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Noto

Als Buch hier erhältlich:

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Das zärtliche Porträt einer Partnerschaft und einer wilden Liebe zu Sizilien, wo der Tod nicht das Ende bedeutet

»Die Verwebung von sikelischer Mythologie, äußerst Privatem und Gwyneth Paltrow ist einzigartig. Noto ist ein sehr guter, ein sehr kluger Roman.«
Christian Kracht

Als sein Partner stirbt, reist Konrad mit Adrianos Asche nach Sizilien, wo sie sich in den letzten gemeinsamen Jahren ein Haus gekauft und eine zweite Heimat geschaffen hatten. Auf der Reise begleitet ihn unter anderem der junge gutaussehende Santi, der im Gegensatz zum grüblerischen Konrad, das Leben auf die leichte Schulter nimmt. Die Insel der Gegensätze wird beide auf ihre eigene Art herausfordern. Wir erleben eine ebenso turbulente wie berührende Abschiedsreise, einen liebevollen Rückblick auf gemeinsame Jahre, ein unterhaltsames Porträt der deutschen Ex-Pats auf Sizilien und einen Ausblick darauf, wie es nach einem lebensändernden Verlust weitergehen kann. 
Adriano Sack liefert ein fulminantes literarisches Debüt, in dem das wilde Berlin auf das unberechenbare Sizilien trifft.


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013159
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Und oft schlief ich Seite an Seite mit Carmelo auf dem Grunde des Bootes, um die Zeit bis zur Dämmerung zu erfüllen, in der die Raubfische zu jagen beginnen.

René König

Kapitel 1

Fantastic (Schiff der Träume)

Ich öffne die schwere Metalltür und blicke in ein schwarzes Loch. Im Neonlicht sehe ich sauber vernarbtes Fleisch. Das Loch sieht aus, als sei es mit einer dunklen Paste versiegelt worden. Ich kann direkt hineinsehen, denn es ist die leere Augenhöhle eines kleinen fuchsbraunen Pferdes, und unsere Köpfe sind auf gleicher Höhe.

Das Pferd steht in der Haustierkabine auf Deck 6 der Autofähre Fantastic, die sich auf ihrem Weg von Civitavecchia nach Palermo und weiter nach Tunis befindet. Die Käfige für die Katzen und Hunde sind leer, dazwischen steht dieses einäugige Pferd. Seine Nüstern bewegen sich im ruhigen Rhythmus seines Atems. Es schnaubt nervös, vielleicht hat es Jack gewittert. Der steht auf der blinden Seite des Tieres, zerrt an der Leine und will weg. Ich aber kann meinen Blick nicht losreißen.

Das linke Auge sieht gesund aus. Es wölbt sich und glänzt, es ist so dreidimensional und seelenvoll, wie es nur Pferdeaugen sind. Trotz seiner Verstümmelung wirkt das Tier nicht, als fehle ihm etwas. Im Gegenteil: Die schwarze Wunde gibt ihm Tiefe und Weisheit, wie einem uralten Gott. Ich überlege, welcher Unfall, welche Krankheit, welche Grausamkeit oder welche Dummheit es dieses Auge gekostet hat. Und warum ausgerechnet ich auf ausgerechnet dieser Reise diesem Pferd begegnen muss. Es ist so lachhaft passend. Aber gelacht habe ich seit 11 Stunden und 29 Tagen nicht mehr.

Ich schließe die Tür wieder sorgfältig und gehe mit Jack eine Abendrunde über das Hundedeck. Unsere Begegnung mit dem einäugigen Pferd hat ihm die Laune verdorben. Sogar an dem knurrenden Schäferhund schleicht er vorbei, ohne dessen Knurren zu erwidern. Dann pinkelt er auf den Boden. Nicht lässig und raumgreifend wie sonst, sondern verstohlen und hastig. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich bringe ihn in unsere Kabine und gehe ins Bordrestaurant.

Die Kellnerin mit den markanten Augenbrauen kämpft am Nebentisch mit dem Korkenzieher, zerfetzt die Metallkappe der Rotweinflasche und reißt sie schließlich ab. Dann gießt sie die Gläser nahezu randvoll. Obwohl der Vorgang etwas Quälendes hat, verfolgt ihn das japanische Paar am Tisch ohne Regung. Sie lächeln und heben ihre Gläser: »Mako?«, sagt er. »Kei!«, sagt sie.

Von einer Wartezimmerlektüre kenne ich die Geschichte meiner Tischnachbarn: Mako war eine japanische Prinzessin, bevor sie einen bürgerlichen Anwalt aus New York heiratete. Kei nimmt jetzt die Sonnenbrille ab, um sein Steak zu schneiden. Als die Kellnerin fragt, ob sie ein Selfie mit ihnen machen könne, streicht er sich über die langen Koteletten, und sie sagt: »Sehr gern! Wo kommst du her?«

»Scicli«, sagt die Kellnerin. Eben war sie noch wütend über den Korkenzieher, jetzt strahlt sie: »Die schönste Stadt Siziliens.«

Ich starre auf die Menükarte und weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Adriano wollte nie, dass wir das Gleiche bestellten. Selbst in einem Schnellimbiss oder auf einer Fähre nahm er lieber seine zweite Wahl, als eine Doppelung zuzulassen. »Dann können wir mehr Sachen probieren«, sagte er. »Und wenn dir meins besser schmeckt, tauschen wir.« Aus seiner Sicht war das eine großmütige Geste. Denn obwohl er so schmächtig war, liebte er Essen in jeder Form und gab dafür bedenkenlos viel Geld aus. Daran hatte ich mich erst gewöhnen müssen, als wir uns kennenlernten. Jetzt bestelle ich irgendeine Pizza und eine Cola, denn er ist nicht mehr da, und schlafen werde ich ohnehin nicht können.

Beim Warten fällt mir auf, warum mich die leere Augenhöhle des Pferdes so irritiert hat: Sie sah aus, als habe man sie mit einem Eisportionierer ausgelöffelt.

***

In der Kabine 8415 hat sich Jack auf eins der Betten gelegt, was er sich zu Hause nie erlaubt. Er huscht schuldbewusst zu Boden, aber er hat sich von dem Schock mit dem Pferd erholt und schaut mich schon wieder abenteuerlustig an. Unsere Freundin Claudia hatte ihn an einer Tankstelle auf Sizilien aufgegriffen. Er war ein knappes Jahr alt und fast verhungert: Überall bohrten sich die Knochen durch seine Haut, und weil er Räude hatte, waren ihm fast alle Haare ausgefallen. Halb tot sei er gewesen, erzählte uns Claudia, als sie ihn aufgenommen hatte. Sie fühlte sich als seine Retterin, und das war sie wohl auch. Als wir Jack das erste Mal trafen, waren seine Haare nachgewachsen, obwohl man an den Flanken noch die grau-rosa Haut sah. Er stupste uns mit seiner kalten, feuchten, vorwitzigen Nase an, zog sich dann wieder zurück; er wollte gestreichelt werden und dann wieder nicht. Und er ließ uns die ganze Zeit nicht aus den Augen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick zwischen uns, es war viel stärker: die Gewissheit, dass wir füreinander bestimmt waren.

Für einen Mischling ist er eine Schönheit; ein mittelgroßer, karamellfarbener, kurzhaariger Hund, der so aussieht, wie ein Kind einen Hund zeichnen würde. Sein rechter Tränenkanal ist defekt, unter dem Auge hat er ständig eine dunkle Spur. »Tränenmadonna« habe ich ihn deshalb genannt, aber Adriano mochte diesen Spitznamen nicht. Er sagte, Jack habe im ersten Jahr seines Lebens genug gelitten. Bis zu dieser Nacht in Berlin vor 12 Stunden und 29 Tagen war es »unser Hund«.

Jacks Rückenfell ist scharfkantig und rau, aber seine Ohren sind weich wie die eines Welpen. »Million Dollar Ears« hat Adriano sie immer genannt und konnte nicht aufhören, sie zu streicheln. Er, der nie einen Hund gewollt hatte. Es war seine Art zu sagen, dass Jack nun zur Familie gehörte.

Ich habe den Hund bei seiner Trainerin Natascha in Rom gelassen, als ich nach Berlin geflogen bin. Sie hat mir einen geringeren Tagessatz berechnet als sonst, weil, wie sie sagte, »Beerdigungen so teuer sind«.

Die Liege in meiner Kabine ist hart und schmal, die dünne Decke riecht nach Staub und Chemie. Aber das ist es nicht, was mich wach hält. Es ist eine Mischung aus Erschöpfung, Nervosität und einer Traurigkeit, die alles umfasst. Es war früher immer Adriano, der mit leichtem und unruhigem Schlaf zu kämpfen hatte, seit seinem Tod leide ich darunter und habe schnell verstanden: Beim Nicht-schlafen-Können gibt es verschiedene Phasen, und keine davon macht Spaß. Die trügerische Kurz-einnick-Phase am Anfang, die Rumwälzphase danach, die sich über Stunden hinziehen kann und die die Ängste unkontrolliert hochspült, die Noch-mal-weg-Phase, in der Träumen und Denken verschwimmen, die Resignationsphase, in der man sich mit dem mangelnden Schlaf abgefunden hat und nur noch wartet, bis der nächste Tag nah genug ist, um ihn verfrüht beginnen zu können.

Auf dem Beistelltisch liegen mein Oura-Ring, obwohl ich den eigentlich vor allem im Schlaf tragen sollte, eine Halbliterflasche stilles Wasser, eine zerfledderte, aber von mir bislang unberührte Ausgabe von »Der Herr der Ringe. Die Gefährten«, die Hirschtalgcreme gegen trockene Hände von meiner Mutter und der Mussolini-Roman von Antonio Scurati auf Italienisch.

Daneben steht eine dunkelgrüne Dose der italienischen Rasiercreme Proraso. Adriano mochte ihren Geruch nicht, aber er kaufte sie trotzdem wegen der altmodischen Verpackung. Sie erinnerte ihn an den Friseursalon in der Bergstadt Chiaramonte Gulfi mit den lackierten Wänden. Jetzt ist seine Asche in dieser Plastikdose.

Genauer gesagt: ein Teil der Asche. Der gesetzliche Schutz der Totenruhe lässt nicht zu, dass man die Überreste aus dem Krematorium einfach mitnimmt. Meine Bestatterin hat mir heimlich eine Portion abgezweigt, der Rest wird auf einem Berliner Friedhof beigesetzt. Weil ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung wegen einer Erschöpfungsdepression auf Kur ist, wird das noch einige Zeit dauern. Adrianos Mutter kümmert sich darum und war mit allem einverstanden: »Bring ihn zurück nach Sizilien. Das war das Zuhause, das er sich ausgesucht hat«, hatte sie gesagt. Aber sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, kein Grab in der Nähe zu haben, an dem sie ihren Sohn besuchen kann. Also entschieden wir uns für die Teilung der Asche.

Adriano war der Mann meines Lebens. Und in der Vergangenheit über ihn zu schreiben, kommt mir unwirklich vor und wie Verrat. Wir trafen uns vor zwölf Jahren und konnten uns dann zwölf Jahre lang nicht einigen, ab welchem Tag wir ein Paar waren. Dabei kannte ich das Datum ganz genau. »Dann vergisst keiner von uns die Blumen«, beendete Adriano die Diskussion, die eigentlich nie eine war. Er machte mir trotzdem jedes Jahr Ende Juni ein überteuertes Geschenk: Mal war es eine Lampe in Form eines Tukans aus den 70ern, mal ein Pullover von einer dieser italienischen Designermarken, die ich mir nicht merken kann. Vielleicht war unsere Übereinkunft, kein Datum festzulegen, die Großspurigkeit von Liebenden, die sich sicher sind, dass sie sich nicht an einen Tag klammern müssen. Denn sicher waren wir uns von Anfang an. Bei unserem ersten Treffen erzählte Adriano mir seine Lebensgeschichte, und ich erzählte ihm fast nichts. Beim zweiten Treffen kam er mit zu mir nach Hause, lachte über meine Einrichtung und blieb über Nacht. Beim dritten Treffen holte ich ihn vom Bahnhof ab. Er kam mit seinem besten Freund von einer Geburtstagsparty in einer Jugendstilvilla im Mosel-Örtchen Traben-Trarbach. Sie stiegen abgekämpft und aufgekratzt aus dem Zug und wollten noch was trinken gehen. »Warum hast du gar nicht mit ihm gesprochen? Das ist mein ältester Freund«, fragte Adriano hinterher, eher besorgt als beleidigt. »Aus dem Zug hätte auch der junge Keanu Reeves mit dir aussteigen können – ich wollte nur dich sehen«, sagte ich.

Und tatsächlich sah Adriano aus wie ein Hollywood-Star, auch wenn er so tat, als wollte er das nicht hören. Seine Augen waren schmale, blitzende Schlitze, seine Lippen waren leicht nach oben geschwungen, als würde er lächeln. »Freundlich wie ein Delfin. Dabei sind die tödlicher als Haie«, war sein seltsamer Kommentar. Er wirkte größer, als er war, vielleicht waren es nur seine großen Füße, die er durch schwere Stiefel oder klobige Schuhe betonte. Wenn er lachte, sah man seine schiefe untere Zahnreihe, und um seine Augen bildeten sich tausend Fältchen, weil er aus Faulheit fast nie eine Sonnenbrille trug.

Noch bevor er achtzehn Jahre alt war, hatte er im Front gearbeitet, einem Schwulen-Club in Hamburg, wo damals die neue elektronische Musik aus Belgien und Detroit gespielt wurde und im Keller Sexorgien stattfanden. Adriano behauptete, das sei seine Schule des Lebens gewesen. Und er war merkwürdig stolz darauf, dass seine Mitschüler immer wieder am Türsteher gescheitert waren. Es gab Menschen, die ihn arrogant oder oberflächlich fanden, aber es gab sehr viele andere, die an seinen schön geschwungenen Lippen hingen, seine Nähe suchten und um seine Zuneigung bangten – Männer und Frauen, Millionäre und Friseure. In Adriano war man immer ein bisschen unglücklich verliebt.

Nur ich nicht. Denn ich war mit ihm glücklich, und ich wollte mit ihm alt werden. Er wollte das glaube ich auch, aber er sagte es anders: »Ich will für immer siebenundzwanzig sein. Aber wenn ich schon alt werden muss, dann mit dir.« Wenn wir neuen Bekannten erzählten, wie lange wir schon ein Paar waren, gratulierten sie uns, und wir schauten zu Boden. »Mit dem ist das keine Kunst«, sagte Adriano dann und nickte fast unfreundlich in meine Richtung. Auf dem Nachhauseweg sagte er: »Das trauen sie zwei Männern nicht zu, aber wollen es nicht sagen.« Komplimente anzunehmen, zählte nicht zu seinen Talenten.

Lange bevor wir uns trafen, hatte er ein Buch über die Rave-Kultur in den 90er-Jahren geschrieben. »Slippery when wet« erschien zu einer Zeit, in der Romane von den Autoren selbst handelten: ihren Anzügen, ihren Plattensammlungen, ihrem Weltekel. Adriano erzählte von seinen exzessiven Nächten, aber sein Buch wurde ein Flop. Nach unserem ersten Date schickte er mir ein Exemplar mit Widmung. Ich legte es weg, als ich zu dem Kapitel über die Nacht mit dem DJ aus New York und dessen mitgereisten Groupies kam. Ich fand das Buch indiskret und ein bisschen angeberisch. Als sei es eine besondere Leistung, auf MDMA mit drei Typen Sex zu haben. Das habe ich ihm nie direkt gesagt, und wenn das Gespräch mit Freunden darauf kam, lobte ich das Buch als übersehenen Meilenstein. »Du machst dich über mich lustig. Lies es doch erst mal«, sagte er. Er wusste, dass ich sein Buch nicht mochte, und das tat ihm weh. Auch Höflichkeit kann herzlos sein.

»Er schreibt wie ein Partypromoter und raucht wie eine Frau«, hatte ein Literaturkritiker nach einer der wenigen Lesungen über Adriano geschrieben. Heute würde der Typ für so einen Satz einen Shitstorm ernten, damals beendete er eine Schriftstellerkarriere. Schließlich wurde Adriano Moderedakteur bei einer Sonntagszeitung, was er als Niederlage empfand. Ich versprach ihm oft, dass noch Großes vor ihm läge.

Doch Adriano hatte ein Talent, Menschen zu durchschauen, zu verunsichern und auf dem falschen Fuß zu erwischen. »Wenn ich mit ihm im Aufzug stehe, habe ich immer Angst, dass ich die falschen Schuhe anhabe«, hatte seine Chefin mal über ihn gesagt. »Das ist total ungerecht. Außerdem homophob«, sagte Adriano: »Und by the way: Sie trägt wirklich schreckliche Schuhe.« Er war für viele ein schwer erträglicher Mensch – auch für sich selbst.

Ich habe ihn anders gesehen. Adriano gab sich als Zyniker, tatsächlich war er ein Träumer, der vom Leben mehr erhoffte, als er einforderte. Vielleicht war er sich trotz seines äußeren Glanzes nicht sicher, wie viel ihm wirklich zustand. Oder auch: Ob sein Talent so groß war wie seine Ansprüche. Was ich aber weiß: Er war ein unendlich großzügiger Mensch. Er konnte rasend eifersüchtig sein, aber er war nie neidisch. Und er war einer der Menschen, die weinen, wenn sie glücklich sind. »Always cry for love, never cry for pain«, sagte er gerne. Eine Liedzeile von Prince, den Adriano vergötterte und der mir bis heute fremd ist.

Ich schaue aus dem Kabinenfenster. Das Glas ist nicht abgestoßen und trüb wie oft auf Fähren, sondern so klar, als habe man die Scheibe gestern erst eingesetzt. Die frühe Sonne ist noch schwach, aber ich zwinge mich, aufzustehen. Ich ziehe die Sachen von gestern an und gehe mit Jack systematisch die Außendecks ab. So richtig fantastico ist das Schiff nicht. Die Metallgeländer und Decks sind von der salzigen Seeluft angerostet, im Gebetsraum liegen Teppiche, und an der Wand hängen zwei bunte Gemälde, die gute Laune verströmen, aber, wie ich glaube, nicht hundertprozentig den Bilderregeln des Islam entsprechen. Bei der geschlossenen Eisdiele und dem leeren Pool, über den zur Sicherheit ein rotes Netz gespannt ist, rauchen Männer in Trainingshosen und Socken in Badeschlappen ihre Shishas, die nach Kirsche oder Holz duften. Die kleinen Espressobecher aus Papier, die überall herumstehen, sind voller Zigarettenkippen.

Auf dem Schiff befindet sich an diesem Septembermorgen im Tyrrhenischen Meer kein Urlaubspublikum, sondern ein Mischmasch aus tunesischen Lkw-Fahrern, Rucksackreisenden und Menschen mit Hunden, die eigentlich zu wohlhabend sind für diesen rostigen Kahn und daher die Reling nur mit Vorsicht berühren.

Auf einem der Decks steht eine Gruppe von Männern in den Camouflageuniformen der italienischen Armee. Einer der Soldaten hält sich ein bisschen abseits. Seine Haut ist dunkelbraun, sein Vollbart trotz der Furchen im Gesicht noch vollschwarz, seine Stirn geht mit sanftem Schwung fast absatzlos in die Nase über, was ihn aussehen lässt wie ein Model in einer italienischen Parfümwerbung. Der Soldat lässt Jack an sich hochspringen und stellt sich dabei als Michelangelo vor. Er windet seine Faust zwischen den spitzen Zähnen des Hundes, verzieht dabei keine Miene, sondern spornt ihn noch an. Seine Umhängetasche ist gepflastert mit bunten Aufnähern; es sind Souvenirs von seinen Auslandseinsätzen in Syrien und Afghanistan. Obwohl es noch kühl ist, hat er Schweißtropfen auf der Stirn.

Auf einer Sitzbank am Bug steht ein junger Mann und telefoniert auf Arabisch: An den Wangen ist er fast glatt rasiert, dafür hat er seine Haare am Hals wachsen lassen. Er trägt ein ausgewaschenes mittelblaues Männerkleid, ein weißes Häkelmützchen, Sonnenbrille und Trainingsjacke. Als Jack sich dem Mann schwanzwedelnd nähert, bricht er ihm ein Stück von seinem Panino ab. »Ich habe auch so einen«, flüstert er, ohne sein Telefonat zu unterbrechen.

Eine uralte Dame wird von einer jungen Frau über dasselbe Deck geführt. Bei jedem Schritt zittert sie und droht zu stürzen, an der kurzen Treppe zum nächsthöheren Deck greift sie immer wieder nach dem Handlauf und verfehlt ihn. Ein winziger, aber schrecklicher Kampf mit dem nahen Tod. Schließlich gibt sie auf und schleppt sich am Arm ihrer Begleiterin zu Jack. Sie krallt ihre blausehnige, altersfleckige Hand in sein Nackenfell und keucht: »Bravo.«

Ich steige mit Jack die Treppe hoch, an der die alte Dame gescheitert ist, und treffe Bianca in ihren neonrosa Flip-Flops. Sie betreibt in Melilli die Bar Sisilly, eines dieser sizilianischen Wortspiele, von denen man nicht weiß, ob ihr Ursprung mangelnde Englischkenntnisse sind – oder seltsamer Humor. Als sich Jack ihrer Hand nähert, kitzelt sie seine Nase mit ihren Fingernägeln, auf die stilisierte schwarze Wellen lackiert sind, vielleicht sind es auch Yin-Yang-Zeichen. Der Hund knabbert an den Nägeln, Bianca gurrt: »Das macht man nicht!« Dann kitzelt sie ihn weiter und lobt die Schönheit seines Fells. Auf Biancas hautenger Trainingshose steht »Begin Again«.

Es sind zufällige Begegnungen mit Menschen, die in dieser Geschichte wahrscheinlich keine Rolle spielen. Aber in meinem Zustand, traurig und unausgeschlafen, ratlos und rastlos, nehme ich sie so automatisch und urteilsfrei wahr wie die Bilder einer Überwachungskamera. Als könne mein Gehirn nicht entscheiden, welche Unterhaltung sich lohnt oder welche Bekanntschaft mich wirklich interessiert. Adriano hätte diese Menschen mit Begeisterung beobachtet – und sie überredet, sich von ihm fotografieren zu lassen. Er hätte über den Nagellack von Bianca gelacht, den Überlebenswillen der alten Frau bewundert, Michelangelo ein bisschen zu interessant gefunden. Und er hätte mit kindlichem Stolz bemerkt, dass wirklich alle unseren Hund lieben. Manchmal höre ich Adriano noch sprechen.

Mein Blick schweift über diese großartigen Menschen. Sie sind die Boten der Insel, der wir uns nähern. Wie die Vögel über dem Meer, noch bevor man am Horizont das Land sieht. Ich sehe den Stolz und die Armut, die Todesnähe und die Lebensliebe, die Komik und die Tragik, die Geschichte und die Schönheit Siziliens. Ich sehe diese Menschen, und sie sind mir fast egal, denn am Ende bleibt mein Blick bei Dir hängen. Ich gehe auf Dich zu und rufe leise: Konrad. Wie so oft. Und wie so oft vergeblich. Wir kennen uns seit zwölf Jahren. Und seit zwölf Jahren bist Du mir ein Rätsel. Was siehst Du? Was siehst Du nicht? Warum siehst Du mich nicht, wenn ich zwischen anderen Menschen stehe? Müsste ich nicht der Erste und das Einzige sein, was Du siehst? Du schaust in meine Richtung und wieder weg. Mehrmals denke ich: Jetzt muss er mich doch sehen! Aber Dein Blick schweift weiter. Oder tust Du nur so? Vielleicht stellst Du Dich blind, um Dir das Beste bis zum Schluss aufzubewahren. Dann stehe ich vor Dir und sehe Dich an: hochgewachsen und schlaksig, athletisch und linkisch, ein erwachsener kleiner Junge. »Wie eine Giraffe mit englischem Landhaus«, habe ich mal gesagt, und Du dachtest, ich mache mich über Dich lustig. Obwohl Du in dieser schäbigen Kabine kaum geschlafen hast und vor Traurigkeit kaum die Augen öffnen kannst, trägst Du unter Deinem Arm ein dickes Buch auf Italienisch. So wie Du meistens ein Buch mit Dir herumträgst, denn Du suchst Dir immer eine Challenge, an der Du arbeiten kannst. Auch mit dem Mussolini-Roman wirst Du zu kämpfen haben, denn Dein Italienisch reicht nur gerade so. Aber Du wirst nicht aufgeben, das tust Du ja nie. Einer Deiner Schneidezähne sitzt leicht schief. Ich bin froh darüber, dass Du ihn nicht hast richten lassen. Du hast eine harte Reise vor Dir; Du wirst Deinen Glückszahn brauchen.

***

Seit drei Jahren arbeite ich bei einer Studienstiftung in Rom und lebe in einem winzigen Häuschen direkt am Tiber, dessen Schlafzimmer man nur über eine enge, gusseiserne Wendeltreppe erreicht. »Wie in einem Leuchtturm wohnen, man hört sogar das Möwengeschrei«, hatte Adriano gesagt, als wir das Haus zum ersten Mal besichtigten. Er musste in Berlin bleiben, aber wollte unbedingt, dass ich diesen Job annehme. »So bleiben wir in Bewegung. Wenn wir schon keine Kinder haben, können wir wenigstens mit unserem Leben machen, was wir wollen.«

Nach seinem Tod hat mich meine Chefin sofort freigestellt. Zeitpunkt des Wiedereintritts: nicht abzusehen. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Kein Stress. Der Förderantrag für übernächstes Jahr bleibt dann halt liegen …«, sagte sie und schob mir einen Stapel Papier rüber. Ob ich diese beiden Gutachten vielleicht trotzdem lesen könne. Ich ließ sie sitzen mit ihren Vernissage-Einladungen, die an ihrem Bildschirm kleben, und ihrem Premium-Prosecco vom Direktor der Vatikanischen Museen. Als ich draußen war, fiel mir auf, dass ich auch die Gutachten liegen gelassen hatte. Sie kamen am nächsten Tag per Kurier und liegen bis heute in meinem Häuschen am Tiber. In Berlin musste ich mich um den Totenschein, die Einäscherung, die Bürokratie, den Nachlass kümmern. Und ich tat, was man tut, wenn man keine Wahl hat: Ich funktionierte. Als das erledigt war, kam die Dunkelheit. Sie war grau wie eine Regenwolke, die man durchfliegt. Und diese Wolke nahm mir die Sicht, sie war oben und unten, sie raubte mir jede Orientierung und jeden Halt. Die Wohnung war leer und ich auch. Trauer, das lernte ich in diesen Wochen, war nicht nur der stechende Schmerz, der mich immer wieder überfiel. Trauer war vor allem eine lähmende Lebensmüdigkeit, ein Sog der Freudlosigkeit. Manchmal stand ich minutenlang vor dem Kleiderschrank und wusste nicht, welches Hemd ich anziehen wollte. Oder ob überhaupt.

Dann tat meine Freundin Jenny, was sie immer tut, wenn es wichtig ist: Sie meldete sich bei mir. Es war der erste Anruf seit einer Woche, den ich annahm. Jenny van Wackeren hat in Boston und Florenz Kunstgeschichte studiert und arbeitet als freie Kuratorin für zeitgenössische Kunst. Den Nachnamen ihres Mannes Johannes verspottete sie anfangs als westfälischen Schlammadel, aber nahm ihn dann trotzdem an. Sie sieht aus wie eine porzellanhäutige, sommersprossige, rotblondgelockte, todumflorte, hochgewachsene Figur des Malers Arnold Böcklin. Bis sie den Mund öffnet.

***

»Fuck, siehst du scheiße aus!«, war ihre Begrüßung. Wir trafen uns in einem Neuköllner Straßencafé, das für seinen patzigen und langsamen Service bekannt war. Ich hoffte, dass wir dort unter uns bleiben würden.

»Danke, du nicht. Du siehst aus wie von Balthus gemalt. Warum bist du jedes Mal jünger und schöner, wenn ich dich ein paar Tage nicht gesehen habe?« Mein schräges Lob war nicht neu, sondern ein Spiel zwischen uns, bei dem ich jedes Mal den Namen des Malers änderte. Aber ich merkte, dass ich das noch nie so lieblos runtergeleiert hatte wie heute.

»Ich weiß nicht, ob Balthus heute noch als Kompliment gilt, aber egal. Alle machen sich Sorgen um dich. Du gehst nicht ans Telefon, du reagierst nicht auf Nachrichten, und so zermatscht, wie du aussiehst, würde ich sagen: Du isst nicht und du schläfst nicht.«

»Wer sind denn alle?«

»Alexander hat mich angerufen. Dann Katharina, diese Kuh, von der Stiftung in Rom. Sogar deine Mutter. Die kriegte sich gar nicht mehr ein. ›Jetzt ist das Haus auf Sizilien endlich fertig, und was will er damit? Ich habe ihn ja gewarnt. Aber die Jachenau war ihm nicht gut genug!‹, hat sie gesagt. Und noch ungefähr tausend Varianten von: ›Ich hoffe, er tut sich nichts an.‹ Und dann hat sie geheult, weil sie nicht auf der Beerdigung war.«

»Sie hätte ja kommen können. Auch ohne meinen Vater. Der hat Adriano nach zehn Jahren immer noch Antonio genannt. Wenn er ihn überhaupt erwähnt hat.«

»Was hat sie denn gegen das Haus?«

»Gar nichts. Sie liebt es. Aber sie ist glaube ich eifersüchtig auf Sizilien, weil es so weit weg ist. Und vielleicht ist es der endgültige Beweis für meine Eltern, dass ihr Sohn ihnen entglitten ist.«

Das Haus, über das wir sprachen, war für Adriano und mich der Ort unseres Lebens und unserer Liebe. Auf den wir uns immer einigen konnten, an dem wir beide wunschlos waren. Wir waren jahrelang immer wieder auf Sizilien, bis wir fast durch Zufall ein Grundstück fanden, zu dem wir nicht Nein sagen konnten. Wir träumten nicht davon, auszusteigen, aber wir verlagerten den Schwerpunkt unserer Leben. Nachdem wir beschlossen hatten, das Haus zu bauen, war es erst ein Abenteuer, dann ein Albtraum und dann so eine Art Paradies.

Meine Mutter hat uns dort im Frühjahr besucht. Fast hätte sie noch abgesagt, weil sie sich kurz davor bei der Gartenarbeit einen Finger gebrochen hatte. Ein paar Tage später saß sie mit ihrem blauen Gipsfinger dann doch auf unserer Terrasse, klagte über den Wind und freute sich über alles: die Süße der Tomaten, die Bitterkeit der Oliven, das Grün des Öls, das Gelb der wilden Calendula-Felder, die wuchernden Johannisbrotbäume, die halb wilden Esel des Nachbarn Salvatore, die regelmäßig auf unser Grundstück kamen, um junge Bäume anzuknabbern und Jack in den Wahnsinn zu treiben. Meine Mutter blieb länger als geplant und strahlte zum Abschied: »Das habt ihr so gut gemacht. Nur im Garten könnte man noch was tun. Die Kirchen schauen wir uns beim nächsten Mal an.« Als sie am Flughafen Fontanarossa in Catania durch das graue Plastiktor des Security-Scanners ging, hob sie vorher beide Arme wie ein Kranich beim Abflug. Die musste sie ganz schnell wieder runternehmen, um durch den Scanner zu passen. »Falscher Film!«, rief Adriano ihr hinterher, und ich dachte, dass ich sie seit vielen Jahren nicht so glücklich gesehen hatte.

Gleich nebenan, nur wenige Hundert Meter von unserem entfernt, haben Jenny und ihr Mann Johannes ein Haus gebaut. Für sich und ihre Kinder Loki und Skadi. Jenny war anfangs dagegen. Und als es den ersten großen Krach mit dem Bauleiter gab, sagte sie: »Wenn ich noch einmal mit diesem Arschloch in einem dieser Endlos-Meetings sitzen muss, nehme ich eine Knarre mit. Ich bin raus.« Raus war sie dann aber doch nicht. Stattdessen hat sie sich auf ihre erst ruppige, dann umso intensivere Art in ihr Haus verliebt. Sie bucht schon Monate im Voraus die Flüge für die Familie. Weil es günstiger ist, aber ich glaube auch, weil sie ein festes Datum braucht, um sich freuen zu können. »Wann genau kommt ihr denn?«, fragt sie bei jedem Telefonat. Sizilien ist für sie nur komplett, wenn wir alle dort sind.

Und jetzt in diesem Neuköllner Café stellt sie diese Frage, die ich ihr am wenigsten zugetraut hätte: »Hast du schon überlegt, was du mit dem Haus machst?«

Darüber hatte ich auch schon nachgedacht, aber die Gedanken sofort wieder verdrängt. Schon die Vorstellung, das Haus zu verkaufen, fühlte sich an, als würde ich Adriano noch einmal sterben lassen. Wie so oft war Jenny schon einen Schritt weiter als ich.

»Die Kinder würden kotzen. Loki jedenfalls. Skadi würde wahrscheinlich vorschlagen, dass wir euer Haus kaufen, damit sie endlich ihr eigenes Zimmer kriegt.« Jenny ist Realistin: Mit dem Egoismus ihrer Kinder kann sie gut leben. Ich mag sie dafür, denn Mütter müssen ungerecht sein.

»Aber ganz ehrlich: Am schlimmsten würde es Johannes finden. Der wird ja schon depressiv, wenn wir einmal während des Sommerurlaubs nicht gemeinsam zu Abend essen.«

»Habt ihr etwa schon darüber gesprochen, dass ich da wegmuss?«

»Der ist gerade so beschäftigt, dass wir über gar nichts geredet haben seit der Kremation. Der wäre stinksauer, dass ich das gesagt habe. Obwohl – vielleicht auch egal.«

»Konrad«, surrte es plötzlich schräg hinter mir. Ich schaute nach oben und sah nur weiß: weißes Tenniskleid, weiße Haut, weiße Haare. Dahinter die weiße Sonne. Es war Miju, eine Freundin, die ich nur alle zwei Jahre sehe, aber vielleicht genau deswegen mag. Die weißen Haare waren neu und ließen sie jünger aussehen. »Das tut mir so leid mit Adriano. Schrecklich. Auf dem eigenen Sofa. So ein toller Mann. Du weißt ja, dass ich immer ein Kind von ihm wollte.«

Das hatte ich nicht gewusst, und mir fiel wirklich nicht ein, was ich darauf erwidern sollte. Aber Miju erwartete auch gar nichts.

»Am Anfang sagten ja alle, dass ihr nicht lange zusammenbleiben würdet. Nächtelang hat mir Alexander erzählt, dass Adriano nicht gut genug für dich ist. Partytrash hat er ihn genannt. Damals hat er ja noch gelegentlich mit Menschen geredet. Und die Fernsehmoderatorin, die später eine Affäre mit Gerhard Schröder hatte, lief durch die Stadt und erzählte jedem, dass Adriano sexsüchtig sei. Die war eben auf jeden neidisch, der nicht so karrierebesessen war wie sie. Ich wusste von Anfang an, dass ihr füreinander bestimmt seid. Aber das Leben besteht aus Phasen, und eine Beziehung ist eine Burg. Mit starken Mauern, hochgezogenen Falltüren und heißem Öl, das man auf alle Angreifer und Gefahren gießen kann. Dieser Schutz ist jetzt weggebrochen. Und jetzt beginnt die nächste Phase. Du musst dich fragen: Wer ist mein neues Ich? Was will ich sein? Kondor, Jaguar oder Gürteltier? Ich lese gerade ein Buch über Trauer und Verlust bei indigenen Kulturen Südamerikas. Total spannend. Was jetzt wichtig für dich ist: Du musst das Leben umarmen. Du musst dich sofort wieder verlieben. Egal in wen. Und wenn es nur für eine Nacht ist. Viel Sex mit vielen Menschen. Du musst dich öffnen! Entpanzern! Mental und körperlich. Das wird wehtun, aber auch Spaß machen. Und es wird ein Neuanfang, ein Schritt in eine weitere Dimension. Aber sorry, vielleicht bin ich gerade auf meinem eigenen Trip. Wir sehen uns. Ich liebe dich.«

Ihre langen weißen Haare wehten hinter ihr her wie Morgennebel. Am Tisch blieb nur ein Hauch von ihrem Parfüm, das komischerweise nach Beton roch.

»Kondor, Jaguar, Gürteltier? Entpanzern?«, sagte Jenny. »Das muss ich mir merken. Für meinen Bestseller ›Bullshit-Frauen‹. Und wie viel Gift kann man denn bitte in einem Herzliches Beileid unterbringen?«

»Das meinte sie nicht so, Mitleid macht ungeschickt. Und was wolltest du eben sagen mit: auch egal?«

Irgendetwas in Jenny Stimme hatte mir nicht gefallen, bevor uns Miju mit ihrer südamerikanischen Überlebensstrategie aus dem Konzept gebracht hatte.

»Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich will dich nicht mit unserem Kram belasten.«

»Ich kann im Moment jede Ablenkung gebrauchen.«

»Dann schau dir die Donatello-Ausstellung an, die gerade läuft. Die ist mindblowing. Es gibt den Amor-Attis, eine Art Porno-Spiritello in Chaps. Und eine Skulptur von Johannes dem Täufer, dünn und gerade wie ein Strich. Da hat sich Giacometti alles abgeschaut. Und dieser Johannes sieht nach vierzig Tagen Fasten in der Wüste immer noch besser aus als du im Moment …«

»Was ist denn euer Kram, mit dem du mich nicht belasten kannst?«

Jenny ist eine Person voller Phobien und Mikroängste. Normalerweise kann sie sehr genau steuern, wann sie diese verheimlicht, zugibt oder sogar einsetzt. Jetzt aber war ihr die Kontrolle entglitten. Sie rührte in ihrer leeren Cappuccinotasse und überprüfte zweimal hintereinander ihre WhatsApp-Nachrichten, dann gab sie auf.

»Am liebsten wäre mir, du würdest unser Haus gleich mit verkaufen.«

Sofort bereute ich meine Bitte um Ablenkung. Ich war die letzten Wochen wie betäubt durchs Leben gegangen. Ich war so weit weg von der Welt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Und jetzt riss mich meine beste Freundin voll hinein in ihr Drama. Ich hätte mich gern dagegen gewehrt, aber das war schwer bei ihr, und ich war zu schwach für die Anstrengung, die das gekostet hätte.

»Das verstehe ich nicht. Du bist doch jedes Mal am Boden zerstört, wenn du wieder zurück nach Berlin fliegen musst. Erst wolltest du das Haus nicht, jetzt kriegt man dich kaum wieder nach Deutschland.«

»Das ist ja genau das Problem. Mir geht es da zu gut. Und in Deutschland rast das Leben weiter. Nur ohne mich.«

»Das hast du doch selbst in der Hand«, sagte ich, doch Jenny ließ sich nicht stoppen.

»Wir sind diese glückliche Familie, auf die jeder neidisch ist. Wir haben tolle Jobs. Oder zumindest Jobs, die toll aussehen. Ich gehe mit Oligarchen mittagessen und mit Künstlern, die man aus der ›Gala‹ kennt, aber ich verdiene im Jahr weniger als eine Krankenschwester. Wenn überhaupt. Ich habe in den besten Schulen der Welt studiert, und ich muss meinen Mann um Geld anbetteln, weil meine Kreditkarte nicht mehr funktioniert. Wenn ich einen Katalogtext schreiben will, dann geht das nur nachts, wenn die Kinder im Bett sind. ›Das wird doch eh nicht bezahlt, mach dir keinen Stress damit‹, sagt Johannes dann, der Vollidiot. Und er macht Lookbooks für sauteure Kinderwagen mit Ladefunktion für Handys oder irgendeinen anderen überflüssigen Quatsch. Ich dagegen schreibe wochenlang an Konzepten, die dann einfach im Schredder landen. Neulich wurde die Förderung für eine Ausstellung wieder gestrichen, an der ich ein halbes Jahr gearbeitet hatte. Die Begründung: zu wenig Frauen. Dabei besteht die Kommission nur aus Männern. Das ist so crazy. Und Sizilien hat es nur noch schlimmer gemacht. Wir haben da unser Haus, das auf Instagram großartig aussieht, und ich sitze auf der Terrasse und lese die Bücher von irgendwelchen Frauen, die halb so alt sind wie ich und in Talkshows über Feminismus und Diversity labern. Ich mache Online-Workouts neben meinen Kakteen, um meinen Pasta-Po loszuwerden, während ich darauf warte, dass mich die Documenta anruft. Oder zumindest das fucking Sprengel Museum in Hannover.«

Jenny nippte vergeblich an der leeren Tasse. »Ich fühle mich so schlecht, dass ich das ausgerechnet jetzt bei dir ablade. Aber du bist mein bester Freund, und ich habe das Gefühl, dass auf dieser Insel meine Welt schrumpft. Und ich werde auch jeden Tag ein bisschen kleiner.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern, sie vergrub ihre Sommersprossen an meinem Hals und machte aus ihrer echten Verzweiflung eine Art Witz: »Sizilien ist die Sirene, die mich ins Verderben lockt! Dabei habe ich Troja doch noch gar nicht erobert.«

Jenny forderte meine ganze Aufmerksamkeit, aber ich war in Gedanken bei mir. Die kurze Begegnung mit Miju, eigentlich war es ein Überfall gewesen, hatte meine Befürchtungen bestätigt. Ich fühlte mich in Berlin bedauert, beobachtet, beurteilt. Selbst wenn ich keinen einzigen Menschen sah, fehlte mir die Luft zum Atmen, und sobald ich die Wohnung verließ, überfielen sie mich mit ihrem Mitleid und ihren Ratschlägen.

»Ich verstehe das alles. Aber ich glaube, ich muss da jetzt hin. Hier halte ich es nicht aus. Außerdem will Santi in ein paar Tagen nachkommen.« Santi war Adrianos Mitbewohner in Berlin gewesen. Jenny mag ihn nicht, auch wenn ich nie genau verstanden habe, warum. Sie schaute mich nur ganz kurz erstaunt an und sagte: »Ich weiß. Und das Schlimmste ist: Am liebsten würde ich mitkommen.«

***

Unser Transporter steht, bis an den Rand mit Möbeln und Kartons bepackt, unten auf dem Autodeck. Die Handtücher in unserer Kabine sind zu Schwänen gefaltet, das Mittelmeer tobt in vollem Zorn. Du bist seekrank und verlässt stundenlang die Kabine nicht. Es regnet den ganzen Tag, der Himmel ist grau-schwarz, man kann das Meer, die Wolken, den Himmel, den Horizont kaum auseinanderhalten. Irgendwann gehen wir noch mal aufs Deck und sehen, erst vage wie eine Täuschung, dann mit jedem Stampfen des Schiffes deutlicher: die Berge um Palermo. Der Himmel reißt auf, und wir steuern auf das in der Abendsonne glitzernde Sizilien zu. Die Lichter der Stadt springen langsam an, und trotzdem sieht die Insel aus wie eine neue, unberührte Welt. »Jetzt fehlt nur noch der Vangelis-Song aus dem Christopher-Columbus-Film«, sage ich und frage mich sofort, wie ich in einem solchen Moment an diesen Trash denken kann. Und entscheide dann, dass das völlig egal ist. Es gibt auch echte Tränen zu falschen Liedern. Und Du tust so, als wüsstest Du, welchen Film und welches Stück ich meine. Obwohl es so kalt ist, ist Deine Hand warm und trocken. Dann sind Deine Lippen ganz nah an meinem Ohr: »Adri. Wir haben es geschafft.«

»Ein Wunder, dass wir noch zusammen sind«, sagte Adriano, als wir die erste Nacht in unserem Haus schliefen, in dem fast noch nichts funktionierte. Uns war das in dieser Nacht egal. Wir waren mit einem Transporter in Deutschland losgefahren, hatten in Livorno die Nachtfähre genommen, und Adrianos größte Sorge auf dieser Reise war gewesen, ob das Gemälde eines Kampfhahns, das er neben den Esstisch hängen wollte, ohne Schäden ankommen würde. Nun lagen wir in unserem selbst gezimmerten Bett, und im Schlafzimmerkamin war noch ein bisschen Glut. »Feuer!«, sagte er und legte seinen Kopf an meine Schulter. Manchmal, wirklich nur manchmal, lächelte er sogar im Schlaf.

***

Auch heute werden die Konturen des Monte Pellegrino, diesmal in der Morgensonne, mit jeder Minute ein bisschen schärfer, und rechts vom Schiff tauchen die Rückenflossen einer Delfinfamilie auf. Ich höre die Soldaten lachen und schreien. Sie stehen ein Deck tiefer als ich und haben einen Ring um Michelangelo gebildet. Dessen Jacke liegt schon am Boden, und er zieht sich gerade sein T-Shirt über den Kopf. Seine Brust ist übersät mit Tätowierungen, am Oberarm hat er eine Impfnarbe. »Das reicht jetzt«, ruft einer, doch Michelangelo macht einfach weiter. Er reißt sich die Stiefel runter, streift sich die Unterhose direkt mit der Hose ab. Die Soldaten johlen, und der nackte Mann schubst sie zur Seite, steigt blitzschnell auf die Reling und springt kopfüber ins Meer. »Ich komme!«, schreit er, und im Sturzflug flattert sein Penis.

Die Rettungsaktion verläuft schnell. Die Fähre drosselt das Tempo, ein motorisiertes Schlauchboot wird ins Wasser gelassen und kommt nach zwanzig Minuten mit dem nackten Mann zurück, der in zwei silberne Rettungsdecken gehüllt wurde. Er zittert und strahlt. »Meine Großväter waren Fischer in Messina. Sie haben in der Meerenge noch die Killerwale gesehen. Und als ich ein kleiner Junge war, sagten sie mir, dass jeder Mann einmal mit den Delfinen schwimmen muss.« »Am Hafen wartet die Polizei«, sagt ein Typ in Fährunternehmensuniform mit norditalienischem Akzent. »Leck mich doch! Ab jetzt habe ich nur noch Glück.«

Lang ist es jetzt nicht mehr bis zur Ankunft, rechts sieht man die Containerkräne, links steht der Palazzo Chiaramonte, wo die spanische Inquisition ihre Gefangenen folterte. Am Fähranleger wartet eine Schlange von Autos, die nach Tunis reisen: Auf ihre Dachgepäckträger sind prall gefüllte Universaltaschen aus Plastikgewebe und überraschend viele Spülbecken geschnallt.

»Du gähnst wie ein Wesen in einem Zeichentrickfilm aus den 70ern«, sagte Adriano oft zu mir: »Mit aufgerissenem Mund und typischem Gähngeräusch.« Und dann in einer zärtlichen Wendung: »Das ist für mich der friedlichste Sound der Welt.« Jetzt gähne ich geräuschlos und frage mich, ob das mein neues einsames und stilles Leben sein wird.

Im Gang zwänge ich mich an einer schnaufenden Bulldogge vorbei, gehe in die Bar und bezahle meinen Espresso. Dann halte ich dem Kellner den Zettel hin und bestelle. Diesen Vorgang habe ich in meinen ersten Wochen in Rom genossen und war stolz, als ich ihn automatisch beherrschte. Jetzt finde ich ihn nur fad und zäh. Wie ein Kaugummi, sobald man das Aroma rausgekaut hat.

Als Jack an der Leine reißt und versucht, einem kleinen Mädchen mit »Spiderman Across the Spiderverse«-T Shirt die Chipstüte zu klauen, stoße ich meinen Becher um. »Entschuldigung«, sage ich in Richtung des Mädchens, der Eltern und der Kellner, aber keiner fühlt sich angesprochen. Sie beobachten regungslos, wie ich versuche, mit den wasserabweisenden italienischen Papierservietten die Kaffeepfütze aufzuwischen, und sie dadurch nur weiter verteile. Dann scheppert in vier Sprachen aus dem Bordlautsprecher die Durchsage, dass sich die Passagiere der Parkzone D nun zu ihren Fahrzeugen bewegen dürfen: auf Italienisch, Arabisch, Englisch, Französisch. Wie eine Metapher für die bewegte Geschichte der Insel, denke ich. Aber wieso eigentlich Französisch? Wenn Adriano jetzt bei mir wäre, würden wir darüber diskutieren, ob wir auf der vierstündigen Fahrt von Palermo zu unserem Haus zum Mittagessen anhalten sollen. Wie immer würde ich darauf drängen, einfach durchzurasen, und er würde auch noch einen Zwischenhalt im Outlet-Center vorschlagen. Oder auf dem Fischmarkt in Catania. Ich hätte nie gedacht, dass ich seinen Hang zur Trödelei vermissen könnte.

Im Porsche Cayenne neben mir sitzt die ehemalige japanische Prinzessin mit ihrem Mann, von der Rückbank starrt ein Rhodesian Ridgeback zu uns rüber. Ich starte den Motor unseres zerbeulten Suzuki Jimny, lege mit Mühe den ersten Gang ein und rattere über die Metallbrücke der Fähre. Hinter mir steht und schmatzt Jack. Vielleicht hat ihn der teure Hund im Nachbarauto aufgeregt. Oder er riecht schon die Tintenfische, die auf dem Weg zur Autobahn am Straßenrand verkauft werden. Das gleißende einzigartige Licht Siziliens brennt in meinen Augen. Ich bin zurück.

Kapitel 2

Ottima Squadra (Erste Schritte)

Es ist noch früh, Palermo dampft von der Nacht und riecht nach streunenden Katzen und altem Putz. Ich bin nicht direkt zur Autobahn gefahren, sondern vor dem Botanischen Garten abgebogen, zum Caffè Torino in der Nähe des Bahnhofs. Am Tresen steht eine Gruppe von Männern, die erst ihre bröselnden, mit Nutella gefüllten Hörnchen runterschlingen, dann ihren winzigen Espresso in genau drei Schlucken wegnippen. Diese Reihenfolge ist auf Sizilien unverrückbar, deswegen wird der Espresso erst zubereitet, wenn die Hörnchen gegessen sind. Am Nebentisch sitzt eine Frau mit bunten, fransigen Bändern an den Handgelenken und zwei Rucksäcken. Sie liest einen abgegriffenen schwedischen Sizilien-Reiseführer. Jack döst im Jimny, vermutlich denkt er, dass er ihn bewacht. Ich bin per Videocall mit meiner Therapeutin in Berlin verbunden.

»Guten Morgen, Herr Grubinger. Oder sollte ich sagen: Buongiorno«, sagt Frau Reitbaur in ihrem melodiösen Wienerisch. Für ihre Verhältnisse ist das ein ungewöhnlicher Ausbruch von guter Laune, denn sie gibt nie etwas Persönliches preis und vermeidet jede private Bemerkung. Frau Doktor Reitbaur ist eine Dame unbestimmbaren Alters mit lässig hochgestecktem, grau durchwirktem Haar und Augen, die so grün sind, dass ich anfangs dachte, sie seien aus Jade. Vor ihr steht eine Tasse, die sich in den zwei Jahren unserer Therapeutin-Patienten-Beziehung um keinen Zentimeter bewegt hat. Am Anfang jeder Stunde dampft daraus Pfefferminzaroma, aber Frau Reitbaur hat den Tee noch nie angerührt. Auf der Tasse ist ein Foto vom Olympic National Park zu sehen, einem kalten Regenwald in der Nähe von Seattle, wo die Vampir-Saga »Twilight« gedreht wurde. Auf dem Bildschirm sehe ich ihr Therapiezimmer, das mir anfangs gruselig vorkam. In weißen Regalen, die nur ein wenig vergilbt sind, stehen sauber aufgereiht antike Büsten, Kleinskulpturen und Köpfe. Einer davon ist ein griechischer Athlet mit dem kräftigen Nacken eines Kraftsportlers, aber dem melancholischen Ausdruck eines Denkers. Auch wenn mir die schweigenden weißen Köpfe unheimlich sind, wüsste ich gern, wie der Rest seines Körpers aussieht. Mit Frau Reitbaur habe ich über diesen Wunsch noch nicht gesprochen.

Jenny hat mir vor zwei Jahren geraten, mal eine Therapie zu versuchen. »Von Yoga wirst du ja nur noch hektischer«, sagte sie, nachdem ich in der Stiftung einmal gegen ein Regal gelaufen war und fast ein Auge verloren hätte. »Ich biete keine Garantie gegen Arbeitsunfälle und gebe keine Lebenstipps. Ich stelle Fragen«, sagte Frau Reitbaur bei unserer ersten Sitzung, bei der ich mich wie bei einem Vorstellungsgespräch fühlte. Und viel mehr hat sie seitdem nicht gesagt. Aber genau das gefällt mir an ihr. Ich habe oft das Gefühl, dass es in meinem Freundeskreis eine Verpflichtung gibt, immer und zu allem eine Meinung zu haben. Jeder drängt mir seine Ablehnung, seine Anerkennung, sein Besserwissen oder sogar seine Gleichgültigkeit auf. Deswegen sind die Stunden bei Frau Reitbaur wie Fluchten in einen Raum ohne Standpunktstress. Bei ihr ballert es nicht, sondern es fließt. Allerdings nur, wenn ich etwas zu sagen habe. Denn sie sagt nichts. Als ich dann nach Rom zog, machten wir weiter, obwohl mir der Pfefferminzduft fehlte. »Diese Endlostherapie ist der kleine idiotische Luxus, den du dir erlaubst. Andere lassen sich fraxeln, du lässt dein Geld bei einer betagten Wienerin. Allerdings hättest du sie mal um ein ordentliches Schlafmittel bitten können«, sagte Adriano. Er hatte vor langer Zeit mal seinen eigenen Therapeuten in weißem Lederanzug in einem Darkroom gesehen und dann den Glauben an dessen Kompetenz verloren. Jedenfalls behauptete er das. Tatsächlich hatte er sich glaube ich mit seiner eigenen Unheilbarkeit abgefunden. Nach seinem Tod habe ich Frau Reitbaur gebeten, dass wir uns öfter sehen. Denn jetzt habe ich das erste Mal das Gefühl, dass ich sie wirklich brauche. Und Schlaftabletten hat sie mir auch verschrieben.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt sie und schweigt routiniert.

»Ganz schön aufgewühlt. Ein Soldat ist von der Fähre gesprungen und musste gerettet werden. Ich hatte ihn vorher getroffen, weil er mit Jack gespielt hat. Schon da hatte ich das Gefühl, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt. Ein sehr schöner Mann. Aber das ist ja egal. Ich habe kaum geschlafen auf der Fähre. Die ganze Zeit musste ich daran denken, was hier auf Sizilien auf mich wartet.«

»Was glauben Sie, was auf Sie wartet?«

»Niemand. Aber ich weiß nicht, wie schlimm das wird. Und wie sich das Haus anfühlt, wenn ich da alleine bin.«

»Vielleicht sollten Sie eine Art Tagebuch führen. Über das, was Ihnen auf Ihrer Reise begegnet. Was Sie bewegt. Was Sie mit niemandem mehr besprechen können. Schreiben Sie es auf, bevor es Sie auffrisst. Sehen Sie es als eine Art Zeitkapsel. Für sich selbst. Das muss ja kein Roman werden.«

Danach fahre ich an den Calamariständen und den wilden Müllbergen vorbei zur Autobahn, die Palermo mit Catania verbindet. Die Vororte sind lieblose Häuserklumpen, die während der Mafia-Spekulationswelle der 60er und 70er in die Hügel gezwängt worden sind. Heute bröckeln die Fassaden, und undichte Leitungen haben Schmierspuren auf den Felsen hinterlassen. Die Berge und Felder dahinter sind um diese Jahreszeit so ausgedörrt, als könnten sie nichts Lebendiges hervorbringen. Die ehemalige Kornkammer Roms, eine Halbwüste. Auf der Toilette der Tankstelle sehe ich im Spiegel mein abgekämpftes Gesicht. Zum ersten Mal finde ich, dass ich älter aussehe, als ich bin.

Ich sehe nur, dass Du müde bist. So wie man Dir immer ansieht, ob Du müde, hungrig oder zufrieden bist. Denn Du kannst Dich nicht verstellen. Selbst wenn Du auf Partys oder Terminen demonstrativ freundlich bist, machst Du das so überdeutlich, als würdest Du dabei mit den Augen zwinkern. Es klingt so selbstverständlich, aber ich habe immer bewundert, dass Du ein Mensch bist, der sich wirklich für andere interessiert und mit ihnen fühlt. Wenn ich jetzt bei Dir wäre im Auto, würde ich am Steuer sitzen. Du würdest Deine nackten Füße über das Handschuhfach legen und so tun, als ob Du schläfst. Wir würden, wie fast immer, keine Musik im Auto hören, und unser Schweigen wäre nicht drückend, sondern friedlich, weil es von unserer geteilten Vorfreude erfüllt wäre. Aber das, was Dich erwartet, ist auch ohne mich gut. Schon bald wirst Du den Ätna hinter Dir lassen, durch die sieben Tunnel bei Catania fahren, an der Raffinerieanlage von Augusta vorbei, wo das Öl aus Libyen ankommt, und an der rätselhaften Funkanlage auf dem Hügel vor Siracusa. Rechts beginnt dann schon die kahle, felsige Bergkette, an deren Ende Noto liegt. Jedes Mal frage ich mich, ob diese Berge jemals bewaldet waren und wie das Sizilien vor uns Menschen ausgesehen haben mag. Die Oleanderbüsche auf dem Mittelstreifen der Autobahn werden blühen, und mit jedem Kilometer wirst Du ein bisschen ruhiger und glücklicher. Du wirst direkt nach der Ankunft die Olivenbäume untersuchen und auf eine gute Ernte hoffen. Vielleicht hängen sogar noch Granatäpfel an den Bäumen. Du bist auf dem Weg nach Hause.

Ich stamme aus einem bayerischen Dorf am Alpenrand, mein Vater Anton hatte ein kleines Bauunternehmen, deswegen nannten ihn seine Freunde Betoni. Als in den 80ern der Landhausboom in Bad Tölz und am Tegernsee begann, hatte er sechs Angestellte und zwei Auszubildende und kaufte alle zwei Jahre einen neuen BMW. Er erledigte den Umbau eines riesigen Alpenhauses für einen weltbekannten Fußballer in Kitzbühel und durfte zur Einweihungsparty kommen, von der er heute noch erzählt. Später war er in einen winzigen Korruptionsskandal verwickelt, es ging um den Bau einer neuen Turnhalle, und er behauptet immer noch, dass er Opfer einer Intrige geworden war. Seitdem erledigt er nur noch Kleinstaufträge, und Betoni nennt ihn auch keiner mehr. Meine Mutter ist Grundschullehrerin und hat im Dorf einen Buchclub gegründet, wo sie sich bemüht, ihre Freundinnen von Alice Munro zu überzeugen.

Mein Vater hat mir nie verziehen, dass ich lieber Bücher las, als Fußball zu spielen, und zu meiner Abiturfeier kam er nicht. Heute schnitzt er in seiner Freizeit Bilderrahmen und baut Holzkisten mit komplizierten Geheimfächern. »Die Zeit wird kommen, wenn die Banken zusammenbrechen, dann werden Geheimfächer wieder Konjunktur haben«, sagt er und lächelt verloren. Ich bin aus unserem Dorf geflohen, sobald ich konnte, um Musikwissenschaften in Heidelberg zu studieren. Ich legte meinen oberbayerischen Akzent ab und spürte die Herablassung meiner Kommilitonen aus besseren Familien. Ich belauschte ihr Imponiervokabular, beobachtete ihre Weltgewandtheit und aß in meinem WG-Zimmer die Wammerln, die meine Mutter mir jede Woche schickte. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich einen Job in Rom annehmen würde, erinnerte sie mich daran, wie unglücklich Ingeborg Bachmann dort war, und mein Vater ging schweigend in seine Werkstatt.

***

In der Auffahrt zu unserem Grundstück steht der rote Fiat Panda von Johannes und Jenny. Ihr Sohn Loki kommt mit nassen Haaren und riesiger Wasserpistole auf mich zu und spritzt gegen meine Windschutzscheibe. »Hallo, Loki. Was macht ihr denn hier?«, begrüße ich ihn so selbstverständlich, wie meine Überraschung es zulässt. »Wo ist Jack?«, fragt er und geht sofort zur Rückseite des Jimny, um ihn rauszulassen. Jack springt aus dem Auto und schnappt abwechselnd nach Lokis Hand und der Wasserpistole, er kann sich vor Begeisterung nicht entscheiden. Mit der ganzen Autorität seiner zehn Jahre sagt Loki: »Seduto!«, denn Jack hört nur auf Italienisch. Wenn er überhaupt hört. Weil der Hund sich nicht hinsetzt, spritzt Loki ihm eine Ladung Wasser ins Fell. Jack hat das erste Jahr seines Lebens auf der Straße verbracht. Aus dieser Phase hat er zwei Phobien mitgenommen. Er hasst Schäferhunde, und er hasst Wasser. Um jede Pfütze macht er sorgfältig einen Bogen, bei Regen hält er nur seine Nase raus und verschiebt dann den Spaziergang, Bäche überspringt er oder durchquert sie mit spitzen Pfoten. Nun rennt er panisch den Berg hoch, weil ihn ausgerechnet sein Freund Loki mit einer Wasserpistole attackiert hat.

Dabei liebt Loki Tiere. Bei dem großen Johannisbrotbaum hat er einen Friedhof errichtet für zwei Vögel, die gegen die Fensterscheiben geflogen und gestorben sind. Jedes Grab hat einen Feldstein, in den er die Namen der Verstorbenen geritzt hat: Das tote Rotkehlchen hat er Rossi getauft, den Mauersegler Volare. Loki trägt seine blonden Haare schulterblattlang und hat seinen Eltern schon mit acht Jahren ein Ohrloch abgeschwatzt. Auf Sizilien wird er wegen seiner Frisur oft für ein hübsches Mädchen gehalten. Als wir mal alle zusammen die Winzerin Arianna Occhipinti in der Nähe von Vittoria besuchten, fertigte sie uns mürrisch ab und ließ einen Assistenten die Führung übers Weingut machen. Beim Abschied aber bemerkte sie Loki mit seinen Rockstar-Haaren: »Bringt ihn in ein paar Jahren zu mir«, sagte sie und lachte zum ersten Mal, als habe sie jemand angeknipst. »Was hat die gesagt?«, fragte Loki später mit gespielter Unschuld, denn er hatte natürlich genau kapiert, worum es ging.

Sein Vater Johannes, also Jennys Mann, war Adrianos bester Freund. Als sie sich kennenlernten, war er ein Art Director, der für zwei Agenturen in Paris und New York arbeitete, und er hat heute noch die Handynummer von Kate Moss. Sein letzter Job war für ein neues Modemagazin, ausgerechnet in jenen Jahren, als die großen Anzeigenbudgets ins Internet wanderten. Das Heft wurde finanziert von einem russischen Milliardär, der mit Naomi Campbell liiert war, der Herausgeber war ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, der nach der Wende eine steile, wenngleich windige Karriere in der deutschen Medienbranche hingelegt hatte. Von Zeitschriften verstand er wenig, umso mehr von Machtpolitik. Wenn er bei Team-Essen zwei Wodka getrunken hatte, legte er Johannes seine Hand vertraulich auf den Oberschenkel. »Bei anderen Männern hätte mich das nicht gestört, bei dem fühlte ich mich wie ein Stück Vieh«, hat Johannes mal gesagt. Für die Launchparty von »Interview« wollte der Herausgeber ein paar Pole-Tänzerinnen engagieren, »weil es sonst für einen Russen keine echte Party ist«. Als Johannes mit dem Chefredakteur und dem Anzeigenleiter eine Frau nach der anderen vor sich probetanzen lassen musste, raunte ihm sein Chef zu: »Die haben noch ganz andere Tricks drauf.« Das war der Moment, in dem Johannes sich von der Welt der Mode und der Luxuskunden verabschiedete. Heute arbeitet er als Freelancer für deutsche Mittelständler, was ihn ärmer, aber zufriedener gemacht hat. Und er hat sich mit der gleichen Ruhe, mit der er auf Fotoshootings mit Supermodels die Nerven behielt, seinem Lebensthema genähert: dem Kochen. Und das war auch das Thema, das ihn mit Adriano verband. Im Grunde machten die beiden nichts anderes, wenn sie zusammen waren. Sie standen in der Küche und kochten. Oder sie saßen am Esstisch und sprachen übers Kochen. Anders als sonst ordnete sich Adriano dabei bereitwillig unter, und Johannes war ein geduldiger Lehrmeister. Nur die Fische filetierte er lieber selbst. Ich habe die beiden mit Gänsehaut auf den Unterarmen über den Markt in Catania laufen sehen, weil sie ein Thunfischherz oder ein ausgeweidetes Zicklein entdeckt hatten und so taten, als würden sie noch überlegen, ob sie es kaufen sollten oder nicht, dabei war die Entscheidung am Ende immer dieselbe. Und wenn sie vollbehängt mit Tüten zurück zum Auto durch den beißenden Qualm der Artischockengrills gingen, fiel ihnen immer noch eine fehlende Zutat ein, damit sie umkehren und ein weiteres Mal in den Markt eintauchen konnten. Sie erinnerten mich in diesen Momenten an Kinder, die man an einem Tag mit stürmischen Wellen nicht aus dem Meer holen kann. Ihre Freundschaft war innig, ohne den Drang, andere auszusperren – es war eine große Liebe. Johannes war früher dürr und rauchte vierzig Zigaretten am Tag, heute hat er die Kraft eines Mannes, der noch nie im Fitnesszentrum war, aber ständig körperlich arbeitet.

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