber einen sympathischen Eindruck gemacht, bis auf Michael Paulsen. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig, auch wenn er sich mit einem Undercut, dem silbernen Ohrstecker und einer etwas zu coolen Sonnenbrille alle Mühe gab, jünger auszusehen. Bei der Begrüßung hatte er ihre Hand ein wenig zu lange gehalten, und sein Blick war langsam und abschätzend über ihren Körper geglitten und hatte sie frösteln lassen.

»Ah, die neue Kollegin.« Paulsen schob die Sonnenbrille hoch und kam langsam auf sie zu. Unwillkürlich glitt Annas Blick wieder zu den drei blauen Sternen auf seiner Schulterklappe. Polizeiobermeister. Wie bereits bei der Begrüßung fragte sie sich, was in seiner Karriere schiefgelaufen sein mochte, dass er denselben Dienstrang aufwies wie sein zwanzig Jahre jüngerer Kollege Nils Scheffler.

»Hallo.« Sie wollte an Paulsen vorbeigehen, aber er trat ihr in den Weg.

»Ich hoffe doch, dass wir uns heute Abend auf Claas’ Abschiedsfeier sehen.«

Sie zwang sich keinen Schritt zurückzutreten und musterte ihn mit einem, wie sie hoffte, kühlen Blick. »Mal sehen, ob ich es einrichten kann.« Bevor er antworten konnte, ließ sie ihn stehen, warf Nils ein Lächeln zu, auch wenn ihr im Moment überhaupt nicht danach war, und ging zu ihrem Wagen, den sie am Straßenrand geparkt hatte.

»Ich freu mich auf dich!«, hörte sie Paulsens Stimme in ihrem Rücken, gefolgt von einem leisen und unangenehmen Lachen. Das war wieder einer dieser Momente, in denen ihr die unter Kollegen übliche Gewohnheit, dass jeder jeden duzte, selbst wenn man sich nur kurz kannte und überhaupt nichts über den anderen wusste, extrem auf den Wecker ging. Aber es war schwer, sich dem zu entziehen – besonders, wenn man neu an einer Arbeitsstätte und zudem noch eine Frau war. Mal sehen, wie der neue Dienststellenleiter das handhaben würde. Sie hatte jedenfalls entschieden, ihn erst einmal zu siezen.

Sie beschloss, sich auf der Feier blicken zu lassen. Claas Hoyer zuliebe, aber wenn Paulsen sie weiterhin so dämlich anbaggerte, würde dieser Besuch sehr kurz ausfallen. Außerdem ließ ihr das Verschwinden von Nina Brechtmann keine Ruhe. Dieses beharrlich im Hinterkopf pochende Wissen, dass bei einem Vermisstenfall jede Sekunde zählte, wenn es zum Beispiel um eine Entführung ging oder die vermisste Person in die Hände eines Gewalttäters geraten war. Aber traf etwas davon bei Nina Brechtmann zu? Anna hoffte inständig, dass Constanze und Sophie Brechtmann ihr am nächsten Tag weiterhelfen konnten.

Nach dem gemeinsamen Abendessen aller Teilnehmer hatte sich Bent Forsgren mit der Entschuldigung verabschiedet, dass er noch mit seiner Schwester verabredet sei. Was nicht der Wahrheit entsprach, da Saga mit Mann und Tochter vor einer Woche in den Urlaub nach Kreta geflogen war, aber er hatte einfach keinen Bock mehr auf den Abschiedsumtrunk gehabt, der unweigerlich in einem Besäufnis enden würde.

»Schade«, hatte Saga bei seinem Anruf vor zwei Wochen gesagt, »da kommst du endlich mal wieder nach Hause, und dann bin ich nicht da. Sieh doch zu, dass du es über die Weihnachtstage schaffst, dann feiern wir das Fest so, wie wir es von Mama und Papa kennen. Mit gemeinsamem Baumschmücken und Kochen und einem tollen Spieleabend. Ich hab zwei neue Spiele gekauft, die werden dir bestimmt gefallen.«

Eine jähe Trauer überfiel ihn, als er sich jetzt an diese Worte erinnerte. Er trat an das Wohnzimmerfenster der Altbauwohnung im Kopenhagener Stadtteil Frederiksberg, die er vor fünfzehn Jahren erworben und aufwendig restauriert hatte. Weihnachten mit den Eltern war immer groß gefeiert worden, und sie hatten stets viel Spaß miteinander gehabt, aber seitdem ihre Mutter vor acht Jahren verstorben und der Vater ihr ein Jahr später nachgefolgt war, waren die Weihnachtsfeste in der Familie Forsgren nicht mehr dieselben.

Überhaupt war nichts in seinem Leben mehr, wie es sein sollte. Weder beruflich noch privat.

Der Neubau des Einkaufszentrums in Malmö war vor drei Monaten geplatzt, und die Teilnahme an dem heute zu Ende gegangenen viertägigen Architektenkongress im Comwell Conference Center in Kopenhagen war ebenso für die Katz gewesen wie diverse Unternehmensbesuche, von denen er sich einiges erhofft hatte. Keine neuen Aufträge, mit denen er das Unvermeidliche noch hätte abwenden können.

»Na, hör mal, du hast doch nun wirklich keinen Grund, dich zu beklagen«, hatte ein Kollege mit einem unangenehmen Grinsen gemeint. »Schließlich hast du zwei begehrte Hotelneubauten in Schleswig-Holstein an Land gezogen, hinter denen auch noch andere von uns her waren. Aber im Gegensatz zu uns hast du eben die allerbesten Verbindungen in diese Familie, und deshalb wird dieser Auftrag mit Sicherheit nicht der letzte gewesen sein, den du von ihnen erhältst.«

Forsgren stieß einen gequälten Seufzer aus und goss sich einen doppelten Whisky am gut bestückten Barwagen ein, obwohl er fest entschlossen gewesen war, heute Abend nüchtern zu bleiben. Aber wie an allen Abenden zuvor blieb es auch dieses Mal bei dem guten Vorsatz.

Ja, der Hotelneubau in St. Peter-Ording und ein weiterer in Eckernförde würden dafür sorgen, dass die Absage aus Malmö Forsgren Arkitekt nicht das Genick brach, sondern die Firma, die sein Vater gegründet hatte, weiterhin schwarze Zahlen schreiben würde.

Aber welchen Preis hatte er dafür zahlen müssen …

Hendrik Norberg hatte sich die mahnenden Worte seiner Schwiegermutter zu Herzen genommen, hegte aber bereits bei seiner Ankunft in der Arche Noah die ersten Fluchtgedanken. Das Restaurant war rappelvoll, fröhliche Stimmung an jedem Tisch, kein Wunder bei dem prachtvollen Wetter. Die Erinnerung an schöne Stunden an diesem Ort mit Kathrin und den Kindern hatte ihn bereits beim Erklimmen der ersten Stufen attackiert und ließ sich angesichts der glücklichen Gesichter um ihn herum kaum abschütteln. Aber dies ging ihm an vielen Plätzen in St. Peter so, schließlich wohnte er seit der Heirat mit Kathrin vor achtzehn Jahren hier. Er hoffte inständig, dass es ihm irgendwann gelingen würde, der Erinnerungen Herr zu werden und die Örtlichkeiten nicht mehr zu fliehen.

Claas Hoyer hatte einen Platz im Außenbereich reserviert, und als Norberg mit einer halben Stunde Verspätung eintraf, war die Stimmung bereits prächtig. Woran mit Sicherheit auch die farbenfrohen Cocktails ihren Anteil hatten, die vor sieben der insgesamt neun Anwesenden aufgereiht waren. Norberg guckte, wen der Bereitschaftsdienst getroffen hatte: Nils Scheffler und einen der Bäderdienst-Beamten, dessen Namen er vergessen hatte. Die beiden hielten sich an Wasser, machten aber keinen minder aufgeräumten Eindruck.

Hoyer hatte sich erhoben und begrüßte Norberg mit einem Handschlag. »Schön, dass du es einrichten konntest, dann sind wir jetzt ja fast vollzählig.« Er deutete auf den freien Stuhl neben sich.

»Fast?«, fragte Norberg, nachdem er die Kollegen, die in zwei Strandkörben und auf Holzstühlen um drei zusammengerückte Tische unter einem großen Sonnenschirm saßen, mit einem Nicken begrüßt hatte.

»Ja, es fehlt noch eine Kollegin, die hast du noch nicht kennengelernt. Sie hat mir aber gerade eine Nachricht geschickt, dass es bei ihr noch etwas dauern wird und wir nicht mit dem Essen auf sie warten sollen.« Hoyer winkte der Bedienung. »Was möchtest du trinken?«

»Gerne ein Bier.« Norberg hakte noch einmal nach, weil ihn Hoyers Bemerkung irritiert hatte. »Was für eine Kollegin? Hab ich da irgendwas verpasst?«

Der letzte Satz war schärfer herausgekommen, als beabsichtigt, was Hoyer aber nicht aus der Fassung brachte. Der 62-jährige Exdienststellenleiter schien ein umgänglicher Zeitgenosse zu sein, wie überhaupt das ganze Team einen entspannten und unaufgeregten Eindruck machte, was Norberg bereits an den Tagen der Übergabe hatte feststellen können. Zum ersten Mal streifte ihn der Gedanke, dass der neue Posten ihm vielleicht auch die Chance bieten könnte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Mit netten Kollegen und ohne den ständigen Aufstiegskampf in einer Mordkommission, der ihm in den letzten Jahren doch so manches Mal zugesetzt hatte. Aber um dahin zu kommen, müsste er sich erst einmal mit der neuen Situation arrangieren …

»Nicht verpasst, ich bin nur noch nicht dazu gekommen, dich darüber zu informieren, weil du die letzten Tage ja in Itzehoe warst«, sagte Hoyer und bat die Bedienung, ihnen ein Bier und die Speisekarten zu bringen. »Wir haben einen aktuellen Vermisstenfall, der mir Grund zur Sorge bereitet, weil nichts auf ein freiwilliges Verschwinden hindeutet. Ich hatte die LKA-Kollegen um Unterstützung gebeten, weil mir zu Ohren gekommen war, dass sie eine Expertin auf dem Gebiet erwarten. Und wir sind in der Saison sowieso schon genug ausgelastet. Die Kollegin hat die Vermisstenstelle in München geleitet. Da ich den Fall dringlich gemacht habe, hat man sie uns sofort zugewiesen. Seit zwei Tagen ist sie bei uns.«

Eine Kripokollegin, die in seiner Dienststelle einen Vermisstenfall bearbeiten sollte? Wieso machte sie das nicht von Kiel aus?

Offensichtlich stand ihm seine Frage ins Gesicht geschrieben, da Hoyer sie im nächsten Moment beantwortete. »Wir hielten es für besser, dass Anna Wagner die Ermittlungen von St. Peter aus führt. Von Kiel hierher sind es pro Strecke mindestens anderthalb Stunden, das ist ja nun wirklich eine Gurkerei, die wir ihr ersparen können. Ich hab sie in der Ferienwohnung eines Bekannten untergebracht, denn die Wohnungen in unserer Dienststelle sind ja von den Bäderdienstlern belegt.«

Norberg war sich nicht darüber im Klaren, ob er Hoyers Idee gut finden und dessen Aussage, er hätte noch keine Zeit gehabt, ihn darüber zu informieren, glauben sollte. Aber er wollte die Abschiedsfeier jetzt nicht mit Querelen verderben, sondern sich diese Anna Wagner erst einmal anschauen und dann entscheiden, ob es wirklich erforderlich war, dass sie vor Ort blieb. Er fragte Hoyer, um wen es sich bei der vermissten Person handeln würde.

»Die Frau heißt Nina Brechtmann und arbeitet in der Seehundstation in Friedrichskoog. Sie hätte am 25. Juni aus dem Urlaub an ihren Arbeitsplatz zurückkehren sollen. Als sie nicht erschienen ist und weder telefonisch erreichbar noch in ihrer Wohnung anzutreffen war, hat sich eine Kollegin bei uns gemeldet, da Frau Brechtmann angegeben hatte, im Urlaub ihre Familie hier vor Ort besuchen zu wollen.«

»Die Hoteliersfamilie?«

»Ja.« Hoyer nickte.

»Und was haben die ausgesagt?«

»Noch nichts. Mutter und Tochter sind auf einer Dienstreise und kommen erst morgen zurück.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, als die Bedienung mit den Speisekarten und Norbergs Bier kam.

»Prost, Kollegen«, sagte Hoyer, bevor er sich wieder an Norberg wandte. »Ich hatte die vergangenen Tage noch so viel auf dem Zettel, dass ich alles Anna überlassen habe. Sie kommt ja noch, da kann sie dich gleich auf den neuesten Stand bringen.«

Während des Essens entspannen sich unterhaltsame Gespräche, aus denen Norberg einiges über seine neuen Kollegen erfuhr. Sportbegeistert schienen alle zu sein, wobei Windsurfen und Strandsegeln an vorderster Stelle standen. Das Durchschnittsalter der Truppe lag in etwa bei dreißig. Der Ausreißer nach unten war der 22-jährige Polizeiobermeisteranwärter Bastian Werner, bei dem nach oben handelte es sich um den fünfzigjährigen Polizeiobermeister Michael Paulsen. Dass Letzterer es in seinem Alter zu keinem höheren Dienstgrad gebracht hatte, hatte Norberg bereits beim Kennenlernen gewundert. Hoyer hatte ihm keine Bewertungen der Kollegen an die Hand gegeben, da sich Norberg lieber ein eigenes Bild von jedem machen wollte. Paulsen allerdings war ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien.

Beim Anblick des Fischtellers war Norberg tatsächlich das Wasser im Mund zusammengelaufen, und er hatte sich umgehend mit gutem Appetit über Rotbarsch, Kabeljau, Zander und die Riesengarnele hergemacht. Seit Monaten brachte er kaum etwas herunter, auch wenn Corinna, die gut und reichlich kochte, ihn stets zum Essen animierte. Dass er hier jetzt die Köstlichkeiten aus dem Meer bis auf den letzten Bissen verputzte, durfte sie auf keinen Fall erfahren, weil dies verständlicherweise an ihrer Hausfrauenehre kratzen würde.

Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, entschuldigte er sich für einen Augenblick und stieg die Treppen zum Strand hinunter. Eine Möwe segelte fast schwerelos am Himmel über ihm und stieß von Zeit zu Zeit ein keckerndes Kreischen aus, während sie die Strandfläche unter sich aufmerksam nach etwas Essbarem absuchte.

Norberg ging einige Schritte Richtung Wasser und zog sein Smartphone aus der Hosentasche, um zu Hause anzurufen. Lasse hatte sich am Nachmittag nicht wohlgefühlt, und Norberg wollte hören, wie es ihm jetzt ging. »Scheint ein Magen-Darm-Virus zu sein«, hatte Corinna gemeint. »Der Junge hat sich hingelegt. Nein, du musst nicht kommen, ich hab alles im Griff.«

Natürlich hatte sie das, trotzdem beunruhigte ihre Aussage Norberg, und so überlegte er, ob er die Gelegenheit ergreifen und seine Zelte in der Arche abbrechen oder noch auf die angekündigte Kollegin warten sollte. Als er zu den Tischen zurückkehrte, wurde er auf eine Frau aufmerksam, die Hoyer gerade einen Blumenstrauß überreichte. Schlanke Figur, ein luftiges Sommerkleid, kinnlange braune Haare. Das musste dann wohl diese Anna Wagner sein, also konnte er das Kennenlernen jetzt auch gleich hinter sich bringen. Er trat an den Tisch heran.

»Ah, da bist du ja wieder«, sagte Hoyer. »Dann kann ich euch gleich miteinander bekannt machen. Anna Wagner, unser Neuzugang aus München, und das ist mein Nachfolger Hendrik Norberg. Ich habe ihm bereits von dem Vermisstenfall erzählt, den du bearbeitest.«

Ein interessierter Blick aus warmen braunen Augen traf Norberg, dem ein fester Händedruck folgte. »Grüß Gott, freut mich.«

Norberg erwiderte die Begrüßung, auch wenn sich die Freude auf seiner Seite in sehr engen Grenzen hielt. Grüß Gott, du lieber Himmel! Wenigstens schien sie keinen bayerischen Akzent zu haben. »Ganz meinerseits.« Er wandte sich an Hoyer. »Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt absetzen. Meinem älteren Sohn geht es nicht gut.«

Hoyer nickte verständnisvoll und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er und die Kollegen wussten von Kathrins Tod. Alle hatten kondoliert, das Thema dann aber nicht mehr angeschnitten, wofür Norberg dankbar war, da ihn Gespräche darüber noch immer sehr schnell aus der Fassung brachten.

»Kann ich Sie noch kurz sprechen, bevor Sie gehen?«, fragte Anna Wagner. »Es geht um den Vermisstenfall Nina Brechtmann, da würde ich gerne schon jetzt das weitere Vorgehen mit Ihnen abstimmen und nicht erst am Montag.«

Norberg hätte sie am liebsten abgewimmelt, aber dieser Fall ging jetzt auch ihn etwas an, weil die Kollegin, so wie es aussah, nicht ohne die Unterstützung der Dienststelle ermitteln konnte. Da gerade ein Tisch frei wurde, schlug er vor, dort Platz zu nehmen.

»Was hat Claas Ihnen bisher erzählt?«, kam Anna Wagner ohne Umschweife zur Sache.

Norberg gab die wenigen Infos wieder, die er von Hoyer erhalten hatte.

»Ich war bereits gestern in Ninas Wohnung und habe sie mir vorhin noch einmal angeschaut«, sagte die Kollegin. Sie wirkte sehr konzentriert und ließ sich weder von Kindergeschrei noch den lauten Unterhaltungen an den Nachbartischen ablenken. »Keinerlei Veränderung seit meinem ersten Besuch, nichts deutet darauf hin, dass Nina in der Zwischenzeit dort gewesen ist. Es sieht immer noch alles so aus, als wäre sie nur kurz weggegangen.«

»Keine Anhaltspunkte, die auf ein Verbrechen hindeuten?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Anzeichen von Kampfspuren, kein Blut, nichts.«

»Vielleicht hat sie sich abgesetzt. Aus welchen Gründen auch immer.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Anna zweifelnd. »Unter dem Bett liegt ein leerer Koffer, und im Kleiderschrank sieht es nicht so aus, als wenn Dinge fehlen würden.«

»Haben Sie ihr Konto überprüft, ob Geld abgehoben wurde?«

»Ja, natürlich. Da waren nur die üblichen Kontobewegungen wie Gehaltseingänge und Abbuchungen von Versicherungen zu finden, und hin und wieder wurden zwischen zwei- und dreihundert Euro abgehoben, die wohl für den Lebensunterhalt gedacht waren.«

»Wie sieht es mit einem Verbindungsdatennachweis und einer Handyortung aus?«

»Der Nachweis ist beantragt, ich hoffe, dass ich ihn schnell bekomme. Die Ortung war ohne Ergebnis, was darauf schließen lässt, dass Akku und SIM-Karte entfernt wurden. Das könnte auf ein Verbrechen oder eine Entführung hindeuten.«

»Letzteres wäre tatsächlich eine Möglichkeit, immerhin sind die Brechtmanns eine sehr wohlhabende Familie.«

»Eine Anzeige ist nicht eingegangen, das habe ich überprüft. Ich werde die beiden aber auf jeden Fall dazu befragen.«

»Und ein Suizid?«

»Ihre Kollegen haben mich darauf hingewiesen, dass Nina in der letzten Zeit bedrückt gewirkt hätte. Da stand die Vermutung im Raum, dass sie Liebeskummer gehabt haben könnte. Einen Suizid konnte sich aber niemand von ihnen vorstellen.«

Norberg merkte, wie sein Interesse erwachte.

»Claas Hoyer hatte eine Anfrage an sämtliche Krankenhäuser in Schleswig-Holstein und Hamburg gerichtet, allerdings ohne Ergebnis«, fuhr Anna fort. »Ich habe das um weitere Bundesländer und Dänemark erweitert, dabei ist aber auch nichts rausgekommen. Laut Auskunft ihrer Kollegen fährt Nina Brechtmann einen Opel Corsa älteren Datums, der ebenfalls verschwunden ist. Er ist jetzt zur Fahndung ausgeschrieben. Eine Überprüfung bezüglich eines Bahn- oder Flugtickets hat auch nichts ergeben. Außerdem habe ich in der Rechtsmedizin in Kiel, Lübeck und Hamburg nachgefragt, auch nach unbekannten Toten, die dort eingeliefert wurden. Ebenfalls Fehlanzeige.«

Norberg musste sich eingestehen, dass ihn Anna Wagners Effizienz beeindruckte. Sie verstand ihr Geschäft, und es war beachtlich, was sie in der kurzen Zeit und ohne jegliche Unterstützung schon abgeklärt hatte. »Was sagt das Umfeld von Nina Brechtmann? Freunde, Bekannte, Nachbarn?«

Die Kollegin zuckte mit den Schultern und wirkte für einen Moment bedrückt. »Das ist im Moment ein großes Problem, weil ich da noch keinerlei Angaben habe. Laut ihren Kollegen ist Nina immer sehr verschlossen gewesen, wenn es um ihr Privatleben ging. Nachbarn haben vor längerer Zeit Streitigkeiten in ihrer Wohnung gehört und zu unterschiedlichen Zeiten zwei Männer herauskommen sehen, aber was einen Freundes- und Bekanntenkreis angeht, stehe ich noch vollkommen auf dem Schlauch.« Anna räusperte sich und nahm einen Schluck von ihrem Getränk, um dann fortzufahren: »Da sich Nina wohl sehr für den Umweltschutz engagiert, besteht die Möglichkeit, dass sie der Gruppe KüstenFreunde SH angehört, die gegen Hotelneubauten an der Nordseeküste angeht. Ich habe mir vorhin deren Website angeschaut, allerdings keine Ansprechpartner, aber zumindest eine Telefonnummer und eine Mailadresse gefunden und Nachrichten hinterlassen. Da dürfte sich aber vor Montag wohl niemand melden. Wenn überhaupt, da viele Umweltschützer ja mit unserem Berufsstand auf dem Kriegsfuß stehen. Ich bleibe auf jeden Fall an denen dran.«

»Falls Frau Brechtmann dort Mitglied sein sollte, hat sie sich unter Umständen auch gegen den Neubau ihrer eigenen Familie gewendet.« Norberg erinnerte sich an einen Artikel über das besagte Projekt, das im Ortsteil Böhl realisiert werden sollte. Er selbst stand dem Neubau ablehnend gegenüber, da ihm der Gedanke, dass sich St. Peter unaufhaltsam zu einem zweiten Sylt entwickelte, überhaupt nicht behagte.

»Das ist nicht auszuschließen.«

»Seit wann genau wird Frau Brechtmann denn eigentlich vermisst?«

»Selbst das können wir nicht mit Gewissheit sagen. Sie hatte vom 17. bis einschließlich 24. Juni Urlaub. Vermisst gemeldet wurde sie an ihrem ersten Arbeitstag am 25. Juni.«

Norberg überlegte. Das verkomplizierte die Sache. Ebenso wie bei Tötungsdelikten waren auch bei Vermisstensachen die ersten achtundvierzig Stunden die entscheidenden. »Haben Sie ein Foto von Frau Brechtmann, das wir notfalls in die Fahndung geben können?«

»Ja, das habe ich von ihren Kollegen erhalten.«

»Gut.«

»Ich setze im Moment meine ganze Hoffnung in die Gespräche mit Ninas Mutter und Schwester, die sie ja in ihrem Urlaub treffen wollte.«

Norberg nickte. »Wir müssen diese Gespräche abwarten, bevor wir unter Umständen weitere Maßnahmen einleiten. Okay?«

Anna stimmte ihm zu. »Ich weiß, es ist Wochenende, aber ich würde Sie trotzdem gerne morgen nach den Gesprächen anrufen.«

»Kein Problem.« Norberg zog eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie, auf der sein privater Festnetzanschluss sowie seine Handynummer standen. Dann erhob er sich. »Jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen, ich muss nach Hause.«

Anna stand ebenfalls auf und ging mit ihm zu den anderen zurück, wo Norberg sich von Hoyer verabschiedete und dann einen kurzen Blick in die Runde warf. »Noch eine schöne Feier. Wir sehen uns Montag.«

Nach einer weiteren Stunde merkte auch Anna, dass es Zeit zum Aufbruch war. Sie war erschöpft von dem Tag, aber noch mehr von der Hitze und sehnte sich nach einer erfrischenden Dusche. Außerdem nervte Michael Paulsen, der ihr zum Glück nur schräg gegenübersaß, was ihn aber nicht daran hinderte, sie die ganze Zeit über mehr oder minder deutlich anzubaggern. Nils Scheffler, der neben ihm saß, schien ihn einmal sogar zur Räson gerufen zu haben, wenn sie die Gesten der beiden Männer richtig gedeutet hatte, allerdings ohne großen Erfolg.

Sie verabschiedete sich und wünschte Claas Hoyer alles Gute für seinen Ruhestand, dann fuhr sie in ihre Ferienwohnung, wo sie zuerst unter die Dusche ging und sich danach in Shorts und T-Shirt mit einem Glas Wasser auf den Minibalkon setzte. Sie hätte lieber ein Bier getrunken, hatte aber keines zur Hand und musste auch erst in Erfahrung bringen, ob es das süffige Helle, das sie so liebte, auch hier im Norden zu kaufen gab. Wohl eher nicht. Das bittere Zeug vorhin auf der Feier hatte ihr jedenfalls die Schuhe ausgezogen, aber sie hatte ihr Glas tapfer geleert und sich kurz geärgert, dass sie kein Weißbier zu ihrem Matjesgericht bestellt hatte.

Sie legte die Füße auf die Brüstung und bemühte sich, das anhaltende Gelächter, das von der Terrasse unter ihr kam, so gut es ging auszublenden. Sie war dem Paar im mittleren Alter zweimal im Treppenhaus begegnet, sehr lästige Zeitgenossen, die jedem sofort ein Gespräch aufzudrängen suchten. Das Lachen der Frau hatte etwas vom Gackern eines Huhns, und das Nervige daran war, dass sie jeden zweiten Satz damit untermalte, egal ob er komisch war oder nicht. Die Königsdisziplin ihres Mannes war das Telefonieren mit Lautsprecher, am liebsten auf der Terrasse, sodass man nicht nur seine Worte, sondern auch die Antworten seiner Gesprächspartner mitbekam. Zum Glück gingen die beiden mit den Hühnern ins Bett – und den Geräuschen nach zu urteilen, war es gerade wieder so weit. Gläserklirren, das Rücken der Gartenstühle, sich entfernende Stimmen.

Endlich.

Mit der eingetretenen Ruhe kam Anna wieder das Gespräch mit Norberg in den Sinn.

Er hatte auf sie den Eindruck eines Menschen gemacht, mit dem man nicht so schnell warm wurde. Es war allerdings nicht zu übersehen gewesen, dass der Vermisstenfall sein Interesse geweckt hatte. Und nur darauf kam es ihr an. Sie hatte schon häufiger mit unnahbaren Kollegen zusammengearbeitet, aber solange es mit der Arbeit vorangegangen war, hatte sie dies nicht als Manko empfunden. Ihr kam es auf Verlässlichkeit an, engere Kontakte oder gar Freundschaften schloss sie lieber außerhalb der Arbeit.

Sie konnte im Moment noch nicht absehen, in welchem Ausmaß sie die Unterstützung der Dienststelle benötigte. Da hing jetzt alles von den Gesprächen mit Constanze und Sophie Brechtmann ab, die sie hoffentlich einen großen Schritt weiterbrachten. Falls allerdings Hilfe vonnöten war, dürfte sie mit Norberg am besten fahren, schließlich war er ein erfahrener Mordermittler, der wusste, was in solchen Fällen zu tun war.

Der erneute Besuch in Nina Brechtmanns Wohnung hatte sie frustriert. Sie hatte auch dieses Mal wieder alles akribisch untersucht und sich unwohl gefühlt – wie immer bei Wohnungsdurchsuchungen von Vermissten. Man drang in die Intimsphäre eines Menschen ein, und da war es egal, ob dieser Mensch tot oder wie Nina Brechtmann hoffentlich noch am Leben war. Allerdings war diese Maßnahme unabdingbar, erst recht, wenn man noch niemanden gefunden hatte, der einem etwas über diesen Menschen erzählen konnte.

Eine gut bestückte Bücherwand, in der vom Krimi über Historienschinken und Liebesromane bis zu Sachbüchern alles vertreten war. Auffällig viele Werke über Natur- und Umweltschutz. An den Wänden mehrere großformatige Fotos mit Luftaufnahmen der Nordseeküste.

Auch die neuerliche Suche in Schränken und Schubladen hatte nichts ergeben. Keine Geheimfächer, keine Dokumenten-, Schmuck- oder Geldkassetten, nicht einmal eine Geburtsurkunde hatte sie gefunden. Was schon merkwürdig war, obwohl natürlich auch die Möglichkeit bestand, dass diese in einem Bankschließfach aufbewahrt wurde. Somit war Nina Brechtmann nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt. Eine Frau, die, dem Inhalt ihres Kleiderschranks nach zu urteilen, Jeans und T-Shirts bevorzugte. Elegante Klamotten und Schmuck: Fehlanzeige.

Auf dem Balkon waren keine Blumen gepflanzt, allerdings stand eine Zehnlitertüte mit Erde in einer Ecke, was ein Indiz dafür sein konnte, dass Nina beabsichtigt hatte, nach ihrem Urlaub hier Hand anzulegen.

Den kleinen Keller, der zur Wohnung gehörte, hatte Anna sich ebenfalls noch einmal vorgenommen, aber auch dieses Mal nichts entdeckt, was ihr hätte weiterhelfen können. Eine ausrangierte Kommode, in der sich einige ramponierte Plüschtiere befanden, vergilbte Kinderbücher, zwei Barbiepuppen in einem Schuhkarton und ein Puppenhaus, dem das Innenleben fehlte. Dinge aus Ninas Kindertagen. Ein ausgeblichener Sonnenschirm, mehrere tönerne Pflanztöpfe, zwei Balkonkästen. Das war’s.

Was Anna noch immer verwunderte, war die Tatsache, dass Ninas Kollegen bis auf ihren familiären Hintergrund so gar nichts über sie wussten. Es hatte den Anschein gehabt, dass Nina an ihrem Arbeitsplatz sehr beliebt war und sich dort wohlgefühlt hatte, da hielt man doch mit persönlichen Dingen nicht hinter dem Berg. Es sei denn, man hatte etwas zu verbergen.

Anna gähnte herzhaft und beschloss, die beruflichen Überlegungen für heute einzustellen und sich stattdessen der Frage zu widmen, wie sie schnellstmöglich an eine größere Ferienwohnung kam. Sie hatte sich in der Zwischenzeit mit der Tourismuszentrale in Verbindung gesetzt und erfahren, dass St. Peter-Ording ausgebucht sei. Falls es kurzfristige Absagen gäbe, würde man sie gerne informieren. Eine unbefriedigende Auskunft, da Stornierungen in der Hochsaison und dann auch noch bei diesem Bombenwetter eher unwahrscheinlich waren. »Warte doch erst mal ab«, hatte Nils Scheffler vorhin gemeint. »Vielleicht ist der Fall schnell aufgeklärt, oder Nina Brechtmann kehrt von allein zurück.« Aber das glaubte Anna nicht, denn ihr Instinkt sprach eine andere Sprache. Dieser Fall schien kompliziert und könnte längere Zeit in Anspruch nehmen.

Falls sie also in St. Peter keinen Erfolg haben sollte, hatte sie sich auf der Karte schon mal nach den nächstgelegenen Ortschaften umgeschaut. Tating oder Garding kämen infrage, alternativ Welt oder Vollerwiek. Hier würde die Fahrtzeit zur Station etwa zwanzig Minuten betragen, also immer noch zu verschmerzen.

Sonntag, 28. Juni

Wann hatte sein Leben eigentlich begonnen den Bach runterzugehen? Schon vor der Begegnung mit Nina oder erst nach ihrer Trennung?

Erbittert trat Kai Hellmer nach dem Kinderroller, der den Eingang des kleinen Supermarktes in Friedrichskoog versperrte und nach der Attacke einige Meter weit flog, bevor er scheppernd auf dem Gehweg aufprallte. Dem älteren Ehepaar, dem das Teil so unvermutet vor die Füße kullerte, warf er einen bösen Blick zu, der ihren offensichtlichen Protest augenblicklich im Keim erstickte.

»Ich kann nicht mehr«, hatte Nina bei ihrer letzten Begegnung gesagt. »Und ich will auch nicht mehr, weil du jeden Menschen in deinem Umfeld runterziehst. Du benutzt mich als deine persönliche Klagemauer und saugst mir jegliche Energie ab. So geht das nicht weiter.«

Er hatte einen Einwand vorbringen wollen, aber sie war noch nicht fertig gewesen.

»Du musst endlich damit aufhören, immer die anderen verantwortlich zu machen, wenn mal wieder etwas in deinem Leben schiefläuft. Das liegt ganz allein in deiner Verantwortung, daran ist niemand sonst schuld.«

»Verdammt noch mal, natürlich sind die schuld!«, hatte er sie irgendwann angeschrien. »Wenn man mir endlich mal eine Chance geben würde, dann könnte ich ihnen auch zeigen, was in mir steckt. Aber die wird mir ja von allen verwehrt!«

»Niemand verwehrt dir irgendwas«, hatte sie gesagt, und ihr mitleidiger Blick hatte ihn tausendmal mehr gekränkt, als wenn sie ihn verhöhnt hätte. »Deine Artikelserie ist nicht angekommen, aber man hat dir angeboten, stattdessen über etwas anderes zu schreiben. Aber das wolltest du ja nicht, weil du dich plötzlich zum investigativen Journalismus berufen fühltest. Mensch, Kai, jetzt sei doch endlich mal realistisch! Du bist ein guter Lokalreporter, aber mehr ist nicht drin.«

In dieser Deutlichkeit hatte sie es ihm zuvor noch nie gesagt. Er hatte sie dafür gehasst und tat es immer noch. Dass sie sich auf dem Rückzug befand, hatte sich schon seit Längerem angedeutet. Kaum noch Verabredungen, versiegende Gespräche, keinerlei gemeinsame Interessen mehr. Ja, er hatte sich in der letzten Zeit immer häufiger bei ihr ausgeheult, aber wofür war eine Partnerin denn da, wenn sie nicht auch die Sorgen und Nöte mit einem teilte?

»Wollen Sie hier Wurzeln schlagen, junger Mann?«

Kai fuhr herum und blickte in das genervte Gesicht einer drallen Frau in mittleren Jahren, die auf den Eingang deutete, vor dem er noch immer stand. Irritiert trat er zur Seite, woraufhin sie an ihm vorbeirauschte und das Geschäft betrat. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er einen Augenblick überlegen musste, was er eigentlich hatte kaufen wollen. Nach kurzem Nachdenken fiel es ihm wieder ein. Butter, Käse, Milch. Nicht zu vergessen die überregionalen Sonntagszeitungen. Die regionalen Käseblätter, für die er bisher einige Artikel geschrieben hatte, hatte er bereits am Frühstückstisch gelesen, und die Lektüre hatte ihm wie jeden Morgen den Appetit verdorben.

Mein Gott, wie er diese Provinzblätter hasste! Diese immer gleichen Artikel über die immer gleichen regionalen und somit völlig unbedeutenden Ereignisse. Kuh entlaufen, Trecker umgekippt, nächster Bauernmarkt. Selbst die anfangs hochemotionale Debatte, ob der Wolf nach Dithmarschen gehörte oder nicht, verlief sich langsam im Sande. Warum passierte eigentlich nie etwas Aufsehenerregendes in dieser verfickten Gegend, der er lieber heute als morgen den Rücken kehren würde? War es da ein Wunder, dass er sich endlich anderweitig ausprobieren wollte? Außerdem brauchte er irgendwann mal wieder ein paar Einnahmen, denn die andere Sache wurde ihm langsam zu heiß.

Bei seiner Rückkehr begegnete er einem Nachbarn, der gerade sein Rad Richtung Straße schob. Kai ließ dessen freundlichen Gruß unerwidert, eilte in das Mehrfamilienhaus, in dem er jetzt seit einigen Jahren wohnte, und öffnete den Briefkasten.

Leer.

Ja, logisch, sagte er sich einige Sekunden später. Vollpfosten! Es ist Sonntag, da wird keine Post zugestellt. Manchmal vertüddelte er die Wochentage, weil gerade in der Hochsaison auch am Sonntag alle Geschäfte geöffnet waren.

Mit einem unterdrückten Fluch schloss er die Klappe wieder und lief die Treppe zu seiner Wohnung im Dachgeschoss hinauf. In den beiden Zimmern war es warm wie in einem Backofen, obwohl er ständig Durchzug machte. Er verstaute die Lebensmittel im Kühlschrank und sank dann auf den einzigen, schon etwas klapprigen Küchenstuhl nieder.

Es lag jetzt ein halbes Jahr zurück, dass er seinen ganzen Mut zusammengenommen und Bewerbungsschreiben an mehrere überregionale Zeitungen geschickt hatte. Mit einer Reihe von Vorschlägen für längere Reportagen über Themen, die von gesellschaftlichem Interesse waren. Natürlich hatte er nicht mit schnellen Antworten gerechnet, aber dass es so lange dauern würde, hatte er nicht gedacht.

Und was, wenn am Ende überhaupt keine Antworten kamen? Wie immer, wenn ihn dieser Gedanke streifte, überkamen ihn eine tiefe Verzweiflung und Wut auf die anderen, die den beruflichen Aufstieg schafften, den man ihm vorenthielt.

Aber dieses Mal würde er nicht so schnell die Segel streichen und alle bisher angeschriebenen Zeitungen ein weiteres Mal kontaktieren. Das Hinterherbetteln widerstrebte ihm zutiefst, aber er hatte keine andere Wahl, denn er musste endlich weg aus Friedrichskoog.

Der Anruf der Touristeninfo holte Anna um halb acht aus dem Tiefschlaf.

Es hatte eine kurzfristige Absage aufgrund eines Krankheitsfalles gegeben, woraufhin ein siebzig Quadratmeter großes Ferienhaus im Ortsteil Böhl zur Verfügung stünde. Wenn Frau Wagner Interesse hätte, würden die Vermieter sie in einer Stunde in Empfang nehmen. Sie müsse sich allerdings sofort entscheiden, da mittlerweile weitere Anfragen nach größeren Ferienhäusern hereingekommen seien.

Frau Wagner hatte Interesse. Großes sogar, denn dieses Angebot war fast zu schön, um wahr zu sein. Hastig sprang Anna unter die Dusche, schlang einen Joghurt und eine Banane hinunter und machte sich auf den Weg. Um nicht zu spät zu kommen, nahm sie den Wagen. Außerdem kannte sie sich in St. Peter noch nicht aus, da sich seit ihren Kindertagen doch einiges verändert hatte, also musste das Navi aushelfen.

Das Ferienhaus lag in der Straße Zum Leuchtturm und entpuppte sich als kleinerer Anbau eines ansehnlichen einstöckigen Rotklinkerdomizils, das von einem gepflegten Garten umgeben war, dessen üppiger Bepflanzung man den heißen Sommer nicht ansah. Alles blühte in schönster Pracht, hier musste jemand einen besonders grünen Daumen haben. Auch die wenigen anderen Häuser und Grundstücke in dieser kleinen Sackgasse machten einen ansprechenden Eindruck, außerdem herrschte eine himmlische Ruhe. Kein Vergleich zu ihrer momentanen Ferienwohnung, in der sie von Touristen umgeben war, von denen es nicht nur das Paar in der Wohnung unter ihr mit der Lautstärke nicht so genau nahm. Von anhaltendem Kindergeschrei über bellende Hunde bis hin zu Ehestreitigkeiten hatte sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts bereits alles gehabt. Dinge, auf die sie gerne endlich verzichten würde. Es blieb allerdings die Frage, ob die Vermieter sie nehmen würden, da sie nicht sagen konnte, für wie lange sie das Ferienhaus mieten würde.

Auf ihr Klingeln reagierte zunächst niemand, erst nach dem zweiten Mal erblickte sie einen Schatten durch den geriffelten Glaseinsatz im oberen Bereich der weißen Haustür, die nur Sekunden später schwungvoll geöffnet wurde. Die Frau, die nun vor ihr stand, mochte um die sechzig sein, schlank und ausgesprochen attraktiv mit ihrem Kurzhaarschnitt. Sie sah Anna mit einem offenen und freundlichen Blick an. »Moin, Sie müssen Frau Wagner sein.«

Anna nickte und erwiderte einen kräftigen Händedruck. »Ja, Grüß Gott, äh … Moin.«

Die Frau lachte. »Grüß Gott? Das klingt mir aber sehr nach Bayern.«

Anna fiel in das Lachen ein. »Das stimmt. Ich komme aus München.«

Die Frau machte eine auffordernde Handbewegung. »Ich bin Corinna Heckler, kommen Sie doch herein.«

Anna folgte ihr durch einen hellen gefliesten Flur in ein gemütliches Wohnzimmer mit schönen Pinienmöbeln und einer Sitzgarnitur aus cognacfarbenem Leder. Bodentiefe Fenster gaben den Blick auf eine Terrasse mit Rattanmöbeln und einem blau-weiß gestreiften Strandkorb frei. Durch die geöffnete Tür trat ein Mann ins Zimmer, der sie mit einem aufmerksamen Blick musterte.

»Das ist mein Mann Peter, und das ist Frau Wagner«, machte Corinna Heckler sie miteinander bekannt.

Auch Peter Heckler hatte einen energischen Händedruck. Er war ein kräftiger Mann in Jeans und Holzfällerhemd, der wesentlich zugeknöpfter als seine Frau wirkte. Ein knappes Moin zur Begrüßung, dann ging er in den Flur, nahm einen Schlüssel von einem an der Wand befestigten Brett und öffnete die Haustür ohne ein weiteres Wort.

Corinna Heckler schenkte Anna ein aufmunterndes Lächeln, als wollte sie sich für ihren wortkargen Mann entschuldigen, und bat sie wieder nach draußen. »Unsere Tochter hat bis zu ihrer Heirat in dem Haus gewohnt. Seitdem bringen wir dort immer mal wieder Bekannte und Verwandte unter, und in der Hochsaison vermieten wir es auch an Feriengäste, die etwas Größeres suchen.«

Ihr Mann schloss die Haustür auf, und nachdem Anna eingetreten war und sich umgeschaut hatte, brauchte sie nicht lange für ihre Entscheidung. Die Zimmer im Erdgeschoss und ersten Stock waren großzügig geschnitten und lichtdurchflutet, und die Einrichtung im skandinavischen Stil ließ ihr Herz höherschlagen. So hatte sie ihr Haus in München seinerzeit auch einrichten wollen, aber Ralf … Stopp, nicht mehr dran denken, das Kapitel liegt endgültig hinter dir, unterbrach sie ihre Gedanken. »Wunderschön.« Anna strahlte die Hecklers an. »Wenn es für Sie okay ist, ziehe ich sofort ein.«

»Die Kosten sind Ihnen bekannt?«, fragte Corinna Heckler.

Anna nickte. Der Preis war natürlich um einiges höher als in ihrem jetzigen Domizil, und sie ging davon aus, dass die Behörde wenig bis gar nichts übernehmen würde. Aber das war ihr egal, dann würde sie die Differenz eben aus eigener Tasche zahlen.

»Wie lange werden Sie bleiben?«, wollte Peter Heckler wissen.

»Das kann ich noch nicht sagen«, musste Anna eingestehen.

Heckler runzelte die Stirn. »Wieso nicht?« Jetzt klang er fast unfreundlich.

Anna erklärte, dass sie keine Touristin sei, und erläuterte ihre Situation, ohne ins Detail zu gehen.

»Sie arbeiten bei unserer Polizei?«, fragte Corinna Heckler, und ihr Lächeln vertiefte sich. »Dann dürften Sie ja unseren Schwiegersohn kennen. Hendrik Norberg. Er fängt zwar erst morgen seinen Dienst an, war aber schon zur Einarbeitung in der Station.«

Anna stand da und fühlte sich für einen Moment wie ein begossener Pudel. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. In direkter Nachbarschaft mit der Familie eines neuen Kollegen, der zudem noch der Dienststellenleiter war und jetzt womöglich brühwarm über ihre außerdienstlichen Aktivitäten informiert werden würde. Dann rief sie sich zur Ordnung. Sie war nach St. Peter-Ording geschickt worden, um einen Fall aufzuklären, da würde nicht viel Zeit für Freizeit bleiben. »Ich habe ihn gestern Abend bei der Verabschiedung seines Vorgängers kennengelernt.«

»Dann besteht also die Möglichkeit, dass Sie nur ein paar Tage hierbleiben, wenn Sie den Fall schnell aufklären können«, stellte Heckler fest. »Unter diesen Umständen können wir Ihnen das Haus natürlich nicht vermieten. Die Gäste, die jetzt so kurzfristig abgesagt haben, hatten es immerhin für vier Wochen gebucht. Da wollen wir schon einen Ersatz für den ganzen Zeitraum haben.«

»Moment mal!«, sagte seine Frau energisch. »Frau Wagner ist eine Kollegin von Hendrik, natürlich vermieten wir ihr das Haus. Und falls es nur für einige Tage sein sollte, ist das doch nicht weiter schlimm.«

Es folgte ein kurzes Augenduell zwischen dem Ehepaar, das Corinna Heckler gewann. Ihr Mann grummelte noch etwas Unverständliches und verließ das Ferienhaus dann ohne einen Gruß.

Corinna Heckler seufzte. »Sie müssen meinen Mann entschuldigen. Unsere Tochter ist vor drei Monaten verstorben, Sie haben auf der Dienststelle ja vielleicht schon davon gehört. Ihr Tod setzt uns schrecklich zu.« Sie legte Anna kurz eine Hand auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit behellige. Es ist nur so, dass ich immer das Gefühl habe, meinen Mann verteidigen zu müssen, weil er sich vielen gegenüber so furchtbar unhöflich benimmt.«

»Sie müssen sich doch nicht entschuldigen, Frau Heckler«, sagte Anna, die plötzlich tiefes Mitleid empfand. Corinna Heckler schien geschrumpft angesichts der Unfreundlichkeit ihres Mannes, und Anna hoffte, dass der Tod ihrer Tochter die Hecklers nicht auseinanderdriften ließ, bis es womöglich zu spät war.

Corinna Heckler lächelte sie dankbar an und straffte ihren Rücken. »Also, wie ist es? Mein Angebot gilt.«

»Dann würde ich das Haus gerne nehmen«, sagte Anna erleichtert. »Kann ich gleich meine Sachen herbringen? Ich bin heute Nachmittag nämlich dienstlich unterwegs.«

»Natürlich können Sie das. Und mit dem Preis werden wir uns auch einig. Ich schätze nämlich mal, dass Ihr neuer Dienstherr die Differenz zu Ihrer jetzigen Ferienwohnung nicht zahlen wird.«

»Das ist schon okay, Frau Heckler«, wehrte Anna ab. »Die übernehme ich dann.«

»Darüber reden wir noch mal«, meinte Corinna Heckler mit einem Lächeln und drückte ihr den Türschlüssel in die Hand. »Auf gute Nachbarschaft!«

Anna brachte ihre Sachen in Windeseile von einem Ort zum anderen. Zwischendurch rief sie Claas Hoyer an, der ihr die Ferienwohnung vermittelt hatte und der nun versprach, bei seinem Bekannten ein gutes Wort einzulegen, damit keine weiteren Kosten für sie entstünden. Als schließlich alles eingeräumt war, warf Anna einen Blick auf ihre Armbanduhr. Erst halb eins, sie hatte also noch Zeit für ein Mittagessen und einen Spaziergang.

Der Ortsteil Dorf war laut Reiseführer der schönste in St. Peter-Ording. Anna konnte sich nicht daran erinnern, ihn als Kind mit ihren Eltern besucht zu haben, und selbst wenn, dürfte sich nach bald dreißig Jahren vieles verändert haben. Sie nahm den Wagen, da sie im Anschluss nach Ording zu Constanze Brechtmann fahren wollte, und fand in der Dorfstraße, die im malerischen Ortskern als Einbahnstraße angelegt war, tatsächlich noch einen Parkplatz. Für das Mittagessen standen einige Lokalitäten zur Verfügung, und nachdem Anna sich kurz orientiert hatte, entschied sie sich für das Restaurant Am Kamin, dessen weiß gekalkte Fassade unter dem tief geduckten Reetdach in der Sonne leuchtete. Sie fand einen Platz im Außenbereich und lehnte sich, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, behaglich im Stuhl zurück.

Leute gucken, wie ihre Mutter immer sagte. Anna hatte Spaß daran und spann sich häufig kleine Geschichten zusammen, wenn sie Gespräche anderer Menschen mitbekam oder deren Verhaltensweisen beobachtete.

Die Ofenkartoffel mit Krabben war lecker, das alkoholfreie Weizenbier süffig, und nachdem sie ihre Mahlzeit beendet und gezahlt hatte, reihte sie sich in den Strom der Urlauber ein, die die Dorfstraße entlangflanierten. Ein weißes Haus mit rotem Dach und dem Schriftzug Boy Jöns über dem Eingang erregte ihre Aufmerksamkeit. Es lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und während Anna die Straße überquerte, erinnerte sie sich, in welchem Zusammenhang ihr dieser Name untergekommen war.

Nordsee-Bernsteinmuseum.

Anna öffnete die Tür und betrat einen kleinen Laden, in dem man sich kaum umdrehen konnte, so voll war er. Sie erhaschte einen Blick auf die unterschiedlichsten Schmuckstücke aus dem fossilen Harz, die in Vitrinen ausgestellt waren. Wäre es leerer gewesen, hätte sie sich ausgiebig umgeschaut, da sie Bernstein liebte, aber angesichts der Vielzahl der Besucher, die heute den Laden bevölkerten, beschloss sie, ein anderes Mal wiederzukommen und dann auch das Museum aufzusuchen. Falls sie Zeit dafür fand.

Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Sie blickte sich kurz um und bog dann nach rechts in die Olsdorfer Straße ab, wo sie vor einem prachtvollen Reetdachhaus aus rotem Backstein mit grünen Fensterrahmen stehen blieb, das am Ende der Straße auf der linken Seite lag. Die Tafel über der schmucken Eingangstür wies darauf hin, dass es sich um das Museum Eiderstedt handelte. Es schien ein sehr altes Haus zu sein, und sobald sie Zeit hatte, würde sie auch ihm einen Besuch abstatten.

Sie setzte ihren Weg noch bis zum Marktplatz fort, dann kehrte sie wieder um. Es gab hier noch so vieles zu entdecken, aber jetzt musste sie sich erst einmal auf den Weg zu Constanze Brechtmann machen, die laut telefonischer Auskunft aus dem Seaview erst am Abend ins Hotel kommen würde, sich jetzt also zu Hause aufhalten dürfte.

Hendrik Norberg hatte den Vormittag damit verbracht, das Haus auf Vordermann zu bringen. Finn war von Daniel und Philipp abgeholt worden, der mit den beiden Jungen schwimmen gehen wollte. Norberg hatte versucht, Lasse, der wieder auf dem Damm zu sein schien, zum Mitgehen zu überreden, aber auf Granit gebissen. Um eins war sein Ältester kurz zu einem schweigsamen Mittagessen heruntergekommen, hatte sich jedoch im Anschluss daran sofort wieder in sein Zimmer im Dachgeschoss zurückgezogen. Wo er sich jetzt, kurz nach halb drei, immer noch aufhielt.

Das konnte nicht so weitergehen! Diese Sprachlosigkeit zwischen ihnen musste endlich ein Ende haben!

Kurz entschlossen brachte Norberg den Rasenmäher in den Schuppen zurück, der Rasen konnte warten. Nach dem Mittagessen hatte er sich im Garten beschäftigt, nur um seinen Gedanken und seiner Hilflosigkeit gegenüber Lasses Verhalten zu entfliehen.

Was war er doch für ein erbärmlicher Vater!

Norberg stieg ins Dachgeschoss hinauf und bemerkte auf einmal, dass an diesem Tag etwas anders war als sonst. Schon die ganze Zeit über, aber erst jetzt, auf der Treppe, wurde ihm bewusst, was es war.

Die Musik fehlte, mit der Lasse sie häufig nach seiner Rückkehr aus der Schule und manchmal auch an den Wochenenden zu malträtieren pflegte. Dieser unsägliche Rap, den er erst seit Kathrins Tod hörte. Zuerst hatten Norberg und Corinna ihn gewähren lassen; die Wege der Trauerbewältigung waren unterschiedlich, und wenn die Musik Lasse dabei half, Druck abzubauen, mussten sie da eben durch. Aber irgendwann war es zu viel geworden, und sie hatten Lasse gebeten, sich Kopfhörer aufzusetzen oder die Musik auf Zimmerlautstärke zu drehen. Lasse war ihrer Bitte jedes Mal widerspruchslos nachgekommen, aber irgendwann hatte das Spiel von Neuem begonnen. Und während er jetzt vor Lasses Zimmertür stand, fragte sich Norberg zum wiederholten Mal, ob dieses Verhalten ein Schrei nach Aufmerksamkeit war. Aber falls er mit seiner Vermutung recht haben sollte, wieso verschloss sich Lasse dann vor ihnen?

Norberg klopfte an die Zimmertür. Drinnen blieb es still. »Lasse?« Als auch dieses Mal keine Reaktion erfolgte, drückte Norberg die Klinke herunter und betrat den Raum. Er war leer. Norberg ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und stellte fest, dass Lasses Rucksack nicht auf seinem angestammten Platz neben der Tür stand. Offensichtlich hatte sein Sohn das Haus verlassen.

Seufzend stieg Norberg wieder ins Erdgeschoss hinunter. Dass Lasse neuerdings häufiger verschwand, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, hatte Corinna bereits erzählt. Mit Ermahnungen hatten sie sich bisher zurückgehalten, auch wenn sie schon gerne gewusst hätten, wohin er ging. Lasse war dreizehn und sehr selbstständig, und sie hatten beschlossen, ihm nach Kathrins Tod den Freiraum zu lassen, den er offensichtlich brauchte. Aber jetzt fragte sich Norberg, ob sie nicht zu nachsichtig gewesen waren in ihrem Bemühen, dem Jungen die Trauer um seine Mutter so erträglich wie möglich zu machen.

Constanze Brechtmann wohnte nicht, sie residierte. Wozu die Angestellte passte, die Anna kurz nach fünfzehn Uhr die Tür öffnete, nachdem sie sich über die Gegensprechanlage angemeldet hatte. Anna wunderte sich, wieso die junge Frau, die in ihrer adretten Schürze schon fast das Klischee eines Hausmädchens verkörperte, ihr nicht an den Tagen zuvor geöffnet hatte, bekam aber auf ihre Nachfrage nur die schnippische Antwort, dass die junge Frau schließlich nicht jeden Tag anwesend sei.

Anna trat ein und blickte sich um, wobei sie sich alle Mühe gab, ihr Erstaunen nicht allzu offen zur Schau zu stellen.

Nahm man das Haus von außen als ein äußerst luxuriöses Friesenhaus wahr, wirkte es im Inneren wie ein New Yorker Loft im Industrial Style. Unverputzte Wände, Böden in Räuchereicheoptik, die Möbel zum größten Teil aus unbehandeltem Holz mit Vintage-Charakter. Das Wohnzimmer, in welches die Angestellte sie führte, wurde von einer dunkelbraunen Chesterfield-Wohnlandschaft dominiert, bei deren Anblick sich Anna fragte ob der Antiklook echt war oder künstlich herbeigeführt. Die Einrichtung war sehr stylish und mit Sicherheit das Werk eines hochpreisigen Innenarchitekten. Für Annas Geschmack passten das Äußere des Hauses und dessen Inneres überhaupt nicht zusammen.

»Sie wollten mich sprechen?«

Anna fuhr herum, denn sie hatte niemanden hereinkommen hören. Eine Frau stand im hölzernen Türrahmen und musterte sie mit aufmerksamem Blick. Constanze Brechtmann; Anna hatte ihr Foto und eine Kurzvita im Internet gefunden. Sechzig Jahre alt, circa 1,70 groß, schlank, die blonden, zum Pagenkopf geschnittenen Haare von weißen Strähnen durchzogen. Dunkelgrauer Hosenanzug, weiße Seidenbluse, Perlenkette, das perfekte Abbild einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Nur die schwarzen Pumps in ihren Händen passten nicht ganz zum Bild. Als sei ihr das ebenfalls bewusst geworden, bückte sich die Hotelière und streifte die Schuhe mit schnellen Bewegungen über ihre Füße, bevor sie auf Anna zutrat und ihr die Hand reichte. »Constanze Brechtmann.«

Anna stellte sich vor und zeigte ihren Dienstausweis. »Ich wollte Sie und Ihre Tochter Sophie sprechen. Ist sie zufällig ebenfalls hier?«

»Nein, Sophie bewohnt ein Haus in Böhl. Dort finden allerdings gerade Renovierungsarbeiten statt, und so lange hält sich meine Tochter im Seaview auf.« Constanze Brechtmann sah Anna fragend an. »Und was will die Polizei von uns?« Sie deutete auf die Couch, und Anna nahm Platz.

»Es geht um Ihre Tochter Nina. Sie ist nach einer Urlaubswoche nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, woraufhin ihre Kollegen sie bei der hiesigen Polizei als vermisst gemeldet haben.«

Constanze Brechtmann runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts.

Also fuhr Anna fort: »Eine Kollegin hat angegeben, dass sich Nina in ihrem Urlaub mit ihrer Familie treffen wollte. Können Sie mir dazu etwas sagen? War Ihre Tochter hier?«

Constanze Brechtmann setzte sich jetzt ebenfalls und schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck ließ keine Rückschlüsse zu. »Nein, tut mir leid. Nina hat uns nicht besucht.«

Anna war irritiert. »Auch nicht ihre Schwester?«

»Nein, bei Sophie war sie sicherlich auch nicht. Wir haben schon länger keinen Kontakt mehr zu Nina.«

Damit hatte Anna nicht gerechnet, denn diese Aussage ließ die Angelegenheit in einem neuen Licht erscheinen. Offensichtlich hatte sie den Begriff »Familie« zu einseitig interpretiert. »Wen kann Nina denn sonst noch mit Familie gemeint haben? Onkel oder Tanten oder vielleicht Cousins und Cousinen? Oder Großeltern?«

Constanze Brechtmann schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Geschwister, und mein verstorbener Mann hatte ebenfalls keine. Und unsere Eltern leben nicht mehr.« Sie blickte Anna fragend an. »Seit wann wird Nina denn vermisst?«

»Vermisst gemeldet wurde sie vor vier Tagen. Wann sie genau verschwunden ist, versuche ich in Erfahrung zu bringen.«

Constanze Brechtmann schien zu überlegen. »Sophie und ich sind vier Tage auf Geschäftsreise gewesen. Davor waren wir durchgehend hier.«

»Besteht die Möglichkeit, dass sich Nina während Ihrer Abwesenheit in einem der Hotels gemeldet hat und die Nachricht nach Ihrer heutigen Rückkehr nicht an Sie weitergeleitet wurde?« Anna konnte sich das zwar nicht vorstellen, aber sie musste alles in Erwägung ziehen.

Die Frau vor ihr schüttelte den Kopf. »Nein, das hätte man uns mitgeteilt. Wir haben äußerst zuverlässige Mitarbeiter.«

»Ich würde Sie trotzdem bitten, in den beiden Hotels nachzufragen«, beharrte Anna.

Constanze Brechtmann nickte und stand auf, um ihr Handy zu holen, das auf einem Sideboard lag. Zwei kurze Telefonate, dann war die Sache geklärt. »Nina hat sich in keinem der beiden Häuser gemeldet. Weder telefonisch noch war sie vor Ort.«

Das war alles sehr merkwürdig. »Sie sagten, dass Sie schon länger keinen Kontakt mehr zu Nina haben. Wann haben Sie denn das letzte Mal etwas von ihr gehört?«

Constanze Brechtmann hob die Brauen und stieß die Luft aus. »Das muss so zwei, drei Jahre zurückliegen. An ein genaues Datum kann ich mich leider nicht mehr erinnern.«

Das wollte Anna jetzt aber doch genauer wissen. »Gibt es einen Grund, warum der Kontakt abgebrochen ist?«

»Ach Gott …«, Constanze Brechtmann schaute für einen Moment auf ihre im Schoß verschränkten Hände, bevor sie ihren Blick wieder auf Anna richtete. »Es ist ein sehr schmerzhaftes Thema für mich, dass wir so auseinandergedriftet sind. Wissen Sie, Nina hat sich schon immer sehr für den Umweltschutz eingesetzt, aber irgendwann schien sie uns äußerst fanatisch in dieser Beziehung geworden zu sein.« Sie seufzte. »Die Hotelneubauten an der Nordseeküste und auf den Inseln waren ihr schon immer ein Dorn im Auge. Natürlich wird bei denjenigen, die dagegen angehen und die sich teilweise auch in Gruppen organisieren, immer der Umweltschutz ins Feld geführt und der angebliche Ausverkauf unserer Orte. Dass die Einheimischen keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden, ist zum Beispiel auch so ein Totschlagargument, das aber ganz bestimmt nicht auf St. Peter-Ording zutrifft.«

Na ja, dachte Anna, die Frage ist, wie man bezahlbar definiert. Da setzt du mit Sicherheit einen anderen Maßstab an als ein kleiner Angestellter.

»Wir kommen aber nun mal nicht an der Tatsache vorbei, dass wir lange Jahre die Entwicklung verschlafen haben, und da schließe ich mein Unternehmen überhaupt nicht aus«, fuhr Constanze Brechtmann fort. »Obwohl ich bei meinen Hotels immer viel Geld in die Modernisierung gesteckt habe. Aber Fakt ist, dass wir gerade in St. Peter-Ording dringend weitere Hotelneubauten brauchen. Der Ort hat sich in den vergangenen Jahren zu dem Hotspot an der Nordsee entwickelt, da kann sich Sylt mit seiner schlechten Anbindung mittlerweile verstecken. So etwas muss man natürlich ausnutzen und den Touristen das bieten, was sie haben wollen. Immerhin lassen sie eine Menge Geld bei uns, und davon profitiert schließlich die ganze Region – und nicht nur wir Hoteliers.« Sie wirkte aufgewühlt. »Wissen Sie, es ist nicht einfach, sich in dieser Branche zu behaupten, erst recht nicht, wenn man eine Frau ist. Das hat mich in den letzten Jahren viel Kraft gekostet. Und dann auch noch der Bruch mit Nina, das war alles nicht leicht für mich.«

»Ich habe gelesen, dass Sie einen Hotelneubau in Böhl in der Nähe eines Naturschutzgebiets planen.«

»Ja, in der Nähe eines Naturschutzgebiets!« Constanze Brechtmann hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet. »Nicht mittendrin! Aber das interessiert diese Krawallmacher ja nicht, Hauptsache, alles niedermachen!« Jäh hielt sie inne, als sei der Ausbruch ihr peinlich. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, der Umweltschutz ist eine Sache, die wir sehr ernst nehmen. Aber wir verwahren uns dagegen, dass jetzt jedes neue Hotelprojekt an unseren beiden Küsten in Grund und Boden verdammt wird und wir Investoren die Buhmänner sind! Ich spende zum Beispiel schon seit Jahren für Naturschutzprojekte, auch weil ich Nina zeigen wollte, wie wichtig mir der Umweltschutz ist. Aber sie hat das immer so dargestellt, als wolle ich mich damit von meiner Verantwortung freikaufen.« Sie schluckte. »Das hat mir sehr wehgetan.«

»Hat Nina sich denn auch gegen Ihre Hotelneubauten gewendet, die in den letzten Jahren entstanden sind?«

»Ja, natürlich, und zwar ganz vehement. Das neue Projekt hier in St. Peter ist schon seit einigen Jahren in der Planung, und nachdem Nina davon erfahren hatte, ist sie dann tatsächlich mal wieder aufgetaucht. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich nur auf Profit aus sei und mich einen Dreck um die Umwelt scheren würde und um die Leute, die hier leben und mit dem immer größeren Touristenandrang klarkommen müssen. Der Ort würde jetzt schon aus allen Nähten platzen, ob ich auch mal an die Infrastruktur gedacht hätte, die da überhaupt nicht mithalten könne.« Constanze Brechtmann stieß ein ungehaltenes Schnauben aus. »Als wäre ich jetzt auch noch für die Infrastruktur zuständig!«

Wenn du nicht nur auf Profit ausgerichtet wärst, würdest du sie zumindest im Auge behalten, dachte Anna.

»Wie auch immer«, fuhr Constanze Brechtmann fort. »Nina wurde ziemlich laut bei diesem Gespräch und ist zum Schluss richtig ausgeflippt. Ich habe dann dagegengehalten und sie darauf hingewiesen, dass dieses Geld, das sie so anprangert, ihr lange Jahre ein sorgenfreies Leben und ein Studium ermöglicht hat. Ich habe ihr klipp und klar gesagt, dass sie die Leistung meiner Familie nicht ständig in den Schmutz ziehen soll. Danach haben wir uns dann kaum noch gesehen, und irgendwann brach der Kontakt endgültig ab.«

Die Betonung eines Wortes machte Anna stutzig. »Meiner Familie? Entschuldigung, aber das klingt für mich im Moment so, als wäre Nina kein Teil davon.«

Constanze Brechtmann räusperte sich. »Nina ist adoptiert. Vielleicht hat sie sich deshalb nie so richtig mit dem identifizieren können, was meine Eltern aufgebaut haben. Aber Nina ist deshalb natürlich trotzdem ein Teil meiner Familie! Auch wenn sie sich in den letzten Jahren offensichtlich für uns geschämt hat.«

Nina war adoptiert. Warum hatte Constanze Brechtmann sie nicht eher darauf hingewiesen? »Ist Ihre Tochter Sophie ebenfalls adoptiert?«, wollte Anna wissen, nachdem sie den Moment der Überraschung überwunden hatte.

»Nein, Sophie ist mein leibliches Kind.« Constanze Brechtmann lehnte sich zurück und ein zärtlicher Ausdruck überzog ihr Gesicht. »Mein Mann und ich wollten immer Kinder, aber es hat einfach nicht geklappt. Sechs Jahre nach unserer Heirat haben wir uns dann zu einer Adoption entschlossen. Nina war einen Monat alt, als sie zu uns kam. Drei Jahre später wurde ich dann überraschend doch noch schwanger. Die Ärzte meinten, dass es damit zusammenhängen könnte, dass der Druck nach Ninas Adoption endlich weg gewesen war.« Das Lächeln vertiefte sich. »Mein Mann und ich waren jedenfalls überglücklich, als es dann doch noch funktioniert hat.«

Anna überlegte. Dann hatte Nina mit dem Hinweis auf den Besuch bei ihrer Familie womöglich gar nicht die Brechtmanns, sondern ihre leiblichen Eltern gemeint. Als sie Constanze Brechtmann darauf ansprach, zuckte diese die Schultern. »Das ist natürlich möglich, allerdings hat Nina nie irgendein Interesse gezeigt, ihre leibliche Mutter kennenzulernen. Mein verstorbener Mann und ich haben seinerzeit eine sogenannte Inkognitoadoption durchgeführt, da wir nicht wollten, dass sich Ninas Mutter mit uns in Verbindung setzt. Sie hatte Nina mit sechzehn Jahren bekommen und war vollkommen überfordert mit dem Kind, woraufhin ihre Eltern ihr zu einer Adoption geraten hatten. Wir haben uns damals nur vergewissert, dass der soziale Hintergrund der Familie stimmt, mehr wollten wir nicht wissen, da wir Nina auf den ersten Blick geliebt haben.«

Anna rief sich ins Gedächtnis, was sie über die Inkognitoadoption wusste. Hier erfuhren die Eltern, die ihr Kind zur Adoption freigaben, nichts über die annehmenden Eltern, weil vermieden werden sollte, dass sie im Zuge einer emotionalen Kurzschlussreaktion bei ihren Kindern auftauchten und deren Leben durcheinanderbrachten. Die annehmenden Eltern hingegen wurden über eine eventuelle Vorgeschichte des Kindes sowie die der leiblichen Eltern informiert.

»Sie sprechen nur von Ninas leiblicher Mutter«, hakte Anna nach. »Was ist mit dem Vater?«

»Der hat Ninas Mutter sitzen lassen, nachdem er von der Schwangerschaft erfahren hatte. So stand es in den Adoptionsunterlagen.«

»Dann haben Sie also nur Angaben über Ninas Mutter und deren Eltern?«

Constanze Brechtmann nickte. »Ja.«

»Wann hat Nina erfahren, dass sie adoptiert wurde?«

»Wir haben es ihr an ihrem sechzehnten Geburtstag gesagt, weil sie ab diesem Datum Einblick in die Adoptionsunterlagen hätte nehmen können. Das hat sie auch getan, allerdings hat sie sich geweigert, ihre leibliche Mutter kennenzulernen. Die hätte sie schließlich einfach so weggegeben, der würde sie mit Sicherheit nicht hinterherlaufen. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Nina später dann doch Kontakt zu ihr aufgenommen hat. Aber wenn Sie jetzt sagen, dass sie im Urlaub ihre Familie besuchen wollte, kann sie damit ja nur ihre leibliche Mutter und vielleicht auch ihre Großeltern gemeint haben.«

»Wie hat Nina reagiert, als sie von der Adoption erfuhr?«

»Sehr verhalten. Unsere Schwierigkeiten begannen ja schon während ihrer Pubertät und setzten sich danach leider fort. Das hat dazu geführt, dass sie sich uns gegenüber immer mehr verschlossen hat. Deshalb kann ich im Grunde bis heute nicht sagen, ob sie diese Nachricht trotz ihrer markigen Worte emotional aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«

»Können Sie mir bitte die Namen von Ninas Mutter und von ihren Großeltern geben, damit ich Kontakt zu ihnen aufnehmen kann? Und nach Möglichkeit auch deren Adressen?«

Constanze Brechtmann erhob sich und ging zum Schreibtisch hinüber, aus dem sie einen Ordner herausholte. Sie blätterte einen Augenblick darin und nahm dann eine Seite heraus. »Ich mache Ihnen eine Kopie.« Sie verließ den Raum und kam nach kurzer Zeit mit einer Ablichtung zurück, die sie Anna in die Hand drückte. »Hier finden Sie alle Angaben.«

»Danke.« Anna steckte das Blatt in ihre Tasche und sah Constanze Brechtmann forschend an. Die nächste Frage war heikel, aber sie musste sie stellen. »Sie sind sehr wohlhabend, Frau Brechtmann, und so etwas weckt immer Begehrlichkeiten. Seien Sie deshalb jetzt bitte ganz ehrlich zu mir. Ist Nina entführt worden? Haben Sie eine Lösegeldforderung erhalten?«

Zum ersten Mal während des Gesprächs verlor Constanze Brechtmann die Fassung. Geschockt starrte sie Anna an und brauchte einige Sekunden, um ihre Sprache wiederzufinden. »Entführt? Nein … nein … Wie kommen Sie denn darauf? Bei einer Lösegeldforderung hätte ich doch sofort die Polizei alarmiert. Das ist doch der normale Weg.«

»Das ist richtig«, räumte Anna ein, »aber Ihnen dürfte bekannt sein, dass dieser Weg häufig nicht beschritten wird, weil die Entführer drohen, dann die Person umzubringen, die sie in ihrer Gewalt haben.«

Constanze Brechtmann schüttelte den Kopf. »Das mag ja sein, aber Ihre Überlegung trifft in diesem Fall nicht zu. Nichts dergleichen ist passiert!«

Anna beobachtete sie aufmerksam. Constanze Brechtmann war erregt, daran bestand kein Zweifel. Weil ihre Aussage nicht der Wahrheit entsprach? Oder hatte das vorangegangene Gespräch ihr mehr zugesetzt, als sie es sich hatte anmerken lassen? Anna war gespannt, wie Sophie Brechtmann auf die Frage nach der Entführung reagieren würde. Sie erhob sich. »Danke, das war’s fürs Erste, Frau Brechtmann. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

Constanze Brechtmann warf einen kurzen Blick auf die Visitenkarte, die Anna ihr in die Hand gedrückt hatte. »LKA Bayern?«

»Ich bin erst vor Kurzem nach Schleswig-Holstein versetzt worden und noch nicht dazu gekommen, mir neue Visitenkarten machen zu lassen.« Anna deutete auf die Karte. »Die Nummer meiner Dienststelle hier in St. Peter und meine Handynummer stehen auf der Rückseite.«

Constanze Brechtmann drehte die Karte um und nickte. »Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Frau Wagner. Auch wenn wir keinen Kontakt mehr haben, ist Nina doch immer noch meine Tochter, und ich mache mir jetzt natürlich große Sorgen um sie.«

Anna versprach es.

»Wann kommt Nina denn mal wieder zu Besuch?«

Jutta Gräfsen zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Mannes aus dem Wohnzimmer vernahm. Hastig stellte sie die Teller, die sie gerade aus dem Geschirrspüler geholt hatte, auf der Arbeitsplatte ab, weil ihre Hände zu zittern begonnen hatten.

Ihr war klar gewesen, dass Hans diese Frage über kurz oder lang stellen würde. Schließlich war Nina in der Anfangszeit häufig zu ihnen nach Büsum gekommen, aber in den vergangenen Monaten hatten die Besuche abgenommen, bis sie schließlich ganz ausgeblieben waren. Jutta schauderte, als sie an ihre letzte Begegnung dachte. So viele böse Worte, bis die Situation schließlich eskaliert war …

»Jutta?«

Hans würde keine Ruhe geben, bis er eine Antwort erhalten hatte. Also ging sie ins Wohnzimmer hinüber, wo er am Esstisch über der Sonntagszeitung saß. »Nina kommt nicht mehr.«

Ihr Mann ließ die Zeitung sinken und sah sie erstaunt an. »Wieso das denn? Ist irgendwas passiert?«

Jutta nahm ihm gegenüber Platz und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. Sie mied seinen Blick. »Nina hat mir vorgeworfen, dass ich klammere. Ich würde sie erdrücken.«

Hans stieß einen Seufzer aus und legte die Zeitung beiseite. Seine Hände umschlossen ihre, und zwangen Jutta mit sanftem Druck dazu, zu ihm aufzusehen. »Das solltest du nicht überbewerten, Schatz. Nach allem, was uns Nina über die Brechtmanns erzählt hat, hat sie dort nie viel Liebe erfahren. Es ist wahrscheinlich nur ungewohnt für sie, dass jetzt jemand da ist und Anteil an ihrem Leben nimmt.«

»Hab ich geklammert?« Tränen stiegen in Juttas Augen.

Ihr Mann löste seine Hände und faltete die Zeitung zusammen. »Ach Gott, was heißt ›geklammert‹? Du hast versucht, dich um sie zu kümmern, das ist ja nun nicht gleichbedeutend mit ›klammern‹.«

Jutta erinnerte sich an die Gespräche, nach denen Ninas Rückzug begonnen hatte. »Nina hat mir unterstellt, dass ich versuche, alles wiedergutzumachen. Weil ich sie damals weggegeben habe.« Jutta wischte sich über die nassen Augen und blickte ihren Mann an. »Natürlich habe ich das versucht. Es kann doch überhaupt niemand nachvollziehen, was für Schuldgefühle ich all die Jahre mit mir herumgetragen habe. Und welche Trauer und Sehnsucht nach meinem Kind.«

»Ich muss sagen, dass ich solche Sprüche nicht nett von Nina finde. Was ist denn schlimm daran, wenn man etwas wiedergutmachen möchte? Ich war davon ausgegangen, dass sie Verständnis für deine damalige Lage aufgebracht hat.« Er sah sie mit einem besorgten Blick an. »Warum hast du mir denn nie etwas davon erzählt, dass es Schwierigkeiten zwischen euch gegeben hat? Dann hätte ich mal mit Nina gesprochen.«

Seine Worte erfüllten Jutta mit Wärme. Sie waren jetzt seit siebzehn Jahren zusammen, fünfzehn davon als Ehepaar. In diesem Jahr hatten sie beide ihren achtundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Vor Hans hatte sie nur Nieten gezogen, mit ihm aber das große Los. Er war fürsorglich und liebevoll, auch wenn er es nicht immer leicht mit ihr hatte, und er wäre mit Sicherheit ein guter Vater geworden. Aber leider war ihnen kein Kind vergönnt gewesen, und Jutta hatte in manchem düsteren Moment gedacht, dass dies die Strafe dafür war, dass sie Nina damals fortgegeben hatte.

Sie war so glücklich gewesen, als ihre Tochter sich vor vier Jahren bei ihr gemeldet hatte. Nina hatte zugegeben, dass sie bereits an ihrem sechzehnten Geburtstag von der Adoption erfahren hatte, aber lange Jahre nicht wissen wollte, wer ihre leiblichen Eltern waren. Aber irgendwann war das Verlangen, sie kennenzulernen, doch zu groß geworden.

Jutta überlief noch heute eine Gänsehaut, wenn sie an den Moment zurückdachte, an dem Nina so unverhofft vor ihrer Tür gestanden hatte. Schon beim ersten Blick in Ninas Augen hatte sie geahnt, um wen es sich bei der jungen Frau handelte, und nachdem Nina ihren Namen genannt hatte, war die Ahnung zur Gewissheit geworden. Jutta hätte ihre Tochter am liebsten sofort in die Arme geschlossen, aber Ninas Blick hielt sie auf Distanz. Jutta hatte sie ins Haus gebeten, wo sie zuerst eine ganze Zeit lang um Worte verlegen im Wohnzimmer gesessen hatten, bis Hans von der Arbeit gekommen war und es mit seiner umgänglichen Art geschafft hatte, das Eis zu brechen. Danach war es Stück für Stück vorangegangen. Gegenseitige Besuche waren gefolgt, Nina hatte sich mehr und mehr geöffnet.

Jutta hatte nicht genug von ihr bekommen können. Sie hatte sie mit Geschenken überhäuft, sich um wöchentliche Treffen bemüht und mehrere Male sogar vorgeschlagen, einmal gemeinsam in den Urlaub zu fahren.

Ja, gestand sie sich jetzt ein, vielleicht bin ich in meinem Bemühen, alles nachholen zu wollen, über das Ziel hinausgeschossen. Vielleicht habe ich Nina zu sehr vereinnahmt und ihr die Luft zum Atmen genommen. Aber ich war doch so glücklich, dass sie wieder bei mir war.

»Soll ich mit Nina sprechen?«

Jutta war so in Gedanken versunken, dass sie Hans’ Frage zuerst gar nicht mitbekommen hatte. Erst beim zweiten Mal drang sie zu ihr durch.

»Jutta, soll ich mal mit Nina sprechen?«

»Nein! Nein, auf keinen Fall!«, wehrte sie voller Entsetzen ab. Sie wich seinem Blick aus und blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten.

Constanze Brechtmann konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal in den alten Fotoalben geblättert hatte. Eine Reihe von Schubladen war voll mit ihnen, da sie eine leidenschaftliche Fotografin war und nicht nur die wichtigen Ereignisse ihres Lebens auf Schnappschüssen festgehalten hatte. Natürlich hatte sie in den letzten Jahren auf die digitale Fotografie umgestellt, aber sie mochte es nicht, sich die Fotos auf dem Bildschirm anzuschauen, sondern ließ sie drucken, und deshalb kamen immer wieder neue Alben dazu.

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